Boberhaus und Boberhauskreis - Adolf-Reichwein-Verein
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anderen zusammengetragen sind, <strong>und</strong> zwar unter<br />
dem für Szymborska bezeichnenden Titel: Erinnerungspl<strong>und</strong>er,<br />
Fre<strong>und</strong>e <strong>und</strong> Träume (1998).<br />
Geboren wurde sie in der Gegend von Posen, 1923,<br />
kam aber in früher Jugend schon nach Krakau <strong>und</strong><br />
schwört bis heute auf Krakau als die schönste polnische<br />
Stadt. (Die Krakauer haben es immer noch nicht<br />
verw<strong>und</strong>en, dass die Hauptstadt Polens in das nüchterne<br />
<strong>und</strong> steife Warschau verlegt wurde). Ihre Schulzeit<br />
beendete sie illegal: Nach dem Willen der deutschen<br />
Besatzer sollten die Polen ja nur noch das<br />
Notdürftigste lernen, die über 14jährigen gar nichts<br />
mehr, aber Untergr<strong>und</strong>schulen vermittelten trotzdem<br />
höhere Bildung; Szymborska machte bei den Ursulinerinnen<br />
ihr Abitur. Gleich nach der Befreiung, am<br />
letzten Januar 1945, erhielt sie ihre poetische Initiation:<br />
bei einem Fest der geretteten Dichtung, zu dem<br />
Przybo�, Mi�osz <strong>und</strong> eine Reihe weiterer Poeten ihre<br />
Gedichte vortrugen, die in dieser Situation als wahre<br />
Offenbarungen aufgenommen wurden. Sie selbst<br />
begann auch alsbald zu dichten, erst einigermaßen<br />
gutherzige <strong>und</strong> gutmütige Verse, dann 6 Jahre lang<br />
strikt parteigetreue, emphatische, seit dem polnischen<br />
Oktober aber, 1956, entschieden selbständige, eigene,<br />
skeptische, die in den fast 50 Jahren seitdem<br />
immer feiner, subtiler, dialektischer <strong>und</strong> immer kunstvoller<br />
wurden. Sie schreibt viel <strong>und</strong> veröffentlicht<br />
wenig. Gedichte lässt sie durchweg nur 4-5 pro Jahr<br />
erscheinen (zunächst in Zeitschriften), so dass nur<br />
alle 5-10 Jahre ein schmaler Band von ihr erschienen<br />
ist, das aber kontinuierlich, 8 Bände von der �Anrufung<br />
des Yeti� (1957) bis zum vorläufig letzten: �Moment�<br />
oder �Eine Weile� (2002). Gelebt hat sie jahrzehntelang<br />
von Redaktionsarbeit, zumeist in der<br />
Literaturzeitschrift �ycie literackie; bekannt wurde<br />
davon ihre Betreuung der Leserbriefabteilung (im<br />
Polnischen sehr wichtig), weil sie so gut wie alle Briefe<br />
auch beantwortet hat <strong>und</strong> die schönsten, spöttischsten,<br />
z.T. nur kopfschüttelnden dieser Antworten<br />
in bis jetzt vier Bänden veröffentlicht wurden. Natürlich<br />
erregen auch die Bindungen, in denen ein solches<br />
betont eigenständiges Individuum lebt, die Neugier<br />
ihrer Leser. In den fünfziger Jahren war Szymborska,<br />
nicht sehr lange, mit dem Rilke-Übersetzer<br />
Adam W�odek verheiratet. Vermutlich in den späten<br />
60er Jahren, offiziell seit 1972, fand sie eine dauerhafte,<br />
von den Fre<strong>und</strong>en als sehr glücklich beschriebene<br />
Beziehung zu dem zehn Jahre älteren KZ-<br />
Überlebenden <strong>und</strong> Prosaschriftsteller Kornel Filipowicz.<br />
Diese währte bis zu seinem Tod, Anfang 1990,<br />
<strong>und</strong> auf diesen einschneidenden Verlust reagierte sie,<br />
wie sonst ganz selten, mit zwei ganz persönlichen<br />
