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Modalverben - ein Klassenkampf - German Grammar Group FU Berlin

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JAKOB MACHÉ<br />

MODALVERBEN – EIN ”KLASSENKAMPF” ?<br />

Diplomarbeit zur Erlangung des<br />

Magistergrades der Philosophie aus der<br />

Studienrichtung Deutsche Philologie <strong>ein</strong>gereicht an<br />

der Geistes- und Kulturwissenschaftlichen<br />

Fakultät der Universität Wien<br />

Wien, 2004


- Inhaltsverzeichnis -<br />

Abkürzungen. III<br />

0. Problemstellung 1<br />

1. Zur Phänomenalität der <strong>Modalverben</strong>. 3<br />

1.1 ”Klassische” Kriterien. 4<br />

1.2 Syntaktische Aspekte. 8<br />

1.2.1 Transitivität. 9<br />

1.2.2 Status und Kohärenz. 11<br />

1.2.3 Matrixsubjekt und Infinitiv. 16<br />

1.2.4 Skopusverhalten. 25<br />

1.2.5 Restrukturierung (R). 30<br />

1.3 Semantische Aspekte. 34<br />

1.3.1 Aktionsart der MV. 34<br />

1.3.2 Aspekt und Tempus des Infinitivkomplements. 35<br />

1.3.3 Deontischer und epistemischer Gebrauch. 38<br />

1.4 Polyfunktionalität als konstituierendes Merkmal? 40<br />

1.5 (nicht) brauchen und werden als MV? 42<br />

1.6 Zusammenfassung. 47<br />

2. Epistemizität. 49<br />

2.1 Abgrenzung DMV/EMV 49<br />

2.1.1 Morphologische Unterschiede. 50<br />

2.1.2 Syntaktische Unterschiede. 53<br />

2.1.3 Semantische Unterschiede. 55<br />

2.1.4 Unterschiede in der Distribution. 56<br />

2.1.5 Arten von Epistemizität. 61<br />

2.2 Andere Formen von Polyfunktionalität? 68<br />

2.2.1 Zählen ”sch<strong>ein</strong>en”, ”versprechen”, ”drohen” zu den MV?<br />

2.2.2 Lassen sich ”sch<strong>ein</strong>en”, ”versprechen”, ”drohen”<br />

68<br />

epistemisch interpretieren? 71<br />

I


2.3 Epistemizität und Tempus. 74<br />

2.4 Zusammenfassung. 78<br />

3. Herausbildung der EMV. 80<br />

3.1 Theoretische Vorbedingungen <strong>ein</strong>er diachronen<br />

Betrachtung der Syntax. 81<br />

3.1.1 Transparenzprinzip und Reanalyse. 81<br />

3.1.2 Lehmanns Theorie der Grammatikalisierung. 83<br />

3.1.3 Weitere Theoretische Voraussetzungen. 84<br />

3.2 Der Beginn der Entwicklung. 87<br />

3.3 Voraussetzungen für die Herausbildung EMV. 92<br />

3.3.1 Starke und obligatorische Kohärenz. 92<br />

3.3.2 Anhebung. 101<br />

3.3.3. Functional Restructuring (FR). 103<br />

3.3.4. Aspekt des Komplements. 104<br />

3.4 Herausbildung der EMV 108<br />

3.4.1 Vorkommen von EMV im Parzival? 108<br />

3.4.2 Reanalyse und EMV. 112<br />

3.5 Zusammenfassung. 115<br />

4. Vorteile <strong>ein</strong>es diachronen Ansatzes. 118<br />

5. Abschließende Betrachtungen. 120<br />

6. Appendix. 124<br />

7. Literaturliste. 153<br />

II


Abkürzungen.<br />

ahd althochdeutsch<br />

DMV Modalverb in deontischer Interpretation<br />

DWB Deutsches Wörterbuch der Gebrüder Grimm<br />

EMV Modalverb in epistemischer Interpretation<br />

FR Funktionale Restrukturierung<br />

FutE futurische Epistemizität<br />

FutEMV Modalverb in futurisch-epistemischer Interpretation<br />

GR Grammatikalisierung<br />

fnhd früh-neuhochdeutsch<br />

gwd gegenwartsdeutsch<br />

MV Modalverb<br />

mhd mittelhochdeutsch<br />

Nhd neuhochdeutsch<br />

PräE präsentische Epistemizität<br />

PräEMV Modalverb in präsentisch-epistemischer Interpretation<br />

R Restrukturierung<br />

UG Universalgrammatik<br />

V1 Verberststellung<br />

V2 Verbzweitstellung<br />

VL Verbletztstellung<br />

III


0. Problemstellung<br />

Im Laufe der letzten beiden Jahrzehnte hat die allgem<strong>ein</strong>e<br />

Sprachwissenschaft ihr Augenmerk verstärkt auf <strong>ein</strong> kl<strong>ein</strong>es, überschauliches<br />

Grüppchen von Verben gelenkt, das gem<strong>ein</strong>hin unter der Bezeichnung<br />

”<strong>Modalverben</strong>” geläufig ist. Eine Reihe von bislang unerklärten Phänomen<br />

motiviert <strong>ein</strong>e wachsende Zahl an Forschern sich über die <strong>Modalverben</strong> den<br />

Kopf zu zerbrechen, sodaß die Beschäftigung mit diesen Verben langsam zu<br />

<strong>ein</strong>em prestigeträchtigen Unternehmen heranreift. Eines dieser Phänomene<br />

steht auch im Mittelpunkt dieser Untersuchung: 1 die Polyfunktionalität der<br />

deutschen <strong>Modalverben</strong> und deren Entstehung. 2<br />

Das in den letzten 30 Jahren stetig steigende Interesse für diese<br />

Verbgruppe spiegelt sich in jener Tatsache wider, daß unter anderem<br />

zahlreiche <strong>ein</strong>flußreiche Theorien zum Sprachwandel und zur<br />

Grammatikalisierung an zentralen Punkten <strong>Modalverben</strong> als Evidenz für ihre<br />

Thesen heranzogen. 3 Stellten die <strong>Modalverben</strong> ursprünglich vor allem für<br />

diachrone Morphologen <strong>ein</strong> ergiebiges Betätigungsfeld dar, so widmen sich<br />

ihnen heute mittlerweile zahlreiche synchrone sprachwissenschaftliche<br />

Disziplinen angefangen von der Psycholinguistik bishin zur Pragmatik und<br />

Soziolinguistik. 4 Seit dem Ersch<strong>ein</strong>en von Lightfoots ”Principles of diachronic<br />

syntax” (1979) finden die <strong>Modalverben</strong> samt ihrer Entwicklung auch in der bis<br />

dato strikt synchron vorgehenden formalen Linguistik verstärkt Beachtung,<br />

legt dieser Ansatz doch nahe, daß synchrone Theorien sinnvollerweise auch<br />

auf diachrone Daten Rücksicht nehmen sollten. Gerade <strong>ein</strong>e solche<br />

Vorgehensweise – wie später diskutiert wird – erlaubt es womöglich, die<br />

Polyfunktionalität der <strong>Modalverben</strong> adäquater zu erklären, als es bisher der<br />

Fall war.<br />

Das gilt natürlich auch für die deutschen <strong>Modalverben</strong>, den Gegenstand<br />

dieser Arbeit. Hinter dem Begriff der Polyfunktionalität verbirgt sich nämlich<br />

1<br />

Weitere Phänomene: <strong>Modalverben</strong> als Konjunktiversatz, Lühr (1997a,b); MV als Futurmarker,<br />

Fritz (2000); MV als Indikator der Redewiedergabe, Letnes (2002a&b) – diese Auflistung ließe<br />

sich nahezu beliebig lange weiterführen.<br />

2<br />

Die Bezeichung ”Polyfunktionalität” habe ich von Diewald (1999) übernommen.<br />

3<br />

So zum Beispiel: Lightfoot (1979), Sweetser (1990), H<strong>ein</strong>e (1995), Lehmann (1995: 27ff.),<br />

Diewald (1999), Roberts/Roussou (1999).<br />

1


nichts anderes als die Aufspaltung der <strong>Modalverben</strong> in zumindest zwei<br />

Unterarten, die deontischen und die epistemischen <strong>Modalverben</strong>. 56 Diese<br />

beiden Lesarten lassen sich nun offensichtlich am ehesten über ihre<br />

Geschichte erklären. Aus dem Blickwinkel der Syntax verfolgt diese Arbeit<br />

eben genau diesen Entwicklungsprozeß, mit dem Hauptaugenmerk auf der<br />

”exotischeren” epistemischen Lesart.<br />

Untrennbar mit der Polyfunktionalität ist das altbekannte<br />

Klassifizierungsproblem der deutschen <strong>Modalverben</strong> verbunden, dem sich<br />

schon zahlreiche Untersuchungen angenommen haben. 7 Dementsprechend<br />

bildet die Frage der Klassifizierung der <strong>Modalverben</strong> auch den thematischen<br />

Rahmen und den Ausgangspunkt dieser Arbeit. Die <strong>ein</strong>leitende<br />

Aus<strong>ein</strong>andersetzung mit dem Klassifizierungsproblem dient außerdem dazu,<br />

<strong>ein</strong>erseits auf die mannigfaltigen Besonderheiten der <strong>Modalverben</strong><br />

hinzuweisen und andererseits wesentliche Kriterien dieser Verbgruppe zu<br />

erarbeiten.<br />

Auf diese thematische Einleitung bauen dann die beiden zentralen Kapitel<br />

dieser Abhandlung auf, in der erstens vorrangig die Epistemizität und<br />

zweitens ihre Herausbildung unter die Lupe genommen werden. Im Zuge<br />

dessen werden mögliche Erklärungen für die Besonderheiten der<br />

epistemischen Lesart überprüft, die die diversen Ansätze in der<br />

Modalverbforschung in der Vergangenheit vorgebracht haben. Da viele<br />

dieser Theorien diachron vorgehen, kommt auch diese Untersuchung nicht<br />

umhin, sich mit Belegen aus den früheren Sprachständen des Deutschen<br />

aus<strong>ein</strong>anderzusetzen. Kurz zusammengefaßt: das Ziel der vorliegend Arbeit<br />

besteht darin, die Charakteristika der epistemischen <strong>Modalverben</strong> sowie<br />

deren Entstehung herauszuarbeiten und diese Entwicklungsgeschichte vom<br />

Ahd ins Gwd grob nachzuzeichnen.<br />

4<br />

Ein recht heterogenes Spektrum bilden folgende Sammelbände mit MV-Schwerpunkt:<br />

Fritz/Gloning (1997), Müller/Reis (2001), Fabricius-Hansen/Leirbukt/Letnes (2002).<br />

5<br />

Diese beiden Verwendungsweisen der <strong>Modalverben</strong> haben in der Literatur schon <strong>ein</strong>e Reihe<br />

von verschiedenen Bezeichnungen erfahren. Für <strong>ein</strong>e umfangreiche Auflistung siehe<br />

Öhlschläger (1989: 28).<br />

6<br />

Darüberhinaus unterscheidet De Haan (2001) noch die evidentielle Lesart, die aber hier nicht<br />

behandelt wird.<br />

7<br />

Die wichtigsten: Öhlschläger (1989), Fritz (1997), Reis (2001), mit Abstrichen beschäftigt sich<br />

auch Vater (1975) mit der Klassifikationsfrage.<br />

2


1. Zur Phänomenalität der <strong>Modalverben</strong>.<br />

Was macht <strong>Modalverben</strong> eigentlich ”modal”? Oder: wodurch genau grenzen<br />

sich die <strong>Modalverben</strong> von den anderen Verben ab? – Die Beantwortung<br />

dieser Fragen ist um <strong>ein</strong> vielfaches schwieriger, als der erste Blick vermuten<br />

läßt. Kurz gesagt, es ist gar nicht <strong>ein</strong>mal sicher, ob von <strong>ein</strong>er Klasse<br />

”Modalverb” (in der Folge nur noch MV) die Rede s<strong>ein</strong> kann. Insoferne<br />

stehen wir hier vor <strong>ein</strong>em gewaltigen Problem: wir wollen <strong>ein</strong>en Gegenstand<br />

untersuchen, ohne zu wissen, wie er genau aussieht, ja ob er überhaupt in<br />

der Form existiert.<br />

Der Einfachkeit halber gehen wir in der folgenden Untersuchung von jenen<br />

sechs Verben aus, die gem<strong>ein</strong>hin als MV bezeichnet werden, und versuchen<br />

nach und nach ihre Gem<strong>ein</strong>samkeiten und Verschiedenheiten<br />

herauszufiltern. Anhand dessen hoffen wir, bestimmen zu können, ob es<br />

überhaupt sinnvoll ist, von <strong>ein</strong>er <strong>ein</strong>heitlichen Modalverbklasse zu reden.<br />

Nach weitverbreiteter M<strong>ein</strong>ung existiert <strong>ein</strong>e Gruppe von Verben, die als<br />

MV bezeichnet werden und aus folgenden sechs Lexemen bestehen:<br />

können, müssen, sollen, dürfen, mögen, wollen. Diese traditionelle<br />

Auffassung – wenn auch leicht revidiert – wird nach wie vor in zahlreichen<br />

grundlegenden Werken der Modalverbforschung vertreten, wie in<br />

Öhlschläger (1989) oder Diewald (1999). Nun lassen sich aber leider kaum<br />

Kriterien finden, die diese 6 MV allesamt mit<strong>ein</strong>ander teilen, was die<br />

