Jahre Wende - Humanistischer Verband Deutschlands
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16<br />
Brief des Deutschen Freidenker-<br />
<strong>Verband</strong>es (Sitz Berlin e.V.) an<br />
den <strong>Verband</strong> der Freidenker der<br />
DDR vom 11. Oktober 1989:<br />
Sehr geehrter Herr Prof. Klein,<br />
mit besonderer Aufmerksamkeit verfolgt<br />
der Freidenker-<strong>Verband</strong> e. V. Sitz Berlin<br />
zur Zeit die Berichterstattung in den Medien<br />
zur Entwicklung einer gesellschaftlichen<br />
Oppositionsbewegung in der DDR.<br />
Die Forderung vieler Menschen nach mehr<br />
Freizügigkeit, nach mehr Demokratie,<br />
Meinungs- und Bewegungsfreiheit, nach<br />
mehr Freiheit überhaupt und der Ruf „wir<br />
bleiben hier“ ist unüberhörbar wie auch<br />
das Singen der „Internationale“ auf den<br />
Demonstrationen in Leipzig. Die Gründung<br />
oppositioneller Zusammenschlüsse<br />
wie dem „Neuen Forum“ und anderen unter<br />
dem Dach der Kirche wirft Fragen auf,<br />
warum es dem <strong>Verband</strong> der Freidenker<br />
nicht gelingt, sich aktiv und konstruktiv<br />
in diese gesellschaftspolitischen Veränderungsprozesse<br />
und Auseinandersetzungen<br />
einzumischen und wieso es den Kirchen<br />
gelingt, diese Protestbewegung zu sammeln<br />
und sich als moralische Instanz in der<br />
Diskussion und zum Staat zu profilieren?<br />
Wenn wir von einer Freidenkerbewegung<br />
ausgehen, die die Verwirklichung eines<br />
freiheitlichen und demokratischen Sozialismus<br />
als eine wesentliche Voraussetzung<br />
einer humanistischen Lebensgestaltung<br />
ansieht, so ist es uns unverständlich, warum<br />
der <strong>Verband</strong> der Freidenker der DDR<br />
in dieser Frage bisher öffentlich sprachlos<br />
blieb.<br />
Wir würden uns wünschen, dass der <strong>Verband</strong><br />
der Freidenker der DDR sich am<br />
Prozess der Erneuerung aktiv und erfolgreich<br />
beteiligt, er sich auf allen gesellschaftlichen<br />
Ebenen der DDR aktiv einmischt,<br />
um seine humanistische und weltliche<br />
Alternative einzubringen. Wir hielten es<br />
für skandalös, wenn der <strong>Verband</strong> der Freidenker<br />
vor allem nach den Ereignissen der<br />
letzten Tage in Berlin, Leipzig und Dresden<br />
schweigen würde und die Rufe nach<br />
Freiheit und Demokratie, nach Glasnost<br />
und Perestroika in der DDR von ihm ungehört<br />
blieben. Dies muss Sache der Freidenker<br />
sein und nicht nur der Kirche!<br />
Wir fordern Euch auf zur öffentlichen Einmischung<br />
in die Angelegenheiten Eures<br />
Landes getreu den Zielen eines freiheitlichen<br />
und sozialistischen Humanismus in<br />
der Freidenkerbewegung. Wir wünschen<br />
Euch dabei viel Erfolg.<br />
Mit solidarischen Freidenkergrüßen<br />
Gerald Betz<br />
(Vorsitzender)<br />
4/2009<br />
nicht so richtig, wie das einzuschätzen sei,<br />
aber natürlich war man voller Hoffnung<br />
auf die neue Organisation mit ihrem großen<br />
Namen.<br />
Als einer der ersten besuchte den <strong>Verband</strong><br />
in Ost-Berlin Rob Tielman aus den<br />
Niederlanden. Er war damals der Weltvorsitzende<br />
der IHEU. Zurück kam er sichtlich<br />
beeindruckt. In den Gesprächen wurde ihm<br />
versichert, die Ideale der Freidenker und des<br />
Humanismus prägen den neuen <strong>Verband</strong><br />
und man verstehe sich als Teil der Modernisierung<br />
der sozialistischen Gesellschaft.<br />
Nur – erzählte er damals nach einigem<br />
Zögern – er sei schon einige <strong>Jahre</strong> Vorsitzender<br />
der IHEU und kenne säkulare Verbände<br />
überall in der Welt, aber so etwas habe er<br />
noch nicht gesehen. Die Freidenker hätten<br />
eine hervorragend ausgestattete Büroetage,<br />
einen Vorstand mit vielen Professoren<br />
und ca. 80 Hauptamtliche. Jetzt, sagte man<br />
ihm, würden die ersten Mitglieder aufgenommen.<br />
Rob Tielman hatte die andere Seite kennengelernt,<br />
die dann später am runden Tisch<br />
