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Unsere<br />
Parteien-Filzokratie<br />
Wie demokratisch,<br />
wie liberal,<br />
wie tolerant,<br />
wie kritikfähig<br />
oder<br />
wie schweigend,<br />
wie gleichgültig<br />
und<br />
wie rechts<br />
ist Darmstadt heute?<br />
Mit unseren Fragen nach dem politischen<br />
Standort einer Stadt durch mehr als<br />
1.000 Briefe an DarmstädterInnen, die mehr<br />
oder weniger aktiv im Rampenlicht der<br />
Öffentlichkeit stehen, hatten wir die öffentlichen<br />
Antworten gesucht. Doch sie kamen<br />
nicht, weshalb wir uns selbst an einer<br />
Beschreibung unseres schönen Darmstadts<br />
und seiner heute so häßlichen Parteien-Ordnung<br />
versuchen, wenn auch die Zeit zu kurz<br />
war und wir eigentlich lieber gründlicher und<br />
länger beobachtet und ausgearbeitet hätten.<br />
Die Mehrheit der DarmstädterInnen will keine<br />
zweite Zeitung, zumindest keine, die ihnen<br />
zeigt, daß Ausländerfeindlichkeit (Menschenrechtsverletzungen),<br />
Parteien-Filz<br />
(Vorteilnahmen und Absprachen), Umweltzerstörung<br />
(durch wachsenden Verkehr und<br />
Luftverschmutzung) und die schleichende<br />
Zersetzung der Gewaltenteilung, ständige<br />
Gesetzesverletzungen der Behörden, auch<br />
ihrer Kontrolleure, nicht zuletzt eine nachhaltige<br />
Pressezensur, die Stadt langsam und<br />
unmerklich in undemokratische Machtverhältnisse<br />
abgleiten läßt.<br />
Das Ende der Zeitung für Darmstadt hat<br />
neben der gesetzwidrigen Verweigerung<br />
bezahlter Anzeigen durch den Oberbürgermeister,<br />
eine auch allzu bereitwillige Justiz<br />
herbeigeführt, die, statt eine freie Presse zu<br />
schützen, die Berichterstatter verfolgt und<br />
die Täter laufen läßt, die weiter ihre Geschäfte<br />
noch dazu aus öffentlichen Kassen<br />
machen dürfen.<br />
Pressezensur<br />
Die Zensur einer unabhängigen Presse ist<br />
immer der erste Schritt, einer unbeobachtet,<br />
unkritisiert, vor der Öffentlichkeit verborgen,<br />
ihre Macht ausübenden Gesellschaft. Die<br />
Macht wird genutzt zu Vorteilnahmen und<br />
Postenschiebereien, zu kleinen und großen<br />
Diebereien an der Allgemeinheit. Die Öffentlichkeit<br />
darf nichts davon erfahren, damit sie<br />
ja allen Versprechungen und Zusicherungen<br />
der Rechtschaffenheit ihrer Machthaber<br />
glaubt, Vertrauen bewahrt und sie ungehindert<br />
weitermachen läßt.<br />
Warum wir 160 Jahre später den „Hessischen<br />
Landboten“ nachdrucken? Die politischen<br />
Uhren sind nicht nur stehengeblieben,<br />
sie laufen rückwärts. Was einmal hart<br />
erkämpft und in die Verfassung eingegangen<br />
war als Menschenrecht, wird heute wieder<br />
abgebaut: Wer eine andere Hautfarbe trägt,<br />
Fremder ist, hier wird er geprügelt, mißhandelt,<br />
obendrein verurteilt. Wer dies schreibt<br />
und an die Geschichte erinnert, gerät seinerseits<br />
ins Blickfeld der Justiz, allein des historisch<br />
angedeuteten Vergleichs halber mit<br />
dem Ende der Weimarer Republik, in der eine<br />
ähnliche Entwicklung die Presse vereinheitlichte<br />
und zum Schweigen brachte.<br />
Lesen und glauben wollen das hier nur allzu<br />
wenige in dieser fortschrittsbesessenen Zeit,<br />