Sinnhaftigkeit <strong>ein</strong>er MV-Klasse gehörig in Frage stellt.<br />

Ausgehend von <strong>ein</strong>er Zusammenstellung von zahlreichen Beobachtungen,<br />

die im Zusammenhang mit den MV immer wieder gemacht wurden,<br />

beschäftigen sich die folgenden vier Abschnitte mit den besonderen<br />

Eigenschaften der MV. In 1.1 beleuchte ich <strong>ein</strong>e von Öhlschläger (1989)<br />

zusammengetragene An<strong>ein</strong>anderreihung von Merkmalen, anhand derer die<br />

MV immer wieder charakterisiert wurden, in kritischem Licht. Die Abschnitte<br />

1.2 und 1.3 relativieren, ergänzen und systematisieren die Kriterien aus 1.1<br />

mit dem Ziel, die relevanten Beobachtungen auf <strong>ein</strong>e möglichst geringe Zahl<br />

von Charakteristika mit großer Erklärungskraft zurückzuführen. 1.4 diskutiert<br />

3


diese Charakteristika und zeigt, inwieferne sie für das Wesen der MV<br />

Bedeutung haben. Zum Abschluß des 1. Kapitels starten wir <strong>ein</strong>en neuen<br />

Versuch, die Klasse der MV zu definieren, der auf den vorangegangenen<br />

Beobachtungen basiert.<br />

1.1 “Klassische” Kriterien.<br />

Öhlschläger (1989: 4f.) hat <strong>ein</strong>e Liste von Kriterien zusammengestellt, wie<br />

sie in der früheren Literatur zur Beschreibung der MV immer wieder<br />

verwendet wurden, und gleichzeitig auf die mangelnde Adäquatheit dieser<br />

Merkmale hingewiesen.<br />

(i) MV haben besonderes Flektionsparadigma:<br />

- 1. und 3. Person Singular Indikativ Präsens endungslos:<br />

ich kann-ø/muß-ø/darf-ø/soll-ø/will-ø/mag-ø<br />

sie kann-ø/muß-ø/darf-ø/soll-ø/will-ø/mag-ø<br />

- Wechsel des Stammvokals zwischen Indikativ Präsens Singular<br />

und Indikativ Präsens Plural:<br />

ich kann/muß/darf/will/mag/soll<br />

wir können/müssem/dürfen/wollen/mögen – aber (Anm. JM): sollen(.)<br />

- Vokalunterschied zwischen Infinitiv und Indikativ Präteritum.<br />

können-konnte(n/t); müssen-mußte(n/t); dürfen-durfte(n/t); mögenmochte(n/t);<br />

– aber (Anm. JM): sollen-sollte(n/t); wolle-wollte(n/t);<br />

(ii) MV bilden k<strong>ein</strong>en Imperativ.<br />

*/?? Kann/Muß/Darf/Soll/Will/Mag schwimmen.<br />

(iii) MV bilden k<strong>ein</strong> Passiv.<br />

*Es wird tanzen gekonnt/gemußt/gedurft/gesollt/gewollt/gemocht.<br />

4


(iv) MV stehen mit dem Infinitiv ohne zu.<br />

*Sie kann/muß/darf/soll/will/mag zu schlafen.<br />

Sie kann/muß/darf/soll/will/mag schlafen.<br />

aber auch (Anm. JM):<br />

Er läßt sie schlafen.<br />

(v) Subjektisidentität zwischen Modalverb und dem Verb im Infinitiv.<br />

(vi) MV können auch mit Infinitiv Perfekt stehen.<br />

Sie kann/muß/darf/soll/will/mag geschlafen haben.<br />

aber auch (Anm. JM):<br />

Sie sch<strong>ein</strong>t geschlafen zu haben.<br />

(vii) MV lassen jedes beliebiges Vollverb als Infinitivverb zu.<br />

Aber (Anm. JM): *Es will regnen/schneien.<br />

(viii) MV können k<strong>ein</strong>e nominalen Objekte nehmen.<br />

*Er darf/muß/soll/will dieTätigkeit .<br />

Aber (Anm. JM):<br />

Susanne kann das Gedicht.<br />

Helene mag Jürgen.<br />

(ix) Beim Gebrauch mit <strong>ein</strong>em Infinitiv steht bei den MV statt des<br />

Partizips II der Infinitiv (”Ersatzinfinitiv”).<br />

*Sie hat ihn sehen gekonnt/gemußt/gedurft/gesollt/gewollt/gemocht.<br />

Sie hat ihn sehen können/müssen/dürfen/sollen/wollen/mögen.<br />

aber auch:<br />

*Er hat sie schlafen gelassen.<br />

Er hat sie schlafen lassen.<br />

5


(x) Bei MV steht in diesen Fällen das finite Verb in <strong>ein</strong>geleiteten<br />

Nebensätzen nicht wie üblich am Ende des Satzes, sondern vor<br />

den infiniten Verbformen.<br />

*…daß sie ihn sehen können/müssen/dürfen/sollen/wollen/mögen<br />

hat.<br />

…daß sie ihn sehen hat können/müssen/dürfen/sollen/wollen/mögen.<br />

(xi) Bei MV ist bei analytisch gebildeten Formen sowie in<br />

<strong>ein</strong>geleitetet Nebensätzen k<strong>ein</strong>e Extraposition der<br />

Infinitivkonstruktion möglich.<br />

*…daß<br />

sehen.<br />

sie ihn hat können/müssen/dürfen/sollen/wollen/mögen<br />

*Sie hat ihn können/müssen/dürfen/sollen/wollen/mögen sehen.<br />

(xii) Die MV weisen <strong>ein</strong>e spezifische Semantik auf.<br />

Die in (i) angeführten morphologischen Besonderheiten verdanken die<br />

<strong>Modalverben</strong> ihren präteritopräsentischem Charakter, dem zufolge sie<br />

ursprünglich starke Präteritumformen bildeten, aber im Laufe der<br />

Sprachgeschichte als Präsensformen umgedeutet wurden, und sich ihr<br />

Paradigma mit neuen Formen für Präteritum, Perfekt,… auffüllte. Um genau<br />

zu s<strong>ein</strong>, entstammen aber nicht alle sechs Lexeme dieser Gruppe: wollen<br />

ging aus <strong>ein</strong>er alten Optativform hervor und glich sich lautlich und<br />

morphologisch an die Präteritopräsentia an.<br />

Dieses Bündel an morphologischen Merkmalen (i) stellt sich nun insofern<br />

schon als problematisch heraus, da es nicht <strong>ein</strong>mal für jene sechs Lexeme<br />

Gültigkeit hat, die herkömmlich als MV aufgefaßt werden. Für wollen treffen<br />

nur die ersten beiden dieser Kriterien zu, für sollen gar nur das erste.<br />

Bemerkenswert an dieser Stelle ist, daß das Präteritopräsens sollen sich<br />

noch markierter verhält als das Nicht-Präteritopräsens wollen.<br />

Dieses Merkmalsbündel (i) besitzt aber insofern Relevanz, da es diese<br />

sechs Verben mehr oder minder von den meisten Verben deutlich abhebt. Im<br />

Mittelenglischen trug diese morphologische Abgrenzung der sich<br />

herausbildenden <strong>Modalverben</strong> sogar erheblich dazu bei, daß sie <strong>ein</strong>e Reihe<br />

6


von neuen grammatikalischen Eigenschaften erwarben. 8 Im Deutschen ist<br />

dieses Bündel an Merkmalen jedoch von geringerer Bedeutung, da im<br />

Unterschied zum Englischen neben den <strong>Modalverben</strong> auch noch andere<br />

Präterito-präsentien in ihrer spezifischen Form überlebt haben, wie vor allem<br />

das Verb wissen (ich/er weiß-ø, wir wissen, zu wissen-wußte), welches sich<br />

infolge stärker wie <strong>ein</strong> Modalverb verhielte, als die Lexeme sollen und wollen.<br />

Öhlschläger (1989: 5) zufolge gelten auch die beiden morphologischen<br />

Kriterien (ii) und (iii) nur <strong>ein</strong>geschränkt. Die falsche Vorhersage, die durch<br />

(vii) getroffen wird, berührt <strong>ein</strong>en ganz entscheidenden, in der Literatur wild<br />

umstrittenen Aspekt der Modalverbsyntax, nämlich die Beziehung zwischen<br />

Matrixsubjekt und Modalverb. 9 Im Laufe der nächsten Abschnitte setzen<br />

auch wir uns ausführlich mit diesem Verhältnis aus<strong>ein</strong>ander und den<br />

verschiedenen Möglichkeiten, es zu beschreiben. Auch (viii) kann nicht<br />

un<strong>ein</strong>geschränkt Gültigkeit behaupten: selbst wenn manche der sechs<br />

Lexeme transitiven Gebrauch nicht zulassen, existieren Konstruktionen, die<br />

doch <strong>ein</strong>deutig transitiv sind, die nominale Komplemente regieren und auch<br />

nicht auf Ellipsen des Infinitivs zurückgeführt werden können, wie<br />

Öhlschläger (1989: 68ff.) und Diewald (1999: 54) gezeigt haben.<br />

Dieses An<strong>ein</strong>anderreihung von morphologischen, syntaktischen und<br />

semantischen Eigenschaften stellt uns nun vor zwei Probleme. Einerseits<br />

haben sich zahlreiche der Kriterien deskriptiv als nicht adäquat erwiesen, das<br />

heißt ihre Definition war zu eng oder zu breit, um genau diese sechs Verben<br />

allesamt zu erfassen. Andererseits hat <strong>ein</strong> Haufen an ”zufällig”<br />

neben<strong>ein</strong>ander liegenden Beobachtungen k<strong>ein</strong>e Erklärungskraft, das heißt,<br />

dieses bloße An<strong>ein</strong>anderreihen kann auch nicht mit explanativer Adäquatheit<br />

in Einklang gebracht werden. 10 Die Plausibilität <strong>ein</strong>er Theorie steigt nämlich<br />

erst gerade damit, je mehr der beobachteten Aspekte sie im Stande ist, auf<br />

<strong>ein</strong>fache Art zu erklären. Während Öhlschlägers Blick <strong>ein</strong> synchroner bleibt<br />

und er in s<strong>ein</strong>er Abhandlung über die <strong>Modalverben</strong> viele Fragen offen läßt,<br />

gibt es Hoffnung, diese Probleme mit diachronen Methoden zu lösen, um auf<br />

8 Siehe Lightfoot (1979: 101).<br />

9 Wichtige Stellungnahmen zu dieser Debatte befinden sich in: Axel (2001), Diewald (1999),<br />

Kiss (1995), Öhlschläger (1989), Reis (2001), Ross (1969), Suchsland (1987) und Wurmbrand<br />

(1999, 2001).<br />

10 Einen guten Überblick über die ”beiden Adäquatheiten” verschafft Grewendorf (2002: 11ff.).<br />

7


diese Weise das gegenwärtige System der <strong>Modalverben</strong> besser zu erfassen,<br />

wie Lightfoot (1979) nahelegt. In der Tat liegen in der jüngeren<br />

Forschungsgeschichte mit Fritz (1997), Diewald (1999), Axel (2001), Leiss<br />

(2003) bemerkenswerte diachrone Ansätze vor.<br />

Das heißt abschließend, daß sich diese Merkmale in der oben<br />

dargebrachten Form nicht eignen, um das Wesen der <strong>Modalverben</strong> adäquat<br />

zu erfassen. Zunächst jedoch verbleiben wir aber noch in der synchronen<br />

Perspektive und begeben uns dort auf die Suche nach Zusammenhängen.<br />

Erst wenn wir uns <strong>ein</strong> Bild über den sehr komplex zu s<strong>ein</strong> sch<strong>ein</strong>enden Ist-<br />

Zustand dieser Verben gemacht haben, können wir uns in vergangene<br />

Sprachstufen zurückwagen, die wir ohnehin nicht mit der gleichen<br />

Kompetenz beherrschen, wie unsere Gegenwartssprache.<br />

1.2 Syntaktische Aspekte.<br />

Abschnitt 1.1 hat uns auf <strong>ein</strong> grundlegendes Problem aufmerksam<br />

gemacht: diese sechs Lexeme lassen sich offensichtlich nicht intensional,<br />

höchstens extensional als Klasse zusammenfassen, was aber deren<br />

Das<strong>ein</strong>sberechtigung untergraben würde. Kurz gesagt: unser Problem<br />

besteht darin, daß <strong>ein</strong>e Definition dieser Klasse durch die in 1.1.<br />

vorgestellten Kriterien nicht mit den Eigenschaften ihrer Mitgliedern<br />

harmoniert. Um diesen unbefriedigenden Zustand zu beseitigen, bieten sich<br />

zwei grundlegende Möglichkeiten an: Entweder wir verändern den Umfang<br />

der Klassenangehörigen oder wir modifizieren die Liste der Kriterien.<br />

Betrachten wir zunächst noch<strong>ein</strong>mal das mannigfaltige Bündel an<br />

