1 SOZIOLINGUISTIK: HANDOUTS ZUR VORLESUNG Grundliteratur ...
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<strong>SOZIOLINGUISTIK</strong>: <strong>HANDOUTS</strong> <strong>ZUR</strong> <strong>VORLESUNG</strong><br />
<strong>Grundliteratur</strong> zur Soziolinguistik<br />
a) Standardwerke<br />
Dittmar, Norbert: Grundlagen der Soziolinguistik: Ein Arbeitsbuch mit Aufgaben. Tübingen:<br />
Niemeyer, 1997.<br />
Löffler, Heinrich: Germanistische Soziolinguistik. 2., überarb. Aufl. Berlin: Schmidt, 1994.<br />
Schlieben-Lange, Brigitte: Soziolinguistik. Eine Einführung. 3., überarb. u. erw. Aufl.<br />
Stuttgart; Berlin; Köln: Kohlhammer, 1991.<br />
Veith, Werner H.: Soziolinguistik. Ein Arbeitsbuch mit 100 Abbildungen sowie Kontrollfragen<br />
und Antworten. Tübingen: Narr, 2002.<br />
b) Kurze Einführungen<br />
Althaus, Peter / Henne, Helmut / Wiegand, Herbert E. (Hrsg.): Lexikon der germanistischen<br />
Linguistik. 2., vollst. neu bearb. u. erw. Aufl. Tübingen: Niemeyer, 1980. Kap. Sprache und<br />
Gesellschaft, S. 347-395.<br />
Clément, Daniele: Linguistisches Grundwissen. Eine Einführung für Deutschlehrer. Opladen:<br />
Westdeutscher Verlag, 1996. Kap. 6, Sprache und Gesellschaft (Soziolinguistik), S. 227-238.<br />
Černý, Jiří: Dějiny lingvistiky. Olomouc: Votobia, 1996. Kap. 18, Sociolingvistika a<br />
etnolingvistika, S. 389-410.<br />
Gross, Harro: Einführung in die germanistische Linguistik. 3., überarb. u. erw. Aufl.,<br />
neubearb. v. Klaus Fischer. München: Iudizium. Kap. 9, Soziolinguistik, S. 167-190.<br />
Helbig, Gerhard: Vývoj jazykovědy po roce 1970. Praha: Academia, 1991. Kap. 2.6,<br />
Sociolingvistika, S. 215-244.<br />
Hoffmanová, Jana: Stylistika a ..... Praha: Trizonia, 1997. Kap. Sociolingvistika, S. 137-142.<br />
König, Werner: dtv-Atlas zur deutschen Sprache. 8. Aufl. München: Deutscher Taschenbuch<br />
Verlag, 1991. Kap. Sprachsoziologie, S. 132 - 139.<br />
Linke, Angelika / Nussbaumer, Markus / Portmann, Paul R.: Studienbuch Linguistik. 2. Aufl.<br />
Tübingen: Niemeyer, 1996. Teil II, Kap. 8, Soziolinguistik, S. 293 - 323.<br />
Lyons, John: Die Sprache. 4. Aufl. München: Beck, 1992. Kap. 9, Sprache und Gesellschaft, S.<br />
238-266.<br />
c) Weitere Literatur<br />
Ammon, Ulrich / Dittmar, Norbert / Mattheier, Klaus J. (Hrsg.): Soziolinguistik. Ein<br />
internationales Handbuch zur Wissenschaft von Sprache und Gesellschaft. 2 Halbbde. Berlin;<br />
New York: de Gruyter: 1987 / 1988. (= Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft;<br />
Bd. 3)<br />
Ammon, Ulrich: Die deutsche Sprache in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Das<br />
Problem der nationalen Varietäten. Berlin; New York: de Gruyter, 1995.<br />
Švejcer, A. D. / Nikolskij, L. B.: Úvod do sociolingvistiky. Praha: Svoboda, 1983.<br />
1
Prüfungsthemen<br />
1. Begriffs- und Gegenstandsbestimmung der Soziolinguistik.<br />
2. Die Entwicklung der Soziolinguistik.<br />
3. Der Begriff der Sprachgemeinschaft.<br />
4. Deutsch als plurizentrische Sprache. Die Sprachsituation in den deutschsprachigen<br />
Ländern.<br />
5. Der Einfluss der außersprachlichen Faktoren auf das Sprachverhalten.<br />
6. Der Begriff der Varietät. Klassifizierung der Varietäten.<br />
7. Sprachnormen und Wertungen.<br />
8. Die Standardvarietät.<br />
9. Die Defizit- und die Differenztheorie.<br />
10. Sprachbarrieren.<br />
11. Diglossie.<br />
12. Areale Varietäten.<br />
13. Soziolektale, d.h. gruppen- und schichtsspezifische Varietäten.<br />
14. Geschlechtsspezifische Variation.<br />
15. Altersspezifische Variation.<br />
16. Funktionale Varietäten.<br />
17. Situationale Varietäten.<br />
18. Mediale Varietäten.<br />
19. Sprachkontakte: Kontaktvarietäten.<br />
20. Soziolinguistische Untersuchung.<br />
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(1) BEGRIFFS- UND GEGENSTANDSBESTIMMUNG DER <strong>SOZIOLINGUISTIK</strong><br />
1.1. <strong>SOZIOLINGUISTIK</strong><br />
„Wissenschaftsdisziplin im Überschneidungsbereich von Linguistik und Soziologie, die sich<br />
mit den wechselseitigen Beziehungen zwischen Sprache und Sozialstrukturen beschäftigt“<br />
(Brockhaus-Enzyklopädie 22, 1993: 562, zit. nach Löffler 1994: 22).<br />
„das Studium der Sprache im sozialen Kontext“ (William Labov, vgl. Dittmar 1997: 20)<br />
„Wissenschaft von den gesellschaftlichen Bedingungen der Sprache“ (Dittmar 1973: 389, zit.<br />
nach Löffler 1994: 21).<br />
„Die Soziolinguistik untersucht die Beziehungen zwischen der Sprache und der<br />
gesellschaftlichen Gruppenzugehörigkeit von Sprechern/Hörern, man sagt auch: zwischen<br />
Sprachstruktur und Sozialstruktur“ (Gross 1990: 156).<br />
Die Soziolinguistik untersucht, welche Formen von Sprachhandeln für welche sozialen<br />
Gruppen einer Sprachgemeinschaft typisch sind (vgl. Linke u.a. 1994: 294).<br />
Kommunikationsmodell (nach Löffler 1994: 34)<br />
KE (Kommunikationsereignis)<br />
S (Sender) →→→→→ ←←←←← E (Empfänger)<br />
Sozialdaten der Sprachbenutzer:<br />
(a) individuelle Merkmale<br />
Informationsübertragung<br />
K (Kode)<br />
(b) Gruppenmerkmale und schichtenkennzeichnende Merkmale<br />
Kommunikative Kompetenz der Sprachbenutzer:<br />
1. Sprachliches Wissen<br />
2. Normatives Wissen<br />
3. Handlungswissen<br />
„Soziolinguistik ist die Untersuchung der Sprache in ihren sozial und funktional verschieden<br />
ausgeprägten Spielarten, denen ein sprachliches, normatives und Handlungswissen jeweils<br />
entspricht“ (Dittmar 1997: 2).<br />
3
1.2. DER GEGENSTAND DER <strong>SOZIOLINGUISTIK</strong><br />
„Wer spricht was und wie mit wem in welcher Sprache und unter welchen sozialen Umständen<br />
mit welchen Absichten und Konsequenzen?“ (Dittmar 1997: 25).<br />
„Der Gegenstand der Soziolinguistik ist die soziale Bedeutung (von Varietäten) des<br />
Sprachsystems und des Sprachgebrauchs“ (Dittmar 1997: 21).<br />
Dimensionen des Sprachgebrauchs (vgl. Dittmar 1997: 25-26, 98-99):<br />
(1) soziale Dimension<br />
(2) sprachliche Dimension<br />
(3) interaktive Dimension<br />
(4) Kontextdimension<br />
(5) evaluative Dimension<br />
(6) historische Dimension<br />
(7) biographische Dimension<br />
„‘Soziolinguistik’ versteht sich als eine empirisch orientierte Disziplin im ‘Zwischenbereich’<br />
von Soziologie und Linguistik, die strukturelle Eigenschaften sowie Status und Funktion der<br />
gesprochenen Sprache beschreibt, die wachsende Distanz zwischen theoretisch und empirisch<br />
orientierter Sprachforschung abbauen und der Sprachtheorie neue Erklärungsdimensionen für<br />
Sprachvariation und Sprachwandel bieten will“ (Dittmar 1997: 25).<br />
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(2) ENTWICKLUNG DER <strong>SOZIOLINGUISTIK</strong><br />
Haver C. Currie 1949 / Southern Speech Journal (1952)<br />
Periodisierung der (germanistischen) Soziolinguistik (vgl. Löffler 1994: 13-20)<br />
1. vorsoziolinguistische Phase<br />
2. allgemeine Soziolinguistik<br />
3. germanistische Soziolinguistik<br />
1. Die vorsoziolinguistische Phase<br />
Martin Luther: (volksnahe) Alltagssprache in der Bibelübersetzung<br />
Martin Opitz: Deutsch als poesiefähige Sprache<br />
Justus Georg Schottel: Deutsch als Literatursprache über Dialekten<br />
Gottlieb Wilhelm Leibniz: Deutsch als Bildungssprache<br />
Johann Bödiker: „Idiotismen“ (1690)<br />
Johann Christoph Gottsched: die Sprache des Hofes als Vorbild.<br />
Johann Christoph Adelung: Sprache der oberen Klassen als Vorbild<br />
Johann Gottfried Herder: Kultursprache und Volkssprache - „Jeder Sinn, jede Leidenschaft,<br />
jedwedes Alter, jeder Stand, jede Gesellschaft haben ihre Sprache...“ (Herder 1800: 138, zit.<br />
nach Löffler 1994: 28).<br />
Wilhelm von Humboldt: Nationalsprache (Sprache, Nation und Kultur, Sprache und Weltansicht)<br />
Hermann Paul: Sprachwandeltheorie; Sprachleben; Sprechtätigkeit<br />
Georg von der Gabelentz: Gesellschaft und Sprachveränderung, Sprache und Klassen, Männer-<br />
und Frauensprachen u.a.<br />
Dialektgeographie: Sprachatlas des Deutschen Reiches<br />
Philipp Wegener: Sprachunterschiede zwischen Stadt und Land, Gebildeten und Ungebildeten,<br />
Arten des sprachlichen Umgangs (1880)<br />
Ferdinand Wrede: Soziallinguistik vs. Individuallinguistik (1903)<br />
Ferdinand de Saussure: Sprache ↔ Gesellschaft als Gegenstand der Sozialpsychologie<br />
Friedrich Maurer: Volkssprache<br />
Adolf Bach: Grundlagen der Sozialdialektologie (30er Jahre des 20. Jhs.)<br />
Sprachinselforschung<br />
Karl Bühler: Situationsgebundenheit des Sprechens (Darstellung, Ausdruck, Appell)<br />
Prager Schule<br />
Leo Weisgerber: sprachliche Zwischenwelt – Muttersprache als Mittel der Wahrnehmung und<br />
der Gestaltung der Welt (Neohumboldtismus)<br />
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2. Anfänge der eigentlichen Soziolinguistik<br />
Situation in der Sprachwissenschaft<br />
Strukturalismus und Transformationsgrammatik<br />
Eugenio Coseriu<br />
(1) die Ebene der funktionellen Sprache<br />
(2) die Ebene der Architektur der Sprache: (a) diatopische Unterschiede<br />
(b) diastratische Unterschiede<br />
(c) diaphasische Unterschiede<br />
Franz Boas, Edward Sapir; Benjamin Lee Whorf (Sprachdeterminismus / sprachliches<br />
Relativitätsprinzip)<br />
Kenneth Pike: Sprache als eines der Handlungssysteme<br />
John Rupert Firth und die Londoner Schule: Kontextualismus<br />
Antoine Meilletts; André Martinet; Marcel Cohen<br />
Situation in der deutschen Gesellschaft<br />
der Münchner Germanistentag von 1966 (Gegenwartssprache)<br />
pragmatische Wende der Linguistik<br />
„Student aufs Land“ und Sprachbarrieren<br />
2.1. Defizithypothese / -theorie<br />
Basil Bernstein: Sprechen als Teil des Sozialverhaltens ist schichtenspezifisch<br />
Der elaborierte und der restringierte Kode (nach Gross 1998: 176)<br />
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Der restringierte Kode + statusorintiertes Kommunikationsverhalten<br />
Der elaborierte Kode + personenorientiertes Kommunikationsverhalten<br />
Vgl. die Begründung eines Verbots:<br />
RK: „weil du das nicht sollst“ / „weil ich es dir verbiete“, ...<br />
EK: „weil ich Kopfschmerzen habe und Lärm dann besonders schlimm für mich ist“<br />
Beispiel für den elaborierten und den restringierten Kode: Gespräch zwischen der Mutter und<br />
ihrem Kind (vgl. Gross 1998: 177)<br />
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Unterschiede in (a) Explizitheit, (b) grammatischer Korrektheit, (c) logischer bzw.<br />
argumentativer Strukturiertheit, (d) Vorhersagbarkeit.<br />
Unterschiede als Mängel / Defizite → kompensatorische Spracherziehung<br />
2.2. Differenzhypothese / -theorie<br />
William Labov<br />
