Jahre Wende - Humanistischer Verband Deutschlands
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Diese Prozesse finden seit der Wiedervereinigung<br />
auch in Deutschland statt. Der<br />
Zusammenbruch der ehemaligen DDR<br />
bildete den Startschuss für die „Schock-<br />
Strategie“, wie die renommierte kanadische<br />
Journalistin Naomi Klein die Methode der<br />
Neoliberalen zur Eroberung der weltweiten<br />
Wirtschaftsmärkte nennt. Das Desaster,<br />
egal ob durch ein politisch-historisches<br />
Erdbeben oder eine Naturkatastrophe hervorgerufen,<br />
wird von den Marktradikalen<br />
als „entzückende Marktchance“ begriffen,<br />
um Tabula rasa zu machen und eine marktgläubige<br />
Gesellschaft von Grund auf neu zu<br />
errichten. Genau dies ist seither in Deutschland<br />
geschehen.<br />
Unter der Kohl-Administration wurden<br />
nach der Wiedervereinigung zunächst die<br />
ehemaligen Staatsbetriebe der DDR veräußert<br />
und dann auch große öffentliche Unternehmen<br />
wie Lufthansa, Post oder Wasser-<br />
und Stromversorger. Zugleich verschuldete<br />
sich der Staat zunehmend durch die steigenden<br />
sozialen Lasten, die zugegebenermaßen<br />
aufgrund der finanziellen Belastung durch<br />
die Übernahme der am Boden liegenden<br />
Ost-Wirtschaft besonders hoch waren und<br />
wurde gegenüber den Unternehmen erpressbar.<br />
Diese forderten eine Schwächung<br />
der Gewerkschaften, weniger Arbeitnehmerrechte,<br />
ein unternehmerfreundlicheres<br />
Steuersystem und größere Mitbestimmung<br />
durch Lobbyismus und vieles mehr. Unter<br />
Rot-Grün wurden diese Forderungen aufgrund<br />
der kritischen Finanzsituation und<br />
dem Zwang zur Haushaltskonsolidierung<br />
wieder aufgegriffen. Ziel der Regierungsparteien<br />
seit 1998 war es, die Staatsverschuldung<br />
zu reduzieren und die Inflation<br />
sowie den Anstieg der Arbeitslosenzahlen<br />
zu stoppen. Nicht alle diese Bestrebungen<br />
waren falsch, aber zahlreiche hatten fatale<br />
Folgen für die deutsche Gesellschaft.<br />
Kurzfristige Gewinne, langfristige<br />
Transferleistungen<br />
Dies kann exemplarisch auf verschiedenen<br />
Feldern veranschaulicht werden. So wurden<br />
in den vergangenen <strong>Jahre</strong>n zehntausende<br />
Sozialwohnungen an private (und oft spekulativ<br />
tätige) Immobilienunternehmen<br />
verkauft, um kurzfristige Gewinne einstreichen<br />
zu können. Langfristig führt dies aber<br />
dazu, dass diese Wohnungen vom öffentlichen<br />
Wohnungsmarkt verschwinden und<br />
die sozial schlechter gestellten Bewohner<br />
aus diesen Wohnungen ausziehen und er-<br />
26<br />
4/2009<br />
neut auf Transferleistungen des Staates angewiesen<br />
sein werden. Die Gesellschaft verliert<br />
an Zusammenhalt. Die Entmischung<br />
beginnt bereits im Kindergarten, denn insbesondere<br />
in den Großstädten findet eine<br />
Trennung von Kindern bildungsferner und<br />
bildungsnaher Haushalte statt. Die öffentlichen<br />
Schulen verkommen aufgrund der<br />
schlechten finanziellen Ausstattung zunehmend<br />
zu Auffangbecken des sogenannten<br />
„sozialen Prekariats“, denn finanzstarke<br />
Familien flüchten verstärkt in die privaten<br />
Alternativen. Die Entkoppelung der Löhne<br />
von tariflichen Vereinbarungen und die unterbezahlte<br />
Beschäftigung von Fachkräften<br />
über Beschäftigungsmaßnahmen führen in<br />
breiten Schichten zu existenzieller Verunsicherung.<br />
Damit löst sich die Bereitschaft<br />
zur Sorge für die Gemeinschaft zunehmend<br />
in Wohlgefallen auf.<br />
Den Staat nicht aus Verantwortung<br />
entlassen<br />
Aus der sozialen Fürsorge zieht sich der<br />
Staat immer mehr zurück und überlässt das<br />
Feld den freien Trägern. Auch wenn sich für<br />
den Humanistischen <strong>Verband</strong> so neue Betätigungsfelder<br />
ergeben, muss darauf geachtet<br />
werden, dass der Staat nicht aus seiner sozialen<br />