Beobachtungen aus Abschnitt 1.1. Da sich die morphologischen Kriterien<br />

auch nach der oben angestellten <strong>ein</strong>gehenden Betrachtung als höchst<br />

problematisch erwiesen haben, ersparen wir uns vorläufig <strong>ein</strong>e weitere<br />

Aus<strong>ein</strong>andersetzung mit selbigen. An dieser Stelle beschäftigen wir uns<br />

vielmehr mit <strong>ein</strong>er Reihe an syntaktischen Aspekten, zu denen sich viele der<br />

Beobachtungen aus Abschnitt 1.1. zusammenfassen lassen. Diese Aspekte<br />

benenne ich hier mit 1.) Transitivität, 2.) Status und Kohärenz und 3.) die<br />

Beziehung zwischen Matrixsubjekt und Infinitiv.<br />

8


1.2.1 Transitivität.<br />

MV wurden also – wie oben erwähnt – zum Teil als Verben charakterisiert,<br />

die k<strong>ein</strong>e nominale Komplemente regieren können. Tatsächlich lassen die<br />

meisten dieser Lexeme k<strong>ein</strong>e (direkten) Objekte zu:<br />

(1) *Caro muß/darf/soll die Aufgabe.<br />

(2) *Peteri muß/darf/kann/soll, daß er*i/*j bleibt.<br />

Die drei Verben müssen, sollen, dürfen und mit Einschränkung auch<br />

können und mögen ergeben in Kombination mit direkten Objekten<br />

beziehungsweise Objektsätzen ungrammatische Konstruktionen.<br />

Wohlgemerkt bleibt (2) ungeachtet der Referenz des Pronomens im<br />

Konstituentensatz inakzeptabel. Anders verhalten sich die volitiven Verben<br />

mögen und wollen sowie können in s<strong>ein</strong>er Fähigkeitslesart:<br />

(3) Alfred mag Rotw<strong>ein</strong>.<br />

(4) Thomas mag Margot.<br />

(5) Jörg will/möchte, daß Herbert geht.<br />

(6) ?Fritz mag (nicht), daß Maria am Donnerstag kommt.<br />

(7) Susanne kann das Gedicht.<br />

(8) Wolfgang kann k<strong>ein</strong> Englisch.<br />

Die Konstruktionen in (3) und (4) bedürfen wohl k<strong>ein</strong>er weiteren Diskussion;<br />

hier liegt mögen ganz <strong>ein</strong>deutig in transitiver Verwendung mit nominalen<br />

Objekten vor und verhält sich hier ganz ähnlich dem Verb lieben. Auch die<br />

Fähigkeit zur Subkategorisierung von Objektssätzen in (5) und (6) ist Indiz für<br />

transitiven Gebrauch. Ebenso liegen in (7) und (8) ganz klar transitive<br />

Konstruktionen vor, in diesem Fall wieder mit nominalen Komplementen. Daß<br />

es sich in diesen Fällen k<strong>ein</strong>eswegs um Ellipsen des Infinitivs handeln kann,<br />

sondern sich um Vollverbformen handeln muß, haben bereits Öhlschläger<br />

(1989: 68ff.) und Diewald (1999: 54) gezeigt.<br />

Die Konstruktionen mit sententialem Objekt verdienen dessen ungeachtet<br />

gesonderte Beachtung, b<strong>ein</strong>halten sie doch <strong>ein</strong>e Zahl von Besonderheiten.<br />

Zunächst ist festzustellen, daß sich die Sätze in (5) und (6) unterscheiden:<br />

9


wollen und möchte mit daß-Satz weisen offensichtlich <strong>ein</strong> weitaus höheres<br />

Maß an Akzeptabilität auf als mögen mit sententialem Komplement in s<strong>ein</strong>en<br />

übrigen Flexionsformen. So wird mag + daß-Satz nur in wenigen deutschen<br />

Dialekten verwendet, so etwa im Wienerischen. In negierten Kontexten ist<br />

diese Konstruktion aber in vielen Teilen des deutschen Sprachraums<br />

gebräuchlich. Nichtsdestotrotz sch<strong>ein</strong>t sich möchte von s<strong>ein</strong>em Paradigma<br />

mehr und mehr loszulösen; es eignete sich schon <strong>ein</strong>e Reihe von<br />

Eigenschaften an, durch die es sich klar von s<strong>ein</strong>em Stammlexem<br />

unterscheidet. möchte verhält sich im Gegensatz zu mag immer ganz klar<br />

volitiv und ähnelt in s<strong>ein</strong>em Gebrauch frappant dem volitiven MV wollen.<br />

Offensichtlich aus diesem Grunde nimmt möchte auch k<strong>ein</strong>e nominalen<br />

Objekte mehr:<br />

(9) *Thomas möchte Margot.<br />

Beispiel (9) zeigt, daß möchte nicht nur die Fähigkeit, nominale Objekte zu<br />

subkategorisieren, verloren hat, sondern auch, daß im Gegenzug mögen<br />

diese Form aus s<strong>ein</strong>em Paradigma ausgeschlossen hat und um den<br />

Konjunktiv II auszudrücken ausschließlich auf die analytische Konstruktion<br />

mit würde zurückgreift. Eine konjunktivische Interpretation ist nämlich ebenso<br />

ausgeschlossen, wie <strong>ein</strong>e als volitives MV.<br />

(10) Thomas würde Margot mögen.<br />

Aufgrund dieser Besonderheiten wird möchte vielfach als eigenständige<br />

Form oder gar Lexem behandelt, wie unter anderem in Öhlschläger (1989:<br />

7), Kiss (1995: 162f.), Fritz (1997: 103), Wurmbrand (2001: 183ff.), Diewald<br />

(1999: 144f.), Axel (2001: 40), und mit Einschränkung auch Reis (2001).<br />

Auch wir betrachten ab sofort möchte als eigenständiges Mitglied der MV-<br />

Klasse, zumindest vorläufig. Diese Veränderung des Klassenumfangs hat<br />

auch schon ihre erste Konsequenz, nämlich, daß die MV fortan noch<br />

schlechter durch morphologische Kriterien zusammengefaßt werden können.<br />

Doch das stört uns nicht, da wir oben ohnehin schon die mangelnde<br />

Adäquatheit <strong>ein</strong>er solchen Vorgehensweise aufgezeigt haben.<br />

10


Zahlreiche Gründe sprechen nun dagegen, Transitivität zur Klassifizierung<br />

der MV heranzuziehen. Einerseits hat sich das in 1.1 vorgeschlagene<br />

Kriterium (viii) nicht bewahrheiten können, da <strong>ein</strong>ige der MV-Lexeme<br />

(können, mögen) auch als transitive Verben mit nominalen Objekt<br />

auftreten. 11 Andererseits existieren darüberhinaus noch MV-Lexeme<br />

(möchte, wollen, volitives (nicht) mögen), die zwar auch transitiv gebraucht<br />

werden können, aber lediglich sententiale Objekte subkategorisieren. 12<br />

Hinsichtlich der Transitivität erweisen sich die MV also äußerst heterogen.<br />

Zum <strong>ein</strong>en verfügen nicht alle dieser Verben über die Fähigkeit, transitiv zu<br />

konstruieren. Zum anderen verhalten sich all jene Formen, die <strong>ein</strong>e transitive<br />

Verwendung erlauben, bei weitem nicht <strong>ein</strong>heitlich. Das heißt, Transitivität<br />

taugt nicht, als Generalisierung über MV, sie vermittelt uns vielmehr den<br />

Eindruck, welche Vielfalt diese Klasse in sich birgt.<br />

1.2.2 Status und Kohärenz.<br />

Im Gegensatz zur eben besprochenen Transitivität stellen Status und<br />

Kohärenz verhältnismäßig junge Konzepte dar. Sie gehen beide auf die<br />

wegweisenden Studien über das deutsche Verbum infinitum von Gunnar<br />

Bech (1955/57) und sind aus der heutigen Infinitivsyntax nicht mehr<br />

wegzudenken.<br />

Bech geht davon aus, daß die Verben in Deutschen nicht nur nominale und<br />

sententiale Komplemente subkategorisieren können, sondern auch verbale<br />

Komplemente. Während sie bei nominalen Objekten den Kasus regieren,<br />

11 Natürlich könnte man nun behaupten, daß im Falle dieser transitiven Verben gar nicht von<br />

<strong>Modalverben</strong> die Rede s<strong>ein</strong> kann, sondern lediglich von syntaktisch völlig verschiedenen<br />

Homonymen. Auf diese Diskussion kommen wir im Verlauf der Untersuchung noch zurück.<br />

12 Diese Unterscheidung der transitiven Formen ist sicher nicht ganz unumstritten. Diewald<br />

(1999: 54) ist der M<strong>ein</strong>ung, daß wollen in Analogie zu mögen und können in der<br />

Fähigkeitslesart auch für nominale Komplemente subkategorisiert ist:<br />

(1) Sie will/möchte <strong>ein</strong> Eis (haben).<br />

Nach Öhlschläger (1989: 68ff.) handelt es sich in diesen Fällen jeweils um Ellipsen des<br />

Infinitivs. Den entscheidenden Punkt in der Frage, ob nun <strong>ein</strong>e Ellipse vorliegt oder nicht, sieht<br />

er in der Form des zu ergänzenden Infinitivs. Muß jedesmal der Infinitiv <strong>ein</strong> und desselben<br />

Lexems hinzugefügt werden, ist nach Öhlschläger von <strong>ein</strong>er Ellipse die Rede. Im Fall vom<br />

(verm<strong>ein</strong>tlich) ”transitiven” wollen trifft dies zu. In jedem Fall lassen sich die Infinitive haben und<br />

auch bekommen ergänzen.<br />

Die Diskussion kann hier nicht endgültig entschieden werden. Deswegen betrachte ich<br />

sicherheitshalber nur jene MV als transitiv mit nominalen Komplement, über die weiter Konsens<br />

herrscht, also können in der Fähigkeitslesart mögen als primäres Experiencerverb.<br />

11


egieren sie bei verbalen Ergänzungen etwas, das Bech als Status<br />

bezeichnet. Status ist wie Kasus – und darauf legt Bech besonders großen<br />

Wert – nichts anderes als <strong>ein</strong>e Morphemform. Im Deutschen kommen nun 3<br />

verschiedene Status vor:<br />

(11) 1. Status: Jörg wollte gehen.<br />

(12) 2. Status: Jörg versprach zu gehen.<br />

(13) 3. Status: Jörg ist geblieben.<br />

Unter dem 1. Status versteht Bech den ”r<strong>ein</strong>en Infinitiv” wie in (11), unter<br />

dem 2. Status zu + INFINITIV und schließlich unter dem 3. Status das<br />

Partizip II in Passiv- und Perfektkonstruktionen. Den morphematischen<br />

Charakter des Status im Deutschen stützen auch zahlreiche jüngere<br />

Forschungsarbeiten, wie von Haider (1990) und Abraham (2004), die sich vor<br />

allem zur Rolle des zu in Konstruktionen des 2. Status äußern.<br />

Als weitaus schwieriger erweist sich jedoch die Beschreibung des<br />

Phänomens Kohärenz. Grob gesagt, betrifft dieses Konzept die Topologie<br />

von Infinitivkonstruktionen. Bech nimmt zunächst <strong>ein</strong>mal an, daß jedes Verb<br />

V n in <strong>ein</strong>em Satz s<strong>ein</strong> eigenes Verbalfeld F n besitzt, das aus allen von V n<br />

abhängenden Elementen besteht – außer <strong>ein</strong>em etwaigen V n+1 und dessen<br />

Verbalfeld F n+1 .<br />

(14) [F´Peter gestandV´ ihm sofort], [F´´´in der Eile den Krug<br />

zerbrochenV´´´] [F´´zu habenV´´]<br />

Davon unterscheidet sich das Kohärenzfeld. Dieses enthält mindestens <strong>ein</strong><br />

Verbalfeld. Besteht <strong>ein</strong> Kohärenzfeld aber aus mehreren Verbalfeldern, so<br />

wird dieses als ”kohärente Konstruktion” bezeichnet. Ungeachtet der in ihm<br />

enthaltenen Verbalfelder zerfällt <strong>ein</strong> Kohärenzfeld (K) immer in zwei<br />

Bestandteile: <strong>ein</strong> Schlußfeld (S) und <strong>ein</strong> Restfeld (R), wobei ersteres alle<br />

finiten und statusregierten Verben umfaßt (außer das finite Hauptsatzverb)<br />

und letzteres sich aus den verbleibenden Elementen zusammensetzt<br />

(inklusive dem etwaigen finiten Hauptsatzverb).<br />

12


(15) a. Im März des Vorjahres, [F´(R´ als sich die schwarz-blaue Koalition)<br />

(S´anschickteV´)], [F´´(R´´am Wolfgangsee <strong>ein</strong>e Regierungsklausur)<br />

(S´´abzuhaltenV´´)], sorgte Finz im Vorfeld für koalitionäre<br />

Spannungen: [...] (Salzburger Nachrichten 29.10.03)<br />

b. Im März des Vorjahres, [F´(R´ als sich die schwarz-blaue Koalition,<br />

[F´´am Wolfgangsee <strong>ein</strong>e Regierungsklausur) (S´abzuhaltenV´´]<br />

anschickteV´)],<br />

Spannungen:<br />

sorgte Finz im Vorfeld für koalitionäre<br />

In (15a) liegt <strong>ein</strong>e inkohärente Konstruktion vor, weil V´ anschickte von V´´<br />

abhalten zwar regiert aber nicht mit ihm im selben Schlußfeld steht. In<br />

kohärenten Konstruktionen kann aber nur <strong>ein</strong> <strong>ein</strong>ziges Schlußfeld existieren,<br />

das im Beispiel von (15b) aus V´´ abhalten und V´ anschickte besteht. In der<br />

