Boberhaus und Boberhauskreis - Adolf-Reichwein-Verein
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Jahren einiges über <strong>Reichwein</strong>s Auffassung des<br />
Lehrerstudiums, aber diese Arbeiten sind thematisch<br />
dem Abwehrkampf der Akademien gegen die Rotstiftpolitik<br />
der Regierung während der Weltwirtschaftskrise<br />
<strong>und</strong> der Verteidigung des demokratischen<br />
Rechtsstaats gegen die drohende Rechtsdiktatur<br />
gewidmet. Abhandlungen über die Gr<strong>und</strong>legung<br />
seines Lehrfaches, dessen Curriculum er, wie die<br />
Vorlesungsverzeichnisse belegen, gründlich durchdacht<br />
<strong>und</strong> systematisch aufgebaut hat, liegen ebenso<br />
wenig vor wie f<strong>und</strong>ierte Begründungen seiner engagierten<br />
Reformmaßnahmen an der Akademie. Eine<br />
Skizze seines Lehrerbildungskonzepts findet man<br />
dagegen ausgerechnet in dem Lebenslauf, den der<br />
entlassene Professor unter dem Titel �Bemerkungen<br />
zu einer Selbstdarstellung� im Juni 1933 der NS-<br />
Regierung zum Zwecke seiner Wiedereinstellung als<br />
Lehrer an einer einklassigen Landschule zukommen<br />
ließ. (Vgl. <strong>Reichwein</strong> 1999, 250 ff.) Hier anzusetzen<br />
ist zwar methodisch etwas kompliziert, aber reizvoll.<br />
- <strong>Reichwein</strong>s Skizze seiner Dozententätigkeit<br />
an der Pädagogischen Akademie Halle in seinen<br />
�Bemerkungen zu einer Selbstdarstellung�<br />
vom April 1933. Text <strong>und</strong> Klartext<br />
Am 31. Dezember 1958 übergab Kurt Zierold <strong>Reichwein</strong>s<br />
�Bemerkungen zu einer Selbstdarstellung� dem<br />
<strong>Reichwein</strong>-Archiv. Begleitet wurde die Sendung durch<br />
Zierolds bis heute unveröffentlicht gebliebene �Erinnerungen<br />
an <strong>Adolf</strong> <strong>Reichwein</strong>�. (Zierold 1958) Zierold<br />
erläutert dort die Funktion der �Selbstdarstellung� bei<br />
<strong>Reichwein</strong>s Bemühungen um Wiedereinstellung als<br />
Lehrer <strong>und</strong> Zierolds eigene Vermittlungsrolle in dieser<br />
Angelegenheit. Als parteiloser Oberministerialrat im<br />
Preußischen Kultusministerium, der <strong>Reichwein</strong> aus<br />
dessen Zeit als persönlicher Referent Carl Heinrich<br />
Beckers gut kannte, habe er, so Zierold, seinen Einfluss<br />
bei dem mit der Sache befassten Leiter des<br />
Ressorts Lehrerbildung zur Geltung gebracht. Biografisch<br />
betrachtet dokumentieren die �Bemerkungen zu<br />
einer Selbstdarstellung� demnach <strong>Reichwein</strong>s politisch<br />
erzwungene Wende von der Lehrerbildung zur<br />
Schulpädagogik, kommunikationstheoretisch gesehen<br />
den Übergang vom freien Diskurs zur subtilen Tarnsprache<br />
unter der NS-Diktatur. Retrospektiv behauptet<br />
Zierold, er habe dem um Wiedereinstellung Nachfragenden<br />
eine Art Regieanweisung für die Darstellungsform<br />
des Lebenslaufes gegeben: Im �Abri�<br />
seines Lebens müsse �jedes Wort wahr sein <strong>und</strong><br />
müsse doch�mit den Augen eines Nazis lesbar sein.<br />
Keine Taktik, keine Rechtfertigung, ein Spiegel ihrer<br />
selbst <strong>und</strong> doch darf das Schriftstück eines psychologischen<br />
