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Darmstädter Jugendstil:<br />
Nummer 73 · 11.7.1994 · Seite 15<br />
„Alles von demselben Geist beherrscht“ J. M. Olbrich<br />
II. Darmstadt, eine Stadt wie manche andere<br />
in jener Zeit: Das neue Jahrhundert beginnt<br />
(laut „Darmstädter Zeitung“ vom 2. Januar<br />
1900) in der Haupt- und Residenzstadt des<br />
Großherzogtums Hessens mit der Neujahrs-<br />
Gratulation der Diplomaten, Hochwürdenträger<br />
und Minister bei Großherzog und<br />
Großherzogin, mit Militärgottesdiensten und<br />
Wachparade der Garnison, deren Ehrenbatterie<br />
101 Salutschüsse feuert, und mit einer<br />
abendlichen Neujahrs-Galatafel im Residenzschloß.<br />
Auf einem gleichzeitig von Offizieren,<br />
Beamten und Bürgern der Stadt veranstalteten<br />
Neujahrs-Essen im Hotel „Zur Traube“ feiert<br />
Oberbürgermeister Morneweg, der an diesem<br />
Tag das Ritterkreuz 1. Klasse des Verdienstordens<br />
Philipps des Großmütigen erhalten hat,<br />
das abgelaufene Jahrhundert mit stolzem<br />
Rückblick auf die „herrliche Entwicklung<br />
Deutschlands zu einem einigen kraftvollen<br />
Deutschen Reiche“.<br />
Teil an der überall sichtbaren Umwälzung und<br />
Entwicklung habe auch Darmstadt selbst, dessen<br />
Bevölkerung es verstanden habe, „die bewegenden<br />
Kräfte des geistigen und des Wirtschaftlebens,<br />
der Industrie und des Handels<br />
sich dienstbar zu machen“. Die Stadt-Werke<br />
blühen; der Hauptbahnhof (1912) krönt den<br />
Aufstieg der Residenz-, Behörden und Beamtenstadt<br />
zum Verkehrs- und Handelsplatz.<br />
Aber Leben ist mehr. Per spera ad astra! Und<br />
ist es auch nur ein leichter Anstieg zur Mathildenhöhe;<br />
„droben“ soll sich – neben dem Reservoir<br />
der neuen Wasserleitung, das Realitätsprinzip<br />
lokalisierend – die erhöhte wie<br />
erhöhende Kunst niederlassen.<br />
Joseph Maria Olbrich, dem die Gestaltung der<br />
Künstlerkolonie übertragen war, schreibt in<br />
„Deutscher Kunst und Dekor“ (1900):<br />
„Oben am höchsten Streif soll das Haus der<br />
Arbeit sich erheben; dort gilt, gleichsam in einem<br />
Tempel, die Arbeit als heiliger Gottesdienst.<br />
Acht große Ateliers mit kleinen Meister-Stuben,<br />
ein kleines Theater, Turn- und<br />
Fechtsäle, gastliche Räume, Douchen und<br />
Bäder sind in einem Langbau aufgenommen.<br />
Im abgefallenen Gelände die Wohnhäuser der<br />
Künstler, gleich einem friedlichen Ort, zu dem<br />
nach des Tages emsiger Arbeit von dem Tempel<br />
des Fleißes herabgestiegen wird, um den<br />
Künstler mit dem Menschen einzutauschen.<br />
All die Häuschen, um ein Forum gruppiert, mit<br />
eigenartig angelegten Wegen, Gärten,<br />
Beleuchtungskörpern, Brunnen und Blumenbeeten<br />
zur Einheit verbunden.“<br />
Man beklagt die Trennung zwischen dem<br />
schöpferischen Künstler und ausführenden<br />
Handwerker; man will unter ganzheitlichem<br />
Aspekt eine Verbindung von Kunst und Leben<br />
herstellen. Die Kunst spielt eine normative<br />
Rolle: der Künstler läßt sich, wenn er das<br />
Reich des interessenlosen Anschauens der<br />
Idee verläßt und sich ins Leben einmischt,<br />