Unterschiede als Andersartigkeit – funktionale Gleichwertigkeit der Kodes → emanzipatorische<br />
Spracherziehung: Kode-Wechsel (Code-switching)<br />
3.1. Germanistische Soziolinguistik<br />
(1) Verifizierung / Falsifizierung der Defizithypothese<br />
Ulrich Oevermann: Sprache und soziale Herkunft (1970)<br />
- die schichtenspezifischen Unterschiede weniger ausgeprägt<br />
- Halo-Effekt<br />
- die Kodes als „soziale Auswahlregeln“ (RK mehr situationsgebunden als EK)<br />
Eva Neuland: Zur Entwicklung von Bedeutungen und ihrer sozialen Variation (1976): ein<br />
gemeinsames und ein jeweils spezifisches Repertoire<br />
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(2) Dialekt als Sprachbarriere: soziale Dialektologie<br />
Ulrich Ammon (1972): Dialekt und Standardsprache als Mittel der Selbstidentifikation, der<br />
restringierte Kode und Dialekt im Vergleich u.a.<br />
(3) „Kommunikativ-pragmatische“ SL als Rahmen für Pragmatik, Semantik, Textlinguistik,<br />
Gesprächsanalyse, Sprachgeschichte (historische Soziolinguistik)<br />
(4) Varietätenlinguistik und Kontaktlinguistik<br />
3.2. Internationale Soziolinguistik<br />
Themen<br />
Westeuropa: Dialekte und Minderheitensprachen<br />
Nordamerika: Minderheitensprachen, Black English, Pidgin- und Kreolsprachen; Ethnographie<br />
der Kommunikation (Gesprächsanalyse)<br />
die ehemalige Sowjetunion: Sprachwandel, Sprachpflege und Sprachnormierung;<br />
Nationalitätensprachen<br />
Methoden: quantitative Methodologie<br />
interpretative / qualitative Methodologie<br />
Forschungsrichtungen (vgl. Dittmar 1997: 21ff.):<br />
A. Einfluss von Uriel Weinreichs Languages in Contact (1953, dt. 1977) auf zwei quantitative<br />
Richtungen<br />
(1) Sprachsoziologie<br />
Joshua A. Fishman: International Journal of the Sociology of Language<br />
Ulrich Ammon, Klaus J. Mattheier, Peter H. Nelde: Sociolinguistica (seit 1987)<br />
Themen: Mehrsprachigkeit, Typologie der Sprachgemeinschaften, Statustypen von<br />
Sprachsystemen (z.B. Minderheitensprachen), Kommunikationsstile sozialer Schichten,<br />
Verhältnis zwischen Zentrum und Peripherie, Sprachplanung (bes. Standardisierung einer<br />
Varietät), Englisch als Weltsprache, internationale Stellung des Deutschen bzw. Deutsch als<br />
plurizentrische Sprache (vgl. Dittmar 1997: 21-22, 45-46, 70-80).<br />
(2) Soziale Dialektologie / Variationslinguistik<br />
William Labov: The Social Stratification of English in New York City (1966)<br />
Schriftenreihe des Center for Applied Linguistics in Washington<br />
Zeitschriften: Language in Society (Dell Hymes; William Bright)<br />
Linguistic Variation and Change (William Labov, David Sankoff)<br />
Themen: Mehrsprachigkeit in den Städten, Sprachwandel, die Variation der gesprochenen<br />
Sprache (vgl. Dittmar 1997: 22, 43-45, 54-70).<br />
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B. Qualitative Richtungen<br />
(3) Ethnographie der Kommunikation<br />
Themen: kulturelle Verschiedenheit und Sprache (Werte und Normen ethnisch verschiedener<br />
Gruppen, Gesprächstaktiken)<br />
Harold C. Conklin, Dell Hymes, Frederick Erickson, Werner Kallmeyer<br />
Zeitschriften: American Anthropologist; Language in Society<br />
(4) Soziale und interaktionale Pragmatik bzw. interaktionale Soziolinguistik<br />
Themen: soziale Bedeutung von verbaler Interaktion<br />
= sog. Gesprächs- / Diskurs- / Konversationsanalyse (KA)<br />
(a) formale KA: Organisation verbaler Interaktion, Typologie von Gesprächen, ...<br />
Harvey Sachs, Emanuel Schegloff, Gail Jefferson, Jim Schenkein, Klaus Brinker, S. F. Sager;<br />
(b) kognitive / interpretativ-ethnomethodologische KA: Prozesse der Bedeutungskonstitution und<br />
Interpretation in verbalen Interaktionen<br />
Aaron Cicourel, Bud Mehan, Don H. Zimmermann;<br />
(c) ethnographische KA: soziale Bedeutung der Wahl sprachlicher Varianten bzw. Varietäten<br />
(Kode-Wechsel), Kontextualisierungshinweise<br />
John Gumperz<br />
Zeitschriften: Language in Society; Journal of Pragmatics; Discourse Processes; Discourse and<br />
Society<br />
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(3) <strong>SOZIOLINGUISTIK</strong> ALS VARIETÄTENLINGUISTIK<br />
3.1. Varietät<br />
Verwendungs- / Erscheinungsform der Sprache<br />
„neutraler Terminus zur Bezeichnung bestimmter mit außersprachlichen Bedingungen<br />
variierenden Sprech- und Sprachgebrauchsstile“ (vgl. Dittmar 1997: 176)<br />
„jede der verschiedenen Spielarten, in denen eine historisch-natürliche Sprache in Erscheinung<br />
tritt, und zwar in Abhängigkeit von spezifischen sozialen Bedingungen wie Sprecher, Umstand,<br />
Zeit und Ort“ (vgl. Berruto 1987: 263)<br />
„eine Sprach(gebrauchs)form des Deutschen, die sich als Summe spezifischer sprachlicher<br />
Charakteristika beschreiben lässt, die an eine durch außersprachliche Faktoren definierbare<br />
Gruppe von Sprecherinnen und Sprechern angebunden ist (vgl. Linke u.a. 1994: 303-304)<br />
„Menge sprachlicher Strukturen (Phonologie, Morphologie, Syntax, Semantik, Lexikon,<br />
Pragmatik) [...], die relativ zu außersprachlichen Faktoren (z.B. Alter, Geschlecht, Gruppe,<br />
Region, historische Periode, Stil etc.) in einem Varietätenraum geordnet sind“ (Dittmar 1997:<br />
177)<br />
„... gewisse Realisierungsformen des Sprachsystems [kookkurrieren] in vorhersehbarer Weise<br />
mit gewissen sozialen und funktionalen Merkmalen der Sprachgebrauchssituationen [...]. Wenn<br />
eine Menge von gewissen miteinander kongruierenden Werten von bestimmten sprachlichen<br />
Variablen (d.h. gewisse Realisierungen gewisser Formen, die in der Gesamtheit der Sprache<br />
mehr Realisierungen zulassen) zusammen mit einer gewissen Menge von Merkmalen auftreten,<br />
die die Sprecher und/oder die Gebrauchssituation kennzeichnen, dann können wir eine solche<br />
Menge von Werten als eine sprachliche Varietät bezeichnen“ (Berruto 1987: 264). Die<br />
Varietäten werden charakterisiert „nicht durch An- und Abwesenheit von bestimmten Formen<br />
oder Regeln, sondern vielmehr durch die Frequenz ihrer Anwendung“ (Berruto 1987: 266).<br />
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3.2. Klassifizierung der Varietäten<br />
Kirsten Nabrings (1981):<br />
Dimensionen des Varietätenraums: (1) diatopische,<br />
Harro Gross (1998: 167):<br />
(2) diastratische,<br />
(3) diaphasische,<br />
(4) diachrone.<br />
Region: Dialekt/Mundart,<br />
soziale Schicht: Schichtensprache/Kode,<br />
Beruf: Fachsprache/Berufssprache,<br />
Subkultur bzw. Randgruppe: Sondersprache,<br />
politische / religiöse Gruppe: ideologische Sprache,<br />
Geschlecht: Frauen- und Männersprache,<br />
Alter: Jugendsprache, Generationensprache.<br />
Heinrich Löffler (1994: 86-88)<br />
1. das Medium Mediolekte: gesprochene Sprache,<br />
geschriebene Sprache;<br />
2. die Funktion Funktiolekte / Funktionalstile:<br />
3. die areale Verteilung Dialekte;<br />
Alltagssprache,<br />
Fach- und Wissenschaftssprache,<br />
Sprache des öffentlichen Verkehrs / Instruktionssprache /<br />
Direktivstil,<br />
Literatursprache,<br />
Pressesprache;<br />
4. Sprechergruppen Soziolekte: Schichtensprachen,<br />
Gruppensprachen,<br />
[nicht berufsbedingte] Sondersprachen;<br />
5. Alter und Geschlecht Alterssprachen: Kindersprache,<br />
12<br />
Jugendsprache,<br />
Erwachsenensprache,<br />
Seniorensprache;<br />
Sexolekte: Männersprache,<br />
Frauensprache;
6. Interaktionstypen bzw.<br />
Situationen Situolekte;<br />
Stile: monologisch,<br />
Textsorten;<br />
7. Idiolekte.<br />
Norbert Dittmar (1987: 179-180)<br />
dialogisch,<br />
symmetrisch,<br />
asymmetrisch;<br />
Ordnungsdimension (M = charakteristisches Merkmal; V = Varietät):<br />
1. Person M: einmalige individuelle Identität<br />
V: individuelles Repertoire (Idiolekt)<br />
Lernervarietät (Lernerlekt)<br />
2. Raum M: lokale Identität<br />
V: lokal<br />
regional (Dialekt)<br />
städtisch (Urbanolekt)<br />
überregional (Umgangssprache, Regiolekt)<br />
3. Gruppe M: Wertekonflikt (gut / prestigebesetzt vs. schlecht / stigmatisiert)<br />
V: schichtspezifisch (Soziolekt)<br />
geschlechtsspezifisch (Sexolekt bzw. MW-Lekt)<br />
altersspezifisch (Gerontolekt, Jugendsprache)<br />
gruppenspezifisch (Argot, Rotwelsch, Slang, Obdachlosensprache...)<br />
4. Kodifizierung M: normative Korrektheit (schriftlicher, mündlicher Gebrauch)<br />
V: Standardvarietät<br />
standardnahe Umgangssprache<br />
5. Situation M: Kontext- / Musterwissen<br />
V: Register<br />
Stile<br />
Fachsprache (?)<br />
6. Kontakt M: Macht (politische, militärische, wirtschaftliche, kulturelle)<br />
V: Pidgin<br />
Kreolsprachen<br />
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Repertoire der Sprachgemeinschaft<br />
Dialekte prestigebesetzter Weltsprachen außerhalb des<br />
Mutterlandes<br />
individuelles linguistisches Repertoire (+ kommunikative / panlektale Kompetenz)<br />
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(4) IDIOLEKT<br />
individuelle Realisierung eines sprachlichen Systems = Sprachbesitz und sprachliche<br />
Verhaltensweisen eines Individuums:<br />
Idiolektale Besonderheiten: soziale, professionelle, territoriale, psycho-physische<br />
Sprachliche Verhaltensweisen:<br />
(a) situationsbedingte: partnerspezifisch<br />
(b) permanente<br />
+ Fähigkeit zum Kode-Wechsel<br />
rollenspezifisch<br />
themenspezifisch<br />
Rolle der Idiolekte in der Soziolinguistik<br />
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(5) AREALE VARIETÄTEN bzw. DIALEKTE<br />
5.1. Definition des Dialekts<br />
horizontal und vertikal (vgl. Lewandowski 1994: 220-221);<br />
Kriterien für die Bestimmung des Dialektbegriffs (Ammon 1995):<br />
(1) linguistische Ähnlichkeit mit der Standardvarietät,<br />
(2) Art der Überdachung,<br />
(3) Zugehörigkeitsurteil der Sprecher,<br />
(4) Kleinräumigkeit,<br />
(5) Nichtnormiertheit (fehlende Standardisierung/Kodifizierung).<br />
ad (1) linguistische Ähnlichkeit (Übereinstimmungsgrad): große oder mittlere Ä.<br />
Heinrich Kloss: Abstandssprachen (z.B. Fremdsprachen)<br />
Ausbausprachen (z.B. Dialekt und Standard)<br />
ad (2) Art der Überdachung: Binnendialekte<br />
Außendialekte: - an die Standardsprachgemeinschaft angrenzend<br />
- Sprachinseln<br />
ad (4) Größe der Räume: lokale Dialekte (kleinräumig),<br />
→ Substandard / Interdialekt<br />
Stadtdialekte (mittelräumig),<br />
regionale Dialekte/ Regiolekte / Umgangssprachen (großräumig).<br />
Heinrich Löffler: 10 Dimensionen einer Dialektdefinition (vgl. Löffler 1983: 453-458, zit. nach<br />
Dittmar 1997: 188):<br />
(i) Vorkommensbereich;<br />
(ii) Typologische Hierarchie;<br />
(iii) Linguistischer Status;<br />
(iv) Benutzerkreis;<br />
(v) Verwendungsebene;<br />