Gedichten, �Die Katze in der leeren Wohnung� <strong>und</strong><br />
�Abschied vom Ausblick�, die wegen ihres zarten <strong>und</strong><br />
reichwein forum Nr. 7 / November 2005<br />
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zugleich ironischen Tons zu den beliebtesten Kreationen<br />
dieser ohnehin sehr beliebten Dichterin gehören.<br />
Seitdem lebt sie allein; sie lebt aber, schon seit<br />
jeher, ausgesprochen gesellig. Sie hat zwei Künste<br />
des witzigen Umgangs mit nahen wie fernen Fre<strong>und</strong>en<br />
zu einer eigenen Perfektion entwickelt: Situationen,<br />
die sie erlebt, <strong>und</strong> Einfälle, die ihr durch den<br />
Kopf gehen, spielt sie in Limericks oder Nonsenseversen<br />
durch, <strong>und</strong> sie montiert Collagen aus Zeitungsbildern<br />
<strong>und</strong> Annoncen, voller Anspielungen,<br />
Launen, Grotesken oder Absurditäten, am liebsten<br />
auf Postkarten. Sie hält diese beiden Kunstfertigkeiten<br />
aber strikt getrennt von ihrer eigentlichen Kunst.<br />
Nach der Verleihung des Nobelpreises, 1996, drohten<br />
ihr die anschwellende Korrespondenz <strong>und</strong> die zunehmenden<br />
Verpflichtungen über den Kopf zu wachsen.<br />
Sie fand aber einen Sekretär, nach allen Beschreibungen<br />
ein Ausb<strong>und</strong> an Kompetenz <strong>und</strong> Distinktion,<br />
<strong>und</strong> wickelt seitdem ihren Verkehr mit �der<br />
Welt� über ihn ab.<br />
Da Szymborskas Gedichte dazu einladen, unendlich<br />
viel darin zu finden, habe ich mich in Kreisau auf drei<br />
knappe Abschnitte beschränkt, die etwa den Interessen<br />
der Arbeitstagung entsprechen konnten. Ich halte<br />
mich auch hier daran: politische Erkenntnisse / die<br />
spezifische gesellschaftliche Kohärenz / Entdeckung,<br />
Befreiung <strong>und</strong> Denkanstöße durch die Kunst.<br />
1. Politik bei näherem Hinschauen<br />
Szymborska ist, wenn man von der �Verirrung� ihrer<br />
kurzen realsozialistischen Phase absieht, keine politische<br />
Dichterin. Sie schreibt vor allem philosophische<br />
Gedichte: über die Position des Menschen in der<br />
Natur, die Spuren seiner Evolution in seiner psychischen<br />
<strong>und</strong> mentalen Ausstattung <strong>und</strong> immer wieder<br />
über den prekären oder abenteuerlichen Charakter<br />
seiner Gedankenwelt <strong>und</strong> seiner gedanklichen Manöver,<br />
seiner Vorstellungen, Wünsche <strong>und</strong> Präferenzen,<br />
seines Gemütslebens, seiner sozialen Anlagen, seiner<br />
Sprache usw. Alle ihre Gedichtbände enthalten<br />
aber je 1-3 Gedichte, in denen sie explizit zu den<br />
Schrecken der Besatzungszeit <strong>und</strong> der Judenvernichtung<br />
oder zu den fortdauernden Bedrohungen Stellung<br />
nimmt. Da werden Juden in plombierten Zügen<br />
durch ihr Land transportiert; in einem Café mit dem<br />
ganz normalen angeregten Treiben hat ein Terrorist<br />
eine Bombe platziert (unerhört in der Volksrepublik<br />
Polen in den 70er Jahren); dass die Folter weltweit<br />
ungerührt weiter ausgeübt wird, ist so unfassbar,<br />
dass es alle Begriffe des dagegen andenkenden<br />
Menschen zu sprengen droht; der Krieg hinterlässt<br />
außer den Spuren der Verwüstung, die mit dem<br />
Schwung des Aufbauwillens beseitigt werden, immer-