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Boberhaus und Boberhauskreis - Adolf-Reichwein-Verein

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Gut, <strong>und</strong> zwar sowohl das körperlich schwebende<br />

oder schaukelnde Verhalten der Wesen im Raum als<br />

auch das leichtfüßige Fortschreiten der Vorstellungen<br />

im Gedicht. In einem berühmt gewordenen Gedicht<br />

über eine kleine Affenart auf Borneo betont sie: Er ist<br />

so leicht, dass die Zweige unter ihm sich heben<br />

��Tarsius�). Auf dem kleinen Raum aber, den sie hier<br />

durch Überblendung einer Bildbeschreibung mit einer<br />

beklemmenden Erinnerung gewinnt, gestaltet sie<br />

einen Traum, den sie ausdrücklich als �groß� kennzeichnet.<br />

Seinen Inhalt bildet eine Belehrung des<br />

Menschen durch die an den Rand gedrängte <strong>und</strong><br />

schlecht behandelte Kreatur über einen ausschlaggebenden<br />

Vorgang, einen gewichtigen Teil der<br />

�Menschheitsgeschichte�, wenn man so will der<br />

Menschwerdung überhaupt. Es kennzeichnet den<br />

Menschen offenbar, dass er sich ergötzt an der Sonderbarkeit,<br />

letzten Endes der Spontaneität fremder<br />

Wesen <strong>und</strong> diese zugleich, um das Vergnügen ständig<br />

verfügbar zu haben, ankettet. Aber diese Perversion<br />

ist sichtlich aus der Entwicklung der Menschheit<br />

nicht wegzudenken. Sie wird nicht besser, wenn man<br />

sich vergegenwärtigt, dass der Mensch auch ganze<br />

Teile der ihm eigenen Natur in Fesseln geschlagen<br />

hat <strong>und</strong> dass im Laufe der Geschichte die einen Menschen<br />

die anderen gefesselt haben. Auf der Entwicklungsstufe,<br />

mit der Szymborska es zu tun hat, ist zwar<br />

der direkte <strong>und</strong> persönliche Zwang im Rückzug, aber<br />

hat sich die Fesselung als solche, das System, �die<br />

Wirtschaft� mit ihrer schließlich freigesetzten Globalität,<br />

dermaßen verselbständigt, dass derzeit keine<br />

Strategie sichtbar ist, die Menschen gegenüber diesem<br />

entscheidenden Faktor ihres Zusammenlebens<br />

wieder zu handlungsfähigen Subjekten zu machen.<br />

Diese Perversion ruft aber hier keinen lauten Protest<br />

hervor, sondern wird ausgesprochen leise kommentiert<br />

<strong>und</strong> der Aufmerksamkeit empfohlen. Der eine der<br />

liebenswürdigen (auf Breughels Bild nur mit sich<br />

selbst beschäftigten) Affen blickt ironisch, der andere<br />

klirrt im entscheidenden Moment mit seiner Kette <strong>und</strong><br />

gibt dem um eine Antwort verlegenen Ich (statt<br />

Breughels Mauer erscheint nur eine dichte, durch<br />

Zwang konstituierte Situation) das erlösende Stichwort.<br />

Das Stichwort aber, die Antwort auf die zugespitzte<br />

Frage nach dem Clou der �Menschheitsgeschichte�,<br />

besteht in der Kette. Die Kette bleibt das<br />

letzte Wort dieses leichten, beim ersten Zusehen nur<br />

quasi hingetuschten Gedichts. Die Größe des Themas<br />

<strong>und</strong> der unerklärten Botschaft (die akustisch<br />

angespielt, aber eben nicht artikuliert wird) ist beträchtlich,<br />

sie wird aber nur in den peripheren, zufälligen<br />

Winken <strong>und</strong> Akzenten verkörpert. Der entscheidende<br />

Hebel der Verknüpfung, ja der Konstitution<br />

