29.01.2013 Aufrufe

Materialien zur Vorlesung "Öffentliche und private Sphäre"

Materialien zur Vorlesung "Öffentliche und private Sphäre"

Materialien zur Vorlesung "Öffentliche und private Sphäre"

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

PD Dr. Wolfgang Fuhrmann, Institut für Musikwissenschaft der Universität Wien<br />

<strong>Vorlesung</strong> „<strong>Öffentliche</strong> <strong>und</strong> <strong>private</strong> Sphäre in der Musik des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts“, SoSe 2011<br />

Aus dem Gründungsaufruf des Druckereiarbeiterchors „Freie Typographia“<br />

Die Aufgabe des Chors sei es, „jederzeit im Interesse der Arbeiterschaft zu wirken<br />

<strong>und</strong> deren bescheidene Festlichkeiten durch ihre [der Genossen] musikalische<br />

Mitwirkung zu verschönern. […] Der Verein wird das wahrhaft freie sowie<br />

schlichte Proletarierlied pflegen. Er wird mit den Worten <strong>und</strong> Melodien der<br />

wirklichen Volkspoeten zum Herzen des Volkes zu dringen versuchen.“<br />

Hier zeigt sich, dass der Arbeitergesangverein ideell in der Nachfolge des<br />

bürgerlichen Gesangvereins steht <strong>und</strong> sich auch institutionell aus ihm heraus<br />

entwickelt hat <strong>und</strong> mit ihm teilweise im Repertoire übereinstimmte. Das „Arbeiter-<br />

Liederbuch für vierstimmigen Männerchor“, das Scheu um 1900 herausgab, erhielt<br />

natürlich an aller erster Stelle sein „Lied der Arbeit“ <strong>und</strong> zahlreiche<br />

Freiheitsgesänge, das zweite Heft begann mit dem „B<strong>und</strong>eslied des Allgemeinen<br />

Deutschen Arbeitervereins“ <strong>und</strong> so weiter. (Übrigens war es in der Zeit der<br />

Verbote auch üblich, die Texte zuvor in den Arbeiterzeitungen zu drucken <strong>und</strong> in<br />

der Aufführung ohne Worte vorzutragen – die sich jeder hinzudenken konnte.)<br />

Aber Scheus Arbeiterliederhefte enthielten auch Chorsätze von Friedrich Silcher,<br />

dem prototypischen Komponisten der bürgerlichen Liedertafel, darunter die Lore-<br />

Ley nach Heine.<br />

Die Tradition der Wiener Arbeiter-Symphonie-Konzerte begann 1905 mit einer<br />

„Schiller-Feier der Wiener Arbeiterschaft“ begannen, an deren Beginn Wagners<br />

Meistersinger-Vorspiel <strong>und</strong> an deren Ende Beethovens Fünfte Symphonie stand.<br />

Verantwortlich für dieses Konzept zeichnete ein junger Musikkritiker der Arbeiter-<br />

Zeitung, David Josef Bach, der für die weitere Entwicklung neben dem ja schon<br />

1904 gestorbenen Josef Scheu höchst bedeutsam werden sollte, vor allem durch die<br />

Gründung der Sozialdemokratischen Kulturstelle in der Zwischenkriegszeit. Aber<br />

schon vor dem Ersten Weltkrieg, noch 1905, haben die Arbeitersymphoniekonzerte<br />

eine feste Abonnementstruktur entwickelt, <strong>und</strong> sie haben vor allem, was<br />

nicht selbstverständlich war, auch ein begeistertes Publikum gef<strong>und</strong>en (im selben<br />

Jahr wurde in der Berliner Brauerei Lipps Beethovens Neunte vor Arbeitern<br />

aufgeführt, eine Folgeaufführung zwei Monate später war nur noch schwach<br />

besucht). Für die Saison 1909/10 in Wien hingegen sind 6970 Besucher gezählt,<br />

also r<strong>und</strong> 1700, 1800 pro Konzert. In der Folgesaison kam sogar ein<br />

Kammermusikabend <strong>und</strong> ein Historischer Abend in kleineren Sälen dazu. Und so<br />

weiter. Ihren unbestrittenen Höhepunkt erlebten die Arbeiter-Symphoniekonzerte<br />

allerdings erst in der Zwischenkriegszeit, vor ihrem Verbot im Ständestaat ab 1934;<br />

1921 dirigierte kein Geringerer als George Szell Beethovens Neunte, unter<br />

Beteiligung des Chors Freie Typographia übrigens, <strong>und</strong> ihr spektakulärstes Ereignis<br />

war sicherlich die Feier des 200. Konzerts mit einer Aufführung von Gustav<br />

Mahlers Achter Symphonie unter der Leitung von Anton Webern am 18. April<br />

1926 mit Arbeiterchören <strong>und</strong> einem Arbeiterpublikum. Aber von der Zwischenkriegszeit<br />

ist hier nicht mehr zu berichten.<br />

Literatur: Seidl, Lammel<br />

© 2011 by Wolfgang Fuhrmann 29

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!