„herab“. Der Handwerker wiederum blickt von<br />
unten nach oben, wenn ihm künstlerische Erziehung<br />
und künstlerische Vorbilder zuteil<br />
werden. Die Utopie der Lebensgestaltung ist<br />
hierarchisch strukturiert. Von oben, vom<br />
Berg, sendet die normative Ästhetik ihre Signale<br />
ins Flachland hinab; dessen Bewohner<br />
müssen sich bemühen, nach oben zu gelangen,<br />
wenn sie am Heilsgeschehen der Kunst<br />
teilnehmen wollen. Im Psychodrom des Kapitalismus<br />
und der industriellen Welt treibt man<br />
drunten in der Tiefe, parterre, dahin. Dem<br />
Minderbegabten bleibe ohnehin kein anderer<br />
Ausweg als in die Fabrik zu gehen, meint der<br />
Verleger Alexander Koch, der durch die Herausgabe<br />
verschiedener kunstgewerblicher<br />
Zeitschriften in Darmstadt ein Forum schuf,<br />
welches sich die Förderung der neuen Kunstgewerbebewegung<br />
zum Ziele gesetzt hatte.<br />
Der Berg ruft; um ein paar „Per-aspera-adastra“-Phänomene<br />
zu beleuchten: er ruft bei<br />
Nietzsche im „Zarathustra“, der sich in die<br />
Niederungen nur dann begibt, wenn er Gefolgschaft<br />
für seine hehren Verkündungen benötigt;<br />
diese sind Eingebung in azurner Höhe,<br />
nicht diskursiv entwickelt. Der Berg ruft bei<br />
der weitverbreiteten Zeitschrift „Alpine Majestäten“,<br />
die heroische, elitäre Einsamkeitserlebnisse<br />
mit Gipfelblick zu niedrigen Ladenpreisen<br />
zu vermitteln trachtete; übrigens dem<br />
Schrebergärtner auch gotische Ruinen zusammen<br />
mit Gartenhäuschen und Gartenzwergen<br />
anbietet. (Gartenzwerge wohin man<br />
blickt, freilich unterschiedlich kostümiert!)<br />
Der Berg ruft bei Karl May: In einem seiner trivial-philosophisch<br />
wichtigsten Romane („Von<br />
Ardistan nach Dschinnistan“) zerfällt der sym-<br />
Jahrhundertwende – Utopien und Praxis der Lebensgestaltung 1900<br />
bolisch für die Erde stehende Pla<strong>net</strong> Sitara<br />
(Stern) in zwei Bereiche in das Tiefland Ardistan<br />
(Ard = Erde, niedriger Stoff), von den Gewaltmenschen<br />
bewohnt, und das Bergland<br />
Dschinnistan (Dschinn – Geist), in dem die<br />
„Edelmenschen“ leben.<br />
Ein realer Ort ästhetisch sakraler Topographie<br />
war der Monte Verita, der Berg der Wahrheit,<br />
bei Ascona, einem aus der langen Kette der<br />
„Wahrheitsberge“, auf den seelensüchtige, reformorientierte<br />
Lebensart abwanderte. Das<br />
landschaftliche und klimatische Mikroparadies<br />
des oberen Lago Maggiore wurde zur<br />
umfassenden Reformkulturlandschaft, deren<br />
Bewohner sich gegen Industrialisierung, Urbanisierung,<br />
Technisierung wandten und den<br />
Gegenentwurf einer „Naturkultur“ wagten. Die<br />
lebensgestalterischen Utopien der damaligen<br />
Zeit erwachsen dem antizivilisatorischen Protest<br />
(wie Dürer-Bund, Heimatschutzbund und<br />
Gartenstadt-Bewegung). Diese Protestbewegungen,<br />
so Janos Frecot, dem wesentliche<br />
Einsichten in die ästhetischen Fluchtbewegungen<br />
der Jahrhundertwende zu danken sind,<br />
„für die um 1900 der Sammelbegriff ‚Lebensreform‘<br />
eingeführt wurde, bezogen ihr stärkstes<br />
Potential aus dem Widerspruch zwischen<br />