Regel ist im Deutschen der regierte Verbalkomplex in kohärenten Fällen<br />

”links” von s<strong>ein</strong>em Regens und in inkohärenten Fällen nach rechts<br />

extraponiert. In kohärenten Konstruktionen kann das Schlußfeld neben dem<br />

obligaten Unterfeld auch noch über <strong>ein</strong> Oberfeld verfügen, das sich dadurch<br />

auszeichnet, daß die sich darin befindlichen Verben in der Reihenfolge V n ,<br />

V n+1 , V n+2 … auftreten, also spiegelverkehrt zum Unterfeld.<br />

Oberfeldkonstruktionen weisen darüber hinaus <strong>ein</strong>e markierte<br />

Akzentsetzung auf. Im nachstehenden Beispiel umfaßt das Oberfeld die<br />

Verben V0 V1 und das Unterfeld V4 V3 V2. Gem<strong>ein</strong>sam ergeben sie <strong>ein</strong><br />

Schlußfeld <strong>ein</strong>er kohärenten Konstruktion.<br />

(R … ) (SV0 V1 | V4 V3 V2 )<br />

Ob sich <strong>ein</strong>e Konstruktion kohärent oder inkohärent verhält, hängt vor allem<br />

von den Eigenschaften des Verbs ab. Bech (1955/57: 69ff.) unterscheidet<br />

anhand s<strong>ein</strong>er Kohärenzregel diesbezüglich 3 verschiedene Arten von<br />

verbalen Lexemen. Erstens obligatorisch kohärente Verben: diese<br />

erlauben nur kohärente Konstruktionen. Zu ihnen zählen ALLE Verben, die<br />

den 1. oder 3. Status regieren, sowie <strong>ein</strong>e handvoll den 2. Status regierende<br />

Verben. Zweitens fakultativ kohärente Verben: diese lassen sowohl<br />

kohärente als auch inkohärente Konstruktionen zu. Ihnen sind die meisten<br />

Verben, die den 2. Status regieren zuzurechnen. Und schließlich drittens<br />

13


obligatorisch inkohärente Verben: diese treten nur in inkohärenten<br />

Konstruktionen auf und regieren allesamt den 2. Status. Kohärenz und<br />

Status, zwei Eigenschaften, die wir am Anfang des Abschnittes gesondert<br />

betrachtet haben, stehen also in <strong>ein</strong>em besonders engen Naheverhältnis, wie<br />

die Bech´sche Kohärenzregel klar gemacht hat.<br />

Kiss (1995:25) reformuliert die Erkenntisse Bechs ver<strong>ein</strong>facht in Termini der<br />

jüngeren Grammatiktheorie: Kohärenz bedeutet nichts anderes als die<br />

Zusammengehörigkeit zu <strong>ein</strong>- und derselben lokalen syntaktischen Domäne.<br />

Mit anderen Worten: In kohärenten Konstruktionen übernimmt das<br />

statusregierende Verb V n alle syntaktischen Argumente und Modifikatoren<br />

vom regierten Verb V n+1 , sodaß dessen Subkategorisierungsrahmen entleert<br />

ist. Die übernommenen Elemente von V n+1 enstprechen übrigens dem, was<br />

in der Bechschen Terminologie als ”Verbalfeld F n+1 ” bezeichnet würde. Im<br />

Unterschied dazu dominiert V n in inkohärenten Fällen <strong>ein</strong>e komplexe<br />

Konstituente, die sich aus dem syntaktischen Kopf V n+1 und den von ihm<br />

abhängenden Argumenten und Modifikatoren zusammensetzt.<br />

Da der Bech´sche Kohärenzbegriff immer wieder zu Mißverständnissen<br />

geführt hat, folgt im Anschluß <strong>ein</strong>e kurze Aus<strong>ein</strong>andersetzung mit jenen acht<br />

Kriterien, die Kiss (1995:27ff.) basierend auf Bech zur Charakterisierung von<br />

Kohärenz formuliert hat: 13<br />

(i) Befinden sich die zwei Verbalfelder F´ und F´´ in <strong>ein</strong>em<br />

Kohärenzfeld, so können Elemente von F´´ vor F´ stehen.<br />

(ii) Ein zu V´´ gehörender Negationsträger kann auch auf V´<br />

bezogen werden (Kohäsion).<br />

(iii) Ein Oberfeld ist nur in kohärenten Konstruktionen möglich.<br />

13 Grewendorf (1987: 133) warnt davor, <strong>ein</strong> <strong>ein</strong>heitliches Schlußfeld als <strong>ein</strong>ziges Kriterium für<br />

Kohärenz heranzuziehen. In Ausnahmefällen können die Schlußfelder von inkohärenten<br />

Konstruktionen an<strong>ein</strong>andergrenzen und somit den Ansch<strong>ein</strong> von Kohärenz erwecken:<br />

(1) weil Peter versucht anzufangen abzunehmen.<br />

Ein aus drei Verben bestehendes Kohärenzfeld ist hier auszuschließen, da die Verben in <strong>ein</strong>er<br />

mit Kohärenz unverträglichen Reihenfolge stehen. Deswegen bilden vielmehr V1 versucht und<br />

V2 anzufangen <strong>ein</strong> Kohärenzfeld (mit V1 im Oberfeld und V2 im Unterfeld) und V3 abzunehmen<br />

<strong>ein</strong> weiteres.<br />

14


(iv) Das Bezugsnomen <strong>ein</strong>er Anapher kann in kohärenten<br />

(v)<br />

Konstruktionen jedes N s<strong>ein</strong>.<br />

Kohärent konstruierende Verbalfelder bilden <strong>ein</strong>e intonatorische<br />

Einheit.<br />

(vi) Zwei Verbalfelder F´ und F´´ sind inkohärent, wenn die<br />

abhängigen Elemente von F´´ zwischen V´ und V´´<br />

intervenieren können.<br />

(vii) Sind F´ und F´´ inkohärent, und F´´ enthält <strong>ein</strong> Relatum dann<br />

kann F´´ vor F´ gestellt werden.<br />

(viii) Wenn F´ und F´´ kohärent, dann können V´ und V´´ gem<strong>ein</strong>sam<br />

vor dem finiten Hauptsatzverb stehen.<br />

Was bedeutet das nun für die MV? Bech (1955/57) kennt nur wenige<br />

Verben, die den 1. Status regieren: zunächst die sechs MV, werden, tun,<br />

bleiben und haben. Darüber hinaus erwähnt er noch die AcI- oder ECM-<br />

Verben: lassen, hören, sehen, fühlen sowie weitere Verben der<br />

Wahrnehmung. Abgesehen von nur in hochmarkierten Konstruktionen<br />

auftretendem haben ist festzuhalten, daß die meisten Konstruktionen des 1.<br />

Status <strong>ein</strong> hohes Maß an Grammatikalisierung aufweisen. 14<br />

Dieser Umstand ist sicherlich auf das obligatorisch kohärente Verhalten<br />

zurückzuführen, das diesen Verben des 1. Status ja innewohnt.<br />

Konstruktionen des 1. und des 3. Status weisen offensichtlich <strong>ein</strong>e höhere<br />

Anfälligkeit für Verbalkomplexbildungen auf. Doch all<strong>ein</strong> daraus zu schließen,<br />

daß alle kohärenten Konstruktionen automatisch auch monosentential sind<br />

oder Auxiliarkomplexe bilden, entpuppt sich als Trugschluß, wie schon<br />

Öhlschläger (1989: 101) und Wurmbrand (2001) gezeigt haben.<br />

Nichtsdestotrotz stellen Kohärenz und Status für die Erforschung und<br />

Charakterisierung der MV unabdingbare Kriterien dar, die in der noch zu<br />

diskutierenden Konvergenzhypothese von Reis (2001) die zentrale Rolle<br />

14 In diesem Zusammenhang wäre es interessant <strong>ein</strong>e Untersuchung über <strong>ein</strong> paar Verben<br />

anzustellen, die in der Literatur hinsichtlich Status und Kohärenz noch kaum Beachtung fanden:<br />

(1) Ich gehe spazieren/schwimmen/<strong>ein</strong>kaufen.<br />

(2) Ich kann nicht glauben, daß Herbert tanzen lernt.<br />

(3) Komm mit uns spielen.<br />

(4) Sonja ist gerade duschen.<br />

15


spielen, auch wenn sie nicht im Stande sind, alle Besonderheiten der MV<br />

adäquat zu erfassen. Wir werden im Laufe dieser Untersuchung noch oft auf<br />

diese Instrumentarien zurückgreifen.<br />

In diesem Abschnitt haben wir aber nicht nur mit nützlichen Kriterien<br />

Bekanntschaft gemacht, sondern uns ist es auch gelungen, uns der Intension<br />

des MV-Begriffs zu nähern. Ein paar der losen Beobachtungen aus 1.1<br />

haben sich zunächst bewahrheitet (nämlich: iv, x, xi). In <strong>ein</strong>em weiteren<br />

Schritt hat sich erwiesen, daß sich diese systematisieren und zu <strong>ein</strong>em<br />

Kriterium zusammenzuführen lassen: Kohärenz aufgrund des ersten Status.<br />

1.2.3 Matrixsubjekt und Infinitiv.<br />

Auch das jetzt im Anschluß diskutierte Kriterium stellt <strong>ein</strong> sehr wichtiges<br />

Instrumentarium für diese Untersuchung dar, das s<strong>ein</strong>er Bedeutung<br />

entsprechend <strong>ein</strong>er ausführlichen Auss<strong>ein</strong>andersetzung bedarf.<br />

Schon Bechs (1955/57: 31ff.) monumentale Abhandlung über den Infinitiv<br />

im Deutschen beschäftigte sich mit der Beziehung zwischen Matrixsubjekt<br />

und Infinitiv. Bech beobachtete zunächst, daß das logische, aber nicht<br />

explizierte Subjekt des Infinitivs entweder <strong>ein</strong>em Objekt oder dem Subjekt<br />

des Matrixsatzes entsprechen kann. Diese Beziehung bezeichnet er als<br />

”Orientierung”, die vermittels des sogenannten ”Koeffizienten” ausgedrückt<br />

werden kann. Um das Orientierungsverhalten <strong>ein</strong>es Infinitivs zu bestimmen,<br />

greift Bech vor allem auf die ”Reflexivitätsprobe” zurück. 15 In dieser<br />

kombiniert er <strong>ein</strong>en Infinitiv <strong>ein</strong>es reflexiven Verbes mit <strong>ein</strong>em<br />

statusregierenden Verb, um anhand der Eigenschaften des<br />

Reflexivpronomens das nicht sichtbare Subjekt des Infinitivs zu<br />

rekonstruieren. In finiten Fällen kongruiert das Subjekt ja jeweils mit s<strong>ein</strong>em<br />

Reflexivpronomen:<br />

15 Siehe Bech (1955/57: 33).<br />

(16) a. Sie1 beeilt sich1.<br />

b. Sie1 kann/muß/darf/soll/will/möchte sich1 beeilen.<br />

(17) a. Ihr1 beeilt euch1.<br />

b. Ihr1 könnt/müßt/dürft/sollt/wollt/möchtet euch1 beeilen.<br />

16


Genau wie in den (a)-Sätzen muß auch in den (b)-Sätzen das Subjekt von<br />

beeilen mit s<strong>ein</strong>em Reflexivpronomen über<strong>ein</strong>gestimmt s<strong>ein</strong>. Daraus<br />

wiederum läßt sich ableiten, daß das Infinitivsubjekt in den (b)-Beispielen<br />

auch mit dem Matrixsubjekt referenzident s<strong>ein</strong> muß. Auf welche Konstituente<br />

des übergeordneten Satzes sich das logische Subjekt des Infinitivs nun<br />

bezieht, wird laut Bech vor allem durch das übergeordnete Verb festgelegt. 16<br />

In den (b)-Beispielen bestimmen also jeweils die finiten MV im Matrixsatz,<br />

daß sich das Infinitivssubjekt von beeilen auf das Matrixsubjekt bezieht. Bech<br />

versieht die MV generell mit dem Koeffizienten (N´:N´´), was soviel bedeutet,<br />

daß <strong>ein</strong> von MV <strong>ein</strong>gebetteter Infinitiv s<strong>ein</strong> logisches Subjekt immer auf das<br />

Subjekt des MV referieren muß. Durch ihren Koeffizienten (N´:N´´) heben<br />

sich die MV von <strong>ein</strong>er Reihe von anderen den 1. Status regierenden Verben<br />

ab, nämlich vor allem den AcI- oder ECM-Verben lassen, hören ECMs ab.<br />

Nur sehr wenige Verben mit dem Koeffizienten (N´:N´´) regieren den 1.<br />

Status. 17<br />

Wie auch schon mit s<strong>ein</strong>en Ausführungen zur Rektion des Infinitivs hat<br />

Bech auch mit s<strong>ein</strong>em Überblick über das Orientierungsverhalten der<br />

