14 4/2009
Werner Schultz n Der Humanistische <strong>Verband</strong> Berlin zählt heute über 4.000 Mitglieder, 800 Ehrenamtliche und fast 1.000 hauptamtliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. 50.000 Schülerinnen und Schüler besuchen den Lebenskundeunterricht, 2.100 Kinder gehen in 23 Kindertagesstätten des <strong>Verband</strong>es erste Schritte in ein Leben in Selbstbestimmung und Verantwortung, also den Grundlagen unseres praktischen Humanismus. 1.500 Jugendliche haben sich in diesem Jahr für die Jugendfeier angemeldet. Und in vielen sozialen Projekten des <strong>Verband</strong>es, von der Schwangerschaftsberatung bis zu den Hospizen, erleben viele Berlinerinnen und Berliner, dass Humanismus auch Solidarität und Hilfe in schwierigen Lebenslagen bedeutet. Das alles ist erst in den letzten zwanzig <strong>Jahre</strong>n entwickelt worden. Anfänge des praktischen Humanismus Vergegenwärtigen wir uns, wie es rund um das Jahr 1989 war. In West-Berlin hatte sich der „Deutsche Freidenker-<strong>Verband</strong>“ aus der immer sektiererischer werdenden internationalen Freidenkerbewegung entfernt und sich der sehr viel größeren „Internationalen Humanistischen und Ethischen Union“, der IHEU, zugewandt. Der Hintergrund dafür lag in der Erfahrung, dass Religionen und speziell auch die Kirchen nicht mehr das zentrale Feindbild abgeben konnten, das es zu überwinden galt, um endlich das Zeitalter von Vernunft und Wissenschaft auferstehen zu lassen. Dagegen beeindruckten uns als organisierte Konfessionsfreie in West-Berlin die praktischen Erfahrungen der starken humanistischen Verbände in Holland, Belgien, Norwegen oder Frankreich. Diese haben zwar die Religionskritik und die Kritik an den Anmaßungen der Kirchen nie vergessen, aber sie legten ihren Arbeitsschwerpunkt auf eine selbstbewusste Interessenver- TITEl 20 <strong>Jahre</strong> Mauerfall – Wo steht der HVD heute? Wenn wir auf die vergangenen zwanzig <strong>Jahre</strong> unseres <strong>Verband</strong>es zurückblicken, dann können wir von einer großen Erfolgsgeschichte sprechen. Die <strong>Wende</strong> hat dem organisierten Humanismus zu einem großen Auftrieb verholfen. Exemplarisch steht dafür der landesverband Berlin. An der Nahtstelle zweier Systeme trafen Konfessionslose aufeinander, die, kamen sie aus dem Westen, kampfeslustig gegen die Kirche zu Felde zogen. Den Menschen aus dem Osten war die Kirche größtenteils herzlich egal, sie hatten keine schlechten Erfahrungen, sie bot ihnen kein Feindbild. lassen wir noch einmal Revue passieren. tretung und auf die Schaffung praktischer Angebote für Konfessionslose. In diesen Angeboten nahm praktischer Humanismus eine greifbare Gestalt an und wurde damit auch außerhalb enger Zirkel meinungsfreudiger Menschen attraktiv. Sie boten, wie auch wir in Berlin, humanistischen Schulunterricht als Alternative zum Religionsunterricht an. Insbesondere beeindruckte uns das Berufsbild des Humanistischen Beraters. Diese arbeiten in Krankenhäusern, Gefängnissen, sozialen Einrichtungen (und, für uns erst einmal befremdlich, auch als Beraterinnen und Berater von Soldaten in der Armee) – sie taten das, was Pfarrer und Priester über eine lange Zeit als ihre exklusive Domäne angesehen haben. Überraschungsgründung DDR- Freidenker Zu gleicher Zeit wurde in der DDR der „<strong>Verband</strong> der Freidenker“ (VdF) aktiv. Es war für viele Menschen, besonders für die im Westen, überraschend, dass eine neue starke Mitgliederorganisation in der DDR ins Leben gerufen wurde. Große Hoffnungen auf neue Freiheiten und offene Diskussionen verbanden sich mit einer solchen Gründung. Verwunderlich war diese neue Organisation deshalb, weil die Parteiführung jahrzehntelang davon ausgegangen war, die DDR brauche keine Freidenker mehr, da ihr Staat säkular sei und Aufklärung und Wissenschaft in diesem Land gesiegt hätten. Der Präsident des Humanistischen <strong>Verband</strong>es, Horst Groschopp, hat das so formuliert: „Viele Freidenker der 1920er-<strong>Jahre</strong>, Kommunisten wie Sozialdemokraten, fanden sich nach dem Zweiten Weltkrieg in der SED wieder und kamen auch zu einigem Einfluss bei der formalen Verstaatlichung und Einvernahme freidenkerischer Ideen und Institutionen für die DDR. Ein eigener Freidenker-<strong>Verband</strong> wurde nicht gebraucht – und was hätte da freies Denken bedeutet? Erst als sich eine politische Opposition in Kirchen zu entfalten begann, erinnerten sich einige ältere Funktionäre an den Kirchenkampf der proletarischen Freidenker um 1930. Das fiel nun zusammen – und das dürfen wir nicht vergessen – mit Reformvorstellungen innerhalb und außerhalb der SED, wo einige kundige Leute freidenkerische Ambitionen bekamen. – Dass sie diese bekamen, lag in den Verhältnissen in der DDR selbst begründet: Die Kirchen waren für die 20 Prozent Gläubigen zuständig und der Staat für die 80 Prozent Konfessionslosen. Doch bekanntlich haben auch Ungläubige Bedürfnisse nach einer freien Tätigkeit und Selbstorganisation, wie sie ein Staat als Staatsgewalt niemals zu befriedigen vermag.“ Der Stasi-Befehl Aus diesen ambivalenten Überlegungen heraus wurden die Freidenker der DDR 1989 „von oben“ offiziell gegründet und konnten schnell eine große Zahl an Mitgliedern vorweisen. Im Westen wusste man zunächst 4/2009 15