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Wladimir Kaminer Ich bin kein Berliner

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Wir wählten den einzigen Polizisten mit der deutschen Fahne<br />

auf dem Hemd und nahmen mit ihm zusammen das Protokoll<br />

auf: schwarze Tasche aus Berlin, Inhalt ein Handy, eine<br />

Packung Papiertaschentücher, eine alte Fotokamera, Ausweis,<br />

Wohnungsschlüssel, eine Packung Kaugummi, eine Geldbörse<br />

mit dem Bild der heiligen Maria und zweihundert Euro.<br />

Der freundliche Polizist erklärte uns, dass Diebstähle in<br />

Lissabon so gut wie unbekannt seien, und wenn doch einmal<br />

einer vorkäme, würden die geklauten Sachen zu neunzig Prozent<br />

schnell wieder gefunden. Unserer Tasche gab er sogar eine<br />

neunundneunzigprozentige Chance. Und seine Voraussage<br />

bestätigte sich. Gleich am nächsten Tag rief jemand bei uns im<br />

Hotel an und hinterließ eine Nachricht: Wir sollten schleunigst<br />

unsere Tasche am Rossio-Platz abholen. Wir gingen erneut zum<br />

Porzellanladen, wo sie hinter dem großen Schaufenster<br />

tatsächlich lag. Die Taschentücher, die Schlüssel, das Handy,<br />

sogar die Geldbörse mit dem Bild der heiligen Maria – alles war<br />

da, außer unserem Geld und dem Fotoapparat. Auch unsere<br />

Talismane, die meine Frau immer in der Tasche hat, waren<br />

verschwunden: die Kugel, mit der ihr Vater einst zur<br />

Selbstverteidigung einen Bären erschoss, und der kleine Stein<br />

der Weisen, der mir so lange erlaubt hat, amüsante Geschichten<br />

aufzuschreiben. Na und? <strong>Ich</strong> schreibe trotzdem weiter. Dem<br />

Dieb werden unsere Talismane <strong>kein</strong> Glück bringen, denke ich.<br />

Im Übrigen waren wir von Lissabon beeindruckt und<br />

empfanden auch für die Diebe Verständnis. Man kann solche<br />

Ereignisse nicht aus dem Kontext herausgelöst verstehen. Die<br />

Arbeitslosigkeit ist in Portugal sehr hoch, statt Öl fördern sie<br />

Portwein, aber der ist nicht jedermanns Sache. Deswegen<br />

spielen die Portugiesen wie verrückt Lotto – als wüssten sie<br />

nicht, wie sie sonst an Geld kommen könnten. Leider verlieren<br />

sie ständig. Der portugiesische Jackpot beläuft sich daher derzeit<br />

auf mehrere hundert Millionen Euro – und <strong>kein</strong>er kann ihn<br />

knacken. Außerdem ist es in diesem Land fast immer sonnig.<br />

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