Infinitive <strong>ein</strong> paar grundlegende Entwicklungen der Generativen Grammatik<br />

zum großen Teil vorweggenommen, die erst zwanzig Jahre nach dem<br />

Ersch<strong>ein</strong>en der Bechschen Studien folgen sollten. Kiss (1995: 2) betont aber,<br />

daß in <strong>ein</strong>em entscheidenden Punkt Bechs Theorien zum Infinitiv noch nicht<br />

ganz ausgereift waren, da diese vor allem die Relation zwischen<br />

Matrixsubjekt und Matrixprädikat völlig außer Acht läßt. Doch gerade hier<br />

setzt die jüngere Generative Theorie mit ihrer plausiblen Unterscheidung<br />

zwischen Kontroll- und Anhebungskonstruktion an. Diese Unterscheidung<br />

beruht auf der Annahme, daß Infinitive über <strong>ein</strong> Subjekt mit leerer<br />

phonetischer Merkmalsmatrix verfügen, dessen Natur vom jeweiligen Kontext<br />

abhängig ist. So geht die Generative Theorie davon aus, daß am Infinitiv<br />

anstelle des Subjektsnominativ in Kontrollkonstruktionen das phonetisch<br />

16 In manchen Fällen spielt auch der Status des Infinitivkomplements <strong>ein</strong>e Rolle. Da diese<br />

Konstruktionen für diese Studie unerheblich sind und ziemlich sicher auf <strong>ein</strong>e <strong>ein</strong>fachere Weise<br />

beschrieben werden können, gehe ich nicht weiter darauf <strong>ein</strong>. Näheres dazu siehe Bech<br />

(1955/57: 33f.)<br />

17 Bech (1955/57) zählt zu dieser Gruppe neben den sechs MV auch noch werden, tun, bleiben<br />

und haben. Wie ich in Fn. 14 schon erwägt habe, könnten gehen, kommen, s<strong>ein</strong> und lernen<br />

womöglich auch noch zu dieser Gruppe gehören.<br />

17


leere Pronomen ”PRO” und in Anhebungskonstruktionen <strong>ein</strong>e Spur ”t” <strong>ein</strong>er<br />

versetzten NP steht.<br />

Die gegenwärtige gängige Auffassung von Kontrolle geht im Wesentlichen<br />

auf die Kontrolltheorie von Chomsky (1993: 74ff.) zurück. Das<br />

Projektionsprinzip und das Thetakriterium verlangen, daß auf jeder<br />

Repräsentationsebene die thematischen Rollen korrekt vergeben sind. Da<br />

Infinitive aber über k<strong>ein</strong> overtes Subjekt verfügen, bleibt zunächst unklar,<br />

welches Element als Träger der noch nicht zugewiesenen Subjektsthetarolle<br />

fungieren soll.<br />

(18) a. Bettina1 schwört, PRO1 ihn zu kennen.<br />

b. Herbert bittet ihn1, PRO1 zu kommen.<br />

c. Ich1 verspreche dir, PRO1 morgen zu kommen.<br />

Beide Verben, sowohl das Kontrollverb versprechen als auch s<strong>ein</strong><br />

Infinitivkomplement kommen, verteilen ihre thematischen Rollen vollständig<br />

und dem Thetakriterium entsprechend. Daraus folgt, daß das PRO-Subjekt<br />

des Infinitivs und das Matrixsubjekt verschiedene Thetarollen tragen.<br />

Die Kontrolltheorie stellt uns aber vor auch vor die Frage, wie denn die<br />

Referenz zwischen PRO und Antezedenten hergestellt werden soll. Welche<br />

Faktoren motivieren Subjektskontrolle (18a,c), und welche Objektskontrolle<br />

(18b)?<br />

Siebers-Ott (1983: 112ff.) sieht hier k<strong>ein</strong>e andere Möglichkeit, als das<br />

Kontrollverhalten des Infinitivkomplements im Lexikon<strong>ein</strong>trag des<br />

Kontrollverb festzulegen, und zeigt, daß alle Ansätze, die r<strong>ein</strong> formalstrukturell<br />

vorgehen zum Scheitern verurteilt sind. Daß PRO nicht immer dem<br />

nächstmöglichen Kontroller zugewiesen werden kann, macht (18c) deutlich,<br />

wo das Matrixsubjekt über <strong>ein</strong> Matrixobjekt hinweg kontrolliert. Gegen <strong>ein</strong><br />

Vorgehen, in dem Kontrolle auf <strong>ein</strong>e Relation von PRO und der nächsten<br />

Matrixkonstituente beschränkt wird, wendet sich implizit auch Landau (2000).<br />

Er wehrt sich dagegen, daß Kontrolle <strong>ein</strong> Phänomen, das sich <strong>ein</strong>heitlich<br />

beschreiben läßt und schlägt <strong>ein</strong>e Typologie an etlichen Subtypen von<br />

Kontrolle vor. Welcher spezifische Subtyp nun vorliegt, hängt vor allem vom<br />

18


Kontrollverb und Komplementstyp ab. 18 Es liegt nahe, <strong>ein</strong>en Großteil der<br />

Kontrolleigenschaften also im Lexikon<strong>ein</strong>trag des Kontrollverbs zu regeln.<br />

Ähnliche Schlüsse zieht Wurmbrand (2001: 248).<br />

Die Annahme der NP-Anhebung geht auf <strong>ein</strong>e ähnliche Motivation zurück,<br />

wie jene der Kontrolle: auch hier gilt es, <strong>ein</strong>en geeigneten Träger der<br />

Subjektsthetarolle des <strong>ein</strong>gebetteten Infinitivs ausfindig zu machen.<br />

Betrachten wir zunächst <strong>ein</strong>mal folgende Konstruktionen:<br />

(19) Jörg sch<strong>ein</strong>t wieder zu kommen.<br />

(20) Es sch<strong>ein</strong>t, daß Jörg wieder kommt.<br />

(21) Es sch<strong>ein</strong>t zu regnen.<br />

(22) Ihm sch<strong>ein</strong>t schlecht zu s<strong>ein</strong>.<br />

Zwei Beobachtungen in diesen Beispielen verdienen größere<br />

Aufmerksamkeit. Erstens läßt das Verb sch<strong>ein</strong>en in (20), (21) und (22) auch<br />

expletive Subjekte zu. Das bedeutet nun, daß in diesen Fällen nicht von<br />

Kontrolle die Rede s<strong>ein</strong> kann. Denn da der Matrixsatz k<strong>ein</strong>e echten<br />

Argumente enthält, liegt k<strong>ein</strong>e Konstituente vor, die die Funktion des<br />

Kontrollers übernehmen könnte. Zweitens besteht selbst in jenen Fällen<br />

k<strong>ein</strong>e thematische Beziehung zwischen Matrixsubjekt und Prädikat, in denen<br />

<strong>ein</strong> Argument die Subjektsstelle füllt: Jörg in (19) ist eben k<strong>ein</strong> ”Sch<strong>ein</strong>er”.<br />

Nun stellt sich aber auch die Frage von welchem Element die NP Jörg ihre<br />

Thetamarkierung erhält. Die naheliegenste Antwort ist, daß Jörg eigentlich<br />

das Subjekt des <strong>ein</strong>gebetteten Infinitivs ist, in die Matrixsubjektsstelle<br />

angehoben wurde und an s<strong>ein</strong>er ursprünglichen Position <strong>ein</strong>e Spur<br />

hinterläßt. 19<br />

18 Auch wenn ich nicht in allen Details mit Landau über<strong>ein</strong>stimme, speziell was die Existenz von<br />

Partial Control betrifft, gebe ich ihm Recht, daß Kontrolle nicht als uniformes Phänomen<br />

betrachtet werden kann und zahlreiche Unterarten existieren müssen, wie zum Beispiel<br />

arbiträre Kontrolle.<br />

19 Die daraus folgenden Konsequenzen, wie daß die daraus entstehende Antezedens-Spur<br />

Relation der Subjazenzbedingung genügen muß, spare ich an dieser Stelle aus, da dies für den<br />

weiteren Verlauf dieser Arbeit unerheblich ist. Genaueres dazu befindet sich in Chomsky (1993:<br />

56ff.)<br />

19


(23) Jörg1 sch<strong>ein</strong>t [t1 wieder zu kommen].<br />

(24) a. (e1) Ihm2 (e1) sch<strong>ein</strong>t (e1) [t1 t2 schlecht zu s<strong>ein</strong>].<br />

b. Es1 sch<strong>ein</strong>t ihm [t1 schlecht zu s<strong>ein</strong>].<br />

Ein schwerwiegender Grund spricht dagegen, die Sätze (23) und (24)<br />

analog zu behandeln, wie es Axel (2001: 40) suggeriert. Denn ihm in (24a)<br />

kongruiert im Gegensatz zum tatsächlichen syntaktischen Subjekt in (23)<br />

nicht. Das heißt, es erfüllt im Matrixsatz auch <strong>ein</strong>e ganz andere Rolle.<br />

Vielmehr muß in (24a) <strong>ein</strong> phonologisch leeres Expletivum oder <strong>ein</strong> pro aus<br />

der <strong>ein</strong>gebetteten impersonalen Konstruktion angehoben worden s<strong>ein</strong>, mit<br />

dem das Matrixprädikat die Kongruenzbeziehung letztendlich <strong>ein</strong>geht. 20<br />

Vergleiche das artverwandte Beispiel (24b), das im Wienerischen durchaus<br />

üblich ist.<br />

Der zentraler Unterschied besteht für uns also darin, daß Kontrollverben<br />

das Matrixsubjekt thetamarkieren, während hingegen Anhebungsverben<br />

k<strong>ein</strong>e thematische Relation mit ihrem syntaktischen Subjekt <strong>ein</strong>gehen. 21<br />

Desweiteren haben wir gesehen, daß Kontrolle und Anhebung Eigenschaften<br />

sind, die im Lexikon<strong>ein</strong>trag des jeweiligen Verbs geregelt werden müssen.<br />

Nun zurück zu unseren MV. 22 Zählen sie zu den Kontrollverben oder zu den<br />

Anhebungsverben? Eine erste Einschränkungen können wir anhand der<br />

Bechschen Studie schon vornehmen: MV sind k<strong>ein</strong>e Objektskontrollverben,<br />

da sie den Koeffizienten (N´:N´´) haben. Das heißt, als mögliche<br />

Konstruktionstypen kommen nur noch Subjektskontrolle oder Anhebung in<br />

Frage. Welche der beiden Varianten vorzuziehen ist, bleibt in der Literatur<br />

wild umstritten.<br />

Zunächst werfen wir <strong>ein</strong>en Blick auf Ansätze, die für MV als<br />

Anhebungsverben plädieren. Axel (2001) hat <strong>ein</strong> <strong>ein</strong>ige Diagnostika für<br />

Anhebungskonstruktionen zusammengestellt: Kontrolle ist ausgeschlossen,<br />

20<br />

Über das genaue Zustandekommen der Wortstellung in (24a) kann ich an dieser Stelle nur<br />

mutmaßen. Ich nehme aber an, daß ihm höchstwahrsch<strong>ein</strong>lich durch <strong>ein</strong>en<br />

Topikalisierungsprozeß an die erste Stelle gelangt. Was das Expletivum e betrifft, werde ich hier<br />

k<strong>ein</strong>e weiteren Überlegungen anstellen, an welcher der vorgeschlagenen Stellen dieses genau<br />

stehen muß.<br />

21<br />

Nichstdestotrotz berichtet Landau (2000: 30) von Tendenzen, Kontrolle zugunsten von<br />

Anhebung teilweise aufzugeben.<br />

22<br />

In diesem Abschnitt widmen wir uns vorerst nur den MV in deontischer Verwendung. Dem<br />

epistemischen Gebrauch ist das gesamte nächste Kapitel gewidmet<br />

20


wenn die Matrixsubjektstelle durch <strong>ein</strong> Expletivum besetzt ist (25), (26); wenn<br />

<strong>ein</strong> Subjektssatz vorliegt (27); wenn <strong>ein</strong> unpersönliches Passiv <strong>ein</strong>gebettet<br />

wird (28) und wenn <strong>ein</strong>e aus transitiven Verben gebildete Medialkonstruktion<br />

vorliegt (29).<br />

(25) Ich bezweifle, daß es in dieser Gegend richtig schütten kann.<br />

(=Karin Axel 3a)<br />

(26) Ihrem Kind darf/kann während der Behandlung ruhig <strong>ein</strong> bißchen<br />

schlecht werden[...] (=KA 3b´)<br />

(27) Daß sich das BSE-Virus ausbreitet, kann/darf/muß/soll durch<br />

drastische Maßnahmen verhindert werden. (=KA 3d)<br />

(28) Ich bezweifle, daß hier getanzt werden kann/darf/soll/muß. (=KA<br />

3e)<br />

(29) Das Buch darf/soll/muß/?kann sich leicht lesen. (=KA 3f)<br />

Axel (2001) schließt daraus, daß MV mit <strong>ein</strong>er kl<strong>ein</strong>en Einschränkung<br />

generell zu den Anhebungsverben zählen. Nur wollen, möchte und können in<br />

der Fähigkeitslesart erfüllen Axels Diagnostika <strong>ein</strong>deutig nicht, sodaß sie<br />

diese MV in ihrer Anhebungshypothese nicht mehr berücksichtigt. Zu <strong>ein</strong>em<br />

