09.01.2013 Aufrufe

das magazin von Schwarzenburg | no 8 | August ... - aktuelle Ausgabe

das magazin von Schwarzenburg | no 8 | August ... - aktuelle Ausgabe

das magazin von Schwarzenburg | no 8 | August ... - aktuelle Ausgabe

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

Kirchgemeinde<br />

inFOrmAtiOnen der eVAngeliSchreFOrmierten<br />

Kirchgemeinde<br />

SchwArZenBurg<br />

Am pulS der Zeit<br />

– impulS<br />

Schlaflos ...<br />

Liebe Leserin, lieber Leser<br />

Verfolgt Sie manchmal auch ein Thema<br />

bis in die Nacht und raubt Ihnen den<br />

Schlaf? Sie hören neidisch den tiefen<br />

Atem ihres schlafenden Partners nebenan<br />

und versuchen vergeblich einzuschlafen.<br />

Kürzlich schilderte mir eine<br />

Kollegin eine solche Nacht: «Die Gedanken<br />

kreisen: um eine Freundin, welche<br />

daran ist sich <strong>von</strong> ihrem Partner zu trennen.<br />

Um eine SMS meiner Mutter, welche<br />

sich über einen Besuch freuen würde.<br />

Um die Frage, wann ich <strong>no</strong>ch zeit<br />

finde einen Bébébesuch bei meinen<br />

Nachbarn zu machen. Um ein Dokument,<br />

welches <strong>no</strong>ch nicht fertiggestellt<br />

ist und weitergeschickt werden sollte.<br />

Um <strong>das</strong> Kinderlager, <strong>das</strong> vorbereitet<br />

werden sollte. Um die Pendenzen, die<br />

nach meinen Ferien abgetragen werden<br />

sollten.» Solche und viele andere Themen<br />

schwirren im Kopf umher und lassen<br />

den Schlaf nicht kommen. Könnten<br />

diese herumschwirrenden Themen<br />

«Landschaften» sein, wie Hilde Domin*<br />

im Gedicht schreibt?<br />

Man muss weggehen können<br />

und doch sein wie ein Baum:<br />

als bliebe die Wurzel im Boden,<br />

als zöge die Landschaft<br />

und wir ständen fest.<br />

Man muß den Atem anhalten,<br />

bis der Wind nachläßt<br />

und die fremde Luft um uns zu kreisen<br />

beginnt,<br />

bis <strong>das</strong> Spiel <strong>von</strong> Licht und Schatten,<br />

<strong>von</strong> Grün und Blau,<br />

die alten Muster zeigt,<br />

und wir zuhause sind,<br />

wo es auch sei, und niedersitzen<br />

können<br />

und uns anlehnen,<br />

als sei es <strong>das</strong> Grab unserer Mutter.<br />

Dieses Gedicht mutet paradoxe Bilder<br />

zu, welche die Alltagslogik sprengen<br />

und gerade deswegen zum Nachdenken<br />

einladen. zum Baum gehört es, <strong>das</strong>s er<br />

an einem Ort verwurzelt ist. Er kann sich<br />

nicht <strong>von</strong> der Stelle rühren. Den<strong>no</strong>ch<br />

werden wir aufgefordert, gleichzeitig<br />

wie ein Baum zu sein und wegzugehen.<br />

Mehr <strong>no</strong>ch: Die Landschaft soll an uns<br />

vorbeiziehen wie eine Theaterkulisse,<br />

wie ein Film. Auch dies eine Vorstellung<br />

gegen die Erfahrung. Normalerweise<br />

sind wir es, die uns in den Landschaften<br />

bewegen. Mir gefällt es, wenn ich im<br />

zug sitze und die Stadt- und Natur-<br />

Landschaften vorbeiflitzen sehe: da flie-<br />

editorial | Schwerpunkt | gemeinde | Kirchgemeinde | Aktuell<br />

gen Häuser, Bäume, Seen, Menschen,<br />

Strassen, zäune am zugfenster vorbei.<br />

Im Gedicht ist es gerade umgekehrt.<br />

Es ist ein Bild der Sehnsucht, welches<br />

Hilde Domin hier zeichnet: der Mensch<br />

mit Wurzeln und seine Lebensthemen,<br />

die vorüberziehen. Ich und meine Beschäftigungen<br />

sind nicht <strong>das</strong>selbe!<br />

Wenn mich Lebensthemen nicht schlafen<br />

lassen, verlasse ich meine Wurzeln<br />

und fahre mit den Landschaften mit. Ich<br />

lasse sie nicht vorbeiziehen. Ich verliere<br />

mich selbst. Das Leben fordert uns heraus,<br />

nach unserer inneren Heimat, unserer<br />

Mitte zu suchen und Ruhe zu finden.<br />

Man muss weggehen können<br />

und doch sein wie ein Baum:<br />

als bliebe die Wurzel im Boden,<br />

als zöge die Landschaft<br />

und wir ständen fest.<br />

pfrn. regula dürr hänni<br />

* hilde domin, 1909 in Köln geboren, war eine deutsche<br />

Schriftstellerin. Sie war vor allem als lyrikerin bekannt.<br />

Als tochter eines jüdischen rechtsanwalts emigrierte<br />

sie via england und die uSA in die dominikanische<br />

republik. nach dem Krieg siedelte sie nach<br />

Spanien über und fand erst Anfang der sechziger Jahre<br />

in heidelberg ein neues Zuhause. Auch die «heimat»<br />

war für hilde domin zur Fremde geworden. ihre jüdische<br />

Verwandtschaft war grösstenteils in Konzentrationslagern<br />

umgebracht worden. <strong>das</strong> führte sie auf den<br />

weg der Suche nach ihrem eigentlichen Zuhause. Auf<br />

diesem hintergrund ist <strong>das</strong> gedicht «Ziehende landschaften»<br />

(*hilde domin, gesammelte gedichte, Frankfurt<br />

am main 1987) zu verstehen. Sie starb 2006 im<br />

Alter <strong>von</strong> 96 Jahren.<br />

<strong>das</strong> <strong>magazin</strong> <strong>von</strong> <strong>Schwarzenburg</strong> | n o 8 | <strong>August</strong> 2012<br />

21

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!