einer sich mehr und mehr technisch-naturwissenschaftlicher<br />
Methoden bedienenden Medizin<br />
und einer den Menschen als leibseelische<br />
Einheit begreifenden Heilkunst.“<br />
Die auf dem Berg angesiedelte Lebensreform,<br />
die mit Verachtung auf das Flachland zurückblickt,<br />
und sich zum Tempeltanz der deutschen<br />
Seele formiert, versucht anstelle der<br />
Industrielandschaft eine Parklandschaft zu<br />
etablieren. Hatte schon Friedrich Schiller festgestellt,<br />
daß wir nicht mehr in der Lage seien,<br />
naiv zu empfinden, wohl aber das Naive zu<br />
schätzen wüßten, so sind erst recht diejenigen,<br />
die sich am Ende des 19. Jahrhunderts<br />
inmitten der industriellen und kapitalistischen<br />
Gründerzeit zur Konstituierung einer Gegenwelt<br />
zusammenfinden, darauf angewiesen,<br />
dies mit artifiziellem Raffinement zu tun.<br />
Die etwa bei Hugo Höppener, genannt Fidus,<br />
anzutreffende konstante Verzückung, die sich<br />
als Morgenwunder und Abendgebet, Hornungssturm<br />
und Wintergroll, Gnadennacht<br />
und Weiheschritt, Königstraum und Brautkleidmystik,<br />
Quellsymphonie und Spatenwacht<br />
emblematisch präsentiert, gipfelt in<br />
ideologisch-mentaler „Dauerkose“, so übersetzte<br />
Fidus „Karezza“ (den Koitus ohne<br />
Samenerguß).<br />
In grauer Städte Mauern entstand die Jugendbewegung,<br />
die mit dem Gipfelerlebnis des Hohen<br />
Meißner ihren psychotopographischen<br />
Höhepunkt erreichte. Im Oktober 1913 versammelten<br />
sich auf dieser höchsten Erhebung<br />
des nordhessischen Berglandes große Teile<br />
der Jugendbewegung, rund zweitausend ihrer<br />
Mitglieder, um den ersten Freideutschen Jugendtag<br />
zu begehen. Man tanzte, die „Iphige-<br />
Ein Essay von Hermann Glaser<br />
„Darmstädter Zimmer“ auf der Weltausstellung in Paris 1900 (Alle Abbildungen sind dem Ausstellungskatalog des Museum Künstlerkolonie Darmstadt entnommen)<br />
nie“ wurde aufgeführt und Gustav Wyneken,<br />
der Schulreformer, sprach. Das hundertjährige<br />
Jubiläum der Völkerschlacht von Leipzig<br />
sollte nicht in chauvinistischem Bierdunst,<br />
sondern inmitten der Natur, auf Bergeshöhe,<br />
als ein Fest der Verbrüderung gefeiert werden.<br />
In der Einladung zum Meißner-Fest hieß es:<br />
„Die deutsche Jugend steht an einem entscheidenden<br />
Wendepunkt. Die Jugend, bisher<br />
nur ein Anhängsel der älteren Generation, aus<br />
dem öffentlichen Leben ausgeschaltet und auf<br />
eine passive Rolle verwiesen, beginnt sich auf<br />
sich selbst zu besinnen. Sie versucht, unabhängig<br />
von den Geboten der Konvention,<br />
selbst ihr Leben zu gestalten. Sie strebt nach<br />
einer Lebensführung, die jugendlichem Wesen<br />
entspricht, die es ihr aber zugleich auch<br />
ermöglicht, sich selbst und ihr Tun ernst zu<br />
nehmen und sich als einen besonderen Faktor<br />
in die allgemeine Kulturarbeit einzugliedern.<br />
Sie möchte das, was in ihr an reiner Begeisterung<br />
für höchste Menschheitsaufgaben, an<br />
ungebrochenem Glauben und Mut zu einem<br />
adligen Dasein lebt, also einen erfrischenden,<br />
verjüngenden Strom dem Geistesleben des<br />
Volkes zuführen.“<br />
Der Berg ruft: Da begibt sich einer aus dem<br />