ähnlichen Resultat kommt Wurmbrand (2001: 183ff.), die für derartige Fälle<br />

<strong>ein</strong>e dritte Art der Modalität postuliert (neben Deontizität und Epistemizität):<br />

die Dynamizität. Auch Reis (2001: 301ff.) und Kiss (1995) sehen die MV mit<br />

oben genannter Einschränkung als Anhebungsverben.<br />

Öhlschläger (1989: 77ff.) ebenfalls <strong>ein</strong> Verfechter der <strong>ein</strong>geschränkten<br />

Anhebungshypothese hat <strong>ein</strong> weiters Diagnostikum entwickelt, anhand<br />

dessen die Zugehörigkeit der MV (ohne möchte, wollen und ”Fähigkeitskönnen”)<br />

zu den Anhebungsverben ersichtlich werden soll. Ausgehend von<br />

der Annahme, daß die Passivierung <strong>ein</strong>es Satzes dessen Bedeutung nicht<br />

grundlegend verändert, nimmt Öhlschläger (1989) auch an, daß ähnliches<br />

unter Anhebungsverben <strong>ein</strong>gebettete Konstruktionen gelten muß: Diese<br />

vergeben nämlich k<strong>ein</strong>e eigene Thetarolle für ihr syntakisches Subjekt, somit<br />

dürfte sich die Bedeutung des Satzes nicht verändern, wenn statt <strong>ein</strong>es<br />

aktiven Infinitivkomplementes s<strong>ein</strong> passiviertes Äquivalent subkategorisiert<br />

wird. Öhlschlägers Analyse sagt daher voraus, daß zwischen Sätzen (31a,b)<br />

analog zu den Sätzen (30a,b) k<strong>ein</strong> semantischer Unterschied vorliegen darf:<br />

21


(30) a. Der Junge besucht Paula. (=Günther Öhlschläger 86a)<br />

b. Paula wird von dem Jungen besucht. (=GÖ 86b)<br />

(31) a. Der Junge darf/kann/... Paula besuchen. (=GÖ 85a)<br />

b. Paula darf/kann/... von dem Jungen besucht werden. (=GÖ 85b)<br />

S<strong>ein</strong>e Prognose trifft nach dem eigenen Ermessen Öhlschlägers auch zu.<br />

Diewald (1999: 62ff.) zeigt aber auf, daß die Annahme, daß MV k<strong>ein</strong>e<br />

Subjektsthetarollen vergeben und somit Anhebungsverben sind, nicht astr<strong>ein</strong><br />

ist. Öhlschlägers Beispiele (31a,b) sind eben nicht synonym. Denn Träger<br />

der Erlaubnis/Pflicht in (31a) ist nämlich der Junge, in (31b) jedoch Paula.<br />

Diesen Effekt vermag die Anhebungshypothese nicht ohne weiteres zu<br />

erklären.<br />

Auch Suchsland (1987) steht vor dem selben Problem, wenn er behauptet,<br />

daß sich MV mit aktiven Infinitivkomplement zwar als Kontrollverben<br />

verhalten, mit passiviertem Komplement aber als Anhebungsverben.<br />

Suchsland (1987: 655f.) geht von der Annahme aus, daß aktive und<br />

passivierte Verben die gleichen Subkategorisierungseigenschaften haben<br />

und gemäß Projektionsprinzip aus dem Lexikon heraus projiziert werden.<br />

Das Matrixsubjekt müßte dann in passivierten Infinitivkomplementen deren<br />

<strong>ein</strong>gebettetes TiefenstrukturOBJEKT kontrollieren. Daraus folgt, daß das<br />

TiefenstrukturSUBJEKT nicht PRO s<strong>ein</strong> kann, weil nicht mit dem Kontroller<br />

koindiziert. Die Thetarollen sind aber in Suchslands Beispielsatz nach <strong>ein</strong>em<br />

anderen Muster vergeben:<br />

(32) a. weil der Roman gelesen werden will/darf/soll/kann/muß.<br />

(=PS 15a)<br />

b. weil die Romane gelesen werden wollen/dürfen/sollen/können/<br />

müssen. (= PS 15b)<br />

Das Matrixsubjekt geht in diesen Beispielen im Gegensatz zu jenem in<br />

(31b) in der Tat k<strong>ein</strong>erlei thematische Relation mit dem MV <strong>ein</strong>. Vielmehr<br />

muß der Roman s<strong>ein</strong>e Thetarolle vom <strong>ein</strong>gebetteten passiviertem Verb<br />

erhalten haben und anschließend angehoben worden s<strong>ein</strong>. Daran vermag<br />

auch k<strong>ein</strong>e Theorie der koverten thematischen Rollen etwas zu verändern,<br />

22


wie sie Abraham (2001, 2003b, 2003c) vorgeschlagen hat. Betrachten wir<br />

folgendes Beispiel:<br />

(33) a. Der Schlüssel muß immer an den Schlüsselhaken. (=WA 10a)<br />

b. [Der Schlüssel]1 muß t1 immer an den Schlüsselhaken gehängt<br />

werden.<br />

Da es sich in (33a) nach Öhlschläger (1989: 70ff.) um <strong>ein</strong>e Ellipse handeln<br />

muß, habe ich zur Verdeutlichung mit (33b) auch die naheliegendste<br />

vollständige Variante dieses Satzes angeführt. Abraham (2003b, 2003c) geht<br />

in s<strong>ein</strong>er Analyse davon aus, daß auch in (33a) das Matrixsubjekt der<br />

Schlüssel vom Prädikat muß thetamarkiert wird. Das MV ”müssen x,y,z”<br />

vergibt mit dem koverten Erteiler der Pflicht x, dem optional kovertem Träger<br />

der Pflicht y und der auszuführenden Handlung z drei Thetarollen. Für (33a)<br />

sollte nun gelten, daß x und y kovert und nur z (=Schlüssel an den Haken)<br />

sichtbar ist. Wenn dem so ist, stehen wir wieder vor <strong>ein</strong>em Problem. Denn<br />

dieses Argument z ist, wie (33b) zeigt, aufgespalten. So <strong>ein</strong> geteiltes<br />

Argument, von dem <strong>ein</strong> Teil in die Subjektstelle angehoben werden mußte,<br />

spricht aber dann wieder <strong>ein</strong>deutig gegen Kontrolle. Denn das phonetisch<br />

leere Subjekt des Infinitivs müßte nach so <strong>ein</strong>er Extraktion vielmehr <strong>ein</strong>e<br />

Spur als <strong>ein</strong> PRO s<strong>ein</strong>. Außerdem besteht in <strong>ein</strong>em solchen Fall erst recht<br />

die Notwendigkeit, daß vor dieser Extraktion <strong>ein</strong> Expletivum die<br />

Matrixsubjektstelle besetzt haben muß. In der Tat spricht vieles dagegen,<br />

daß in (33a/b) <strong>ein</strong> implizit dreiwertiges Kontrollverb müssen vorliegt. Theorien<br />

die für (deontische) MV prinzipiell Kontrollkonstruktionen annehmen, wie<br />

Diewald (1999), Landau (2000) oder Abraham (2001, 2003b, 2003c), sind mit<br />

offensichtlich unüberwindbaren empirischen Problemen konfrontiert, sofern<br />

die Kontrolltheorie in der aktuellen Form beibehalten wird.<br />

Anders als Öhlschläger (1989), Kiss (1995), Wurmbrand (1999, 2001), Axel<br />

(2001) und Reis gehe ich aber nicht davon aus, daß auch in (31b) <strong>ein</strong>e<br />

Anhebungskonstruktion vorliegt. Denn wie oben gezeigt, liegt hier den<br />

thematischen Verhältnissen zu schliessen nach sehr wohl <strong>ein</strong>e<br />

Kontrollkonstruktion vor. Zu bestreiten, daß MV wie müssen, können, dürfen<br />

überhaupt Thetarollen vergeben, wie Wurmbrand (1999: 610), sch<strong>ein</strong>t mir<br />

23


ebenfalls k<strong>ein</strong>e geeignete Lösung zu s<strong>ein</strong>, da dies den auftretenden<br />

Bedeutungsunterschied zwischen (31a) und (31b) nicht mehr zu erklären<br />

vermag.<br />

Ganz offensichtlich gestaltet sich die Verteilung Anhebung vs. Kontrolle<br />

auch nicht genau entlang der Linie müssen/können/dürfen vs. möchte/wollen,<br />

da in (32) wollen auch als Anhebungsverb belegt ist. Diese Form bleibt aber<br />

trotzdem <strong>ein</strong>e sehr marginale Verwendungsweise und dieses Lexems.<br />

Eine der wenigen Aussagen, die sich mit großer Sicherheit über das<br />

Verhalten der MV treffen läßt, besteht darin, daß jene Lexeme von denen die<br />

”modale Kraft” vom Matrixsubjekt ausgeht, wie möchte, wollen, Fähigkeitskönnen<br />

Kontrollverben sind. Diese Gruppe schlage ich vor, im weiteren<br />

Verlauf als subjektssensible MV zu bezeichnen. Auch die verbleibenden<br />

MV, in weiterer Folge subjektsindifferente MV genannt, treten offensichtlich<br />

in solchen Konstruktionen auf, sofern der Träger der Modalität explizit im<br />

Satz steht. In jenen Fällen, in denen k<strong>ein</strong> geeigneter Modalitätsträger explizit<br />

ersch<strong>ein</strong>t, dürfte es sich wahrsch<strong>ein</strong>lich immer um Anhebungsverben<br />

handeln.<br />

Möglicherweise ließe sich das Problem durch die Annahme lösen, daß die<br />

MV über Thetarollen verfügen, die optional vergeben werden können. Eine<br />

andere, weniger elegante Möglichkeit bestünde darin, daß jedes MV je nach<br />

Konstruktionsweise über mehrere Lexikon<strong>ein</strong>träge verfügt. Dafür spräche<br />

das marginal gebrauchte Anhebungsverb wollen. Ich lege mich aber vorerst<br />

nicht weiter fest, wie diese hier dargelegte Formenvielfalt der MV am besten<br />

zu erfassen ist. Wurmbrand (2001: 183ff.) gesteht <strong>ein</strong>, das selbst jene MV,<br />

die ich als subjektindifferent bezeichnet habe, nicht ausschließlich als<br />

Anhebungsverben klassifiziert werden können. Neben deontischer und<br />

epistemischer Modalität, die im Falle der MV ausnahmslos durch<br />

Anhebungsverben repräsentiert werden, nennt sie mit der dynamischen<br />

Modalität noch <strong>ein</strong>e dritte Art, die offensichtlich durch Kontrollkonstruktionen<br />

kodiert werden muß. Wurmbrand (2001: 183) weist zwar darauf hin, daß die<br />

meisten modalen Elemente alle drei Modalitäten ausdrücken können, bringt<br />

aber abgesehen von den von mir als subjektsensible Lexeme bezeichneten<br />

wollen, möchte und Fähigkeits-können k<strong>ein</strong>e Beispiele hierfür.<br />

24


Nun zählt <strong>ein</strong> Ansatz, der <strong>ein</strong>e derartige Formenvielfalt zuläßt, für viele zum<br />

methodisch unelegantesten, was man überhaupt machen kann. Mir sch<strong>ein</strong>t<br />

diese Vorgehensweise aus oben genannten Gründen aber kaum zu<br />

vermeiden zu s<strong>ein</strong>. Abgesehen davon benötigt dieser Ansatz k<strong>ein</strong> großes<br />

Maß an äußerst komplexen Hilfstheorien. Kurz gesagt, ich betrachte die<br />

subjektsensiblen MV wollen, möchte und Fähigkeits-können durchweg als<br />

Kontrollverben, sowie die subjektsindifferenten MV als Verben, die sowohl in<br />

Kontrollkonstruktionen, als auch in Anhebungskonstruktionen auftreten<br />

können.<br />

Trotzalldem sind wir uns in diesem Abschnitt über <strong>ein</strong>en weiteren<br />

Zusammenhang zweier Kriterien aus der in 1.1 kritisch betrachteten<br />

Zusammenstellung von Beobachtungen verschafft, nämlich den<br />

Zusammenhang zwischen der ”Subjektsidentität” von Matrixprädikat und<br />

<strong>ein</strong>gebettetem Infinitiv (v), und unter welchen Umständen er die freie Wahl<br />

des Infinitivkomplements <strong>ein</strong>schränkt (vii).<br />

Auf die Mängel des losen Bündels an Beobachtungen aus 1.1 habe ich<br />

schon mehrfach hingewiesen. In der jüngeren Literatur wurden im<br />

Zusammenhang mit den MV noch mehrere syntaktische Aspekte diskutiert,<br />

die in dieser Liste noch unberücksichtigt blieben. Um die Syntax der MV im<br />

Detail zu erfassen, dehne ich die Untersuchung auf diese neueren<br />

Gesichtspunkte aus. Ähnlich wie Abschnitt 1.2.2 & 1.2.3 beschäftigen sich<br />

diese vor allem mit der Frage, ob MV monoclausale oder biclausale<br />

Strukturen erzeugen.<br />

1.2.4 Skopusverhalten. 23<br />

Öhlschläger (1989: 80ff.) versucht anhand des Verhalten des<br />

Negationsskopus und der Bezugsmöglichkeiten adverbialer Bestimmungen<br />

zu entscheiden, ob der Komplex MV + INFINITIV als mono- oder biclausale<br />

Struktur zu betrachten ist.<br />

23 Um Verwechslungen vorzubeugen: Dieser Abschnitt beschäftigt nicht mit dem Gegensatz<br />

verbaler vs. propositionaler MV-Skopus, wie es vor allem in Diewald (1999) der Fall ist, sondern<br />

mit dem Skopus der Negation, von Quantoren und von adverbialen Bestimmungen.<br />