die schon morgen nicht mehr hören will, was<br />
heute ist, ihre Alltäglichkeit zu monströser<br />
Wichtigkeit aufplustert und darüber vergißt,<br />
was gestern und vorgestern war.<br />
Immer weniger Arbeitsplätze<br />
Zugleich werden die Konsumpaläste immer<br />
größer, immer teurer, immer mehr – für<br />
wen? Denn die Arbeitsplätze werden immer<br />
weniger, das soziale Netz demontiert; die<br />
Zeche zahlen nicht die da oben, sondern wir<br />
da unten. Mietpreise explodieren, die Habenden<br />
zahlen immer weniger Steuern, wir<br />
dagegen immer mehr. Im Namen des Staates<br />
werden sie erhoben, einbehalten,<br />
erzwungen, eingesackt: Bei uns da unten einfach<br />
vom Lohn abgezogen – bei denen da<br />
oben nach Jahren und nach eigener<br />
Erklärung der Höhe der Steuern, die sie meinen<br />
zahlen zu wollen oder zu müssen. Ein<br />
Weltkonzern in Darmstadt, Merck, berappt<br />
nur 3,5 Millionen im Jahr – vom Milliarden-<br />
Umsatz.<br />
„Die schaffen unsere Arbeitsplätze“, lautet<br />
das beliebte Politiker-Argument, das Gegenteil<br />
ist der Fall: Die Unternehmen rationalisieren<br />
heute unsere Arbeitsplätze weg. Wieder<br />
am Beispiel Merck: Ganze Unternehmen werden<br />
in anderen Ländern gekauft, die Umsätze<br />
und Gewinne steigen, und in Darmstadt sollen<br />
10 Prozent der Beschäftigten ihre Arbeit<br />
verlieren. „Die großen Unternehmen leisten<br />
durch ihre Steuern Beiträge für die Entwicklung<br />
der Stadt“, das nächste Politiker-Argument.<br />
Auch das kennt eine andere Wirklichkeit:<br />
Die neue B3-West-Umgehung bekommt<br />
einen Zubringer, die Virchowstraße – erforderlich<br />
für Mercks Firmenerweiterung, doch<br />
die Kosten tragen wir. Die Bürgerinitiativen,<br />
in den vergangenen zwei Jahrzehnten die<br />
Speerspitzen auch der Darmstädtischen<br />
Gesellschaft, stecken immer weiter zurück:<br />
Die IGAB wollte ursprünglich eine Erweiterung<br />
Merck’s verhindern – davon spricht<br />
heute niemand mehr, dafür vom Konsens.<br />
Keine Initiativen mehr<br />
Bürgerinitiativen, soweit sie nicht in den Grünen<br />
aufgegangen sind, treten immer weniger<br />
öffentlich in Erscheinung. Besonders auffällig<br />
ist dies beim BUND, der heute sogar die<br />
sehr aktiven Jugendlichen diszipliniert oder<br />
weggrault, um ja nicht des kämpferischen<br />
Eintretens gegen den Umweltzerstörer Nummer<br />
eins, das Auto, in Erscheinung zu treten.<br />
Auch von der Bürgerinitiative gegen den Bau<br />
der Nord-Ost-Umgehung ist nichts mehr zu<br />
hören und gegen den wachsenden Verkehr<br />
infolge der HEAG-Hallen-Tiefgaragen trat<br />
erst gar keine Bürgerinitiative an. Solange<br />
sich StudentInnen im Verkehrsforum einsetzen<br />
für den Bau von Umgehungsstraßen,<br />
sind sie erwünscht, willkommen, gefördert,<br />
wenn sie für Drogenfreigabe demonstrieren,<br />
sind sie Kriminelle.<br />
Peinlich auch die geringe Anzahl aktiver Mitglieder<br />
der AGAR, eines Bündnisses gegen<br />
Fremdenfeindlichkeit, das noch nicht einmal<br />
in der Lage ist, den Opfern notwendige Hilfe<br />
zu leisten.<br />
Sind wir selbst schuld?<br />
Derweil verseuchen mehr als zweihundert<br />
Altlast-Deponien, vor allem ehemalige Chemiemüllkippen,<br />
unser Grundwasser – doch,<br />