Flachland nach oben. Die Ortsveränderung hat<br />
zunächst medizinische Gründe. Ein einfacher<br />
junger Mann reist im Hochsommer von Hamburg,<br />
seiner Vaterstadt, nach Davos-Platz im<br />
Graubündischen. Er fährt auf Besuch für drei<br />
Wochen. Hans Castorp besucht seinen lungenkranken<br />
Vetter Jochim Ziemßen.<br />
„Zwei Reisetage entfernen den Menschen –<br />
und gar den jungen, im Leben noch wenig fest<br />
wurzelnden Menschen – einer Alltagswelt, all<br />
dem, was er seine Pflichten, Interessen, Sorgen,<br />
Aussichten nannte.“<br />
Hans Castorp (in Thomas Manns Roman „Der<br />
Zauberberg“) nimmt die Reise nicht sonderlich<br />
wichtig; seine Gedanken weilen mehr bei<br />
dem, was ihn auf der Rennstrecke des Lebens<br />
erwartet. Nach abgeschlossenem Ingenieursexamen<br />
steht sein Eintritt in die Praxis bei<br />
Tunder & Wilms (Schiffswerft, Maschinenfabrik<br />
und Kesselschmiede) unmittelbar bevor.<br />
Allerdings fängt dieses „Emporgehobenwerden<br />
in Regionen, wo er noch nie geatmet und<br />
wo, wie er wußte, völlig ungewohnte, eigentümlich<br />
dünne und spärliche Lebensbedingungen<br />
herrschten“ an, ihn zu erregen, ihn mit<br />
einer gewissen Ängstlichkeit zu erfüllen. Heimat<br />
und Ordnung liegen nicht nur weit zurück,<br />
sie liegen auch klaftertief unter er ihm; und<br />
noch immer steigt er darüber hinaus. Schwebend<br />
zwischen ihnen und dem Unbekannten,<br />
fragt er sich, wie es ihm dort oben ergehen<br />
werde.<br />
„Vielleicht war es unklug und unzuträglich,<br />
daß er, geboren und gewohnt, nur ein paar<br />
Meter über dem Meeresspiegel zu atmen, sich<br />
plötzlich in diese extremen Gegenden befördern<br />
ließ, ohne wenigstens einige Tage an<br />
einem Platze von mittlerer Lage verweilt zu<br />
haben.“<br />
Es ist gegen acht Uhr abends, als er ankommt.<br />
Und bald danach hat er, auf steiler, schleifenförmiger<br />
Anfahrt, das Internationale Sanatorium<br />
„Berghof“ erreicht. Er betritt den „Zauberberg“.<br />
Bald hat der hermetische Ort den Flachlandbewohner<br />
in seinen Bann geschlagen. Er<br />
erkrankt selbst und bleibt über die Besuchszeit<br />
hinaus sieben Jahre lang in der Heilstätte.<br />
Aber vom enthobenen Gipfel reißt ihn die Realität<br />
herunter. Der Weltkrieg zwingt ihn – der<br />
auf dem „Zauberberg“ die Moribunden der<br />
europäischen Zivilisation (makaber, orgiastisch)<br />
erlebt hat –, der Weltkrieg zwingt ihn<br />
ins Flachland zurück. Sein Weg verliert sich in<br />
der Industrielandschaft des Krieges.<br />
„Sie werfen sich nieder vor anheulenden Projektilen,<br />
um wieder aufzuspringen und weiterzuhasten,<br />
mit jungsprödem Mutgeschrei, weil<br />
es sie nicht getroffen hat. Sie werden getroffen,<br />
sie fallen, mit den Armen fechtend, in die<br />
Stirn, in das Herz, ins Gedärm geschossen.<br />
Sie liegen, die Gesichter im Kot, und rühren<br />
sich nicht mehr. Sie liegen, den Rücken vom<br />
Tornister gehoben, den Hinterkopf in den<br />
Grund gebohrt, und greifen krallend mit ihren<br />
Händen hinten in die Luft. Aber der Wald sendet<br />
neue, die sich hinwerfen und springen und<br />
