Boberhaus und Boberhauskreis - Adolf-Reichwein-Verein
Boberhaus und Boberhauskreis - Adolf-Reichwein-Verein
Boberhaus und Boberhauskreis - Adolf-Reichwein-Verein
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
Die Autorin lässt absichtlich offen, wo dieses Geschehen<br />
spielt <strong>und</strong> wer die Betroffenen sind. Ein<br />
«Ich» oder «Wir» hat in der dichten Trübe, die über<br />
dieser Vertreibung <strong>und</strong> Verfolgung herrscht, keinen<br />
Platz. Damit bringt sie eine leise, doch unübersehbare<br />
Korrektur an einem Vorläufertext an, den Adam<br />
Zagajewski 1 ¼ Jahre vorher in der gleichen Zeitschrift,<br />
ebenfalls auf Seite 1, veröffentlicht hatte. Zagajewski,<br />
ein jüngerer Autor, der sich seinerseits in<br />
manchen Gedichten auf Szymborska bezieht, hatte<br />
sein Gedicht direkt «Flüchtlinge» genannt <strong>und</strong> hatte<br />
das Fluchtgeschehen datiert. Er bot jedoch mehrere<br />
Festlegungen (insgesamt sieben) zur Wahl an: «Bosnien<br />
heute, / Polen im September 39, Frankreich � /<br />
acht Monate später [�].» Auch bei ihm müssen die<br />
Flüchtlinge «alles» ertragen, aber es ist «zuviel» für<br />
sie, zuviel Schnee, zuviel Sonne. Er hebt ihre nach<br />
vorn gebeugte Haltung hervor <strong>und</strong> erkennt darin eine<br />
'Neigung' zu einem anderen, besseren Planeten mit<br />
weniger ehrgeizigen Generälen oder «weniger Geschichte».<br />
«Leider» gibt es einen solchen Planeten<br />
nicht, nur diese Haltung. So laufen sie langsam weiter<br />
«in ein Land Nirgendwo».<br />
Was die Situation <strong>und</strong> ihr äußere Haltung angeht,<br />
gleichen die Menschen in Szymborskas Gedicht<br />
durchaus denen bei Zagajewski. Sie sind zur Passivität<br />
verurteilt, können nur reagieren <strong>und</strong> sind verschärft<br />
aufmerksam auf alles, was um sie <strong>und</strong> über<br />
ihnen geschieht. Alle sind unglücklich <strong>und</strong> reduziert<br />
auf eine kurze Sicht, dabei solidarisch <strong>und</strong> unsolidarisch,<br />
wie man sich Zusammenballungen von «irgendwelchen<br />
Leuten» eben vorstellen muss. Von<br />
ihren eingeschränkten Möglichkeiten aber machen sie<br />
den bestmöglichen Gebrauch. Insbesondere durch<br />
die Richtung, in die sie ihre Gedanken lenken, suchen<br />
sie in das hoffnungslose Gegenüberstehen von Tätern<br />
<strong>und</strong> Opfern eine Bresche zu schlagen, gerade<br />
die Kategorie «Feind» aufzuweichen. Sie selber sind<br />
schon um ihres Überlebens willen daran interessiert,<br />
so wenig wie möglich jemandes Feind zu sein. Sie<br />
müssen aber auch, als potentielles Angebot, für ihr<br />
Gegenüber innere oder äußere Möglichkeiten suchen,<br />
etwas anderes zu sein als ihr Feind. Ihre Entdeckung,<br />
die vorgeschlagene Lösung besteht darin,<br />
dass sie den vermuteten «Feind» als Menschen ihresgleichen<br />
begreifen <strong>und</strong> ihm die Freiheit zuschreiben,<br />
sich so oder so zu entscheiden.<br />
Das Gedicht lädt nicht eigentlich dazu ein, uns an die<br />
Stelle dieser «irgendwelchen wo auch immer» zu<br />
versetzen, auch nicht zur psychologischen Auslotung<br />
ihrer Situation, es versetzt uns nicht einmal einen<br />
moralischen Appell. Da die Betroffenen eingesperrt<br />