Seitenblickes nicht entbehren.� (Zierold 1958,<br />
3) Wie die Distanzierungen in der Überschrift bereits<br />
reichwein forum Nr. 7 / November 2005<br />
35<br />
andeuten, war <strong>Reichwein</strong> tatsächlich bemüht, sich an<br />
dieser Regieanweisung zu orientieren. Zierolds Anmerkungen<br />
bieten uns daher einen methodischen<br />
Hinweis zur Erschließung des Textes: <strong>Reichwein</strong><br />
beschreibt sein Leben, seinen beruflichen Werdegang<br />
<strong>und</strong> seine pädagogischen Auffassungen durchaus<br />
offen <strong>und</strong> aufrichtig, aber er sagt nicht alles <strong>und</strong> stellt<br />
sich in der Wahl seiner Formulierungen auf vermutete<br />
Mentalitäten der Adressaten seines Bewerbungsschreibens<br />
ein. Insofern bleibt der Text verschlüsselt.<br />
Einblicke in den Klartext erhalten wir erst, wenn wir<br />
die jeweiligen Aussagen mit anderen, unter freieren<br />
Diskursbedingungen getroffenen, wie etwa in Publikationen<br />
aus der Zeit vor dem Frühjahr 1933, vergleichen.<br />
Diesen Ansatz nutze ich nun zur Interpretation<br />
von <strong>Reichwein</strong>s Schilderung seiner Aktivitäten an der<br />
Pädagogischen Akademie Halle.<br />
- Aufgabe des Lehrerstudiums: Förderung<br />
politischer Urteilsbildung <strong>und</strong> Entscheidungskompetenz<br />
Sie beginnt mit konzeptionellen Überlegungen zum<br />
Lehramt für �Geschichte <strong>und</strong> Staatsbürgerk<strong>und</strong>e�.<br />
�Dass ich für Geschichte <strong>und</strong> Staatsk<strong>und</strong>e berufen<br />
wurde�, heißt es in der �Selbstdarstellung�, �erschien<br />
mir besonders sinngemäß, denn schließlich galt ja<br />
meine ganze Erziehungs- <strong>und</strong> Bewusstseinsbildung<br />
an jungen Menschen der Verwirklichung geschichtlicher<br />
Notwendigkeit <strong>und</strong> war ausgerichtet auf den<br />
Staat, in dem das Volk zu Hause ist. Ich war auch der<br />
Meinung, dass es nützlich sein könnte für eine Pädagogische<br />
Akademie, in ihrem Lehrkörper einen Mann<br />
zu haben, der die Erziehung erwachsener Jugend<br />
aller Volksschichten aus eigener ausgiebiger Praxis<br />
kannte <strong>und</strong> die Verantwortlichkeit des späteren Lehrers<br />
über das Schulische ins Volkserzieherische hinauszuspannen<br />
vermochte.� (Pallat / <strong>Reichwein</strong> / Kunz<br />
1999, 260)<br />
Auf den ersten Blick fällt auf, dass <strong>Reichwein</strong> die<br />
Lehraufgabe seines Faches nicht vom Lehrgegenstand,<br />
vom Zuschnitt eines bestimmten Wissensbereichs<br />
her legitimiert, sondern sie hochschuldidaktisch<br />
begründet: es gehe um Verbindungen der �Bewusstseinsbildung�<br />
der Studierenden mit der Hervorbringung<br />
eines bestimmten Verhaltens, ein Vorgang, den<br />
er als �Erziehung� kennzeichnet. Der Sinn dieser<br />
Aufgabe wird gesamtgesellschaftlich ausgelegt. Das<br />
Konzept orientiere sich an der �Verwirklichung geschichtlicher<br />
Notwendigkeiten� <strong>und</strong> sei ausgerichtet<br />
auf den �Staat, in dem das Volk zu Hause ist�. Das<br />
sind recht allgemeine, höchst unterschiedlich interpretierbare<br />
Begriffe <strong>und</strong> Denkfiguren. Was meinte der<br />
entlassene Hochschullehrer mit ihnen wirklich?