wenn saniert wird, zahlen wir. Unkontrollierte<br />
Mengen von Industrieabgasen verschmutzen<br />
unsere Luft, versauern die Böden der<br />
Wälder – doch die Folgen zahlen wir.<br />
Uns wird erzählt, daran seid ihr selbst<br />
schuld, denn Eure Autos sind die größten<br />
Luftverschmutzer. Und wer baut unsere<br />
Autos? Warum sind nicht längst die Dinosaurier-Karossen,<br />
die soviel Benzin fressen<br />
wie Lastwagen, verboten und durch kleinmotorisierte,<br />
umweltfreundliche Fortbewegungsmittel<br />
ersetzt? Weil wir das wollen,<br />
besser nicht wollten? Die Technik gibt es<br />
längst.<br />
Wir haben nichts zu sagen, wenn unsere<br />
gewählten VertreterInnen mit den Industrie-<br />
Magnaten verhandeln, zugestehen, vertuschen<br />
und dafür sorgen, daß Produktionsanlagen<br />
aus Vorväter-Zeit (Röhm-Anlagen von<br />
1942) weiterbetrieben werden dürfen – und<br />
das noch unkontrolliert. Passiert einmal<br />
einer der sogenannten „Zwischenfälle“, dann<br />
wird uns erzählt, das habe doch niemanden<br />
gefährdet, sogar wenn eine ganze Stadt wie<br />
1993 nach den HOECHST-Unfällen vergiftet<br />
war.<br />
Für unsere Arbeitsplätze soll das alles sein?<br />
Die werden dennoch weniger und immer<br />
weniger, nicht wir haben den Vorteil, die da<br />
oben.<br />
Wir wollen…?<br />
Wir haben nichts zu sagen, wenn unsere<br />
Stadtverord<strong>net</strong>en beschließen: Noch mehr<br />
Einzelhandel, noch mehr Parkplätze in der<br />
Stadt, noch mehr Straßen, noch mehr Verkehr,<br />
noch mehr Gewerbe, noch größere<br />
Flugplätze und noch mehr Fluglärm. Sie tun<br />
es mit unseren Stimmen, angeblich in unserem<br />
Auftrag: Wollten wir die Startbahn<br />
West? Wollen wir mehr Geschäfte? Gibt es<br />
nicht längst genug zu kaufen? Wollen wir die<br />
Tiefgaragen unter den HEAG-Hallen? Wollen<br />
wir noch mehr Gewerbebetriebe?<br />
Wenn wir zur Urne gehen sollen (häufig<br />
genug), dann zeigen sie uns schöne Bildchen<br />
mit lächelnden Gesichtern – was sie für uns<br />
tun wollen, kleiden sie in Leerformeln: „Freiheit,<br />
die wir meinen“. Gleich, ob wir wählen<br />
oder nicht, ihnen reicht weniger als die Hälfte<br />
unserer Stimmen. Hauptsache sie haben ihre<br />
relativen Mehrheiten. Dann lasten sie uns<br />
weitere Kosten auf: Die Verwaltungsbauten<br />
werden immer größer, protziger, fürstlicher:<br />
die HEAG-Residenz, das Verwaltungsgebäude<br />
der Südhessischen, das neue Polizeipräsidium,<br />
das neue Finanzamt, das neue Postamt,<br />
die Bankenpaläste, jetzt noch ein neues<br />
Rathaus … die Zeche zahlen wir, über: höhere<br />
Wasser-, Strom-, Straßenbahnpreise,<br />
höhere Zinsen, teurere Post-, höhere Telefongebühren<br />
und noch mehr Steuern. Werden<br />
wir gefragt, ob wir das wollen?<br />
Obdachlose im Staatstheater?<br />
Wer sind sie eigentlich, die wir gewählt<br />
haben? Das Parteibuch in der Hand, die<br />
Wählerstimmen in der Urne, die Karriere fest<br />
im Blick, so ziehen sie in die Gremien und<br />
Ämter ein, wo sie binnen kürzester Zeit vergessen,<br />
welchen Auftrag ihrer WählerInnen<br />
sie zu erfüllen haben. Ihr letzter anständig<br />
eigenständiger Rest an Zweifeln fällt dem<br />
Fraktionszwang, dem Parteiwillen zum<br />
