Boberhaus und Boberhauskreis - Adolf-Reichwein-Verein
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hin auch das Bewusstsein von seiner Schrecklichkeit�<br />
bis eine neue Generation heranwächst, die<br />
weniger <strong>und</strong> weniger oder nichts mehr davon weiß,<br />
<strong>und</strong>: bald sind neue Kriege wieder möglich.<br />
Durchweg unternimmt Szymborska in ihren politischen<br />
Gedichten alles Erdenkliche dagegen, dass<br />
man sich �das Politische� als einen vom Alltag der<br />
Menschen getrennten oder auch nur in einer Sphäre<br />
�darüber� gelegenen Bereich vorstellt. Sogar der<br />
Krieg ist angefüllt von lauter gewöhnlichen Verrichtungen,<br />
darunter auch dem Bedürfnis, sich rasch<br />
hinter einen Busch zu hocken. In der Folge aber können<br />
wir uns diese täglichen Verrichtungen, auch in<br />
Friedenszeiten, nicht frei von, jedenfalls nicht gefeit<br />
vor einem kommenden Krieg vorstellen. �Die Wirklichkeit<br />
verlangt�, so beginnt <strong>und</strong> betitelt sie ein Gedicht<br />
(1993), dass wir auch beim Gedanken an die<br />
fürchterlichsten Schlachtplätze der Weltgeschichte<br />
die Normalität mitdenken, die dort �wieder eingekehrt<br />
ist�. Von Jericho bis Pearl Harbour <strong>und</strong> Hiroshima,<br />
überall geht das Leben weiter. Die Post verkehrt<br />
wieder, nützliche Dinge werden produziert, <strong>und</strong> �wo<br />
nur eben noch ein Stein auf dem anderen liegt, / da<br />
gibt es einen Icecremewagen, / von Kindern umlagert.�<br />
Die �tragischen Passstraßen� nötigen eigentlich<br />
zum angemessenen Ernst, aber wenn einem der<br />
Unglücksortstouristen der Hut vom Kopf geweht wird,<br />
dann muss man einfach lachen. Das Fatale ist nur,<br />
dass die Wendung zur Normalität <strong>und</strong> Produktivität<br />
die Menschen nicht frei macht von dem, was sie so<br />
geschäftig zudecken <strong>und</strong> aus der Welt schaffen wollen.<br />
Die Geschichtsbücher halten immerhin einiges<br />
von dem parat, was Menschen sich schon wechselseitig<br />
mit Waffen aller Art angetan haben. 13 von<br />
diesen Schreckensorten werden im Gedicht aufgezählt,<br />
aber die Aufzählung legt nahe, dass es vor oder<br />
neben diesen berühmten Vorgängen, überall, auch<br />
gleich hier nebenan, noch weitere Gemetzel gegeben<br />
haben mag, an die sich nur niemand mehr erinnert.<br />
Das Wuchern der Natur wie der menschlichen Produktion<br />
erzeugt vor allem � Vertuschung. �Es gibt so<br />
viel von ALLEM, / dass das NICHTS ganz ordentlich<br />
zugedeckt ist�. �Gras drüber wachsen lassen� ist vielleicht<br />
nicht der weiseste Umgang des Menschen mit<br />
seiner kriegerischen, <strong>und</strong> auch in Friedenszeiten nicht<br />
besonders friedlichen, Vergangenheit.<br />
Über ihr eigenes Land nach 1989 vertritt die Autorin<br />
in etwa die Ansicht, die auch in der Kreisauer Tagung<br />
in den Äußerungen unserer polnischen Gesprächspartner<br />
dominierte: Es kann als �schon halb gerettet�<br />
gelten, jedenfalls im Vergleich mit denen, die geographisch<br />
wie wirtschaftlich von den Zentren der Prosperität<br />
noch weiter entfernt sind; also ist es nötig, an<br />
reichwein forum Nr. 7 / November 2005<br />
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jene anderen zu denken. In der Tagung waren das,<br />
brandaktuell, vor allem die weiter östlich gelegenen,<br />
die Ukraine an erster Stelle. Szymborska denkt vermutlich<br />
ebenso, doch in ihren Gedichten hat sie es<br />
mit dem ganzen Globus oder mit dem Gr<strong>und</strong>vorgang<br />
der ungleichzeitigen Entwicklung überhaupt zu tun.<br />
Sie macht sich Gedanken über die Nichtgeduldeten in<br />
vielen Ländern der Welt, über Flüchtlinge <strong>und</strong> Vertriebene,<br />
Opfer �ethnischer Säuberungen�.1994 veröffentlichte<br />
sie in der Zeitschrift �Tygodnik powszechny�<br />
das folgende Gedicht:<br />
Irgendwelche Leute<br />
Irgendwelche Leute auf der Flucht vor irgendwelchen<br />
Leuten.<br />
In irgendeinem Land unter der Sonne<br />
<strong>und</strong> mancherlei Wolken.<br />
Zurück lassen sie irgendein eigenes Alles,<br />
bestellte Felder, irgendwelche Hühner, H<strong>und</strong>e,<br />
kleine Spiegel, in denen sich jetzt das Feuer betrachtet.<br />
Auf den Schultern haben sie Krüge <strong>und</strong> Bündel,<br />
je leerer, desto schwerer von Tag zu Tag.<br />
Leise ereignet sich irgendwessen Zurückbleiben,<br />
<strong>und</strong> im Gewühl entreißt irgendwer irgendwem das Brot<br />
<strong>und</strong> rüttelt irgendjemand an einer Kinderleiche.<br />
Vor ihnen ein Weg, immer noch nicht dorthin,<br />
nicht die, die es sein sollte, diese Brücke<br />
über den merkwürdig blassroten Fluss.<br />
Ringsum Schüsse von wem auch immer, mal näher, mal<br />
ferner,<br />
oben ein leicht kreisendes Flugzeug.<br />
Nützlich wäre eine wie auch immer geartete Unsichtbarkeit,<br />
eine graubraune Versteinerung,<br />
oder noch besser Nichtexistenz<br />
für eine gewisse kurze Zeit oder auch lange.<br />
Etwas wird noch passieren, nur wo <strong>und</strong> was.<br />
Jemand tritt ihnen entgegen, nur wann, wer,<br />
in wievielen Gestalten <strong>und</strong> in welcher Absicht.<br />
Wenn er die Wahl hat,<br />
will er vielleicht nicht Feind sein<br />
<strong>und</strong> lässt sie an irgendeinem Leben.<br />
��Jacy� ludzie�; Übersetzung nach Dedecius)