schreiend oder stumm wischen den Ausgefallenen<br />
vorwärtsstolpern.“<br />
III. Das war dann das unschöne Ende eines<br />
Kunst-Höhenflugs, den Joseph Maria Olbrich,<br />
noch in seiner Wiener Zeit, mit folgenden programmatischen<br />
Leitsätzen formuliert hatte:<br />
„Eine Stadt müssen wir erbauen, eine ganze<br />
Stadt! Alles Andere ist nichts … Das heißt<br />
doch nichts, wenn Einer bloß ein Haus baut.<br />
Wie kann das schön sein, wenn daneben ein<br />
häßliches ist. Was nützten drei, fünf, zehn<br />
schöne Häuser, wenn die Anlage der Straße<br />
keine schöne ist? Was nützt die schöne Straße<br />
mit schönen Häusern, wenn darin die Sessel<br />
nicht schön sind, oder die Teller nicht schön<br />
sind? Nein – ein Feld; anders ist es nicht zu<br />
machen. Ein leeres weites Feld; und da wollen<br />
wir dann zeigen, was wir können; in der<br />
ganzen Anlage und bis ins letzte Detail. Alles<br />
von demselben Geist beherrscht, die Straßen<br />
und die Gärten und die Paläste und die Hütten<br />
und die Tische und die Sessel, und die Leuchter<br />
und die Löffel Ausdrücke derselben Empfindung.<br />
In der Mitte aber, wie ein Tempel in<br />
einem heiligen Haine, ein Haus der Arbeit,<br />
zugleich Atelier der Künstler und Werkstätte<br />
der Handwerker, wo nun der Künstler immer<br />
das beruhigende und ordnende Handwerk, der<br />
Handwerker immer die befreiende und reinigende<br />
Kunst neben sich hätte, bis die beiden<br />
gleichsam zu einer einzigen Person verwachsen<br />
würden.“<br />
Das Leben mit Kunstformen zu durchdringen<br />
und Kunst zur Lebensgestaltung heranzuziehen<br />
(manchmal auch herbeizukommandieren)<br />
ist insofern neu, als die idealistische Hoffnung<br />
auf die ästhetische Erziehung des Menschen<br />
(wie sie Friedrich Schiller in Nachfolge Kants<br />
formulierte) vom Kopf auf die Füße gestellt,<br />
aus dem Ideenhimmel in die Werkstatt versetzt<br />
wurde.<br />
In den Zauberbann des Schönen geraten Buch<br />
und Bild, Haus und Garten, quasi alles – vom<br />
Sofakissen bis zur Stadtplanung. Alle Gegenstände<br />
(Möbel, Geschirr, Besteck, Kleider, und<br />
alle Fähigkeiten wie Tätigkeiten, von der Liebe<br />
bis zum Exitus) werden dekorativ erfaßt und<br />
gestaltet – ein eindrucksvoll erhabener Lebensentwurf,<br />
der freilich (noch dazu innerhalb<br />
kapitalistischer Produktions- und Verwertungsinteressen)<br />
nie Realität werden konnte,<br />
sondern Realität suggerierte. Allerdings gab<br />
es gewisse Erfolge beim durch lange Erziehung<br />
ästhetisch konditionierte, beflissene Bildungsbürger,<br />
Besitz und Bildung in sich vereinend,<br />
der zwar kein kunstliebender Klosterbruder<br />
sein wollte, wohl aber zeitweilig einen<br />
klosterliebenden Kunstbruder zu spielen<br />
bereit war – was ihm einige Exerzitien abverlangte.<br />
Adolf Loos hat dies in seiner Geschichte<br />
vom armen reichen Manne (1900) glossiert:<br />
„Der architekt hatte es gut mit ihm gemeint.<br />
An alles hatte er gedacht. Für das kleinste<br />
schächtelchen gab es einen platz, der gerade<br />
dafür gemacht war. Bequem war die wohnung,<br />
aber den kopf strengte sie sehr an. Der<br />