dieser ganzen Situation <strong>und</strong> des Gedichts ist die<br />

Frage, die offen bleibt. Es werden Hinweise auf eine<br />

reichwein forum Nr. 7 / November 2005<br />

29<br />

Antwort geboten, aber wenn wir der Richtung dieser<br />

Hinweise folgen, geraten wir erst recht auf so brüchigen<br />

Boden, dass wir nur einbrechen können: �Aber ist<br />

das eine Antwort?� Soll, darf, kann <strong>und</strong> muss das<br />

Klirren der Kette die letzte Antwort sein, die dem<br />

geängstigten oder mit seiner Gattungsgeschichte<br />

prahlenden Menschen einfällt?<br />

In ähnlichen poetisch vergegenwärtigten Konstellationen,<br />

mit einer Fülle von anderen bildlichen, sprachlichen<br />

<strong>und</strong> vorstellungsstimulierenden Strategien hat<br />

die Autorin nunmehr 50 Jahre lang �auf keine Antwort<br />

mit Fragen geknausert�. Sie hat selbst dem Tod eine<br />

Gegenrechnung aufgemacht, wie viel er in jedem<br />

Moment des weitergehenden Lebens noch ungetötet<br />

lässt: �Über den Tod ohne Übertreibung�. In einer<br />

�Elegischen Bilanz� lässt sie lauter offene Fragen<br />

ohne Fragezeichen stehen: �Wie viele [sind schon<br />

dahingegangen]; [�] wie viele nach einem kürzeren<br />

oder längeren Leben (falls das für sie noch einen<br />

Unterschied macht); [�] wie viele (falls die Frage<br />

einen Sinn hat, / falls die endgültige Summe erreichbar<br />

ist, / bevor der Zählende sich selber hinzuzählt);<br />

[�] alles (falls ich mit diesem Wort nicht zu enge<br />

Grenzen setze) / haben sie hinter sich / (wenn nicht<br />

vor sich) ��. Das Gedicht stellt sich dem Dilemma,<br />

dass wir über die Grenze des Lebens �eigentlich� gar<br />

nicht reden, also nur durch Überschreitung von Grenzen<br />

unseres Vorstellungsvermögens doch noch irgendwie<br />

reden können. Es liefert sich diesem Dilemma<br />

aus, macht sich selbst zu einem Teil davon: �Ausgeliefert<br />

dem unvollendeten / (wenn nicht einem anderen)<br />

Schweigen�.<br />

Je länger sie dichtet, umso größer wird das Nichtwissen,<br />

das sie in sich <strong>und</strong> um sich aufdeckt. Die verlässlichsten<br />

Annahmen <strong>und</strong> Begriffe versagen bei<br />

näherem Zusehen ihren Dienst. Verallgemeinerungen<br />

erwecken ohnehin jeglichen Verdacht, <strong>und</strong> Szymborska<br />

zeigt, um wieviel besser man tut, logisch wie<br />

menschlich besser, ihnen die Gefolgschaft zu versagen.<br />

Umgekehrt aber findet sie in dem, was nicht ist,<br />

was nur sprachlich heraufgerufen <strong>und</strong> sogleich per<br />

negationem abgefertigt wird, einen Stachel des freien<br />

Ausdenkens <strong>und</strong> der Kritik. Der Mensch als Gattungswesen,<br />

die Hauptfigur des Titelgedichts des<br />

schönen Bandes �H<strong>und</strong>ert Freuden� (1967), wird<br />

einmal als �geradezu niemand� qualifiziert, <strong>und</strong> das ist<br />

unter den behutsam anerkennenden Formeln eine<br />

der positivsten. Über den gänzlich unbekannten Menschen,<br />

der einmal die Null erf<strong>und</strong>en haben muss,<br />

grübelt ein Gedicht, das von lauter Negationen geradezu<br />

durchlöchert ist. In ihrem letzten Band greift die<br />

Autorin aus zu einer Art Abrechnung mit dem verführerischen<br />

<strong>und</strong> verfälschenden Wort �Alles�:

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