(vi) Kommunikative Leistungsfähigkeit;<br />
(vii) Kommunikative Reichweite;<br />
(viii) Einstellungen;<br />
(ix) Standard vs. Nonstandard;<br />
(x) Metasprachliche Ebene.<br />
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5.2. Sozio-Dialektologie / kommunikative Dialektologie<br />
Wer spricht wo welchen Dialekt / welche dialektale Form in welcher Häufigkeit?<br />
(1) soziale Verbreitung der Dialekte und Ausmaß der Dialektalität<br />
Dialektalität ↔ Sozialschicht (bzw. Beruf),<br />
Alter<br />
Geschlecht<br />
Region<br />
Situation<br />
(2) kommunikative Funktionen der Dialekte<br />
- Informationsübermittlung;<br />
- Reichweite;<br />
- eingeschränkter vs. differenzierter Wortschatz;<br />
- Sprache der Nähe;<br />
- dialektale Sprachbarriere.<br />
(3) Einstellungen zu Dialekten<br />
1. (a) mit linguistischer Vorinstruktion,<br />
(b) ohne diese Vorinstruktion.<br />
2. Selbsteinschätzung<br />
Fremdeinschätzung → Beliebtheitsskalen<br />
3. Art der Fragestellung: Nennung,<br />
Liste zur Auswahl,<br />
Sprachproben vorgespielt, z.B.:<br />
Dialekt-Erkennungstest<br />
matched-guise-Verfahren (Technik der Verschleierung<br />
durch Montage; Wallace E. Lambert)<br />
5.3. Diatopisch sowie diastratisch bestimmte Varietäten („Mischsprachen“)<br />
Stadtdialekte (Urbanolekte, Stadtsprachen) als Ausgleichsvarietäten (städtische Umgangssprachen)<br />
Industriesprachen (Betriebssoziolekte)<br />
Umgangssprachen (Regiolekte)<br />
1. Ausgleichsvarietäten zwischen der Standardsprache und den Dialekten,<br />
2. diaphasische (situative) Varietät der gesprochenen Sprache<br />
Jürgen Eichhoff : Wortatlas der deutschen Umgangssprachen. Bd. 1: Bern 1977. Bd. 2: Bern<br />
1978. Bd. 3: München 1993. Bd. 4: München 2000. (vgl. http://www.degruyter.de/<br />
files/pdf/9783907820483Prospekt.pdf)<br />
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König, Werner: Atlas zur Aussprache des Schriftdeutschen in der Bundesrepublik Deutschland.<br />
Bd. 1-2. Ismaning 1989.<br />
Heinz Küpper: Wörterbuch der deutschen Umgangssprache. Stuttgart 1987. [bzw. Berlin 2000.<br />
(= Digitale Bibliothek, 36)]<br />
Einige Merkmale: Verschmelzungen von Präposition und Artikel;<br />
weil + Verbzweitstellung,<br />
ausgegliederte Partikeln wie freilich oder also als modale Operatoren zum<br />
Satz,<br />
Extrapositionen (Links- und Rechtsherausstellung),<br />
Ausrahmung,<br />
Verbspitzenstellung,<br />
Nonstandardmuster wie wem sein Hut ist das? (wessen Hut ist das?, vgl.<br />
Dittmar 1997: 198-201).<br />
Beispiel (vgl. http://www.germanistik.uni-freiburg.de/dafphil/internetprojekte/projekte6/mundart<br />
/umgangssprache1.html): Die Umgangssprache im Freiburger Sprachraum zeichnet sich durch<br />
die folgenden drei Merkmale aus:<br />
1) Sie tendiert dazu, Wörter zu verkürzen, also Silben auszusparen. Dies äußert sich in erster<br />
Linie im Weglassen von Vokalen, was am häufigsten bei unbestimmten Artikeln (Bsp. eine ><br />
'ne, ein > 'n), vereinzelt aber auch bei anderen Wörtern vorkommt. Darüber hinaus werden auch<br />
gerne einzelne Konsonanten beim Aussprechen verschluckt.<br />
2) Sie wandelt häufig den st-Laut des Standarddeutschen in einen sch-Laut um. Bsp. günstigt ><br />
günschtig.<br />
3) Sie läßt gerne das Subjekt weg, sofern ein konjugiertes Verb folgt, was häufig im<br />
Zusammenhang mit Merkmal 2) vorkommt. Bsp. Weißt Du? > Weisch?<br />
... Und nicht zu vergessen sind typische Floskeln: Bsp. nicht mehr > nimmer, nicht wahr? ><br />
gell?, nichts > nix, tatsächlich? > echt?<br />
A: Was darf ich Dir denn für 'n Wein zum Essen anbieten?<br />
B: I s mir egal, was passt denn dazu?<br />
A: Mmh, da wir 'ne kräftige Speise ham, würd ' ich ' n kräftig ' n Wein empfehlen.<br />
B: Ach, da gibt 's Regeln?<br />
A: Ja, man empfiehlt zum Beispiel bei ' ner leichten Speise ' n fruchtig frischen Wein.<br />
Bei 'ner kräftigen Sauce dagegen eher ' n kräftig'n Wein.<br />
B: Echt?<br />
A: Wie sieht's aus, hasch Luscht auf'n Burgunder?<br />
B: Ha sch auch 'n Moscht da, mir i s eher nach Traubensaft.<br />
A: Ja klar, hab' ich, aber zum Nachtisch trink sch schon 'n Eiswein mit?<br />
B: Is des der Wein, für den man Trauben bei etwa -7 Grad erntet?<br />
A: Ja genau. Und der i s sehr teuer. So 'ne günschtige Gelegenheit an Eiswein zu<br />
kommen krieg sch nimmer so schnell!<br />
B: _Weiß nich!<br />
A: Ach komm, na gibt 's nix zu überlegen! Wie sagt ma in Baden? 'Ne Mahlzeit ohne<br />
Wein i s wie 'n Tag ohne Regen!<br />
18
(6) ZUM GEBRAUCH VON STANDARDVARIETÄT UND DIALEKTEN IN DEN<br />
DEUTSCHSPRACHIGEN LÄNDERN<br />
(I) Dialektschwund<br />
(II) Dialekt-Standard-Kontinuum<br />
(III) Diglossie<br />
6.1. Die Sprachsituation in Deutschland<br />
Oberdeutsch, Mitteldeutsch, Niederdeutsch<br />
linguistische Distanz zwischen den nördlichen und den südlichen Dialekten<br />
(a) Das norddeutsche Gebiet des Dialektschwundes.<br />
Vgl. Missingsch<br />
- Lang mich mal die Kanne Milch (Lang mi mol de Melkkann) (Gib mir bitte die Milchkanne)<br />
- Sitzen gehen schallst du erst, wenn de Vadder da is (Sitten gahn schallst du iers, wenn de<br />
Vadder dor is.) (Hinsetzen sollst du dich erst, wenn der Vater da ist.)<br />
- Der ist tot geblieben. (He is dood bleven.) (Er ist gestorben.)<br />
- Ich tu dich blots ankucken, denn wirst du klar kriegen, was die Klock geslagen hat. (Ik do di<br />
blots ankieken, denn schallst du klorkreegen, wat de Klock slaan hett.) (Ich schaue dich nur an,<br />
dann weißt du, was die Stunde geschlagen hat.)<br />
(Quelle: )<br />
(b) Das mittel- und süddeutsche Gebiet des Dialekt-Standard-Kontinuums (Gradualismus)<br />
Beispiel: Abstufungsvielfalt zwischen dem schwäbischen Dialekt und der Standardvarietät (vgl.<br />
Ammon 1995: 370):<br />
(1) Des hao e gmacht.<br />
(2) Des han e gmacht.<br />
(3) Des hab e gmacht. / Des han i gmacht.<br />
(4) Des hab i gmacht.<br />
(5) Des hab ich gmacht. / Des hab i gemacht.<br />
(6) Des hab ich gemacht. / Das hab ich gmacht.<br />
(7) Das hab ich gemacht.<br />
(8) Das habe ich gemacht.<br />
Sozialsymbole / „Schibboleths“ der Sozialschichten<br />
Abb. Varietätenspektren / Varietätenregister der Sozialschichten im Dialekt-Standard<br />
Kontinuum im Vergleich zu Diglossie (nach Ammon 1995: 372).<br />
20
6.2. Die Sprachsituation in Österreich<br />
Dialektgeographische Gliederung:<br />
(a) Bairisch-Österreichisch:<br />
- Mittelbairisch (Niederösterreich, Wien, Oberösterreich, Burgenland, Teile Salzburgs und<br />
der Steiermark),<br />
- Südbairisch (Tirol, Kärnten, Teile Salzburgs und der Steiermark);<br />
(b) Alemannisch (Vorarlberg).<br />
ad (a)<br />
„Sprachschichten“, z.B. im niederösterreichischen Weinviertel (vgl. Wiesinger 1988: 18-22)<br />
Heute Abend kommt mein Bruder nach Hause.<br />
(1) Basisdialekt: Heint af d’Nocht kimmt mei n Bruider hoam.<br />
(2) Verkehrsdialekt: Heit auf d’Nocht kummt mei n Bruader ham.<br />
(3) Umgangssprache: Heit åb’nd kommt mei n Bruder z’Haus.<br />
(4) Standardsprache: Heut åb’nd kommt mein Bruder nåch Haus.<br />
!!! gesprochene Standardsprache vs. „Hochlautung“<br />
Die Wahl der Varietät ist sozial und situativ bedingt. → Symbolwert der Varietät und sein<br />
Einfluss auf den Sprachgebrauch<br />
ad (b) Diglossie<br />
21
6.3. Die Sprachsituation in der Schweiz<br />
6.3.1. Diglossie<br />
das Repertoire der Sprachgemeinschaft<br />
Typologien von Sprachgemeinschaften<br />
Charles Ferguson<br />
Diglossie bezeichnet eine relativ stabile Sprachsituation mit einem primären regionalen Dialekt,<br />
der L-Varietät (Low-Variety, d.h. niedere Varietät), und einer überlagernden Sprachvarietät, der<br />
H-Varietät (High-Variety, d.h. gehobene Varietät). Diese zwei sprachlich unterscheidbare<br />
Varietäten können auf alternative Situationstypen, Domänen bezogen werden.<br />
= funktionale Zweisprachigkeit<br />
Unterschiede in (a) Grammatik, (b) Lexikon und (c) Phonologie.<br />
Bilinguismus/Bilingualismus und Diglossie:<br />
(1) Diglossie und Bilinguismus (z.B. Schweiz)<br />
(2) Diglossie ohne Bilinguismus (z.B. herrschende Eliten)<br />
(3) Bilinguismus ohne Diglossie (die meisten Gesellschaften)<br />
(4) weder Bilinguismus noch Diglossie (?)<br />
22
Kode-Wechsel (Code-switching) = angemessener situationsspezifischer Gebrauch von<br />
Varietäten / Sprachen<br />
John Gumperz<br />
(1) situationsabhängiger Wechsel (situational switching) - bedingt durch die Faktoren:<br />
(a) Ort bzw. soziales Umfeld (setting, z.B. Marktplatz),<br />
(b) Situation (situation, bestimmt durch interagierende Personen, z.B. Einkäufe von Frauen,<br />
politische Diskussionen von Männern),<br />
(c) Ereignis (event, bestimmt durch Themen, z.B. bei Einkäufen: Verhandlung der Preise, ein<br />
privater Schwatz).<br />
(2) situationsunabhängiger, stilistischer Wechsel (metaphorical switching, z.B. Dialektformen<br />
als Mittel der Vertraulichkeit (vgl. Schlieben-Lange 1991: 44-45).<br />
Bsp. für den bilingualen Kodewechsel:<br />
Mutter: Na, wie war’s beim Fußbalspielen?<br />
Sohn: Wir haben gewonnen. Unsere Seite war ganz toll. Ich war der goalie. I stopped<br />
eigth goals. They were real hard ones. Was gibt’s zu essen?<br />
Weiterentwicklung des Begriffs Diglossie (vgl. Dittmar 1997: 145-152):<br />
Dinomie / Diethnie (z.B. die türkische Gemeinschaft in deutschen Großstädten)<br />
Mikrodiglossie: eine V in wenigen Domänen gebraucht; eine Regionalvarietät fehlt, H und L<br />
eindeutig funktional getrennt, L (Dialekte) sozial nicht differenziert.<br />
Makrodiglossie: H und L über viele Domänen gleich verteilt, durch eine Regionalvarietät<br />
begleitet, in funktional zweideutigen Texten überlappen sich, gemischtsprachliche Äußerungen<br />
in der Alltagskommunikation, L (Dialekte) sozial stratifiziert (Soziolekte).<br />
Breite Diglossie (vs. enge Diglossie):<br />
(a) hochgeschätzte (prestigebesetzte) Bestandteile des linguistischen Repertoires später im<br />
Unterricht erworben und für formale und öffentliche Situationen reserviert;<br />
(b) weniger hochgeschätzte Bestandteile als Erstsprache erworben, mit den<br />
hochgeschätzten sprachlich verwandt, in eher informellen und privaten Situationen<br />
verwendet,<br />
z.B. die doppelt überlappende Diglossie:<br />
(a) die ehemalige Kolonialsprache als offizielle Verkehrssprache,<br />
(b) eine einheimische Sprache (ba) als Regionalsprache,<br />
die doppelt eingebettete Diglossie:<br />
(bb)gegenüber anderen einheimischen Sprachen<br />
die übergeordnete nationale Varietät.<br />
(a) eine Prestigesprache (H, z.B. Hindi): (aa) formaler akademischer Stil<br />
23<br />
(ab) konversationeller Alltagsstil<br />
(b) der lokale Dialekt (L): (ba) eine gehobene, feine Varietät<br />
(bb) eine grobe, ungebildete Varietät.