25


Was die Negation betrifft, so kommt Öhlschläger zu dem Schluß, daß ihr<br />

Skopus in allen ihren Lesarten prinzipiell ambig ist, auch wenn jedes Lexem<br />

s<strong>ein</strong>e eigenen Präferenzen hat 24 :<br />

(34) Fritz darf nicht tanzen. (=GÖ 109)<br />

(35) a. Fritz kam nicht zum Fest, obwohl er nicht tanzen durfte.<br />

(=GÖ 114a)<br />

b. Fritz kam nicht zum Fest, weil er nicht tanzen durfte. (=GÖ 114b)<br />

Sogesehen ist (34) hinsichtlich s<strong>ein</strong>es Skopus ambig. Üblicherweise wird<br />

dürfen + NEG mit weitem Negationsskopus interpretiert, das heißt, mit<br />

Skopus über das MV samt s<strong>ein</strong>en Komplementen. Wenn auch ungewohnt,<br />

(34) läßt sich aber auch mit engem Skopus lesen. In diesem Fall bezieht sich<br />

die Negation nur auf den Infinitiv. 25 Die enge Interpretation von (34) wäre<br />

somit in etwa: ”die Erlaubnis haben, nicht zu tanzen.” Da im Deutschen<br />

meistens die Präferenzen der MV für die <strong>ein</strong> oder andere Skopusvariante<br />

verschieden stark geregelt sind, fällt es oft schwer die zweite Variante<br />

herauszubekommen. Öhlschläger (1989) gibt zu, daß dazu oft <strong>ein</strong><br />

sprachlicher Kontext erforderlich ist – siehe Satz (35a). Statt der zweiten<br />

Skopusvariante wird aber meist <strong>ein</strong> anderes sprachliches Mittel<br />

herangezogen, um diese Bedeutung zu kodieren. Im Beispiel von (35a),<br />

würden die meisten Sprecher wohl [nicht [tanzen] müssen] anstelle von<br />

[[nicht tanzen] dürfen] verwenden. In anderen Fällen ist trotz verschiedener<br />

Skopusvarianten kaum <strong>ein</strong> Bedeutungsunterschied feststellbar:<br />

(36) a. Ich [will nicht [tanzen]].<br />

b. Ich [will [nicht tanzen]].<br />

24 Öhlschlägers (1989) Argumentation diesbezüglich weist im Endeffekt Inkonsistenzen auf: Auf<br />

der <strong>ein</strong>en Seite behauptet er ALLE MV ungeachtet ihrer Modalität wären biclausal, da sie beide<br />

Skopustypen der Negation zulassen: engen und weiten. Subjektiven EMV gesteht er aber nur<br />

den engen Skopus zu. Um die Behauptung, auch EMV ließen prinzipiell beide Skopustypen zu,<br />

aufrechtzuerhalten, ist Öhlschläger gezwungen zur Gruppe der subjektiven EMV weitere<br />

Lexeme hinzuzufügen, die auch den weiten Negationskopus erlauben: eben die objektiven<br />

EMV. Dennoch kämpft er weiterhin mit dem Problem, MV zu haben, die nur mit dem engen<br />

Skopus konstruieren. das spricht ganz klar gegen s<strong>ein</strong>e Biklausalitätshypothese. Näheres dazu<br />

siehe Abschnitt 2.1.4 & 2.1.5.<br />

26


Was die Bezugsmöglichkeiten der Adverbialbestimmungen betrifft, so<br />

resümiert Öhlschläger (1989: 94ff.), daß sich in ihnen die Situation des<br />

ambigen Negatiosskopus widerspiegelt. Auch adverbiale Ergänzungen<br />

lassen prinzipiell den Bezug sowohl auf MV, als auch auf Infinitiv zu.<br />

(37) Fritz darf/kann/mag/muß/soll/will/möchte jetzt kommen.<br />

(=GÖ159)<br />

(i) Fritz darf folgendes: jetzt kommen.<br />

(ii) Es ist der jetzt der Fall, daß Fritz folgendes darf: kommen.<br />

Öhlschläger (1989) schließt nun daraus, daß MV prinzipiell biclausal<br />

konstruieren und ihnen aufgrund dessen Vollverbcharakter zu attestieren ist.<br />

Dagegen spricht aber, daß Anhebungsverben prinzipiell eben diese<br />

Skopusambiguitäten aufweisen: 26<br />

(38) Die Brücke droht jetzt/nicht <strong>ein</strong>zustürzen.<br />

(39) Die Brücke sch<strong>ein</strong>t jetzt/nicht <strong>ein</strong>zustürzen.<br />

Zugegeben sind die Lesarten mit Bezug aufs Matrixprädikat eher<br />

ungewöhnlich, aber nichtsdestotrotz grammatikalisch. Auch Wurmbrand<br />

(2001: 155) argumentiert dafür, daß Monoklausalität nichts darüber aussagt,<br />

wieviele Ereignisse durch die entsprechende Konstruktion denotiert werden.<br />

Bemerkenswert ist auch der Umstand, daß diese Skopusmehrdeutigkeiten<br />

in kohärenten Konstruktionen prinzipiell auftreten, in Konstruktionen also, die<br />

allgem<strong>ein</strong> als stärker grammatikalisiert gelten. Diese Effekte sch<strong>ein</strong>en im<br />

Widerspruch zu Öhlschläger gerade Indiz für vorangeschrittene<br />

Grammatikalisierung zu s<strong>ein</strong>. Offensichtlich lassen sich diese<br />

Skopusambiguitäten, ähnlich wie der Effekt der Kohäsion (siehe Bech<br />

25 Nach Wurmbrands (2001: 115ff.) Ansicht handelt es sich in diesen Fällen innerer Negation<br />

k<strong>ein</strong>eswegs um Vorkommen <strong>ein</strong>er Satznegation, sondern um Konstituentennegation.<br />

26 Darüber hinaus können auch die von Öhlschläger als Hilfsverben klassifizierten Lexeme s<strong>ein</strong>,<br />

haben und werden trotz ihrer klaren Präferenz für den engen Negationsskopus mit weitem<br />

Skopus auftreten. In diesen Fällen wird die durch das Hilfsverbausgedrückte Funktion negiert.<br />

Derartige Konstruktionen sind aus pragmatischen Gründen aber extrem selten:<br />

(1) Jörg WIRD nicht kommen, Jörg IST schon gekommen.<br />

27


1955/57: 76ff.), am besten als Eigenschaft des Phänomens Kohärenz<br />

beschreiben.<br />

Weiter zu Wurmbrand (1999, 2001) und ihrer Darstellung des<br />

Skopusverhaltens von Quantoren bei MV. Sie untersucht darin vor allem<br />

zwei Belange: Einerseits das Skopusverhältnis zwischen Subjekt und finitem<br />

MV und andererseits das Skopusverhältnis zwischen Matrixsubjekt und<br />

<strong>ein</strong>gebetteten Objekt. Zum Ersten erklärt sie anhand des Englischen<br />

Ambiguitäten des Subjektsskopus die bei allen MV-Konstruktionen auftreten.<br />

Im Deutschen sch<strong>ein</strong>t sich die Sache ganz genauso zu verhalten:<br />

(40) Zwei österreichische Schifahrer müssen im nächsten Rennen<br />

<strong>ein</strong>en Podestplatz erreichen. (Beispiel in Analogie zu Susi<br />

Wurmbrand 1999 17a, Übersetzung JM)<br />

i. Es ist notwendig, daß zwei Österreicher im nächsten Rennen <strong>ein</strong>en<br />

Podestplatz erreichen.<br />

ii. Es gibt zwei Österreicher und für jeden von ihnen ist es notwendig,<br />

<strong>ein</strong>en Podestplatz zu erreichen.<br />

In Interpretation (i) hat das MV Skopus über Subjekt, und wird im Hinblick<br />

auf das Subjekt ”niederer Skopus” bezeichnet. Im Gegensatz dazu hat in (ii)<br />

das Subjekt Skopus über MV, woraus sich die Bezeichnung ”hoher Skopus”<br />

ableitet. Wurmbrand weist nun daraufhin, daß <strong>ein</strong>e solche Ambiguität, wie sie<br />

in (40) vorliegt, in Kontrollkonstruktionen nie zum Vorsch<strong>ein</strong> kommt:<br />

(41) Ein Österreicher versucht morgen das Rennen zu gewinnen.<br />

(42) Ein Österreicher will morgen das Rennen gewinnen.<br />

Kontrolle erlaubt nur den hohen Skopus des Subjekts, das heißt das<br />

Subjekt muß das Prädikat immer c-kommandieren und nicht umgekehrt. Die<br />

Ambiguität ist Wurmbrand (1999, 2001) zufolge Ergebnis der<br />

Subjektsanhebung: Der niedere Skopus ist darauf zurückzuführen, daß das<br />

Subjekt an s<strong>ein</strong>er Basisstelle <strong>ein</strong>e Spur hinterläßt, die vom Prädikat ckommandiert<br />

wird. Der hohe Skopus wird durch die Anhebung des Subjekts<br />

vor das Prädikat ermöglicht, wodurch es dieses auch c-kommandiert. Auf<br />

28


diese Weise stehen auf LF zwei Positionen zur Skopusinterpretation zur<br />

Verfügung.<br />

Zum zweiten macht Wurmbrand darauf aufmerksam, daß in MV-<br />

Konstruktionen auch das <strong>ein</strong>gebettete Objekt Skopus über das Matrixsubjekt<br />

haben kann:<br />

(43) Gemäß Universitätsbestimmungen muß mindestens <strong>ein</strong><br />

Professor jeden Studenten betreuen. (= SW 1999 19)<br />

i. Universitätsbestimmungen verlangen, daß mindestens <strong>ein</strong> Professor<br />

jeden Student betreut.<br />

ii. Universitätsbestimmungen verlangen, daß jeder Student von<br />

mindestens <strong>ein</strong>em Professor betreut wird.<br />

Interpretation (i) ist wohl die unmarkiertere. In (ii) liegt der besprochene<br />

Effekt vor und tritt laut Wurmbrand (1999) auch nur in<br />

Anhebungskonstruktionen auf, da jener auf ganz ähnliche Faktoren wie die<br />

oben beschriebene Skopusambiguität zurückzuführen ist. Tatsächlich<br />

schließen Kontrollverben <strong>ein</strong>e solche Lesart aus (44), während<br />

Anhebungsverben Ambiguität vorweisen (45).<br />

(44) Ein Professor versprach jeden Studenten zu betreuen.<br />

(=SW 18a)<br />

(45) Ein Professor sch<strong>ein</strong>t jeden Studenten zu betreuen. (=SW 18b)<br />

Das Verhalten der MV in (43) spricht Wurmbrand zufolge dafür, selbige<br />

geschlossen den Anhebungsverben zuzurechnen. Folglich müßte (46) eben<br />

diese Ambiguität aufweisen:<br />

(46) Ein Professor muß/kann/darf/soll jeden Studenten betreuen.<br />

(i) Es ist notwendig/möglich/erlaubt/vorgeschrieben, daß mindestens <strong>ein</strong><br />

Professor jeden Studenten betreut.<br />

(ii) *Es ist notwendig/möglich/erlaubt/vorgeschrieben, daß jeder Student<br />

von mindestens <strong>ein</strong>em Professor betreut wird.<br />

29


Eine Lesart, in der das <strong>ein</strong>gebettete Objekt über das Subjekt Skopus hat<br />

(ii), ist aber hier für jedes der MV ausgeschlossen. Unter der Voraussetzung<br />

daß dieses Diagnostikum geeignet ist, um zwischen Anhebung und Kontrolle<br />

zu unterscheiden, spräche es ganz klar dagegen, die MV den<br />

Anhebungsverben zuzuordnen. 27 Da Wurmbrands erstes Kriterium hingegen<br />

allen subjektsindifferenten genügt, ist <strong>ein</strong>e Entscheidung, ob MV prinzipiell<br />

als Anhebungsverben gelten können oder nicht, weiterhin zu vertagen.<br />

In diesem Abschnitt haben wir in Erfahrung gebracht, daß die von<br />

Öhlschläger untersuchten Skopusambiguitäten offensichtlich nur <strong>ein</strong>e weitere<br />

Besonderheit der oben schon ausführlich diskutierten Kohärenz darstellen,<br />

während hingegen Wurmbrand sich mit Skopuseffekten von Quantoren<br />

beschäftigt, die sie auf die Art der infinitivischen Konstruktion zurückführt:<br />

Anhebung ermöglicht Skopusverhalten, das unter Kontrolle ausgeschlossen<br />

ist.<br />

1.2.5 Restrukturierung (R).<br />

Restrukturierung ist <strong>ein</strong> verhältnismäßig junger Terminus, der in der<br />

