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08/09 - Evangelische Kirchen in Erfurt

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5 ZEITGESCHEHEN<br />

18. August 1976 –<br />

Selbstverbrennung<br />

Dr. Aribert Rothe<br />

Das Jahr 1976. Ich kann diese Jahreszahl<br />

mit vier Worten beschreiben: Anspannung,<br />

Aufregung, Wut, Mut.<br />

In der zweiten Hälfte der 70er Jahre kam<br />

<strong>in</strong> der DDR frischer Gegenw<strong>in</strong>d auf. Zwei<br />

Namen stehen als Auslöser dafür. Sie wurden<br />

zu geliebten und gehassten Symbolen:<br />

Biermann und Brüsewitz. Ausweisung und<br />

Selbstverbrennung waren zwei extreme<br />

Kennzeichen der schwül lastenden Atmosphäre<br />

im Lande. E<strong>in</strong> Vergleich beider Männer<br />

und ihrer Haltungen ist nicht ganz e<strong>in</strong>fach.<br />

Kritische Leute unterschieden damals<br />

zwischen Reaktionären und Oppositionellen.<br />

In beiden Richtungen konnte man aufrechte<br />

Menschen treffen. Aber für mich trafen<br />

nur Biermanns Lieder den subversiven<br />

Nerv der Zeit, und Brüsewitz’ selbstmörderische<br />

Courage kam mir zunächst ziemlich<br />

weltfremd vor.<br />

In me<strong>in</strong>em �alle ist ‘76 auch e<strong>in</strong>e Lebensmarke<br />

– die eigene Schnittstelle zwischen<br />

Staat und Kirche. Erstes Examen bedeutete<br />

nicht nur Ende des Studentenlebens sondern<br />

auch beruflicher E<strong>in</strong>tritt <strong>in</strong> die Sonderwelt<br />

der Kirche mit ihren Chancen der<br />

�reiheit, e<strong>in</strong>er fasz<strong>in</strong>ierenden Botschaft und<br />

seltsamen Eigenregeln. Wenn ich da professionell<br />

mitmachen wollte, musste ich<br />

den bürgerlichen Amtstalar anziehen. Und<br />

darauf hatte ich mich vorsichtig e<strong>in</strong>gestellt.<br />

Nun hatte e<strong>in</strong> künftiger Kollege se<strong>in</strong>en Talar<br />

auf dem Zeitzer Markt angezogen und<br />

sich dar<strong>in</strong> angezündet. Das durchschlug<br />

alle Regeln von Dr<strong>in</strong>nen und Draußen,<br />

Ruhe und Ordnung, Kritischse<strong>in</strong> und Stillehalten.<br />

Was als Motto auf dem Plakat<br />

stand, das er entrollte, bevor er <strong>in</strong> �lammen<br />

stand, hielten Staat und Kirche per-<br />

fekt unter der Glocke. Ich habe es wohl erst<br />

nach der Wende erfahren: „�unkspruch an<br />

alle. Kirche <strong>in</strong> der DDR klagt den Kommunismus<br />

an wegen Unterdrückung <strong>in</strong> Schulen<br />

an K<strong>in</strong>dern und Jugendlichen.“<br />

Es war klar: Dieser unbekannte Dorfpastor<br />

klagte auch die Kirche an mit se<strong>in</strong>er provokativen<br />

Verzweiflungstat. Wie e<strong>in</strong>sam<br />

und alle<strong>in</strong> gelassen muss er sich gefühlt<br />

haben! E<strong>in</strong> Kesseltreiben lief gegen ihn und<br />

gegen se<strong>in</strong>en schönen großen Spielplatz,<br />

den schönsten Spielplatz <strong>in</strong> der ganzen<br />

DDR, den von Staats wegen ke<strong>in</strong> K<strong>in</strong>d im<br />

Dorf betreten sollte. Auch se<strong>in</strong>e Tochter<br />

Esther traf es, die beste Schüler<strong>in</strong> im Kreis,<br />

die wegen ihres offen bezeugten Glaubens<br />

nicht zur Gymnasialstufe der Erweiterten<br />

Oberschule zugelassen wurde. Ich kannte<br />

diese E<strong>in</strong>zelheiten im August 1976 noch<br />

nicht, aber jeder kannte diese Konfliktfelder<br />

und Tabus, die hier offenbar e<strong>in</strong>er nicht<br />

mehr geschickt umgehen wollte sondern<br />

direkt angriff, ohne geduldig die Gesprächsbereitschaft<br />

der staatlichen Herren<br />

für <strong>Kirchen</strong>fragen oder der kirchlichen<br />

Herren Stolpe und Co. abzuwarten.<br />

Ich arbeitete damals als Grafiker beim Leipziger<br />

Messeaufbau, als ich davon hörte,<br />

und es gab genug Stoff zu reden unter den<br />

Bauleuten. Die meisten waren sich e<strong>in</strong>ig:<br />

Dieser brennende Pastor war völlig übergeschnappt.<br />

Me<strong>in</strong> �reund und ich mussten<br />

ihn als Christen verteidigen. Und deshalb<br />

beschlossen wir, unbed<strong>in</strong>gt zur Beerdigung<br />

zu fahren. Uns bewegten drei �ragen:<br />

Würden wir überhaupt den �riedhof erreichen,<br />

um unsere Solidarität zum Ausdruck<br />

zu br<strong>in</strong>gen? Ist Brüsewitz vielleicht doch<br />

Psychopath oder Sektierer? Und würden<br />

die <strong>Kirchen</strong>oberen sich h<strong>in</strong>ter ihn oder gegen<br />

ihn stellen oder taktiererisch „herumeiern“,<br />

wie wir damals gern sagten?<br />

Der traurige Tag brachte e<strong>in</strong>ige positive<br />

Überraschungen. Vor allem hatten wir es<br />

tatsächlich geschafft, nach Rippicha durch<br />

zu kommen. Wir fuhren <strong>in</strong> beklecksten<br />

Malerklamotten auf dem Motorroller, <strong>in</strong> der

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