Boberhaus und Boberhauskreis - Adolf-Reichwein-Verein
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Dieser Versuch muss durchgeführt werden.<br />
Und er wird.<br />
��Ma�a dziewczynka �ci�ga obrus�; eigene Übersetzung)<br />
Das Gedicht erregt Freude, sowie man es nur aufschlägt<br />
oder zu hören bekommt. Der Eifer, die Unbedingtheit<br />
dieser kindlichen Experimentatorin stecken<br />
an, gleichgültig wie alt die Leserinnen <strong>und</strong> Leser sind<br />
<strong>und</strong> wie sorgsam sie selbst mit ihrem Tafelgeschirr<br />
umgehen. Gerade die Lust an der anderen Existenz,<br />
von der wir im praktischen Verhalten ausgeschlossen<br />
sind, aber die uns durch Erinnerung <strong>und</strong> Umgang<br />
noch zugänglich ist, gibt dem Gedicht das feine Prickeln<br />
<strong>und</strong> begründet den sprachlichen Übermut. Kinder<br />
sind Kinder <strong>und</strong> können uns auf vieles bringen,<br />
was wir uns in unserem 'reifen' Leben längst abgewöhnt<br />
haben. Szymborska gibt Kindern eine wichtige<br />
Stimme in ihrer poetischen Welt <strong>und</strong> traut ihrer Geradheit<br />
<strong>und</strong> Naivität viel zu. Sie verschont sie aber mit<br />
Rührung oder Verherrlichung, die sich bei den sich<br />
hinüber- oder hinabbeugenden Erwachsenen so<br />
leicht einstellen. Ró�ewicz etwa ist ganz hingerissen<br />
von dem �Mysterium / der Kinder, / der einzigen Bewohner<br />
des Himmels / auf Erden� � zu solchen Tönen<br />
greift Szymborska lieber nicht. Sie macht ihr<br />
kleines Mädchen nicht zu einem für alle erstrebenswerten<br />
Muster oder Gegenbild, sondern zeichnet eine<br />
freie, gewagte Alternative, die durch den Abstand<br />
vom erwachsenen, �normal� genannten Verhalten zu<br />
denken gibt. Die Kleine darf noch magisch, wie die<br />
frühen Menschen, auf die Dinge selbst ausgreifen<br />
<strong>und</strong> aus ihnen eine mutwillige Lust heraushören,<br />
erprobt <strong>und</strong> bewegt zu werden, eine Lust sogar an<br />
ihrem Untergang, wenn er sich denn ergeben sollte.<br />
Sie kann sich freiere, graziösere Bewegungen jenseits<br />
der Schwerkraft, die alles nach unten zieht,<br />
ausdenken, d.h. von leichteren oder beseelten Gegenständen<br />
auf die Essgeräte übertragen, <strong>und</strong> dieses<br />
Denken nach Lust <strong>und</strong> Laune teilt sich uns mit. Für<br />
die Dauer des freien Flugs der Phantasie wird das<br />
Schwergewicht der Elemente, der Verhältnisse <strong>und</strong><br />
Einrichtungen suspendiert.<br />
Trotz aller Sympathie aber, trotz des Staunens über<br />
den freien, <strong>und</strong> dabei ziemlich resoluten, Umgang mit<br />
dem, was für uns seiner strengen Gesetzlichkeit unterliegt:<br />
unschuldig ist dieses Verhalten nicht. Auch<br />
die Dichtung bleibt nicht unschuldig, wenn sie sich<br />
darauf einlässt. Das Mädchen ist bereit, sich auf Abenteuer<br />
einzulassen, aber es versteigt sich dazu,<br />
der Reihe nach �alles� durchzuprobieren, um es unter<br />
�Kontrolle� zu bringen � diese Verführung hat der sich<br />
zivilisierenden Menschheit schon mehr als einen<br />
reichwein forum Nr. 7 / November 2005<br />