Stabile Diglossie: L-Varietät für die Kommunikation mit den Einheimischen verwendet, die<br />
H-Varietät für die Kommunikation mit den Fremden (z.B. die H- und L-Varietät des Norfolk-<br />
Island-Englischen).<br />
Instabile Diglossie: in einer Domäne wird z.B. der Gebrauch von L zugunsten von H<br />
aufgegeben (z.B. in der Diglossie Gascognisch-Standardfranzösisch).<br />
Polyglossie: eine bzw. mehrere H-Varietäten und eine bzw. mehrere L-Varietäten (z.B. das<br />
Varietätenrepertoire der einst in englischer Sprache erzogenen Chinesen in Malaysia).<br />
Gaetano Berruto (1995, vgl. Dittmar 1997: 150-152):<br />
(1) Soziale Zweisprachigkeit: zwei elaborierte Kultursprachen ohne funktionale Unterordnung<br />
(z.B. Französisch und Englisch in der Sprachgemeinschaft von Montréal, Kanada)<br />
(2 – 4) mit hierarchischen Beziehungen zwischen den Kodes:<br />
(2) Diglossie (s.o.)<br />
(3) Dilalie: beträchtliche Unterschiede zwischen H und L, H auch in Alltagssituationen<br />
genutzt (z.B. Italien, Deutschland – vgl. Bairisch vs. Plattdeutsch)<br />
(4) Bi- / Polydialektalität: eine Standardvarietät und diverse regionale und soziale Varietäten,<br />
alle V in der Alltagskonversation benutzt, strukturelle Ähnlichkeit von H und L verhindert den<br />
Aufstieg von L zu H (z.B. England, Frankreich).<br />
Kriterien:<br />
(1) Koexistenz von zwei Sprachen (im Sinne von Abstandssprachen und Ausbausprachen, d.h.<br />
Varietäten einer Sprache),<br />
(2) beträchtliche Unterschiede zwischen H und L,<br />
(3) Gebrauch beider Varietäten in Alltagskommunikation,<br />
(4) klare funktionale Differenzierung zwischen den beiden Varietäten,<br />
(5) Domänenüberlappung zwischen ihnen,<br />
(6) Standardisierung der L-Varietät,<br />
(7) soziale Markierung und/oder Stratifikation der L-Varietät,<br />
(8) Existenz eines Kontinuums von Varietäten zwischen H und L,<br />
(9) hohes Prestige der H-Varietät,<br />
(10) beide Varietäten sind in der primären Sozialisation einschlägig,<br />
(11) Möglichkeit, dass sich L-Varietät zu einer Alternative für H entwickelt,<br />
(12) Häufigkeit des Kodewechsels und des gemischtsprachlichen Diskurses,<br />
(13) Tradition, die L-Varietät auch literarisch zu nutzen.<br />
6.3.2. Die Besonderheiten der Diglossie in der deutschsprachigen Schweiz (vgl. Ammon<br />
1995: 286-300):<br />
(1) Die verhältnismäßig große linguistische Distanz zwischen Dialekt und Standardvarietät<br />
(dem Schweizerhochdeutschen)<br />
24
(2) Die verhältnismäßig große Ähnlichkeit der verschiedenen Dialekte untereinander.<br />
(3) Das strenge strukturelle Auseinanderhalten von Dialekt und Standardvarietät („Dialekt-<br />
Purismus“)<br />
Ausnahme: „Papiermundart“ in vorgefertigten Reden, sog. Großrats- / Bundeshausjuristendeutsch<br />
De Bundesrat het geschter in seyner Sitzung beschlosse,<br />
De Bundesrat het geschter i synere Sitzig bschlosse, (Dialekt)<br />
Der Bundesrat hat gestern in seiner Sitzung beschlossen, (Standard)<br />
vo de Ergäbnis vo dere Vernäämlassung<br />
vo de Ergäbnis vo dere Vernäämlassig<br />
von den Ergebnissen dieser Vernehmlassung<br />
in zustimmendem Sinn Kenntnis z nää.<br />
i zuestimmendem Sinn Kenntnis z nää.<br />
in zustimmendem Sinn Kenntnis zu nehmen.<br />
(4) Die ziemlich konsequente funktionale Trennung von Dialekt und Standardvarietät nach<br />
ihrem Gebrauch in den Domänen (v.a. „monovarietätische“ Domänen; mediale Diglossie:<br />
mündlich/schriftlich)<br />
(5) Die durchgängige Verwendung des Dialekts in allen Sozialschichten der Bevölkerung.<br />
(6) Die Verwendung des Dialekts auch in gewissen öffentlichen Domänen (Schulunterricht,<br />
v.a. in der Sekundarstufe; Seminare an den Hochschulen; Kantonsparlamente, bestimmte<br />
Radio- und Fernsehsendungen, Kirchen).<br />
(7) Die Verwendung des Dialekts für Gesprächsthemen jeglicher Art (Ausbaudialekt).<br />
(8) Die weitgehende Erhaltung der Unterschiede zwischen den verschiedenen Dialekten und<br />
das Fehlen eines einheitlichen, überregionalen Schwyzertütsch. (Aber: „Züritütsch“.)<br />
(9) Die Rolle des Dialekts als Nationalsymbol und seine Bewertung als Nationalsprache (vgl.<br />
Gegenargumente).<br />
(10) Die verbreitete Vorstellung von der Fremdsprachlichkeit oder zumindest Exonormativität<br />
der Standardvarietät<br />
6.3.3. Zusammenfassung: Dialekte nach ihrer Geltung (vgl. Dittmar 1997: 185):<br />
(1) Dialekt als Relikt;<br />
(2) Dialekt als soziales Symbol;<br />
(3) Dialekt als Hauptvarietät.<br />
25
(7) DIE STANDARDVARIETÄT<br />
Hauptkriterium: normative Korrektheit<br />
7.1. Sprachnorm<br />
(soziale) Normen: Festsetzungen zur Regulierung menschlichen Handelns im gesellschaftlichen<br />
Leben.<br />
(1) statuierte Normen (Normschöpfung oder Institutionalisierung),<br />
(2) subsistente Normen.<br />
Sprachnormen = explizite Festsetzungen und normative Erwartungen, die auf die Bildung,<br />
Anwendung und Verwendungsabsicht sprachlicher Einheiten bezogen sind (vgl. Gloy 1980:<br />
364).<br />
„Ein bestimmter ... Inhalt und die Form seiner Äußerung sind nach dem Willen einer Instanz A<br />
für einen Personenkreis B unter den Situationsbedingungen C in Bezug auf einen Zweck D mit<br />
der Begründung E eine Norm, d.h. sie sind erlaubt, geboten oder verboten“ (vgl. Gloy 1987: 121,<br />
zit. nach Dittmar 1997: 165-166).<br />
Sprachnormen i.w.S. / situative Normen / soziolinguistische Normen / Kommunikationsnormen<br />
= „Erwartungshaltung gegenüber bestimmten Formen des Sprachverhaltens, die in einer<br />
gegebenen Kommunikationssituation bzw. gegenüber einem bestimmten Gesprächspartner als<br />
angemessen gelten“ (Linke u.a. 1994: 309).<br />
Beispiele:<br />
(a) die Konversationsmaximen der Quantität, Qualität, Relation und Modalität von H. P. Grice<br />
(vgl. Linke u.a. 1994: 198-200),<br />
(b) Regelungen des Sprecherwechsels (vgl. Linke u.a. 1994: 264-275),<br />
(c) Textsortennormen (Linke u.a. 1994: 248-255, vgl. Bsp. in der Deutschen Grammatik von U.<br />
Engel).<br />
Sprachnormen i.e.S. / linguistische (grammatische und stilistische) Sprachnormen<br />
Differenzierung der Normen nach Adressaten<br />
(a) nach Alter („ein altkluges Kind“),<br />
(b) nach Geschlecht („die spricht so maskulin“),<br />
(c) nach sozialer Position („der redet wie’n Studierter“),<br />
(d) nach Funktionsbereichen (unterschiedliche Fachsprachen),<br />
(e) regional verbreitete Normen (Dialekte)<br />
(f) Sprachnormierungen auf nationaler Ebene (Schriftreform, Einführung einer offiziellen<br />
Mehrsprachigkeit u.a., vgl. Gloy 1980: 366).<br />
Institutionalisierung (Legalisierung) ≠ Legitimierung der Normen<br />
Legitimationskriterien für Sprachnormen (vgl. Gloy 1980: 366-367):<br />
(a) der Sprachgebrauch kultureller Autoritäten;<br />
(b) historisch gewachsene sprachliche Erscheinungen (sog. genetische Normauffassung);<br />
(c) regionale Reichweite;<br />
26
(d) die integrierende Leistung sprachlicher Erscheinungen, die zur nationalen Einheit<br />
beitragen;<br />
(e) Zweckmäßigkeit in Bezug auf Verständlichkeit (sog. funktionale Normauffassung);<br />
(f) der tatsächliche Sprachgebrauch „jedermanns“ (Normauffassung des „bürgerlichen<br />
Liberalismus“);<br />
(g) die größere Auftretenshäufigkeit einer Variante gegenüber anderen Varianten;<br />
(h) die Strukturgemäßheit einer sprachlichen Erscheinung im Sprachsystem;<br />
(i) die soziale (insbesondere Situations-)Angemessenheit;<br />
(j) die Adäquatheit der Umsetzung von Kommunikationsintentionen (sog. funktionale<br />
Normauffassung);<br />
(k) die „Angemessenheit“ des Gegenstandsbezugs, die Sicherung gesellschaftlich etablierter<br />
Deutungsschemata;<br />
(l) die kognitiven und/oder emotionalen Konsequenzen bestimmter Sprachverwendungen<br />
(als Grundlage der Intelligenz und/oder der Sittlichkeit eines Menschen).<br />
Soziale Funktionen der Normen (Ursachen, Zwecke, Folgen)<br />
Positive und negative Aspekte der Normierung<br />
Normen und Wertungen (Internalisierung der Normen / Selbstkontrolle; Selbst- und<br />
Fremdeinschätzung: (Über- od. Unterbewertung, „covert prestige“, Peter Trudgill)<br />
7.2. Die Standardvarietät und der Prozess der Standardisierung<br />
Merkmale der Standardvarietät (vgl. Dittmar 1997: 201)<br />
Kriterien für die Bestimmung des Standardisierungsgrads (vgl. Garvin 1964: 522, zit. nach<br />
Dittmar 1997: 201-202):<br />
(1) linguistischen Eigenschaften;<br />
(2) Funktionen in der Sprachgemeinschaft (einigende F., separierende F., Prestigefunktion,<br />
Korrektheitsnormen;<br />
(3) die Einstellungen der Sprachgemeinschaft (Sprachtreue, Sprachstolz, Normbewusstsein).<br />
Der Prozess der Standardisierung (vgl. Haugen 1972: 110, zit. nach Dittmar 1997: 202-203):<br />
(a) Selektion,<br />
(b) Kodifizierung,<br />
(c) Ausbau der Funktionen,<br />
(d) Übernahme durch die Gemeinschaft (vgl. Haugen 1972: 110, zit. nach Dittmar 1997: 202-<br />
203):<br />
Soziale Kräfte, die bei der Festlegung der Standardvarietät mitwirken (vgl. Ammon 1995: 73-<br />
82):<br />
(a) Modellsprecher/Modellschreiber,<br />
(b) Kodifizierer,<br />
27
(c) Sprachexperten,<br />
(d) Normautoritäten.<br />
(indirekt:) die ganze Sprachgemeinschaft<br />
Rolle der staatlichen Instanzen<br />
7. 3. Die Standard- bzw. Nationalvarietäten des Deutschen<br />
Amtssprachregion des Deutschen<br />
Deutsch als staatliche Amtssprache:<br />
(1) auf nationaler Ebene<br />
(a) solo-offiziell: in der BRD, in Österreich und Liechtenstein,<br />
(b) ko-offiziell: in der Schweiz, in Luxemburg;<br />
(2) auf regionaler Ebene als regionale Amtssprache: in Belgien, in der Provinz Bozen-Südtirol in<br />
Italien.<br />
Muttersprachregion des Deutschen<br />
Sprachinseln (z.B. die Banater Schwaben und Siebenbürger Sachsen in Rumänien, die<br />
Mennoniten in Kanada, Mexiko, Paraguay u.a., die Donauschwaben in Ungarn (vgl. Ammon<br />
1995: 13-14, Löffler 1994: 72-76).<br />
deutschsprachige Länder (die BRD, Österreich, die Schweiz, Liechtenstein).<br />
Zentrum einer Sprache = eine Nation oder ein Staat mit einer spezifisch ausgeformten<br />
Standardvarietät dieser Sprache.<br />
Deutsch als plurizentrische Sprache (Tschechisch als unizentrische Sprache)<br />
sprachliche Variablen (vs. Konstanten) und Varianten<br />
onomasiologische Variable:<br />
APRIKOSE: Aprikose (in Deutschland und in der Schweiz)<br />
Marille (in Österreich).<br />
semasiologische Variable:<br />
STEIGERUNG: „Steigerung“ (in Deutschland und in Österreich)<br />
1. „Steigerung“; 2. „Versteigerung“ (in der Schweiz).<br />
Varietät als sprachliches System<br />
(1) verfügt über wenigstens eine für sie spezifische Variante oder<br />
(2) weist zumindest eine spezifische Kombination von Varianten auf.<br />
nationale Varietät / Nationalvarietät = eine Standardvarietät, die mindestens eine der beiden<br />
folgenden Bedingungen erfüllt: sie enthält (1) spezifische nationale Varianten oder (2) für eine<br />
Nation spezifische Kombinationen von (auch unspezifischen) nationalen Varianten<br />
spezifische Varianten = Austriazismen (A), Helvetismen (H), Teutonismen (T)<br />
28
österreichische Varietät (Österreich + Südtirol): Kriterium (1) - Marille<br />
schweizerische Varietät (Schweiz + Liechtenstein): Kriterium (1) - „Versteigerung“<br />
deutsche Varietät (BRD + Luxemburg + Ostbelgien): Kriterium (2) Aprikose + „Steigerung“<br />
!!! Benennungen für Sachspezifika einer Nation, z.B. Eisbein mit Sauerkraut (Deutschland) oder<br />
Powidltascherln (Österreich) = Konstanten.<br />
Zentren einer Sprache<br />
(1) nach der Art der Kodifizierung: Vollzentren und Halbzentren<br />
(2) nach der Herkunft der Modelltexte: endonormative und exonormative Zentren<br />