architekt überwachte daher in den ersten<br />
wochen das wohnen, damit sich kein fehler<br />
einschleiche. Der reiche mann gab sich alle<br />
mühe. Aber es geschah doch, daß er ein buch<br />
aus der hand legte und es in gedanken in ein<br />
fach schob, das für zeitungen angefertigt war.<br />
Oder daß er die asche seiner zigarre in jener<br />
vertiefung des tisches abstrich, die bestimmt<br />
war, den leuchter aufzunehmen. Hatte man<br />
einmal einen gegenstand in die hand genommen,<br />
so war des ratens und suchens nach<br />
dem richtigen platz kein ende, und manchmal<br />
mußte der architekt die detailzeichnungen aufrollen,<br />
um den platz für eine zündholzschachtel<br />
wieder zu entdecken.“<br />
Unverkennbar ist, daß der Jugendstil mit seinen<br />
floralen, farbig beschwingten oder dunkel-verschlungenen<br />
Arabesken einen Kontrast<br />
zur viktorianisch-spießbürgerlichen Systemhierarchie<br />
setzt – zum Delirium des Größenwahns,<br />
zum Schaucharakter der Bildungsfassade,<br />
zum Einander-Anprotzen (wie es Jost<br />
Hermand in seiner wegweisenden Studie zum<br />
Jugendstil und dessen Mentalitätsmuster<br />
nennt). Nur: den Snob benützen, um allmählich<br />
zum Volk zu kommen (wie es Friedrich<br />
Ahlers-Hestermann formulierte) war zumindest<br />
ein gewagtes, frag-würdiges Unterfangen<br />
und konnte leicht in Restauration umschlagen.<br />
Am Ende war man von der Verzauberung so<br />
verzaubert, daß man den Weckruf der Notdurft<br />
gar nicht mehr vernahm, nicht mehr<br />
wahr-nahm. Die Darmstädter Künstler setzten,<br />
den Eskapismus zur Programmformel<br />
machend, in das Portalfeld ihres Werkstätten-<br />
Gebäudes – immerhin ihres Werkstättengebäudes<br />
– den Spruch von Hermann Bahr:<br />
„Seine Welt zeige der Künstler, die niemals<br />
war, noch jemals sein wird.“<br />
Vom heutigen Standpunkt aus neigen wir<br />
dazu, solche die reale Handlungsenergie<br />
anästhetisierenden ästhetischen Utopien als<br />
regressiv einzustufen; sie romantisieren die<br />
Hütten, verkennen das Elend der proletarischen<br />
Massen in dieser Zeit; sie glauben daran,<br />
daß Paläste durch angenehmes Dekor humanisiert<br />
werden können. Solche Häuser der<br />
Arbeit reüssieren vor allem, wenn ihre Produkte<br />
in elitären Circles zirkulieren und entsprechend<br />
goutiert (und, z.B. in Boutiquen,<br />
honoriert) werden. Als Orte für die Hebung<br />
des Geschmacks der Massen verlören sie<br />
ihren eigentlichen Charakter: nämlich Werkstatt<br />
zu sein – sie müßten Fabrik werden.<br />
Das Dritte Reich hat mit der Ästhetisierung der<br />
Barbarei zudem deutlich gemacht, daß Kunst<br />
nicht allein schon deshalb moralische Qualität<br />
in Anspruch nehmen kann, weil sie schön ist.<br />
Faszination und Gewalt gingen stattdessen<br />
eine höchst wirksame und verderbliche Verbindung<br />
ein; das Schöne konnte verhältnismäßig<br />
leicht aus der Trias des „Schönen, Guten<br />
und Wahren“ herausgebrochen und isoliert<br />
werden. So mutig der von den künstlerischen<br />
Lebensreformern eingenommene Standpunkt<br />
☛ Fortsetzung auf folgender Seite<br />
INTERNAT. TAPETEN<br />
DARMSTADT<br />
ROSSDÖRFER PLATZ