bleiben in ihre <strong>und</strong>urchsichtige Situation <strong>und</strong> das in<br />
reichwein forum Nr. 7 / November 2005<br />
24<br />
sich kreisende Geschehen, da sie nicht mehr tun<br />
können als sie gerade tun, geht die ganze Dringlichkeit<br />
der Suche, die Einladung zur Teilnahme von<br />
dieser gedanklichen Suchbewegung aus. Kein realer<br />
oder imaginärer Fluchtort kann ihr Problem lösen,<br />
kein noch so entlegenes Anderswo, das sich aus dem<br />
«Nirgendwo» Zagajewskis immerhin herauslesen<br />
lässt. Sondern nur die Anstrengung des situationsgetreuen<br />
<strong>und</strong> auf denkbare Partner ausgreifenden Denkens.<br />
«Erweitert denken» hat Kant das genannt, d.h.<br />
für die anderen mit <strong>und</strong> in ihren Köpfen denken; das<br />
fand er genauso wichtig wie selber zu denken <strong>und</strong><br />
konsequent zu denken. Um auf Notsituationen natürlich<br />
<strong>und</strong> vernünftig reagieren zu können, braucht man<br />
ein solches erweitertes Denken. Wir gehören dann<br />
mit «irgendwelchen Leuten» zusammen, wenn wir<br />
von unserer Wahlmöglichkeit Gebrauch machen <strong>und</strong><br />
ihnen in der Vorstellung, bei der Lektüre «irgendein<br />
Leben» lassen.<br />
Damit ist natürlich weder der Sondertatbestand von<br />
Szymborskas politischen Gedichten noch der politische<br />
Ertrag ihrer vielen ganz unpolitisch auftretenden<br />
Gedichte irgendwie erschöpft. Ich wollte hier nur die<br />
eine Eigenart hervorheben, dass sie in allen Konstellationen<br />
nach den Handlungsmöglichkeiten, Denkmöglichkeiten<br />
des darin steckenden Individuums<br />
forscht <strong>und</strong> den Bezug zum vorausgesetzten <strong>und</strong><br />
angesprochenen Denken ihres Lesepublikums herstellt.<br />
Selbst zum 11. September hat sie ein Gedicht<br />
gemacht <strong>und</strong> hütet sich darin sorgfältig, so große, mit<br />
allem Fanatismus besetzbare Themen wie den Zusammenprall<br />
der Kulturen oder die Verletzung des<br />
amerikanischen Selbstbewusstseins anzusprechen.<br />
Sie hält sich an eine Äußerlichkeit, ein Foto von einigen<br />
der Opfer aus den Twintowers, die in ihrer Not<br />
aus dem Fenster gesprungen sind. Sie beschreibt,<br />
wie das Foto sie in ihrer noch unverletzten, wenn<br />
auch schon dem Untergang preisgegebenen Existenz<br />
festhält. «Nur zwei Dinge kann ich für sie tun», führt<br />
ihre letzte Strophe aus: «diesen Flug beschreiben /<br />
<strong>und</strong> den letzten Satz nicht hinzufügen».<br />
2. Eine andere Art von Gemeinschaft<br />
Zu der Frage, die für die Tagung leitend war <strong>und</strong><br />
überhaupt die beiden <strong>Verein</strong>e bestimmt: wie über<br />
Gemeinschaft <strong>und</strong> Vergesellschaftung für immer<br />
wieder neue gesellschaftliche Konstellationen neu<br />
gedacht werden kann, hat Szymborska nicht wenig zu<br />
bieten. Aber wie zu den meisten ihrer Themen sind<br />
ihre Einfälle <strong>und</strong> Vorschläge auch zu diesem strikt<br />
persönlich, eigenartig <strong>und</strong> jenseits der erwarteten<br />
Denklinien, immer wieder überraschend. Ihr Ausgangs-<br />
<strong>und</strong> Zielpunkt ist das Individuum, das einzelne