Literatur:<br />
Ammon, Ulrich (1995): Die deutsche Sprache in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Das<br />
Problem der nationalen Varietäten. Berlin; New York: de Gruyter.<br />
Ammon, Ulrich u.a. (2004): Variantenwörterbuch des Deutschen. Die Standardsprache in<br />
Österreich, der Schweiz und Deutschland sowie in Liechtenstein, Luxemburg, Ostbelgien und<br />
Südtirol. Berlin; New York: de Gruyter.<br />
Ebner, Jakob (1998): Wie sagt man in Österreich? Wörterbuch des Österreichischen Deutsch. 3.,<br />
vollst. überarb. Aufl. Mannheim; Leipzig; Wien; Zürich: Dudenverlag.<br />
Meyer, Kurt (1989): Wie sagt man in der Schweiz? Wörterbuch der schweizerischen<br />
Besonderheiten. Mannheim; Wien; Zürich: Dudenverlag.<br />
Österreichisches Wörterbuch. 39., neu bearb. Aufl. Wien: öbv, 2001.<br />
29
(8) SOZIOLEKTE<br />
Begriffsbestimmung<br />
außersprachliche Faktoren der Gruppenbildung<br />
Funktion der Gruppensprachen<br />
vertikale Bewertungsdimension („besser/schlechter als“)<br />
1. Soziolekt = Varietät<br />
2. Soziolekt = Varietät sozialer (nicht primär geographisch bestimmter) Gruppen<br />
2.1. Schichtenspezifische Varietät (ggf. mit negativen Konnotationen)<br />
2.2. Varietät anderer sozialer Gruppen als Schicht: Sondersprache<br />
2.2.1. Sondersprache i.w.S.: auch geschlechts- und altersspezifische Varietäten<br />
2.2.2. Sondersprache i.e.S.:<br />
(a) nicht geschlechtsspezifische Varietäten (liegen quer zur diastratischen /<br />
diatopischen Variation)<br />
(b) nicht altersspezifische Varietäten (wie bei (a))<br />
(c) nicht Fachsprachen<br />
(d) verschiedene Kombinationen von (a), (b) (c)<br />
2.2.3. Sondersprache im engsten Sinne:<br />
Anti- / Kontra-Sprache = Geheimsprache<br />
(1) Soziolekt = Varietät<br />
z.B. H. Gross: Dialekt, Schichtensprache/Kode, Fachsprache/Berufssprache, Sondersprache,<br />
ideologische Sprache, Frauen- und Männersprache, Jugend- und Generationensprache (vgl.<br />
Gross 1998: 167).<br />
(2) Soziolekt / Gruppensprache = Varietät sozialer (nicht primär geographisch bestimmter)<br />
Gruppen.<br />
z.B. N. Dittmar: Schichtgruppen<br />
Statusgruppen: Standes-, Berufs-, Fach- und Gruppenvarietäten (i. e. S.)<br />
als Sondersprachen .<br />
(2.1.) Schichtenspezifische Varietät (der elaborierte und restringierte Kode).<br />
(2.2.) Varietät einer anderen sozialen Gruppe als Schicht (auch: Sondersprache).<br />
Soziolekt (auch: Gruppensprache) = Bezeichnung einer Varietät, die für eine sozial definierte<br />
Gruppe charakteristisch ist (vgl. Bußmann 1990: 692).<br />
Soziolekt = Gruppensprache. Konventioneller, für eine Gruppe von Individuen einer<br />
Sprachgemeinschaft charakteristischer Gebrauch des überindividuellen Sprachsystems (langue);<br />
phonetisch die Gesamtheit aller Merkmale, die ein Individuum als zugehörig zu einer sozialen<br />
Gruppe erkennen lassen. Vor allem lexikalisch spezifizierter Sprachbesitz einer Gruppe, soweit<br />
30
die Gruppenbildung nicht primär geographisch bedingt ist (Schülersprache, Studentensprache,<br />
Berufs- und Fachsprachen, Jugendsprache, Sportjargon, Jägersprache usw., vgl. Lewandowski<br />
1994: 978 -979).<br />
(2.2.1.) Sondersprachen im weiteren Sinne = alle von der Standardsprache abweichenden<br />
Sprachvarietäten, wie sie von sozial-, geschlechts-, altersspezifisch bedingten, berufs- und<br />
fachwissenschaftlich begründeten Sondergruppierungen herrühren; alle Berufs-, Fach-, Standes-<br />
und Sondersprachen (vgl. Bußmann 1990: 690).<br />
Sondersprachen i.w.S. = alle sprachlichen Sonderformen, die gruppenspezifischen, berufs- und<br />
fachspezifischen sowie altersspezifischen Sprachvarietäten (vgl. Lewandowski 1994: 975).<br />
Soziolekt = eine grammatisch-lexikalisch-intonatorische Varietät als sprachliches<br />
Erkennungssymbol einer nach sozialen, beruflichen, fachlichen, status- und ansehensbedingten<br />
Merkmalen gekennzeichneter Gruppe (vgl. Löffler 1994: 126).<br />
v.a. Sonderwortschatz (Jäger, Fischer, Bergleute, Weinbauern, Drucker, Studenten, Bettler und<br />
Gauner, vgl. Bußmann 1990: 690).<br />
Untergliederung der Sondersprachen i.w.S.:<br />
(a) sozialgebundene Sondersprachen: Gruppen-, Standes- oder Berufssprachen / -varietäten;<br />
(b) sachgebundene Sondersprachen: Fachsprachen (Funktiolekte)<br />
Z.B. brünstig in der Gemeinsprache = in der Fachsprache des Bauern: läufig (Kuh), bockig<br />
(Ziege, Schaf), rüsslig (Schwein), rossig (Pferd), streichig (Hündin), die Katze rammelt.<br />
Fließende Übergänge zwischen Sondersprachen und Fachsprachen: z.B. militärische<br />
Fachsprache vs. Soldatensprache(n) (traditionelle Soldatensprachen, Bundessoldatendeutsch),<br />
vgl. Blindgänger – ursprünglich „nicht explodierte Granate“, dann: (salopp:) „Versager;<br />
Gulaschkanone „Feldküche“ (vgl. König 1991: 133).<br />
Die Standessprache = die Gesamtheit der technischen Termini und Formeln eines bestimmten<br />
Berufs (O. Jespersen); der auf einen bestimmten Sachbereich bezogene Wortschatz, der je nach<br />
dem Beruf mit einem bestimmten Kollektiv (einer bestimmten Gruppierung) zusammenhängt<br />
(A. Dauzat).<br />
z.B. Jägersprache: die Löffel = die Ohren des Hasen, der Spiegel = der hintere weiße Fleck des<br />
Rehs, die Läufe = seine Beine, der Schweiß = sein Blut.<br />
Handout – viz až s. 38<br />
(2.2.2.) Sondersprachen im engeren Sinne = Varietäten der nicht berufsbedingten Gruppen<br />
(a) Transitorische Soziolekte = altersspezifische Varietäten<br />
(b) Temporäre Soziolekte = Sprachen von Hobby-, Sport-, Freizeitgemeinschaften u.a.<br />
(c) Habituelle Soziolekte = Varietäten dauernder gesellschaftlicher Gruppierungen:<br />
(ca) geschlechtsspezifische Varietäten: Frauensprache und Männersprache,<br />
(cb) Sondersprachen (im engsten Sinne), d.h. Varietäten dauernder<br />
Sondergemeinschaften / Außenseitergruppierungen (= 2.2.3.)<br />
31
Vgl.:<br />
Jargon (fr. „unverständliches Gemurmel“, vgl. Bußmann 1990: 360)<br />
1) Gesamtheit der Wörter und Wendungen, mit welchen Menschen, die eine gemeinsame<br />
berufliche oder außerberufliche Betätigung ausüben, die gewöhnlichen Ausdrücke ersetzen.<br />
Funktion: a) das Gefühl der Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe,<br />
b) eine gewisse Absonderung zu den übrigen Teilen der Gesellschaft (nicht<br />
Abschließung nach außen, vgl. Domaschnew 1987: 313).<br />
2) „Sondersprache bestimmter sozialer Gruppen als Kunst- oder Zwecksprache, die der<br />
Abschirmung nach außen („Eingeweihte“) und der Bindung bzw. Kohäsion nach innen dient.“<br />
(a) Sonderwortschatz sozialer Gruppen als Ausdruck einer Sonder- oder Subkultur,<br />
(b) Fachwortschatz bestimmter Berufe und Berufsgruppen im Sinne eines Fachjargons (vgl.<br />
Lewandowski 1994: 502).<br />
3) (a) der Wortschatz einer bestimmten sozialen Gruppe oder einer Berufsgruppe bzw. die<br />
Verwendungsweisen des Wortschatzes durch diese Gruppen (vgl. Čermák 1994: 242)<br />
(b) durch einen speziellen gruppen- oder fachspezifischen Wortschatz gekennzeichnete<br />
Sprachform, der es an Allgemeinverständlichkeit mangelt (vgl. Bußmann 1990: 360).<br />
(c) „sozial bedingte Sondersprachen, die durch auffällige Bezeichnungen für alltägliche Dinge,<br />
bildliche Ausdrucksweise, emotional gefärbte oder spielerische Verwendung des<br />
standardsprachlichen Wortschatzes gekennzeichnet sind“ (vgl. Bußmann 1990: 360-361).<br />
Slang = der spezielle und gewöhnlich nicht offizielle Wortschatz v.a. einer Berufs- oder<br />
Interessengruppe bzw. die Verwendungsweisen des Wortschatzes, die diese Gruppe<br />
charakterisieren (vgl. Čermák 1994: 230).<br />
„gruppenspezifische Routinesprache“ (vgl. Dittmar 1997: 221).<br />
ein in einer bestimmten sozialen Gruppe gemeinsamer Wortschatz für diejenigen Dinge, zu<br />
denen die Gruppe in einem emotionalen Verhältnis steht (vgl. Lewandowski 1994: 973).<br />
(i.e.S.:) der spezifische Wortschatz großstädtischer Jugend<br />
(i.w.S.:) „unkonventionelle Sprache mit neuer, lebendig-vitaler und kraftvoll-farbiger, manchmal<br />
exzentrisch-humorvoller Wortprägung bzw. Bedeutungsverleihung und Metaphorik“<br />
(Lewandowski 1994: 973), Sprache im Entstehen, experimentelle gesprochene Sprache, die<br />
instabil und auf semantische, v.a. konnotative Veränderung der lexikalischen Einheiten<br />
konzentriert ist (vgl. Dittmar 1997: 220).<br />
Vgl. Hubáček (1981: 11-16).<br />
(a) berufsspezifische Soziolekte (Funktion des Wortschatzes: Ausdrucksökonomie,<br />
Eindeutigkeit)<br />
(b) Soziolekte verschiedener Interessengruppen wie der Studenten, Soldaten, Sportler, Kellner,<br />
Jäger (Funktion: Sprachspiel)<br />
(c) Argot als Soziolekt der gesellschaftlich isolierten Gruppen.<br />
Slang 1. = b<br />
2. = a + b + c<br />
32
(2.2.2.a) ALTERSSPEZIFISCHE VARIETÄTEN (Gerontolekte, transitorische Soziolekte)<br />
soziales Alter<br />
(1) Kindersprache<br />
(2) Schüler- und Jugendsprache<br />
(3) Erwachsenensprache<br />
(4) Seniorensprache<br />
(Ad 3) Merkmale der Jugendsprache:<br />
- Kreativität,<br />
- farbige Metaphern, Redensarten, Hyperbolisierung (etw. haut längst keinen Piraten mehr vom<br />
Holzbein),<br />
- Anglo-Amerikanismen (cooles feeling),<br />
- besondere Bezeichnungen für Personen (Tussis, Schnecken), besondere Ausdrücke in<br />
jugendlich dominierten Sachbereichen wie Popmusik,<br />
- eine Fülle von Partikeln, Empfindungs- und Emphasewörtern, Pausenfüllern (wau, eh),<br />
- häufiger Gebrauch von Schablonen (Stereotypen),<br />
- besondere Realisierung bestimmter Sprechhandlungen (Grüßen, Ablehnen, Drohen,<br />
Bewundern, Staunen u.a.,<br />
- Stil-Bastelei / Bricolage (vgl. Lewandowski 1994: 503 – 504; Neuland 2003).<br />
Vgl. Slang = „der gruppenspezifische, burschikose, über-expressive und zugleich emotional<br />
unterkühlte Wortschatz großstädtischer Jugend, in dem die Bereiche Geld, Mädchen, Sexualität,<br />
Musik, Polizei, Angst, Drogen und Tod besondere Metaphorik zeigen“ (vgl. Lewandowski 1994:<br />
973-974).<br />
Vgl. Studentensprache: eine Mischung aus Fach-, Wissenschafts-, Berufs- und Jugendsprache;<br />
„Akü-Sprache“ (Abkürzungen wie Info, Assi, Prof)<br />
Bewertung: Sprachverarmung vs. Sprachvirtuosität<br />
Kontrasprache vs. solidarisierende Sprache der sog. Peer-Groups (identitätsstiftende Funktion)<br />
Jugendsprache(n) / Sprachstile der Jugendlichen → Sprache der Massenmedien (Musik, Mode<br />
und Freizeitbeschäftigung) → Standardsprache<br />
Beispiel (Quelle: Jugend und Schule: Junge Welten, Berliner Zeitung 21. 1. 2008): ALI & Babsi<br />
erklären die Welt<br />
HEUTE: Was bedeutet eigentlich Servilität?<br />
Babsi: Diese wohl klingende Lautfolge ist ein Begriff, der aus dem Lateinischen stammt - der<br />
Sprache des antiken Roms, Sprache der Denker, Sprache, die ich liebe, lingua, qua amo.<br />
33
Servilität bezeichnet ein gewisses Verhalten. Benimmt sich eine Person auffallend kriecherisch<br />
oder unterwürfig, so bezeichnet man sie als servil. Es ist eine Art Selbsterniedrigung damit<br />
verbunden, die der Mensch, der sich servil verhält, freiwillig in Kauf nimmt. Er stellt sich einer<br />
anderen Person wie ein Knecht zur Verfügung und gibt viel - wenn nicht alles - von seiner<br />
Eigenständigkeit auf. Nicht immer muss er dieses Verhalten jedoch aus einem inneren Drang<br />
heraus erfüllen, oftmals kann er auch bewusst so handeln, um etwas Bestimmtes mit seinem<br />
Verhalten zu erreichen.<br />
Ali: Yo Babsen, hör endlich auf, so rumzunietzschen! Das ist doch alles ganz easy abgecheckt,<br />
da gibt's nullinger Probleme beim Erklären: Wenn dieser Honk, der in der Schule neben mir sitzt,<br />
