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Materialien zur Vorlesung "Öffentliche und private Sphäre"

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PD Dr. Wolfgang Fuhrmann, Institut für Musikwissenschaft der Universität Wien<br />

<strong>Vorlesung</strong> „<strong>Öffentliche</strong> <strong>und</strong> <strong>private</strong> Sphäre in der Musik des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts“, SoSe 2011<br />

kommerzialisierte <strong>und</strong> medialisierte Unterhaltungsmusik (<strong>und</strong> zugleich ein Beispiel<br />

dafür, dass sich mit einem Begriff wie „kommerzielle Musik“ nicht automatisch<br />

mindere Qualität verbinden muss).<br />

Musikalischer Idealismus <strong>und</strong> musikalische Unterhaltung entstehen also etwa<br />

gleichzeitig. Was wir im Fortschreiten des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts beobachten können, ist<br />

ein Nebeneinander von Kunst <strong>und</strong> Unterhaltung, die sich immer radikaler ihre<br />

eigenen sozialen Orte <strong>und</strong> Räume schaffen. Die Musiklandschaft diversifiziert sich<br />

immer mehr, sie stellt immer mehr Widersprüche nebeneinander, <strong>und</strong> sie wird<br />

immer durchgängiger kommerzialisiert. Neben den großen Konzerthäusern des<br />

späten 19. Jahrh<strong>und</strong>erts wie dem Wiener Musikvereinsgebäude von 1870, die man<br />

auch gerne Musiktempel nannte, entstanden Orte der leichten Muse wie die<br />

Londoner Music halls oder die Pariser Café-chantants.<br />

Aber auch hier gibt es die erstaunlichsten Querverbindungen. Ein Beispiel, das<br />

wir erörtert haben, war die Bilse’sche Kapelle in Berlin, die ihren eigenen<br />

Konzertsaal unterhielt – der gleichzeitig als Restaurant diente.<br />

Gerhart Hauptmann über die Konzerte der Bilse’schen Kapelle<br />

„Wir besuchten die Bilse-Konzerte. Dort saßen die Männer hinter Bierseideln, die<br />

Frauen hinter Strickstrumpf <strong>und</strong> Kaffeetasse, Mütter brachten die Kinder mit. Aber<br />

Bilse […] hatte ein von ihm gut geschultes Orchester in der Hand. Es hatte im<br />

Reich den besten Namen. Die Banalität hörte auf, sobald der Meister den Taktstock<br />

erhob, um das Mittelstandspublikum des geräumigen Vergnüggungsetablissements<br />

mit großer Musik zu speisen. Während die Klänge rauschten, wurde der<br />

Wirtschaftsbetrieb nicht abgestellt, nur dass die Kellner, wenn sie Bier oder Speisen<br />

brachten, auf leisen Sohlen einherschritten <strong>und</strong> sich mit den Gästen nur pantomimisch<br />

verständigten. [… U]nd da wir die Konzerte nie versäumten […], machten<br />

wir hier einen unvergesslichen musikalischen Kursus durch, der einen großen<br />

Gewinn für uns alle brachte. Durch den befrackten, ordensbesternten Militärkapellmeister<br />

[hier irrte Hauptmann], der sogar den Bogenstrich seiner Geiger exakt <strong>und</strong><br />

einheitlich regelte, haben wir Haydn, Mozart, Gluck, Beethoven, Schubert, Weber,<br />

Wagner <strong>und</strong> Brahms kennengelernt.“<br />

Tatsächlich hat Wagner 1873 <strong>und</strong> 1875 Stücke aus der Götterdämmerung vorgeführt,<br />

auch Saint-Saëns <strong>und</strong> Johann Strauß haben mit der Bilse’schen Kapelle konzertiert,<br />

letzterer fand sie beim klassischen Repertoire sogar besser als bei der Tanzmusik,<br />

wie sie für gewöhnlich jeden Donnerstag erklang. Strauß sollte in prophetischer<br />

Weise recht behalten. 1882 trennten sich 50 der 56 Musiker von Bilse, nachdem<br />

man sich über die Gage für einen Sommeraufenthalt in Warschau zerstritten hatte.<br />

Das Orchester beschloss, von nun als vormals Bilse’sche Kapelle aufzutreten, <strong>und</strong><br />

organisierten sich fortan demokratisch. Sie fanden Unterstützung bei dem damals<br />

wichtigsten Konzertagenten Deutschlands, Hermann Wolff. Ein neuer Name für<br />

die wenig geglückte Formulierung fand sich auch bald, das Ensemble nannte sich<br />

nunmehr Berliner Philharmonisches Orchester. Und das sind sie bis heute<br />

geblieben.<br />

© 2011 by Wolfgang Fuhrmann 19

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