UNTOLD FAMILY STORIES - Friedensschule Münster
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arbeitete. Nachdem sie einen Abendkurs in <strong>Münster</strong> für Schreibmaschinenschreiben besucht<br />
hatte, wechselte sie ihren Beruf und wurde 1970 als Sekretärin an der Staatlichen<br />
Ingenieurschule für Maschinenwesen in Burgsteinfurt angestellt. Bald darauf wurde sie<br />
zur Dekanatsekretärin befördert und arbeitete von da an ausschließlich für den Fachbereich<br />
Versorgungstechnik. Als sie in den Ruhestand entlassen wurde, bezeichnete man sie<br />
als die „gute Seele“ der Fachhochschule. Anni war jedoch nicht nur beruflich sehr erfolgreich,<br />
sie war in ihrem Kegelclub „Kesse Mücken - Kesse Brummer“ zur Leiterin gewählt<br />
worden und engagierte sich in der Frauen- und Müttergemeinschaft in Burgsteinfurt.<br />
Als meine Oma, die Mutter von meinem Vater, schwer an Brustkrebs erkrankte und<br />
später auch daran starb, kümmerte Anni sich um meinen Vater und meine Tante. Jeden<br />
Mittag nach der Schule ging mein Vater zu ihr zum Essen und blieb dort, bis mein Großvater<br />
ihn abends abholte. Sie kümmerte sich um die ganze Familie, ihr Bruder lebte Zeit<br />
seines Lebens mit ihr in einer Wohnung, bis er 1983 an Lungenkrebs starb. Daraufhin zog<br />
ihre ältere Schwester Mia bei ihr ein, denn sie hatte Probleme mit starkem Asthma und<br />
brauchte jemanden, der sich um sie kümmerte. So pflegte Anni auch sie bis zu ihrem Tod<br />
am 5.12.2004.<br />
Mit meiner Geburt war sie meine Patentante geworden. Jeden Sonntagnachmittag kam<br />
sie vorbei, um Kuchen zu essen und im Kreise der Familie die Neuigkeiten der Woche zu<br />
besprechen. Außerdem besuchte ich sie mindestens einmal im Jahr in den Ferien für ein<br />
oder zwei Wochen. Vor ein paar Jahren haben meine kleine Schwester und ich sie in den<br />
Osterferien zusammen besucht. Unser Aufenthalt verlief über den ersten April. Morgens<br />
weckte sie uns immer schon um acht Uhr, was für einen Schüler in seinen Ferien nun<br />
wirklich keine angemessene Zeit ist. Sie war jedoch schon um sechs Uhr aufgestanden<br />
und hatte nur darauf gewartet, dass sie uns um acht Uhr wecken konnte. Nachdem wir<br />
uns fertig gemacht hatten, wollten wir zu ihr in die Küche gehen, um zu frühstücken.<br />
Ich hatte einen beigen Rock an, über den sie schon öfters ihr Missfallen geäußert hatte.<br />
Als wir nun in die Küche traten, kam Anni direkt auf mich zu, zeigte mit dem Finger<br />
auf meinen Rock und fragte, was ich da auf meinem Rock habe. Meine Schwester und<br />
ich waren völlig verwirrt. Also starrten wir sie einfach nur verdutzt an. Sie schaute auf,<br />
lächelte und meinte „April, April.“ Wir lachten alle. Diese Aufgewecktheit zeichnete Anni<br />
aus, dass sie es noch mit 85 Jahren schaffte, mich in den April zu schicken. Eine Sache,<br />
die sie noch auszeichnete, war ihre Eigenheit bezüglich ihres Essens. Während unseres<br />
Aufenthalts waren meine Schwester und ich einkaufen gewesen und hatten für uns<br />
Paprika mitgebracht. Als wir sie zum Essen schnitten, fragte Anni, was das denn sei. Ich<br />
sagte völlig erstaunt darüber, dass sie Paprika nicht kannte, dass dies rote Paprika seien.<br />
Zu Hause essen wir häufig Paprika, da wir sie alle gerne essen. Anni wollte die Paprika<br />
schon probieren, doch es brauchte noch etwas Überzeugungskraft von meiner Schwester<br />
und mir, bis sie endlich reinbiss. Plötzlich verzog sich ihr schon faltiges Gesicht zu<br />
einem angewiderten Ausdruck und sie rümpfte die Nase. Sie spuckte die Paprika aus und<br />
meinte nur, so etwas wolle sie nie wieder essen. Bis heute lachen meine Schwester und<br />
ich über diesen unvergesslich angewiderten Gesichtsausdruck.<br />
Trotz ihres hohen Alters überraschte sie uns immer wieder mit ihrer geistigen Klarheit<br />
und wie körperlich belastbar sie noch bis zum Ende war. Auch als Rentnerin arbeitete sie<br />
jeden Tag in ihrem Schrebergarten, in dem sie Bohnen, Kartoffeln, Erdbeeren, viele andere<br />
Gemüsesorten und natürlich auch ein paar Blumen angepflanzt hatte. Als ich noch<br />
kleiner war, fuhren mein Vater und ich häufig samstags morgens ganz früh zu ihr in den<br />
Garten, der hinter dem wunderschönen Schloss von Burgsteinfurt lag. Wir halfen ihr bei<br />
der Gartenarbeit und genossen die schönen sonnigen Tage zwischen dem Gemüse und<br />
den Blumen. Im Herbst und im Winter machte Anni viele Gemüsesorten wie rote Beete,<br />
Bohnen oder Rotkohl aus ihrem Garten ein.<br />
Sie kümmerte sich, für manche war sie der Mutterersatz, für andere war sie die „ gute<br />
Seele“, ein Mensch, der immer da ist, an dem man sich festhalten kann. Anni hat nie<br />
geheiratet, trotzdem glaube ich, dass sie ein Familienmensch war, der sich um viele<br />
Mitglieder aufopferungsvoll mit Hingabe über Jahre gekümmert hat, ohne dabei an<br />
sich selbst zu denken. Mein Vater nannte sie immer „Mutter der Nation“, da sie immer<br />
alles getan hat, damit es ihrer Familie und auch Freunden gut geht. Sie ist für mich ein<br />
Vorbild. Anni hat mir viel über die Gartenpflege oder andere Dinge beigebracht, doch was<br />
ich von ihr lernen konnte, war, dass die Familie das Wichtigste im Leben ist und man sich<br />
gut um sie kümmern sollte.