einfach keine street-tauglichen Props bekommt, dann kommt er zu mir an und will, dass ich sein<br />
Image ein bisschen aufpoliere. Ich soll dann diesen Plastikgangster in einen Turboburner<br />
umswitchen. Ey, allein wenn die Pussylette in meiner Nähe ist, braucht er schon keine Angst<br />
mehr vor Fameverlust zu haben, denn in meinem Glanz sehen alle gut aus. Aber damit ich halt<br />
auf ihn klarkomme, ist der Junge endnett zu mir und labert alles nach, was ich rülpse. Der würde<br />
sich sogar meine Popelteppiche, in die ich meinen Schnupfen verfrachte, zu Hause an die Wand<br />
hängen. Alder, was geht? So kommt der nie zu ordentlichen Props auf der Straße des Lebens.<br />
Mannomann, ich bin ja ein richtiger Philosoph, was meinst du Babsen? (Laura Wurth, 17 Jahre)<br />
(Ad 4) Seniorensprache<br />
Grundfragen der gerontologischen Linguistik: Kommunikationssituationen im Alter, Modelle<br />
altersspezifischer Kommunikation, sprachliche und kommunikative Altersmerkmale (in<br />
mündlicher sowie schriftlicher Kommunikation), interaktive Konstruktion vom Alter im<br />
Gespräch, Einfluss von Stereotypen auf die Kommunikation mit Älteren, „patronisierende“<br />
Kommunikation in Pflegekontexten, pathologische altersbezogene Veränderungen in Sprache<br />
und Kommunikation, Kommunikation über Alte.<br />
Vgl. Fiehler, Reinhard / Thimm, Caja (Hrsg.) (2003): Sprache und Kommunikation im Alter.<br />
Radolfzell: Verlag für Gesprächsforschung. Zugänglich auch unter WWW: .<br />
(2.2.2.c) GESCHLECHTSSPEZIFISCHE VARIETÄTEN (Genderlekte / MW-Lekte / fm-<br />
Varietäten)<br />
1. Unterschiede zwischen dem weiblichen und dem männlichen Kommunikations-verhalten<br />
(vgl. Linke u.a. 1994: 319-320).<br />
(a) Phonetik (Stimme, Aussprache, Intonation)<br />
(b) Wortwahl und Lexikon<br />
(c) Satzbau<br />
(d) Interaktions- und Gesprächsverhalten<br />
2. Interpretation des geschlechtsspezifischen Sprachverhaltens<br />
(1) „defizitäre“ Interpretation: Frauensprache als „Sprache der Unterprivilegierten“<br />
(2) geschlechtsspezifisch unterschiedliche Umwelt- bzw. Situationsinterpretation: Frauensprache<br />
als „Sprache der Nähe“ (vs. „Sprache der Distanz“)<br />
34
(3) kooperatives und konsensorientiertes weibliches Interaktionsverhalten vs. leistungs- und<br />
konfliktorientiertes männliches Verhalten<br />
Situationsadäquatheit als das funktional richtige Maßstab für das Sprachverhalten<br />
(2.2.3.) SONDERSPRACHEN IM ENGSTEN SINNE : GEHEIMSPRACHEN<br />
(a) Sprache der Drogenszene, der kommerziellen Prostitution (auch: Dirnensprache), der<br />
Gefängnisse (Kiez-, Häftlingsjargon), der jugendlichen Antigruppen, der sexuellen Minderheiten<br />
usw.<br />
(b) Sprache der Nichtsesshaften, der Stadt- und Landstreicher, der Obdachlosen, der Fahrenden<br />
Merkmale der Anti-Sprache / Kontrasprache:<br />
- Überlexikalisierung relevanter Referenzobjekte (Unternehmungen, Täter, Opfer, Polizei, Straf-<br />
und Vollzugsanstalten usw.) zum Zweck der Geheimhaltung,<br />
- Expressivität (Vulgarismen),<br />
- Originalität (Wortspiele),<br />
- viele metaphorische Ausdrücke mit diffuser Bedeutung,<br />
- besondere Körpersprache.<br />
Funktion: Geheimhaltung, Abschirmung nach außen, Protest<br />
Andere Bezeichnungen: Gaunersprache<br />
Argot - urspr. die Sondersprache der französischen Bettler und Gauner des Mittelalters;<br />
- i.w.S. jede Sondersprache (Geheimsprache) einer sozial abgegrenzten Gruppe, v.a.:<br />
-- metaphorische Umdeutung von Wörtern der Gemeinsprache (z.B. Schnee für Kokain) -<br />
- Entlehnung aus fremden Sprachen (zahlreiche Wörter jiddischen Ursprungs: besäbeln =<br />
betrügen, Zores = Lärm, Wirrwarr (aus hebr. za:ro:th = Not, Bedrängnis), zocken =<br />
(Glückspiele) spielen (vgl. Bußmann 1990: 96).<br />
Rotwelsch [rôt = Bettler; welsch = urspr. romanisch, d.h. „unverständliche Sprache“] - i.e.S. eine<br />
im 13. Jahrhundert entstandene Sondersprache/Geheimsprache der Gauner und Bettler.<br />
Geheimwortschatz: Sonderbedeutungen bekannter Wörter, umgedeutete Anleihen aus dem<br />
Jiddischen und aus Zigeunersprachen; besonders reich im Gebiet:<br />
- des Geldes: Torf, Kies, Moos (aus hebr. taref/toref = Raub, Beute; kīß = Geldbeutel; ma´ōth =<br />
Münze), Zaster (zigeunerisch: sáster = Eisen), Blech, Pulver, Zimt, Schotter, Linsen;<br />
- der Polizei: Mischpoke, Schmiere (aus dem Hebr.), Polypen, Polente;<br />
- des Gefängnisses: Kittchen, Knast (aus dem Hebr.).<br />
Jenisch, Bsp. Schweizerisches Jenisch (, vgl.<br />
Löffler 1994: 137)<br />
35
Jenisch Deutsch interlinear Deutsch<br />
Am verholchten Schai isch mir<br />
de Laschischmadori muli<br />
tschant,<br />
selber linstne ne zgwand<br />
zmenge,<br />
Am gestrigen Tag ist mir die<br />
Kaffeemaschine kaputt<br />
gegangen,<br />
selber schaute ihn ganz zu<br />
machen,<br />
36<br />
Gestern ist mir die<br />
Kaffeemaschine kaputt<br />
gegangen,<br />
ich versuchte, sie selbst zu<br />
reparieren,<br />
isch me abe gehochlt lori, ist mir aber gelungen nicht, aber es gelang mir nicht,<br />
drum delt ne mim olmische zem Darum gab ihn meinem Vater<br />
ne menge gwand.<br />
zum ihn machen ganz.<br />
darum brachte ich sie zu meinem<br />
Vater, um sie reparieren zu<br />
lassen.<br />
Mattenenglisch (Mattenänglisch) = die Geheimsprache des Mattequartiers in Bern (zu<br />
unterscheiden vom Mattendialekt, Matte-Bärndütsch)<br />
Künstlicher Wortschatz – auch: I-E-Sprache (Bildung neuer Wörter: die Silben von bestehenden<br />
Wörtern aus dem Mattendialekt umdreht und dann ein I an den Anfang und ein E an das Ende<br />
gestellt: Fridu (Fritz) → Idufre, d’Mättu (die Matte) → d’Ittume; abcheibe (wegrennen) → ibeibechei.)<br />
Spezialwortschatz – viele Ausdrücke für essen, trinken, stehlen, betrügen, verstecken,<br />
wegrennen; Geld.<br />
Variation der Vokale in Wörtern (bladere / blädere / blodere / bludere) → schwer verständlich.<br />
Vgl.:<br />
Hochdeutsch 1<br />
Meines Buben Hosentasche<br />
Eine alte Kapselpistole,<br />
ein Geldbeutel, natürlich leer<br />
Ein Bleistift und ein Stückchen Kohle<br />
Ein Taschentuch, das gern sauber wär<br />
Ein schimmlig-grünes Stück Kandiszucker,<br />
Ein Kleeblatt, vierblättrig und verblüht<br />
Ein Messer und eine Handvoll Murmeln<br />
Ein Los, das sicher nicht mehr zieht<br />
Streichhölzer und eine Waldreben-Ranke<br />
Eine Eintrittskarte auf den Münsterturm<br />
Eine Lupe und eine Mundharmonika<br />
Und zuunterst noch ein Regenwurm<br />
1 Das Original, in Baseldeutsch, wurde aus dem Buch „Schweizer Dialekte“, Robert Christ, Birkhäuser Verlag,<br />
1965, ausgewählt. Übertragen von U. Roos, Hedingen, ZH.
Was so ein Knirps - s' ist fast ein Wunder<br />
nicht alles mit sich herumträgt!<br />
Eine Tasche voll Krimskrams, Dreck und Plunder?<br />
Eine Tasche voll Buben-Seligkeit!<br />
Stadt-Berndeutsch 2<br />
Mim Bueb si Hosesack 3<br />
En alti Chäpslipischtole<br />
Es Portemonnaie, natürlech läär<br />
Es Bleischtift und nes Stückli Chole<br />
Es Nastuech, wo gärn suber wär<br />
E vergrauets Stück Kandiszucker<br />
Chlee, vierbletterig u verblüeit<br />
Es Mässer und e Hand voll Märmeli<br />
Es Loos, wo sicher niemer me zieht<br />
Zündhölzli und e Niele<br />
Es Billiee für uf ds Münschter<br />
Es Vergrösserigsglas und es Muugygeli<br />
U ds underscht no ne Rägewurm<br />
Was so ne Chnopf, es isch fasch es Wunder<br />
Nid alles mit sich umetreit<br />
E Sack voll Gräbel, Dräck und Plunder<br />
E Sack voll Buebe-Seeligkeit<br />
Mattedialekt / Mattebärndütsch 4<br />
Mim Gieu si Gschtöössack<br />
En auti Chäpsli-Pischtere<br />
E Pörtner, natuder läär<br />
Es Blofi u ne Ligu Chole<br />
Es Pööggenaubum, wo gärn suber wär<br />
E schimmlig grüene Stigg Kandiszucker<br />
E Chlee, vierbletterig u verdorret<br />
E Hegu u ne Chlööpe vou Grädle<br />
E Lösu wo sicher niemer me zieht<br />
Funi u ne Niele<br />
Es Billie für uf ds Münschter<br />
E Lupe u ne Schnuregyge<br />
U ds ungerscht no ne Rägewürmu<br />
Was so nes Gieutschi – es isch fasch es Wunder -<br />
Nid aus mit sech umetreit<br />
E Sack vou Gräbu, Dräck u Plunder?<br />
E Sack vou Giele-Seeligkeit!<br />
2 Das Stadt-Bärndütsch - nach Ansicht des alten Regimes (Patrizier) das einzig richtige und schöne Bärndütsch.<br />
3 In die Varianten des Berndeutschen von Peter Hafen, Präsidenten des Matteänglisch Clubs, übertragen.<br />
4 Matte = Quartier der Stadt Bern<br />
37
Matteänglisch (Geheimsprache) 5<br />
Imme Iuge ise issgschte-Ickse<br />
Ine iutie Ipsliche-Ischterepe<br />
E Irtnerpe, ine-iderte irle<br />
Es Ifible u ine Igule Ileche<br />
Es Iggepe-Iue-imbe, iwe irnge iberse irwe<br />
E immligsche ienegre Iggste Indiske-Ickerze<br />
E ichle, ierve itterigble u irve-irretde<br />
E Iguhe u ine Ipechle iuve Idlegre<br />
E Isule iwe icherse iemerne ime ietze<br />
Inife u ine Ielene<br />
Ise Illiebe irfe ife ds Intscherme<br />
E Ipele u ine Ireschne-Igege<br />
U ds ingerschte ine ine Igere-Irmuwe<br />
Iswe inesse Ieutschige -ise ische ischfe ise Inderwe-<br />
Idne iuse itme ichse imee-iittre<br />
E Ickse iuve Ibugre, Ickdre u Inderple?<br />
E Ickse iuve Ielege- Iligse-itke!<br />
(Quelle: bzw. → Stein von Rosetta) [Vgl. ]<br />
5 Basis: Mattedialekt.<br />
38
(9) SITUATIONSSPEZIFISCHE / DIAPHASISCHE VARIETÄTEN bzw. SITUOLEKTE<br />
Domänen = soziale Situationen, in denen Interaktionspartner je nach ihren sozialen Rollen in<br />
einem spezifischen sozialen Umfeld in privater oder geschäftlicher Beziehung interagieren.<br />
9.1. Soziale Rollen<br />
soziale Rolle = Menge kulturell definierter gegenseitiger Rechte und Verpflichtungen / Menge all<br />
derjenigen Erwartungen, die sich an das Verhalten der betreffenden Person in einer gegebenen<br />
Interaktionssituation richten<br />
Rollentypen: (1) Feste (permanente) soziale Rollen<br />
(2) Institutionelle bzw. organisatorische Rollen<br />
(3) Akzidentelle funktionale Rollen<br />
Rollenhandeln (verbal + nonverbal)<br />
Normverstoß – negativ oder positiv bewertet<br />
Rollendistanzierung bei rollenkonformem Handeln (Ironiesignale, Übertreibung)<br />
Konflikte: innerhalb ein und derselben Rolle<br />
Rollenwechsel<br />
9.2. Register und Stile<br />
zwischen zwei Rollen<br />
Situolekte: wer mit wem wie in welchem sozialen Kontext über was redet.<br />
Register = Varietät des Sprachgebrauchs (die an wiederkehrende Situationstypen gebundenen<br />
Sprachgebrauchsformen)<br />
Kontext-/Musterwissen<br />
Parameter des Registers nach Halliday:<br />
(1) das diskursive Feld = das Thema;<br />
(2) der Tenor / Diskursstil = Stilausprägung je nach den sozialen Rollen der Interaktionspartner<br />
und je nach dem Grad der Formalität;<br />
(3) der Diskursmodus = sprachliche Gestaltung des Diskurses je nach dem Medium und je nach<br />
der kommunikativen Funktion der Mitteilung (referentiell, expressiv, konativ = persuasiv,<br />
phatisch, poetisch, metasprachlich)<br />
Beispiel: (a) das Register der Fernsehwerbung:<br />
(1) Gerichtetheit auf ein bestimmtes (neues) Produkt oder auf einen bestimmten Dienst,<br />
(2) informelles Herangehen der Autoren ans Publikum (es werden freundliche bis familiäre<br />
Beziehungen simuliert),<br />
(3) audio-visuelle Darstellung (mündlich und schriftlich und non-verbal: auch Musik und Bild),<br />
(4) informative und persuasive Funktion, Appell (d.h. jn. zum Kauf bewegen, vgl. Hoffmanová<br />
1997: 138).<br />
Oder Bsp. (b) das Baby-Register (engl. Motherese) und das Fremdenregister (Xenolekt, engl.<br />
Foreigner Talk, vgl. Dittmar 1997: 216-218).<br />
39
Register = „Kongruenz zwischen einer situativen Ausprägung (Parameter auf einem<br />
