GeSuNDHeIt - SRH Zentralklinikum Suhl
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Methode gelang es, die verschiedenen Formen von Bewusstseinsstörungen<br />
(siehe Kasten) klar voneinander abzugrenzen.<br />
„Diese Zustände sind äußerst schwierig zu diagnostizieren“,<br />
sagt die Expertin. „Die Patienten haben durch ihre Lähmungen<br />
extrem eingeschränkte Reaktionsmöglichkeiten. Zudem<br />
schwankt der Grad der Wachheit im Tagesverlauf stark,<br />
die Übergänge zwischen den Bewusstseinszuständen sind<br />
fließend.“ Zusätzlich erschweren häufig weitere Störungen,<br />
etwa der visuellen oder akustischen Wahrnehmung, eine<br />
klare Diagnose.<br />
Stets aufs Neue stehen Neuropsychologen, Ärzte und<br />
Therapeuten vor der schwierigen Frage, ob ihr Patient einen<br />
Reiz wahrnimmt und in welchem Ausmaß er seine Reaktion<br />
darauf in eine für den Beobachter verständliche Antwort<br />
umsetzen kann. Besonders schwer fällt die Abgrenzung zwischen<br />
dem vegetativen Zustand (vegetative state) – so der<br />
Fachbegriff für das Wachkoma – und dem minimal bewussten<br />
Zustand (minimally conscious state, MCS). Patienten im MCS<br />
sind – wenn auch nicht konstant – in der Lage, auf ihre Umwelt<br />
zu reagieren, und haben eine deutlich bessere Aussicht<br />
auf ein vergleichsweise eigenständiges Leben. Vorausgesetzt,<br />
sie erhalten die notwendigen Therapien. Eine Fehldiagnose<br />
kann für sie dramatische Folgen haben, etwa wenn dadurch<br />
Rehabilitationsmaßnahmen vorzeitig beendet werden.<br />
systematisch kognitive fähigkeiten aufspüren<br />
Das „Instrument zur Differenzialdiagnostik von Bewusstseinsstörungen<br />
(IDB)“, das Petra Maurer-Karattup schließlich im<br />
Rahmen ihrer Promotion entwickelte, liefert erstmals ein<br />
systematisches Verfahren, mit dem sich vorhandene kognitive<br />
Fähigkeiten besser aufdecken lassen. Eine IDB-Untersuchung<br />
dauert etwa eine halbe Stunde und wird zwei bis drei Mal pro<br />
Woche durchgeführt, um Zustandsschwankungen abzubilden.<br />
Die Neuropsychologen bieten dem Patienten ein ganzes Arsenal<br />
an standardisierten visuellen, akustischen sowie taktilen<br />
Reizen an und geben ihm jeweils zehn bis 15 Sekunden Zeit,<br />
um darauf zu reagieren. Dabei orientieren sie sich an seinen<br />
eingeschränkten motorischen Möglichkeiten; selbst kleinste<br />
Blickbewegungen können eindeutige Antworten sein. Die<br />
Reize werden auch mehrfach wiederholt, um festzustellen, ob<br />
der Patient seine Reaktion reproduzieren kann, was auf einen<br />
besseren Bewusstseinszustand schließen lässt. Durch Kontrollphasen,<br />
in denen er ohne Reiz beobachtet wird, lassen sich<br />
zielgerichtete Reaktionen von unwillkürlichen Aktivitäten<br />
unterscheiden.<br />
Das neue Verfahren zeichnet sich zudem durch die Art<br />
der Auswertung aus. Anders als bei herkömmlichen Koma-<br />
Skalen orientiert sich die Diagnose nicht nur an reinen Punktwerten,<br />
sondern berücksichtigt auch, in welchen Untertests<br />
und auf welchem Komplexitätsniveau Antworten auf Reize<br />
kommen. Zeigt ein Patient beispielsweise nur Orientierungsreaktionen<br />
– etwa indem er auf Ansprache den Kopf dreht –,<br />
erhält er eine schlechtere Diagnose als ein Patient, der durch<br />
seine Aktivität deutlich macht, dass er den Inhalt eines Reizes<br />
versteht. So lassen sich aussagekräftigere Schlussfolgerungen<br />
treffen.<br />
Im Alltag des <strong>SRH</strong> Fachkrankenhauses Neresheim ist das<br />
neue Verfahren inzwischen längst etabliert, schließlich arbeitet<br />
das Fachpersonal seit der Validierung des Instruments in den<br />
Jahren 2008 und 2009 regelmäßig damit. Heute unter suchen<br />
geschulte Neuropsychologinnen alle bewusstseins gestörten<br />
Patienten mit dem Diagnoseinstrument, und die Mit arbeiter<br />
orientieren sich an der neuen, differenzierteren Terminologie.<br />
Darüber hinaus ergänzen Pflegekräfte und Therapeuten die<br />
Testergebnisse durch ihre Beobachtungen.<br />
erfolge bei Locked-in-Patienten<br />
Menschen mit Bewusstseinsstörungen profitieren erheblich<br />
vom IDB. Darüber hinaus gibt es auch Behandlungs erfolge<br />
bei Patienten mit Locked-in-Syndrom, die bei intaktem<br />
Bewusstsein in ihrem gelähmten Körper eingeschlossen<br />
(engl.: locked in) sind, weil sie sich weder bewegen noch<br />
sprachlich mitteilen können. Bei einigen von ihnen gelang<br />
es, eine Kommunikation aufzubauen und sie zur Therapie<br />
zu motivieren.<br />
Die neuen diagnostischen Möglichkeiten haben sich international<br />
herumgesprochen. Andere Kliniken wollen ebenfalls<br />
mit dem Instrument arbeiten. Doch trotz aller Vorteile weiß<br />
Petra Maurer-Karattup um die Grenzen ihres Verfahrens. „Ich<br />
bin bei meiner Beurteilung angewiesen auf das, was mir die<br />
Patienten über ihr Verhalten zeigen“, sagt sie. „Reagieren sie<br />
nicht, heißt das keinesfalls, dass sie nichts wahrnehmen.“<br />
Doch das IDB verringert das Risiko deutlich, einen Patienten<br />
falsch einzuschätzen. Möglicherweise, meint die Neuropsychologin,<br />
hätte man damit auch bei dem jungen Mann<br />
vor 15 Jahren schon früher Hinweise auf Wahrnehmung oder<br />
Verstehen finden können.<br />
sabine höfLer<br />
schwErE BEwusstsEinsstörungEn<br />
Koma: komplette bewusstlosigkeit mit ständig geschlos-<br />
senen augen.<br />
Wachkoma (vegetativer Zustand): komplette bewusst-<br />
losigkeit mit gelegentlichem augenöffnen. schlaf- und<br />
wachphasen lassen sich unterscheiden. Die Patienten<br />
können geräusche machen, ohne erkennbare ursache<br />
schreien, verschiedene gesichtsausdrücke oder schreck-<br />
reaktionen zeigen sowie ihre augen kurzzeitig bewegen,<br />
aber nicht als gezielte reaktion auf reize.<br />
Minimal bewusster Zustand: Patienten reagieren auf<br />
ihre umwelt, tun dies allerdings nicht konstant. Die starken<br />
schwankungen ihrer reaktionsfähigkeit erschweren es,<br />
diesen Zustand vom wachkoma zu unterscheiden. inner-<br />
halb des minimal bewussten Zustands gibt es verschiedene<br />
abstufungen.<br />
wissEnschaft | PErsPEktiVEn 1/2011<br />
srh Magazin 9