Opfer. Ihre Parteiprogramme sind Makulatur,<br />
ihre Versprechen nichts wert. Um ihrer<br />
Posten, Mehrheiten und Geschäfte halber<br />
vergessen sie ihre Ideale und die anderer,<br />
schließen sich mit ihrem angeblich politischen<br />
Gegner zu Koalitionen zusammen,<br />
gleich, warum wir sie gewählt haben. Ihre<br />
höchsten Posten richten sie ohnehin so ein,<br />
daß sie ja lange genug an der Macht bleiben<br />
und gleichzeitig schaffen sie sich auf unsere<br />
Kosten neben hohen Altersrenten auch noch<br />
lukrative Versorgungsjobs. Die Sozialdemokratie<br />
hat ihre sozialen Ziele selbst veräußert<br />
– in Darmstadt gehen die meisten Steuergelder<br />
in den Staatstheater-Palast, während<br />
Obdachlose keine Wohnungen bekommen<br />
und Arbeitslose Schuldnerberatungen um<br />
letzte Hilfen bitten müssen. Der stadteigene<br />
Bauverein räumt ebenso gnadenlos zahlungsunfähige<br />
MieterInnen wie jeder Immobilienspekulant.<br />
Dabei ist unsere Wohnungsbaugesellschaft<br />
unermeßlich reich, könnte<br />
helfen, wenn es politischer Wille wäre.<br />
Gefährliche Sonne<br />
Christ- und Freidemokraten sonnen sich in<br />
ihrem Reichtum, fordern mehr Gewerbe,<br />
mehr Straßen, mehr Einzelhandel, und die<br />
Sozialdemokraten rechten mit ihnen, wer<br />
zuerst die Forderungen aufgestellt hat: Sie<br />
alle ziehen am gleichen Strang. Seit einem<br />
Jahr auch die Grünen. Deren Programm, der<br />
Umweltschutz verkommt und verfällt mit der<br />
Regierungskoalition. Jetzt sind auch sie für<br />
mehr Gewerbe, für mehr Tiefgaragen, für<br />
(Umgehungs-)Straßen, für Rheinwasserversickerungsanlagen<br />
– und die fallenden Wälder,<br />
das sinkende Grundwasser, die verpestete<br />
Luft? Um Zivilisationskranke kümmern<br />
sich Ärzte und Psychotherapeuten –<br />
Gesundheit und Lebensdauer sind keine<br />
kapitalbringenden Größen.<br />
Der Sonnenschein, einstmals ersehnt, herbeigehofft<br />
und immer schon Symbol für die<br />
Schönheit des Lebens, er wird gefährlich.<br />
Haben wir schönes Wetter, müssen wir<br />
Ozon-Werte beobachten, um wenigstens zu<br />
wissen, warum wir Kopfschmerzen bekommen<br />
und müde werden. Doch alles nimmt<br />
seinen gewohnten Gang: Der Fortschritt (als<br />
Wille der Parteien) wird weiter propagiert.<br />
Dabei verdeutlicht gerade das Beispiel Sonnenschein:<br />
Es gibt keine Natur außerhalb von<br />
uns, wir leben von und mit ihr. Ohne Wasser,<br />
ohne Luft, ohne Wälder können wir nicht<br />
leben, wenn auch so mancher unter uns<br />
glauben mag, das alles brauche ihn nicht zu<br />
interessieren, weil er in seiner unüberbietbaren<br />
Naivität, in seinem begrenzten Bewegungsraum,<br />
in der Stadt, glaubt, das alles sei<br />
nur entbehrlicher Öko-Kram.<br />
Die Parteigänger<br />
Wer sind sie eigentlich, die wir wählen? Die<br />
angeblich in unserem Namen für solch eine<br />
Ordnung sorgen, die Verantwortung dafür<br />
tragen wollen?<br />
Es sind die Lehrer unserer Kinder, Richter,<br />
Rechtsanwälte, es sind Beamte und Einzelhändler.<br />
Eines ist ihnen allen gemein: Sie<br />
sind in einer der gleichgeschalteten Parteien,<br />
und alle mit der gleichen Betriebsblindheit<br />
geschlagen – sie wollen die Garanten des<br />