Kontinuum), einem Diskursmodus (Medium der Kommunikation), einer Befindlichkeitsebene<br />
(„Tenor“) und in die Kommunikation involvierten sozialen Rollen (institutionelle und<br />
gruppenspezifische Rollenbeziehungen). Auf linguistischer Ebene ist die Kongruenz zwischen<br />
den vier Parametern über sprachliche Mittel (vor allem lexiko-grammatische) zu denken“<br />
(Dittmar 1997: 209).<br />
Bsp. (c): das Register des Cellolehrers (L) im Transkriptionsausschnitt aus einer Cellostunde an<br />
der Musikhochschule (nach Dittmar 1997: 10-11).<br />
Erklärungen: L = Lehrer<br />
S = Studentin<br />
(sp) = spielt/spielen<br />
[...] = Kommentare<br />
Großbuchstaben = laut gesprochen<br />
kursiv = nachdrücklich, hervorgehoben<br />
isses = ist es, kommste = kommst du, kumma = guck mal usw.<br />
S Ja hm (sp)<br />
L Ja so isses, so, wenn du jetzt so hier kommst, kommste dahin, da musste aber wieder<br />
umkehren, sonst gehste wieder weg, ja? Kumma, gesenkte Spitze (sp) jetzt raus mit’m<br />
Arm! Raus mit’m Arm! (L sp) soo isses und da hab ich gern den Daumen drauf, ohne<br />
Rutscher (sp) wenn de ihn schön vibrierst so isses<br />
S Und dann weiter auch so, wieder den Daumen<br />
L Natürlich!<br />
S Ja, ja<br />
L Weißte, das war das erste schöne Vibrato und das war das zweite schöne Vibrato, die da<br />
oben meckern ein bisschen (S sp) Lass den Daumen ruhig los beim Vibrieren sooo-o<br />
(beide sp)<br />
L So, jetzt will ich dir auch mal ein Bild geben, wat da los ist, da is ein to-o-osender Sturm<br />
und ein Wasserfall bllllll! so-o, und irgendwelche gro-o-ßen Rufe, ja, in in irgendeiner<br />
zackigen – Felslandschaft, könn’sich irgendetwas vorstellen, ja?<br />
S [lacht] j-ja<br />
L Sowas is das un nu-un wird’s weich, lieblich, ja bis dahin muss man es wirklich<br />
rausstemmen aus dem Cello, ja?<br />
S Ja, ja<br />
L DA-TAM-PA-DI! Da ist eine Überlietung, oder gehen se da rüber jetzt (sp)<br />
[Fingersatzproblem: a- oder d-Saite?]<br />
S (sp) hm?<br />
L Was sinds denn? Sinds immer Sechzehntel sinds immer Achtel? Wat sinds denn?<br />
S Sechzehntel sinds imma<br />
L Und der letzte auch?<br />
S Ja<br />
L [singt] Ooch noch?<br />
S Ja<br />
L dann kommen Achtel das a is dann ‘n Achtel.<br />
40
Register vs. Stil (Dell Hymes)<br />
Varietäten = größere „Sprechstile“, die an soziale Gruppen gebunden sind<br />
Register = Sprechstile, die an rekurrente Situationstypen gebunden sind<br />
personale, situative und Genrestile = Sprechstile, die an Personen, spezielle Situationen oder<br />
Genres gebunden sind (vgl. Hymes 1979: 177, zit. nach Linke u.a. 1994: 306)<br />
Stil = individuelle (unbewusste, aber auch bewusste) Variationsmöglichkeiten innerhalb einer<br />
bestimmten Varietät bei der Durchführung einer sprachlichen Handlung (z.B. eine feierlichernste<br />
oder eine launig-fröhliche Rede, ein sachlich-nüchterner oder ein emotionaler und<br />
aggressiver Beschwerdebrief), d.h. Stil als Marker der Förmlichkeit einer Situation im<br />
Registerbegriff (vgl. Dittmar 1997: 232)<br />
Stile vermitteln Sprecherinformationen – Register sprachgebrauchbezogene Informationen<br />
Die Stilauffassung von H. Löffler<br />
Stile = Inventare sprachlicher Mittel für bestimmte Anlässe und Wirkungen.<br />
Klassifizierung der Stile (vgl. Sanders 1973):<br />
(a) in der klassischen Rhetorik: Unterschicht : vulgär-derb;<br />
(b) soziolektale Stilschichten: (1) einfacher Stil,<br />
Mittelschicht : normal-, umgangssprachlich;<br />
Oberschicht : gehoben-dichterisch.<br />
(2) normalsprachlich-entfalteter Stil,<br />
(3) gewählt-gehobener Stil,<br />
(4) dichterischer Stil.<br />
+ Fähigkeit zum Rollenwechsel → z.B. Stilebenen /„Sprachorgeln“ / „Register-Repertoires“<br />
bei einem Mittelschichtsprecher:<br />
(1) erhaben (literarisch, poetisch, liturgisch, rituell - sonst „Normallage“ der Aristokratie);<br />
(2) gehoben (förmlich, offiziell, institutionell – sonst Normallage des „Bildungsadels“);<br />
(3) Normallage1 (öffentlich: höflich, wohl gesetzt, sprachbewusst – typisch für<br />
Bildungsbürger);<br />
(4) Normallage2 (privat: weniger kontrolliert, eingefärbt, umgangssprachlich);<br />
(5) Unterniveau (lässig, salopp, jargonhaft – sonst Normallage der Unterschicht);<br />
(6) ordinär (grob, obszön, deftige Kraftausdrücke... – Normallage der Asozialen).<br />
bei einem Unterschichtsprecher:<br />
(1) gehoben (Vermischung verschiedener Stilelemente);<br />
(2) Normallage1 (öffentlich: freundlich, viele situationsspezifische Muster, eher wortkarg);<br />
(3) Normallage2 (privat: beredt, gruppensprachlich festgelegt – soziodialektal,<br />
umgangssprachlich; Eindruck von „restringiert“ – in Beziehung zur Mittelschichtnorm);<br />
(4) Unterniveau (derb, Kraft- und Schimpfwörter, Metaphern, feste Muster);<br />
(5) Tiefstufe (nur partiell sprachlich; Wortfetzen, Ausrufe; nonverbale Elemente).<br />
41
(10) MEDIALE VARIETÄTEN bzw. MEDIOLEKTE<br />
gesprochene Sprache (GS)<br />
geschriebene Sprache (GSCHS)<br />
Mischformen in der elektronischen Kommunikation<br />
Hauptunterschiede: Funktion<br />
kontextuelle Situierung<br />
Inventar sprachlicher Merkmale<br />
Weiter: Werkzeuge und Organen ihrer Hervorbringung<br />
10.1. Gesprochene Sprache<br />
primär<br />
Kommunikationsarten:<br />
materielle Träger<br />
(a) direkte Kommunikation („face-to-face“)<br />
(b) vermittelte mündliche Kommunikation (zeitgleich oder zeitverschoben; bi- oder oder unidirektional)<br />
Sprecherkonstellationen<br />
Speicherung (schriftlich: Transkriptionsschrift)<br />
Sprachliche Merkmale (vgl. Löffler 1994: 93, Lewandowski 1994: 360-362):<br />
- relativ einfach gebaute und kurze Sätze, elliptische Sätze;<br />
- häufige Satzeinleitungen mit Und, Und dann, Und da;<br />
- häufigere Parataxe, asyndetische Anschlüsse von Nebensätzen;<br />
- nicht zu Ende geführte Sätze (Satzabbruch/Aposiopese);<br />
- Satzbrüche bzw. Fehler in der Satzkonstruktion (Anakoluthe);<br />
- häufige Ausklammerungen und Nachträge;<br />
- Pausen und Wiederholungen;<br />
- direkte Anreden zur Kontaktherstellung;<br />
- viele Abtönungspartikeln;<br />
- viele deiktische Elemente;<br />
- reduzierter Wortschatz;<br />
- phonetische Sprecherleichterungen und Verschleifungen;<br />
- eher sprunghafte (nicht lineare) thematische Steuerung;<br />
- nonverbale und paraverbale Mittel sind nicht nur unterstützend, sondern treten auch anstelle<br />
der verbalen Äußerungen;<br />
42
- häufigere Verwendung von dialektalen und umgangssprachlichen sowie soziolektalen<br />
Merkmalen: (a) lautlich-intonatorische Merkmale („mit Akzent sprechen“), (b) grammatische<br />
Eigentümlichkeiten (wegen + Dat., Zusammenziehung von Präposition und Artikel), (c)<br />
kurzlebige regionale und gruppensprachliche Wörter und Wendungen.<br />
Gesprächstypologie (vgl. Löffler 1994: 94-95, Linke u.a. 1994: 288-289).<br />
Kriterien: Ort, Zeit, Öffentlichkeitsgrad, Teilnehmerzahl, Bekanntheitsgrad der Teilnehmer,<br />
Rangverteilung, Privilegierungen, Sprecherintentionen, Grad der Vorbereitetheit einzelner<br />
Gesprächsbeiträge, thematische Fixiertheit des Gesprächs usw.<br />
10.2. Geschriebene Sprache<br />
diachronisch sowie strukturell sekundär<br />
Funktionen<br />
Merkmale der Kommunikation<br />
Schreiber-/Leser-Konstellationen:<br />
Sprachliche Merkmale (vgl. Löffler 1994: 101):<br />
- i.d.R. längere, deutlich gegeneinander abgegrenzte, grammatische Sätze (auch Satzgefüge);<br />
- Nominalstil, komplexe Attributgruppen, erweiterte Infinitivkonstruktionen häufiger als im<br />
Mündlichen;<br />
- Wortstellung festgelegter, Verb-Endstellung in Nebensätzen wird eingehalten, Extraposition<br />
von Satzteilen dient zur Hervorhebung;<br />
- grammatische Variationsmöglichkeiten (Stil) werden bewusst gebraucht;<br />
- typische Papierwörter werden verwendet (entzwei, senden, empfangen);<br />
- Fachwörter und Verwaltungswörter kommen vor (Anschlussstelle für Autobahnausfahrt oder -<br />
auffahrt, Banknote für Geldschein, Note);<br />
- die Palette der möglichen Temporalformen wird ausgeschöpft;<br />
- Konjunktive;<br />
- eine Vielfalt an Konjunktionen.<br />
Typologie des Geschriebenen (vgl. Löffler 1994: 102-103, Linke u.a. 1994: 248-251) –<br />
Kriterien für die Klassifikation der Textsorten in der Textlinguistik:<br />
(a) textinterne Kriterien:<br />
Textoberfläche (graphische Ebene – z.B. Handschrift vs. Maschinenschrift vs. Druck;<br />
Wortwahl; Art und Häufigkeit von Satzbaumustern);<br />
Texttiefenstruktur (Thema, Themenbindung, Themenverlauf, Textstrukturmuster);<br />
(b) textexterne Kriterien:<br />
Textfunktion (Darstellung, Appell, Ausdruck bzw. repräsentativ, direktiv, kommissiv,<br />
expressiv, deklarativ; objektive od. subjektive Behandlung...),<br />
43
Kommunikationsmedium/Trägermedium (vgl. z.B. Brief vs. Telegramm; literarische<br />
Gattungen des Lyrischen, Epischen und Dramatischen),<br />
Kommunikationssituation (Öffentlichkeitscharakter, der soziale Status,<br />
Bekanntheitsgrad und das Vorwissen der Kommunikationspartner usw.)<br />
10.3. Elektronische Kommunikation (vgl. www.mediensprache.net/de)<br />
10.3.1. Web-Sprache / PC-Verkehrssprache / computervermittelte Kommunikation /<br />
Sprachgebrauch im Internet - deutliche Tendenzen zur Mündlichkeit<br />
(a) E-Mail-Kommunikation<br />
(b) das elektronische Gespräch (Chat):<br />
Organisation<br />
Merkmale:<br />
- ein geschriebener Text,<br />
- die Emphase durch Großbuchstaben oder multiplizierte Interpunktion ausgedrückt, Pausen<br />
durch mehrere Punkte oder durch Bindestriche signalisiert u.Ä.,<br />
- nonverbale Mittel: z.B. Emoticons (Smileys),<br />
- das Stilniveau: meistens Umgangssprache, alltagssprachliche + computerspezifische<br />
Anglizismen,<br />
- der Gebrauch von Onomatopoetika, Interjektionen und Gesprächspartikeln,<br />
- Verbstämme v.a. expressiv-emotiver Verben (wie in der Comic-Sprache),<br />
- Tilgungen, Assimilationen und Reduktionen,<br />
- teilweise phonetisch wiedergegebene Wörter,<br />
- Kleinschreibung und Verzicht auf Interpunktion zwischen Wörtern und Teilsätzen,<br />
(Hybridisierungen zwischen korrekter und inkorrekter Orthographie)<br />
- syntaktische Merkmale der gesprochenen Alltagssprache: subjektlose Sätze, sog.<br />
Adjazenzkonstruktionen (syntaktischer Anschluss an Vorgängersequenzen)<br />
10.3.2. Handy-Sprache (SMS-Kommunikation)<br />
44
(11) FUNKTIONALE VARIETÄTEN bzw. FUNKTIOLEKTE<br />
Funktion<br />
(I) das Organonmodell von Karl Bühler<br />
Darstellungsfunktion (Zeichen ↔ Gegenstände und Sachverhalte)<br />
Ausdrucksfunktion (Zeichen ↔ Sender)<br />
Appellfunktion (Zeichen ↔ Empfänger)<br />
(II) Funktionen der Sprache nach Roman Jakobson: referentiell (= Darstellung),<br />
(III) Kommunikationsbereiche und Funktionalstile<br />
(1) Alltagsverkehr u. die Alltagssprache („Umgangssprache“);<br />
45<br />
emotiv (= Ausdruck),<br />
konativ (= Appell),<br />
phatisch,<br />
metasprachlich,<br />
poetisch.<br />
(2) Belletristik / künstlerische Literatur u. die Literatursprache ;<br />
(3) Wissenschaft u. die Wissenschafts- / Fachsprache – Sachprosa;<br />
Subvarietäten: (1) Theoriesprache;<br />
(2) fachliche Umgangssprache;<br />
(3) Lehrbuchsprache;<br />
(4) Unterrichtssprache;<br />
(5) Außen- / Verteilersprache.<br />
(4) Amtsverkehr / Verwaltung / Direktive u. die Sprache des öffentlichen Verkehrs /<br />
Instruktionssprache;<br />
Subvarietäten in den Bereichen: Verwaltung; Wirtschaft und Handel; Rechtwesen.<br />
(5) Presse und Publizistik u. die Pressesprache bzw. Sprache der Massenmedien.<br />
Textsorten: informierend, meinungsbetont, kontaktorientiert, auffordernd u.a.
