das magazin von Schwarzenburg | no 8 | August ... - aktuelle Ausgabe
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Kirchgemeinde<br />
inFOrmAtiOnen der eVAngeliSchreFOrmierten<br />
Kirchgemeinde<br />
SchwArZenBurg<br />
Am pulS der Zeit<br />
– impulS<br />
Schlaflos ...<br />
Liebe Leserin, lieber Leser<br />
Verfolgt Sie manchmal auch ein Thema<br />
bis in die Nacht und raubt Ihnen den<br />
Schlaf? Sie hören neidisch den tiefen<br />
Atem ihres schlafenden Partners nebenan<br />
und versuchen vergeblich einzuschlafen.<br />
Kürzlich schilderte mir eine<br />
Kollegin eine solche Nacht: «Die Gedanken<br />
kreisen: um eine Freundin, welche<br />
daran ist sich <strong>von</strong> ihrem Partner zu trennen.<br />
Um eine SMS meiner Mutter, welche<br />
sich über einen Besuch freuen würde.<br />
Um die Frage, wann ich <strong>no</strong>ch zeit<br />
finde einen Bébébesuch bei meinen<br />
Nachbarn zu machen. Um ein Dokument,<br />
welches <strong>no</strong>ch nicht fertiggestellt<br />
ist und weitergeschickt werden sollte.<br />
Um <strong>das</strong> Kinderlager, <strong>das</strong> vorbereitet<br />
werden sollte. Um die Pendenzen, die<br />
nach meinen Ferien abgetragen werden<br />
sollten.» Solche und viele andere Themen<br />
schwirren im Kopf umher und lassen<br />
den Schlaf nicht kommen. Könnten<br />
diese herumschwirrenden Themen<br />
«Landschaften» sein, wie Hilde Domin*<br />
im Gedicht schreibt?<br />
Man muss weggehen können<br />
und doch sein wie ein Baum:<br />
als bliebe die Wurzel im Boden,<br />
als zöge die Landschaft<br />
und wir ständen fest.<br />
Man muß den Atem anhalten,<br />
bis der Wind nachläßt<br />
und die fremde Luft um uns zu kreisen<br />
beginnt,<br />
bis <strong>das</strong> Spiel <strong>von</strong> Licht und Schatten,<br />
<strong>von</strong> Grün und Blau,<br />
die alten Muster zeigt,<br />
und wir zuhause sind,<br />
wo es auch sei, und niedersitzen<br />
können<br />
und uns anlehnen,<br />
als sei es <strong>das</strong> Grab unserer Mutter.<br />
Dieses Gedicht mutet paradoxe Bilder<br />
zu, welche die Alltagslogik sprengen<br />
und gerade deswegen zum Nachdenken<br />
einladen. zum Baum gehört es, <strong>das</strong>s er<br />
an einem Ort verwurzelt ist. Er kann sich<br />
nicht <strong>von</strong> der Stelle rühren. Den<strong>no</strong>ch<br />
werden wir aufgefordert, gleichzeitig<br />
wie ein Baum zu sein und wegzugehen.<br />
Mehr <strong>no</strong>ch: Die Landschaft soll an uns<br />
vorbeiziehen wie eine Theaterkulisse,<br />
wie ein Film. Auch dies eine Vorstellung<br />
gegen die Erfahrung. Normalerweise<br />
sind wir es, die uns in den Landschaften<br />
bewegen. Mir gefällt es, wenn ich im<br />
zug sitze und die Stadt- und Natur-<br />
Landschaften vorbeiflitzen sehe: da flie-<br />
editorial | Schwerpunkt | gemeinde | Kirchgemeinde | Aktuell<br />
gen Häuser, Bäume, Seen, Menschen,<br />
Strassen, zäune am zugfenster vorbei.<br />
Im Gedicht ist es gerade umgekehrt.<br />
Es ist ein Bild der Sehnsucht, welches<br />
Hilde Domin hier zeichnet: der Mensch<br />
mit Wurzeln und seine Lebensthemen,<br />
die vorüberziehen. Ich und meine Beschäftigungen<br />
sind nicht <strong>das</strong>selbe!<br />
Wenn mich Lebensthemen nicht schlafen<br />
lassen, verlasse ich meine Wurzeln<br />
und fahre mit den Landschaften mit. Ich<br />
lasse sie nicht vorbeiziehen. Ich verliere<br />
mich selbst. Das Leben fordert uns heraus,<br />
nach unserer inneren Heimat, unserer<br />
Mitte zu suchen und Ruhe zu finden.<br />
Man muss weggehen können<br />
und doch sein wie ein Baum:<br />
als bliebe die Wurzel im Boden,<br />
als zöge die Landschaft<br />
und wir ständen fest.<br />
pfrn. regula dürr hänni<br />
* hilde domin, 1909 in Köln geboren, war eine deutsche<br />
Schriftstellerin. Sie war vor allem als lyrikerin bekannt.<br />
Als tochter eines jüdischen rechtsanwalts emigrierte<br />
sie via england und die uSA in die dominikanische<br />
republik. nach dem Krieg siedelte sie nach<br />
Spanien über und fand erst Anfang der sechziger Jahre<br />
in heidelberg ein neues Zuhause. Auch die «heimat»<br />
war für hilde domin zur Fremde geworden. ihre jüdische<br />
Verwandtschaft war grösstenteils in Konzentrationslagern<br />
umgebracht worden. <strong>das</strong> führte sie auf den<br />
weg der Suche nach ihrem eigentlichen Zuhause. Auf<br />
diesem hintergrund ist <strong>das</strong> gedicht «Ziehende landschaften»<br />
(*hilde domin, gesammelte gedichte, Frankfurt<br />
am main 1987) zu verstehen. Sie starb 2006 im<br />
Alter <strong>von</strong> 96 Jahren.<br />
<strong>das</strong> <strong>magazin</strong> <strong>von</strong> <strong>Schwarzenburg</strong> | n o 8 | <strong>August</strong> 2012<br />
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