Fortschritts sein, mehr nicht.<br />
Wie kann ein Aufsichtsbeamter parteipolitisch<br />
unabhängig prüfen, was seine Parteifreunde<br />
an Selbstbereicherung treiben? Wie<br />
kann ein Journalist unabhängig schreiben,<br />
wenn er seinen Parteifreunden getreu dienen<br />
will? Korrupt soll das sein? Nein, sie nehmen<br />
es als selbstverständlich: „Wir sind objektiv“.<br />
Doch halten wir uns nicht an ihrer Weltsicht<br />
auf, sie kennt keine Kritik, das Ja-<br />
Schreiben nur, das Belobigen, das Partei-<br />
Nehmen. Da sind alle Ideale abgetakelt und<br />
Bücklinge, im Dienste der Parteilichkeit<br />
schöpfen sie ihre scheinbar wahrheitsgetreuen<br />
Phrasen aus dem unerschöpflichen<br />
Trog des Glaubens an eine noch bessere<br />
andere Wirklichkeit, an die Zukunft.<br />
Die Parteien wissen ihre MitläuferInnen sehr<br />
zu schätzen, zu belohnen, zu knechten, sie in<br />
Abhängigkeit zu bringen, sie heucheln, verleumden<br />
zu lassen. So spinnen die Parteien<br />
ihre Netze, an denen ihre Mitglieder kleben<br />
wie ausgesogene Fliegen, nur noch in sterblicher<br />
Hülle, ohne einen Funken geistiger<br />
Regung, in politischer Leichenstarre.<br />
Unsere öffentliche Ordnung ist heute die<br />
Ordnung der Parteien ohne Ideale, nur der<br />
Posten- und der Machtinteressen. In Darmstadt<br />
ein Heer von mehr als 3.000 Beamten,<br />
die, meist in der SPD, jeweils das tun, was im<br />
Interesse ihrer Partei liegt.<br />
Der Gesellschaftsvertrag<br />
Wir haben einen Vertrag – sagten unsere<br />
Väter, einen Gesellschaftsvertrag, den wir<br />
alle geschlossen haben, weshalb wir für ihn<br />
eintreten müssen. Doch, wer hat das Grund-<br />
Nummer 73 · 11.7.1994 · Seite 11<br />
gesetz verfaßt und wer bestimmt über das<br />
neue? Wir nicht, die Parteien. Jeder ist vor<br />
dem Gesetz gleich, so erzählte man uns: das<br />
Gesetz als die Gerechtigkeit einem Engel<br />
gleich über allem schwebend – wie in fernen<br />
Zeiten der Gott über seinen lieben und frommen<br />
Schäfchen. Hinter verschlossenen<br />
Richtertüren aber fallen die gesetzwidrigen<br />
Töne. Dort wird vorverurteilt, das Gesetz<br />
mißachtet, gar von der Todesstrafe<br />
geträumt. Wie kann ein Richter unabhängig<br />
urteilen, wenn er in der Partei ist, deren<br />
Interessen er vertritt? Wie kann ein Staatsanwalt<br />
unabhängig anklagen, wenn er parteiisch<br />
denkt? Wozu dann noch Gesetze, wenn<br />
die Partei das oberste aller Gesetze ist und<br />
öffentliche Moral verkommt?<br />
Denn Gesetze sind nichts Ewiges und ihre<br />
Hüter treue Diener der herrschenden Moral.<br />
Sie ist im beständigen Wandel, und passen<br />
wir nicht auf, wendet sie sich frei nach dem<br />
Willen der Parteien mit aller Härte staatlicher<br />
Übermacht gegen uns.<br />
Deutsche Eichen<br />
Ebensowenig wie wir die Flut der Gesetze<br />
und ihre ständigen Änderungen kennen,<br />
ebenso sind unsere PolitikerInnen überfordert.<br />
Darunter sind alte Zöpfe, neue rückständige<br />
Regelungen, Menschenrechtsverletzungen<br />
(Asyl-Paragraph) – Gesetze und<br />
Paragraphen, die mit unseren Wirklichkeiten<br />
nichts zu tun haben, vielmehr die Partei-Mitglieder<br />
und deren Interessengeber schützen.<br />
In Hessen und Darmstadt ist Voraussetzung<br />