(12) KONTAKTVARIETÄTEN<br />
Sprachkontakt = „Sprachberührung oder gegenseitiges Aufeinanderwirken von Sprachen<br />
aufgrund kommunikativer Interaktionen von Sprechern unterschiedlicher Sprachen unter<br />
besonderen geographischen, historisch-politischen, kulturellen und sozialen Gegebenheiten, mit<br />
erkennbaren Einflüssen von Sprachen aufeinander, die als Sprechgewohnheiten und u. U.<br />
bleibende Sprachveränderungen manifest werden“ (Lewandowski 1994: 1026-1027).<br />
politische, wirtschaftliche, kulturelle usw. Macht als der bestimmende Faktor<br />
12.1. Pidgins (vgl. „business“)<br />
Merkmale (vgl. Dittmar 1997: 239):<br />
(1) niemandes ersterlernte Sprache;<br />
(2) in speziellen Kontaktsituationen gesprochen (Kolonisation od. Handelsverkehr);<br />
(3) Voraussetzung: eine ethnisch gemischte Sprachgemeinschaft;<br />
(4) Ergebnis ungesteuerter Lernprozesse alltäglicher Kommunikationsnotwendigkeiten (sozialer<br />
Druck, sich rasch und effizient zu verständigen);<br />
(5) beschränkte inhaltliche und thematische Ausdrucksfunktionen (kommunikative<br />
„Teilfunktionen“);<br />
(6) systematische Vereinfachungen in Morphologie, Syntax und Semantik, ein sehr begrenztes<br />
Lexikon;<br />
(7) eigene Normen der Kommunikation (pragmatische Regeln, z.B. Verwendung von du und<br />
Sie);<br />
(8) von eingeschränkter Lebensdauer, instabil;<br />
(9) von Angehörigen der unteren sozialen Schichten gesprochen.<br />
12.2. Kreols / kreolische Varietäten<br />
zur Muttersprache entwickelte Pidgin-Sprachen („Ausbausprachen“)<br />
Lebenszyklus (Hymes): Pidginisierung → Pidgin → Entpidginisierung → Kreolisierung → Kreol<br />
→ Entkreolisierung → Standardisierung → Standard<br />
12.3. Lernervarietäten / Lernerlekte / Interimlekte<br />
Idiolekte oder Soziolekte: gruppenspezifische Lernervarietäten – Resultat der Arbeitsmigration<br />
Lernerlekte von Arbeitsmigranten als Untersuchungsgegenstand der Migrationslinguistik:<br />
(a) Basilekt<br />
(b) Mesolekt<br />
(c) Akrolekt.<br />
z.B. Pidgin-Deutsch der spanischen und italienischen Gastarbeiter in Deutschland.<br />
(1) Nominale Einwortsätze: Mann – Bahnhof;<br />
(2) Verbale Erweiterungen: Koffer – tragen;<br />
46
(3) Sätze mit Subjekt: Mann Koffer tragen;<br />
(4) Pronominalisierungen: Du tragen Koffer;<br />
(5) Komplexere Formen: Du tragen langen Balken fort;<br />
(6) Adverbialsätze, Kopula, Modalverb usw.;<br />
(7) Hilfsverben, Verbergänzungen, Attributsätze usw.<br />
Fossilierung von Lernervarietäten<br />
Soziale Faktoren der Erlernung einer S2: Kontakt in der Freizeit, Alter bei der Einreise, Kontakt<br />
am Arbeitsplatz, Ausbildungsqualität in der Heimat, Ausbildungsdauer, Aufenthaltsdauer in<br />
Deutschland (vgl. Löffler 1994: 54-55).<br />
Forschungsschwerpunkte<br />
Lernervarietäten der ersten Migrantengeneration („Gastarbeiterdeutsch“, Pidgin-Deutsch) vs.<br />
Varietäten der Migrantenjugendlichen (Androutsopoulos 2001): Türkendeutsch / Türkenslang /<br />
Kanak-Sprak / Ausländerslang / Kiezdeutsch usw.<br />
Ethnolekte = Varietäten oder Sprechstile, die von Sprechern einer ethnischen Minderheit<br />
verwendet und als typisch für sie eingestuft werden.<br />
12.4. Xenolekte / Fremdenregister - „muttersprachliche Jargons gegenüber Ausländern“<br />
47
(13) <strong>SOZIOLINGUISTIK</strong> ALS WISSENSCHAFT: SOZIOLINGUISTISCHE UNTER-<br />
SUCHUNG, METHODEN.<br />
Die Soziolinguistik ist eine spekulative Wissenschaft auf empirischer Grundlage.<br />
Methoden der empirischen Sprach- und Sozialforschung<br />
13.1. Etappen der soziolinguistischen Untersuchung<br />
(1) Vorbereitung und Planung:<br />
(a) Festlegung des Forschungsziels und Aufgabenstellung,<br />
(b) Entwicklung der Forschungskonzeption,<br />
(c) Planung und Organisation der Untersuchung.<br />
Voruntersuchung → Zwischenauswertung → Korrekturen und Präzisierungen.<br />
(2) Durchführung der empirischen Untersuchung:<br />
(a) Datenerhebung: (aa) Befragung,<br />
(b) Aufbereitungsstufe,<br />
(ab) Notation der sprachlichen und nichtsprachlichen Äußerungen,<br />
(ac) Speicherung,<br />
(c) Korrelations- oder Erklärungsstufe.<br />
13.2. Soziolinguistische Methoden der Datenerhebung<br />
Linguistische Tradition:<br />
(a) Dialektologie: Einzelinterviews,<br />
(b) nordamerikanische Strukturalismus (Bloomfield, Harris): Korpora linguistischer Daten.<br />
Soziologische Tradition:<br />
(a) Erstellung von Samples (Zufallsauswahl) - Problem der Repräsentativität,<br />
(b) statistische Auswertung,<br />
(c) Skalierungsverfahren.<br />
Probleme der soziolinguistischen Datenerhebung:<br />
(a) das Beobachterparadox (Lösung: Wahl von Themen, teilnehmende Beobachtung);<br />
(b) Sprache als Objekt und als Instrument der Untersuchung.<br />
Wahl der Methode und die Art von Daten:<br />
(a) Sozialdaten der Beobachteten / Befragten (Alter, Bildung, Einkommenshöhe,<br />
Konfessionszugehörigkeit usw.);<br />
(b) Daten über Sprachverwendung (Sprachaufnahmen od. Protokoll über die Verwendung der<br />
Varietäten / Sprachen in bestimmten Situationen) – Beobachtungen, Tests;<br />
(c) Einstellungsdaten – Interviews.<br />
48
1. quantitative Methoden (Vorteile: Repräsentativität, Reliabilität; Nachteile: oberflächlich,<br />
Validität gefährdet)<br />
→ large scale-Untersuchungen<br />
→ korrelative Forschungsfragen<br />
2. interpretative/qualitative Methoden (Vorteil: komplexes Bild der Situation)<br />
→ Fallstudien (case studies) mit Vollständigkeitsanspruch<br />
→ integrative Fragestellungen<br />
Teilnehmende Beobachtung<br />
= langfristiges Teilnehmen an sozialen Aktivitäten natürlicher Gruppen<br />
Feldarbeit als das Kernstück der ethnographischen Methodologie<br />
Doppelrolle des Forschers als Teilnehmer an der Interaktion und als ihr Beobachter<br />
Gefahr: (a) zu wenig Interaktion - Innenperspektive bleibt verborgen;<br />
Befragung<br />
Einstellungsuntersuchungen<br />
(b) zu viel Identifizierung (going native) – Beobachtung nicht mehr möglich<br />
Klassifizierung [Medium der Befragung (schriftlich/mündlich) + Grad der Standardisierung<br />
(geschlossen/offen) als Kriterien]<br />
(a) schriftliche Befragungen mit geschlossenen und offenen Fragen (indirekte Befragung, mittels<br />
Fragebogen)<br />
(b) mündliche Interviews mit hohem oder niedrigem Standardisierungsgrad (direkte Befragung<br />
oder kombiniert - Verwendung des Fragebogens in Interviewtechnik, gezieltes Interview,<br />
Interview nach Leitfaden)<br />
Beispiele:<br />
offene Interviews (sog. Intensiv- oder Tiefeninterviews), u.a. das narrative Interview<br />
(Repräsentativität aufgrund der Wiederholung (Rekurrenz) von Argumenten und Stereotypen)<br />
standardisierte Befragungen: z.B. das semantische Differential in Form von Osgood-Skalen<br />
(s.u.)<br />
49
eängstigend <br />
Maus<br />
Sehr Sehr<br />
Etwas Etwas<br />
stark <br />
zielorientiert <br />
gefährlich <br />
verspannt <br />
leicht erregbar <br />
Experimente und Tests<br />
feindselig <br />
aktiv <br />
hässlich <br />
kräftig <br />
hart <br />
faul <br />
furchtlos <br />
aggressiv <br />
<br />
<br />
<br />
<br />
Weder/noch<br />
bzw.<br />
Beides<br />
Unterschied in der Komplexität der Versuchsanordnung<br />
<br />
<br />
<br />
<br />
<br />
<br />
<br />
<br />
<br />
<br />
Experimente: z.B. die matched-guise Technik<br />
<br />
<br />
<br />
<br />
<br />
<br />
<br />
<br />
<br />
<br />
<br />
<br />
<br />
<br />
50<br />
<br />
<br />
<br />
<br />
<br />
<br />
<br />
<br />
<br />
<br />
<br />
<br />
<br />
<br />
beruhigend<br />
schwach<br />
verwirrt<br />
<br />
ungefährlich<br />
entspannt<br />
ruhig<br />
freundlich<br />
<br />
<br />
<br />
passiv<br />
schön<br />
schmächtig<br />
weich<br />
tüchtig<br />
<br />
ängstlich<br />
friedfertig<br />
Tests: z.B. Ermittlung der Unterschiede zwischen mündlicher und schriftlicher, aktiver und<br />
passiver Kompetenz<br />
Nachteil: nicht-natürliche Sprachproben
historische Soziolinguistik: Longitudinalstudien<br />
Erschließung von Quellenserien<br />
Notation (a) sprachlicher Äußerungen: normale Schrift<br />
(b) nonverbaler Äußerungen: schriftliche Protokolle<br />
Speicherung: u.U. Sekundär-Kodierung notwendig<br />
bestimmte Alphabete und Transkriptionssysteme<br />
Video-Aufzeichnung<br />
→ partiturähnliche Transkripten<br />
Speicherungsmittel: Tonband, Videotape, Protokoll, Lesebogen, Frage- und Antwortformulare,<br />
Transliterationen, teilaufbereitete Korpora, die manuell, maschinell oder elektronisch bearbeitet<br />
werden sollen<br />
Vorteil: schnelle maschinelle Bearbeitung von umfangreichen Datenmengen<br />
Nachteil: großer Kodierungsaufwand<br />
13.3. Die Aufbereitungsstufe<br />
Segmentierung und Klassifizierung des Materials nach inhaltlichen od. formalen Kriterien:<br />
Sozialdaten → Schichten / soziale Gruppen<br />
nonverbale Informationen → Situationstypen<br />
sprachliche Äußerungen (z.B. Konjunktive, bestimmte Wörter, Satzmuster) → Sprechakte<br />
qualitative / inhaltliche Aufbereitung der Daten als Vorstufe der Anwendung statistischer<br />
Verfahren (Zweck: aufgrund von Stichproben Schlüsse auf die gesamte Population)<br />
13.4. Die Korrelations- oder Erklärungsstufe<br />
Aufgabe der theoretische Soziolinguistik: Deutung und Interpretation der Ergebnisse / der<br />
Korrelationsbefunde als Aufdeckung von Ursachen und Zusammenhängen im Rahmen eines<br />
soziolinguistischen Modells<br />
Ein soziolinguistisches Modell simuliert mögliche Ergebnisse als Arbeitshypothesen – die<br />
tatsächlichen Ergebnisse sind Verifikation oder Falsifikation der Hypothesen.<br />
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