aufgedeckt wurde und auch niemanden so<br />
richtig verwundert hatte. Der Freidenkerverband<br />
der DDR wurde auf Anweisung der<br />
SED-Führung mit Hilfe der Staatssicherheit<br />
aufgebaut. Dieser Befehl kam den Kirchen<br />
nicht ungelegen. Sie erkannten schnell seine<br />
Nützlichkeit. Schließlich saßen die DDR-<br />
Freidenker bis zu Pfarrer Gaucks Rostocker<br />
Enthüllungen mit am Runden Tisch. Die<br />
Freidenker haben sich von diesem Schlag<br />
nie wieder erholt.<br />
Forderung nach klarem Schnitt<br />
Es ist müßig zu überlegen, was aus dem „<strong>Verband</strong><br />
der Freidenker“ hätte werden können,<br />
wenn er die Zeit bekommen hätte, sich von<br />
seiner verdeckten Gründung zu emanzipieren.<br />
Wenn er eine Gemeinschaft des freien<br />
Denkens, der Ideologiekritik und des vernünftigen<br />
Arguments geworden wäre – und<br />
einige Zeichen im Frühjahr bis zum Herbst<br />
1990 sprechen durchaus dafür. Der Staat<br />
DDR aber brach zusammen und die DDR-<br />
Freidenker hatten zu diesem Zeitpunkt nur<br />
wenige Monate bestanden. Der Stasi-Befehl<br />
lastete auf der jungen Organisation wie ein<br />
Mühlstein und Kirchen und Konservative<br />
transportierten diesen Fakt ständig neu in<br />
die Medien, während sie selbst dafür sorgten,<br />
den Kirchen Geschäfts- und Missionsfelder<br />
und entsprechende Gesetzlichkeiten<br />
zu schaffen.<br />
Der West-Berliner Freidenker-<strong>Verband</strong><br />
sah sich gezwungen, einen sehr weitgehenden<br />
Schritt zu gehen: Er forderte die Freidenker<br />
der DDR auf, sich aufzulösen, um<br />
einen klaren Schnitt gegenüber der Gründungsgeschichte<br />
vorzunehmen. Im Osten<br />
dagegen sahen viele darin bloß die damals<br />
übliche Übernahme durch Westverbände.<br />
Im Nachhinein bleiben also viele Fragen.<br />
Es war nicht die Zeit des langen Nachdenkens<br />
und der einfühlsamen Dialoge über<br />
Erfahrungen und soziale Chancen in sehr<br />
unterschiedlichen gesellschaftlichen Systemen.<br />
Es kam zu heftigen und verletzenden<br />
Auseinandersetzungen, an die sich einige<br />
von uns noch heute ungern erinnern – auch<br />
wenn wohl alle ahnen, dass das Verdrängen<br />
der unausgetragenen Konflikte und der damit<br />
verbundenen Schuldverhältnisse keine<br />
Lösung sein kann.<br />
Im Ergebnis führte dieser Prozess zu<br />
einer Auflösung des Ost-Berliner Freidenkerverbandes<br />
und zum Eintritt von Einzelpersonen<br />
in den West-Berliner <strong>Verband</strong>.<br />
Der <strong>Verband</strong> der Freidenker der DDR ging<br />
einen anderen Weg. Sein Kern vereinigte<br />
sich mit dem zweiten Freidenkerverband<br />
in Westdeutschland, der bis heute stark von<br />
kommunistischen Funktionären dominiert<br />
wird. Andere kamen in Ostdeutschland<br />
zum späteren HVD oder gingen zum<br />
Jugendweihe-<strong>Verband</strong>. Aber die meisten<br />
Mitglieder des Freidenker-<strong>Verband</strong>es der<br />
DDR – und das ist das eigentlich Tragische<br />
– wurden in diesen Auseinandersetzungen<br />
abgeschreckt und verließen einfach<br />
den <strong>Verband</strong>, ohne sich anderswo wieder<br />
zu organisieren.<br />
Es gab damals auch etwas, womit die<br />
meisten nicht gerechnet hatten. Der<br />
Atheismus in Ost und West war sehr unterschiedlich.<br />
Waren die meisten Atheistinnen<br />
und Atheisten im Westen einmal<br />
selbst Kirchenmitglieder gewesen und<br />
hatten unter Protest dieser Institution den<br />
Rücken gekehrt, so war in Ostdeutschland<br />
ein Volksatheismus entstanden, der sich<br />
ganz anders äußerte. Ein schönes Beispiel<br />
dafür war eine Befragung von Jugendlichen<br />
vor dem Leipziger Hauptbahnhof: Auf die<br />
Frage einer Reporterin nach ihrem Glauben<br />
antworteten sie nach einigem Zögern:<br />
„Glauben tun wir eigentlich nichts. Wir<br />
sind eher normal.“<br />
„Es fehlt uns heute noch die historische<br />
Forschung zu den Fragen, was in den <strong>Jahre</strong>n<br />
zwischen 1988 und 1993 in Ost und West