für einen Staatsanwalts- oder Richterposten<br />
das richtige Parteibuch und die höchsten<br />
Gerichte sind mit ParteigängerInnen (entsprechend<br />
den Wahlergebnissen) besetzt –<br />
„die Justiz ist die Hure…“ – so Büchner, und<br />
Heinrich Heine: „Man baut aus deutschen<br />
Eichen keine Galgen für die Reichen“.<br />
Doppelte Opfer<br />
Der bürgerliche Staat der Aufklärung – so<br />
verstehen sie sich noch heute – hat die wichtigste<br />
Sicherheitsgarantie aufgehoben: Die<br />
Gewaltenteilung. Wenn Staatsanwälte Politiker<br />
nicht anklagen (weil in derselben Partei),<br />
wenn Richter Politiker nicht verurteilen (weil<br />
in derselben Partei), dann ist es um diesen<br />
Staat schlecht bestellt, noch schlechter,<br />
wenn Staatsanwälte und Richter politische<br />
Gegner zu Fall bringen und Presse zensieren,<br />
gar wenn sie Opfer verurteilen – ihrer eigenen<br />
Verfassung, ihren einstigen Idealen zum<br />
Hohn.<br />
Wir begreifen nicht, wie Urteile zustande<br />
kommen, wir müssen für unser Recht nur<br />
teuer bezahlen, gleich ob wir Opfer sind oder<br />
den Kohlhaas spielen – die Wirklichkeiten<br />
der Juristen haben mit unseren nichts<br />
gemein. Auch suchen diese Herren immer<br />
noch nach der einen Wahrheit, dem verstaubten<br />
Begriff aus der Klamottenkiste vergangener<br />
Jahrhunderte. Nicht das Warum<br />
der Tat, nur das Daß zählt für sie, verblaßte<br />
Ideale sind ersetzt durch bürokratisches<br />
Reglement namens Recht (gleichbedeutend<br />
mit Anspruch). Unter den verstaubten Roben<br />
hochherrlicher Richterschaft wird dies Wort<br />
zum Strafbefehl gegen uns .<br />
Cui bono?<br />
Wem dient diese Ordnung? Unseren gewählten<br />
VertreterInnen. Sie machen sich einen<br />
schönen Lenz, sacken hohe und viele Gehälter,<br />
Vorruhestandsgelder ein, betätigen sich<br />
selbst als Geschäftsleute, mischen im Geldverleihgeschäft<br />
(Stadt- u. Kreissparkasse)<br />
mit, treiben Immobilienpreise in die Höhe,<br />
fördern Geldhaie (Spekulanten), sind gar<br />
selbst welche und verdienen und verdienen<br />
noch mehr. Ein schäbiges Spiel um Macht<br />
und Geld. Ihr trefft Eure PolitikerInnen auf<br />
Eure Kosten speisend in den nobelsten<br />
Restaurants der Stadt. Sie und ihre Parteifreunde<br />
bekommen von ihren Genossen die<br />
billigen Grundstücke, die zinsgünstigen Kredite,<br />
die preiswerten Mietswohnungen, die<br />
gutbezahlten Jobs, gar extra eingerichtete<br />
Sekretärsposten – Zuschüsse aus Spendenfonds,<br />
Werbemitteln u.a.. Was einstmals der<br />
Großherzog herausgesogen und abgeschröpft<br />
hat, zocken heute die vielen PolitikerInnen<br />
ab.<br />
Trotz ihrer Vielzahl hungern wir heute nicht,<br />
können darüber hinwegsehen und sagen:<br />
Was soll’s?<br />
Doch ein Blick über den lokalen Tellerrand<br />
zeigt, wer heute für unseren Reichtum hungert<br />
(im Gegensatz zu 1834), da wir es nicht<br />
müssen: Die Millionen von Menschen in den<br />
unterentwickelten Ländern der dritten und<br />
vierten Welt. Sie erbringen die Zölle für unseren<br />
heutigen Wohlstand, leiden zudem unter<br />
unseren Waffensystemen, zahlen unsere<br />
Wucherzinsen, sterben für unsere Ordnung.<br />
Und was sagen wir dazu?<br />
M. Grimm