Verantwortung entlassen wird. Eine<br />
Übernahme staatlicher Fürsorgepflichten,<br />
dazu noch um jeden Preis, scheint weder<br />
sinnvoll, noch im Sinne des Humanismus.<br />
In diesem Zusammenhang sollten sich Humanistinnen<br />
und Humanisten der Diskussion<br />
öffnen, ob der <strong>Verband</strong> den von der<br />
öffentlichen Hand befeuerten bodenlosen<br />
Konkurrenzkampf der freien Träger um die<br />
Übernahme von Einrichtungen aus humanistischen<br />
Gesichtspunkten weiter betreiben<br />
will. Oder widersprechen die sich daraus<br />
ergebenden Arbeitsbedingen nicht dem<br />
humanistischen Anspruch nach Achtung<br />
und Selbstverwirklichung des Individuums?<br />
Und wäre eine alternative <strong>Verband</strong>spolitik,<br />
die zwar aus dem neoliberalen Arbeitsmodell<br />
ausscheert, aber gleichzeitig das Risiko<br />
birgt, im Vergleich zu anderen Dienstleistern<br />
nicht mehr konkurrenzfähig zu sein,<br />
ein praktikabler Gegenentwurf? Eine Lösung,<br />
die dem humanistischen Selbstverständnis<br />
entspricht, scheint eine der großen<br />
Aufgaben des Humanistischen <strong>Verband</strong>es<br />
in den kommenden <strong>Jahre</strong>n zu sein.<br />
Unsere Gesellschaft befindet sich in einer<br />
Phase der allumgreifenden Ökonomisierung<br />
des Alltags. Was noch nicht pro-<br />
fitabel ist, wird profitabel gemacht, durch<br />
Privatisierung, Outsourcing oder rigide<br />
Kürzungen. Aus dem Blick geraten dabei<br />
die Menschen, die von dieser Politik am<br />
meisten betroffen sind, der Mittelstand, die<br />
sozial Schwachen und die künftigen Generationen.<br />
Die von diesen Prozessen betroffenen<br />
sozialen Schichten haben im Gegensatz<br />
zur Automobilindustrie, Pharmabranche<br />
oder den Banken keine finanzstarke Lobby.<br />
Der HVD könnte hier zu einem Interessenvertreter<br />
dieser Menschen werden. Dabei<br />
könnte er sein Profil als Vertretung der<br />
Konfessionsfreien ausbauen und zugleich<br />
auf das Eintreten für ein generell besetztes<br />
Verständnis von humanem Zusammenleben<br />
ausweiten.<br />
Es steht zu befürchten, dass die Interessen<br />
der sozial schwachen und oft wehrlosen<br />
Menschen in der neoliberalen Welt<br />
der künftigen Regierung unter die Räder<br />
geraten. Die Parteiprogramme von CDU/<br />
CSU und FDP lassen dies vermuten. So will<br />
die FDP dafür sorgen, „dass sich Leistung<br />
wieder lohnt“. Und auch das Regierungsprogramm<br />
der Unionsparteien will das gesellschaftliche<br />
Zusammenleben in der Bundesrepublik<br />
auf die Füße des Leistungsprinzips<br />
stellen. „Sozial ist, was Arbeit schafft!“,<br />
heißt es knallhart. Was bedeutet dieses Leistungsprinzip<br />
aber für all jene, die in den<br />
Augen der Liberalen nichts mehr leisten,<br />
sei es aus persönlichen oder ihnen auferlegten<br />
Gründen? Wahrscheinlich schlichtweg<br />
nichts anderes, als dass sie durch das soziale<br />
Raster fallen. Denn wer nichts leistet, darf<br />
auch nichts beanspruchen. Der solidarische<br />
Grundgedanke, wie er dem Humanismus<br />
eigen und selbstverständlich ist, gerät so ins<br />
Abseits. Zwar ist im FDP-Programm auch<br />
von „selbstbestimmtem und eigenverantwortlichem<br />
Handeln“ der Bürger die Rede,<br />
die FDP meint hier jedoch vorwiegend die<br />
Entlassung des Staates aus der Verantwortung<br />
gegenüber dem Individuum.<br />
Politik des leistungsprinzips<br />
Der Humanistische <strong>Verband</strong> muss die künftige<br />
Tagespolitik aufmerksam verfolgen und<br />
kritisch begleiten, um den Grundgedanken<br />
der Solidarität im Bewusstsein einer breiten<br />
Öffentlichkeit zu bewahren. Denn es<br />
kann nicht im Sinne des humanistischen<br />
Selbstverständnisses sein, eine Politik des<br />
Leistungsprinzips unkommentiert zu lassen.<br />
Dies sollte der <strong>Verband</strong> auch stets beachten,<br />
wenn es darum geht, neue soziale