27<br />
Pyrrhussieg beschert. Unter allen erwarteten Kurven<br />
der freigelassenen Dinge kommt die wahrscheinlichste,<br />
der Sturz auf den Boden, als einzige nicht vor, <strong>und</strong><br />
das ist kein Versehen, es ist Trotz. Der Vater der<br />
Gravitationslehre wird durch eine kindisch-mutwillige<br />
Polemik ausdrücklich für unzuständig erklärt � das<br />
lyrische Ich souffliert gewissermaßen diesen Namen<br />
für den Streich, den das kleine Mädchen einer Autoritätsinstanz<br />
solcher Art spielen mag. So jung <strong>und</strong> so<br />
geradlinig ist die kleine Forscherin nicht, dass sie sich<br />
nicht in die Lüge verstrickte, die das Dementi schon<br />
im Namen führt. Geradezu kindlichen Fanatismus<br />
verrät die Versteifung auf �ihr� Experiment in der letzten<br />
Strophe. Die Sachen selbst wollen es so, sagt sie.<br />
Der Versuch erscheint in diesem Denken als so logisch,<br />
dass er am Ende sich selbst durchführt.<br />
Damit will ich nicht die hier erregte Lust diskreditieren<br />
<strong>und</strong> nicht die Freude an dem lustsprühenden Gedicht<br />
beschneiden. Nach den leisen <strong>und</strong> lauten Protesten,<br />
die ich in Kreisau zu hören bekommen habe, nehme<br />
ich auch die Bezeichnung als jugendliche Terroristin<br />
zurück � Szymborska liebt zwar ihrerseits Übertreibungen,<br />
hält aber selbst ihre Übertreibungen in Maßen,<br />
im Charakter der jeweils ausgeführten Situation.<br />
Ich will die beim Lesen erlebte Freude nur erweitern,<br />
sie auf den ganzen poetischen Bef<strong>und</strong> ausdehnen,<br />
der hier vorliegt. Szymborska ist eine so große Künstlerin,<br />
dass sie beides zugleich <strong>und</strong> unverkürzt schafft:<br />
Sie zeichnet die freie, überraschende Alternative, den<br />
Ausbruch aus vielen Schemata <strong>und</strong> Normen, mit allen<br />
Attraktionen des Möglichkeitssinns, des Freiraums,<br />
den die Phantasie schafft, <strong>und</strong> mit aller Leichtigkeit<br />
der Kunst. Und sie schärft das Bewusstsein, dass es<br />
diesen freien Raum nie für sich gibt, dass man sich<br />
auf ihn nicht zurückziehen kann. Er existiert überhaupt<br />
nur in der Spannung mit der durch <strong>und</strong> durch<br />
bedingten, geregelten Welt; nur durch Auseinandersetzung<br />
mit der Realität <strong>und</strong> ihren Gesetzen kann er<br />
gef<strong>und</strong>en werden.<br />
3. Freiheit, Kunst <strong>und</strong> «Frage-Kunst»<br />
Die Fragen nach dem Politischen <strong>und</strong> dem Sozialen<br />
waren gewissermaßen durch den Charakter dieser<br />
Tagung vorgegeben, <strong>und</strong> Szymborskas Gedichte<br />
haben dazu viel zu bieten. Unerlässlich aber ist es,<br />
wenn man sich schon mit ihren Werken beschäftigt,<br />
auf die Kunst einzugehen, durch die ihre Produktionen<br />
sich auszeichnen. Szymborska schreibt außerordentlich<br />
kunstvoll, sehr gründlich bedacht <strong>und</strong> genau<br />
ausgewogen, dabei mit vielen eingebauten Überraschungen,<br />
Gedankenbrüchen, sprachlichen Brüchen,<br />
Verkehrungen der Vorstellung oder der Vorstellungsebene.<br />
Ihre Gedichte sind � je für sich, jedes in einer