Generativen Grammatik im letzten Jahrzehnt zu <strong>ein</strong>em der Schlüsselbegriffe<br />

schlechthin für die Infinitivsyntax avancierte. Ausgehend von der Annahme,<br />

daß im Regelfall Verben Infinitive als CPs subkategorisieren, bedeutet R nun,<br />

daß in gewissen Fällen Infinitive als weniger komplexe Kategorie – wie TPs,<br />

vPs oder VPs – <strong>ein</strong>gebettet werden können. Ob Infinitive jetzt immer als<br />

eigenständige CPs generiert werden und dann in bestimmten Fällen durch<br />

<strong>ein</strong>e Reihe von Operationen zu weniger komplexen Strukturen ”restrukturiert”<br />

werden (u.a. Grewendorf 1987) oder ob in diesen Fällen Infinitive gleich als<br />

<strong>ein</strong>fachere Struktur erzeugt werden (Wurmbrand 2001), bleibt in der<br />

27 Die Korrektheit dieses Diagnostikums ist in der Tat <strong>ein</strong> bißchen zweifelhaft. Denn auch<br />

Konstruktionen mit anderen Anhebungsverben, wie drohen und versprechen, ersch<strong>ein</strong>en mit<br />

Objektsskopusinterpretation eher fragwürdig:<br />

(1) ??Ein Professor droht jeden Student schlecht zu benoten.<br />

(2) ??Ein Professor verspricht jeden Studen zu betreuen.<br />

Für die Richtigkeit dieses Diagnostikums spricht aber das Verhalten der meisten epistemischen<br />

MV. Abgesehen von wollen sind sie allesamt Anhebungsverben. Im Gegensatz zu den oben<br />

getesteten deontischen Entsprechung lassen sie den weiten Objektsskopus <strong>ein</strong>deutig zu.<br />

Details siehe Abschnitt 2.1.2.<br />

30


Forschung umstritten. Einen guten Überblick über die rezente Diskussion<br />

verschafft Wurmbrand (2001: 5ff.).<br />

In ihrer eigenen Theorie geht Wurmbrand (2001) davon aus, daß Verben,<br />

die Infinitive <strong>ein</strong>betten, je nach Eigenschaften verschieden komplexe<br />

syntaktische Kategorien selegieren. Lexical-restructuring-Prädikate (LR)<br />

nehmen r<strong>ein</strong>e VPs, reduzierte non-restructuring-Prädikate (NR) nehmen TPs<br />

oder vPs und non-restructuring-Prädikate sind ausschließlich für CPs<br />

subkategorisiert.<br />

Darüber hinaus verweist Wurmbrand noch auf die sogenannte functionalrestructuring-Prädikate<br />

(FR), die im Gegensatz zu den anderen drei über<br />

k<strong>ein</strong>e eigene VP/vP-schalen mehr verfügen, sondern höher oben in <strong>ein</strong>er<br />

eigenen funktionalen Projektion basisgeneriert werden. Die anderen Fälle<br />

von (non)-restructuring bilden vollständige Projektionen von der CP bis zur<br />

VP der (non-)restructuring-Prädikates hinunter, das je nach Typus <strong>ein</strong>e<br />

infinitivische VP/vP/TP/CP <strong>ein</strong>bettet. FR stellt somit den stärksten Fall von<br />

restructuring dar, das sich auch in s<strong>ein</strong>en Eigenschaften erheblich von den<br />

anderen unterscheidet. Und genau zu dieser Verbklasse zählen Wurmbrand<br />

zufolge alle MV und Anhebungsverben, deren syntaktische Besonderheiten<br />

im IPP-Effekt, der Subjektsanhebung und der Unmöglichkeit von<br />

Matrixpassiv, Extraposition des Infinitivs und Relativsatz-pied-piping<br />

bestehen.<br />

Wurmbrands Begriff der Restrukturierung ist k<strong>ein</strong>eswegs mit Bechs<br />

(1955/57) Kohärenz gleichzusetzen. Während Bechs kohärente Infinitive per<br />

definitionem nicht extraponiert werden können (genauso wenig wie sich<br />

inkohärente Infinitive intraponieren lassen), bringt Wurmbrand<br />

(2001:49ff.&291ff.) Beispiele für extraponierte (=inkohärente) restructuring-<br />

Infinitive und intraponierte (kohärente) non-restructuring-Infinitive. Der<br />

Unterschied zwischen monoklausalen und biklausalen Infinitivkonstruktionen<br />

wird durch Wurmbrands Typologie der Restrukturierung adäquater erfaßt als<br />

von Bechs Kohärenzbegriff. Kurz zusammen gefaßt, ist Wurmbrand<br />

(2001:294) der Auffassung, daß je <strong>ein</strong>facher und kl<strong>ein</strong>er die syntaktische<br />

Kategorie <strong>ein</strong>es Infinitivkomplements ist, desto eher muß dieses intraponiert<br />

werden, und je komplexer die Kategorie ist, desto eher besteht der Zwang,<br />

dieses Komplement zu extraponieren. Biklausales tendiert zur Extraposition,<br />

31


Monoklausales zur Intraposition. Es besteht aber k<strong>ein</strong>eswegs <strong>ein</strong> 1:1-<br />

Verhältnis. Nur die stark reduzierten FR-Prädikate, zu den die MV sämtlich<br />

zählen, unterliegen <strong>ein</strong>em Extrapositionsverbot oder obligatorischer<br />

Kohärenz, wie es Bech nennt.<br />

Die wichtigste für unseren Ansatz verwertbare Erkenntnis liegt darin, daß<br />

die MV sich von den meisten anderen Verben durch besonders enge<br />

Bindung zum Infinitivkomplement absondern, wie auch schon Reis (2001)<br />

gezeigt hat. Ansatzweise gelingt Wurmbrand der Brückenschlag zwischen<br />

den bisher zentralen Begriffen der (deutschen) Infinitivsyntax, nämlich<br />

zwischen Beschaffenheit des Infinitivsubjekts und (In-)Kohärenz.<br />

Zusammenfassung.<br />

In diesem Abschnitt haben wir die Aufgabe verfolgt, uns <strong>ein</strong>er möglichen<br />

Definition der MV über ihre syntaktischen Eigenschaften zu nähern.<br />

Folgende Einsichten wurden uns zu Teil:<br />

Während die meisten MV ausschließlich intransitiv zu gebrauchen sind,<br />

erlauben manche MV (mögen, können, möchte, wollen) transitive Objekte,<br />

zerfallen aber hinsichtlich ihres Subkategorisierungsverhalten in zwei<br />

Untergruppen. Transitivität taugt folglich nicht als Klassifikationskriterium.<br />

Vielmehr legt die hier zu Tage tretende Heterogenität nahe, MV nicht als<br />

gem<strong>ein</strong>same Klasse zu behandeln.<br />

Trotzdem lassen sich zahlreiche Kriterien finden, die allen sechs MV +<br />

möchte, das wir an dieser Stelle als eigenständiges Klassenmitglied<br />

aufgenommen haben, gem<strong>ein</strong> sind: erstens regieren alle MV den ersten<br />

Status (Abschnitt 1.2.2), zweitens konstruieren alle MV folglich obligatorisch<br />

kohärent (Abschnitt 1.2.2) und drittens teilen alle MV den Koeffizienten<br />

(N´:N´´) (Abschnitt 1.2.3).<br />

Schwierigkeiten treten aber entlang der Unterscheidung zwischen Kontrollund<br />

Anhebungskonstruktion auf: Erstens zerfallen die MV zumindest in zwei<br />

Subklassen, nämlich subjektsensitive MV (möchte, wollen, Fähigkeitskönnen),<br />

die in Kombination mit <strong>ein</strong>em Infinitiv immer als Kontrollverb<br />

auftreten müssen, und subjektsindifferente MV, auf die das nicht zutrifft.<br />

Zweitens ersch<strong>ein</strong>t es unmöglich, die subjektsindifferenten MV durchwegs<br />

32


als Anhebungs- oder durchwegs als Kontrollverben zu klassifizieren. 28 Ihr<br />

Status bleibt unklar, es drängt sich die vage Vermutung auf, daß die<br />

subjektsindifferenten MV in beiden Konstruktionstypen auftreten. Ahnliche<br />

Schlüsse zieht Wurmbrand (2001) (siehe S.22) Kapauz.<br />

Des weiteren tauchen noch <strong>ein</strong>e Reihe weiterer syntaktischer<br />

Eigenschaften auf, die sich aber auf Kohärenz und Konstruktionstypus<br />

(=Beschaffenheit des Infinitivsubjekts) zurückführen lassen. Diese beiden<br />

Begriffe haben sich in diesem Abschnitt als die zentralen der MV-Syntax<br />

erwiesen. Wir haben mit Wurmbrand (2001) <strong>ein</strong>e Theorie kennengelernt, die<br />

ansatzweise im Stande ist, den erwünschten Zusammenhang zwischen den<br />

beiden unter den Schlüsselbegriffen Kohärenz und Konstruktionstypus<br />

verstandenen Phänomenen herzustellen. Ihre Auffassung, restructuring-<br />

Infinitive hätten überhaupt k<strong>ein</strong>e Subjekte, stößt aber auf altbekannte<br />

Schwierigkeiten. Auf diese Weise könnten die <strong>ein</strong>gebetteten Infinitive ihre<br />

Subjektsthetarolle nicht mehr vergeben.<br />

Unser Versuch, die MV all<strong>ein</strong> über ihre Syntax zu definieren, muß letztlich<br />

aber scheitern. Es lassen sich <strong>ein</strong>e Reihe von Verben finden, die kohärent,<br />

im ersten Status und mit dem Koeffizienten (N´:N´´) konstruieren: werden,<br />

tun, bleiben, s<strong>ein</strong>, lernen, kommen, gehen und andere Bewegungsverben.<br />

Da somit auch syntaktische Aspekte all<strong>ein</strong>e nicht ausreichen, um das<br />

Wesen der MV zu erfassen, wenden wir uns im Abschnitt 1.3 den<br />

semantischen Eigenschaften der hier im Mittelpunkt stehenden Verben zu.<br />

28 Ein ähnliches Problem taucht bei den Phasenverben beginnen, anfangen, aufhören, u.a. auf.<br />

Auch hier kann sowohl <strong>ein</strong> Expletivum (1) als auch <strong>ein</strong> Agens (2) an der Position des<br />

Matrixsubjekts stehen, was auf die Zulässigkeit beider Konstruktionstypen hindeutet. Schließlich<br />

kann kaum bestritten werden, daß Alexander in (2) vom Matrixverb aufhören <strong>ein</strong>e thematische<br />

Rolle (Agens) zugewiesen bekommt. Das beweist auch der Imperativ in (3), der ja bei<br />

Anhebungsverben nicht möglich ist.<br />

(1) Es hört auf zu regnen.<br />

(2) Alexander hört auf zu rauchen.<br />

(3) Alexander, hör auf zu rauchen.<br />

Um diese Schwierigkeit zu meistern, muß entweder die Kontrolltheorie dahingehend<br />

umgekrempelt werden, daß auch Expletiva kontrollieren können (Vorschlag von Diewald 1999:<br />

61) oder in Anlehnung an Diewald (1999: 61ff) die gesamte Thetatheorie neuausgedüftelt<br />

werden, damit Subjekte von Anhebungsinfinitiven im Laufe ihres Anhebungsprozeßes mehrere<br />

Thetarollen aufsammeln können. Solche Veränderungen wären aber mit <strong>ein</strong>er<br />

unüberschaubaren Fülle an Implikationen verbunden. Eine andere Variante bestünde lediglich<br />

darin, zuzulassen, daß manche Verben sowohl als Kontroll als auch als Anhebungsverben<br />

auftreten können.<br />

33


1.3 Semantische Aspekte.<br />

Eine wesentliche Eigenschaft der MV haben wir bisher unterschlagen: ihre<br />

Polyfunktionalität. Dieser Abschnitt beschäftigt sich damit, diese<br />

Eigenschaft auf s<strong>ein</strong>e Eignung hin als Definitionskriterium zu prüfen.<br />

Der Grund für die späte Behandlung dieses Kriteriums liegt darin, daß k<strong>ein</strong>e<br />

Klarheit darüber besteht, inwiefern Polyfunktionalität sich auch auf die Syntax<br />

der MV auswirkt. Im Gegensatz dazu herrscht Konsens darüber, daß die<br />

verschiedenen Funktionen oder Verwendungsweisen der MV zumindest auf<br />

semantischen Gegebenheiten beruhen. Aus diesem Grund beschränkten<br />

sich die bisherigen Betrachtungen auf die im Deutschen stärker verbreiteten<br />

und wohl unmarkierteren Vorkommen der MV, nämlich auf jene MV in<br />

deontischer Lesart (DMV). Bevor wir uns aber den näheren Eigenschaften<br />

der epistemischen Lesart (EMV) und damit dem polyfunktionalen Charakter<br />

der MV widmen, werfen wir noch <strong>ein</strong>en Blick auf semantische<br />

Gem<strong>ein</strong>samkeiten der behandelten Lexeme.<br />

1.3.1 Aktionsart der MV.<br />

Aktionsart wird im allgem<strong>ein</strong>en als lexikalisch-semantische, in der<br />

Verbbedeutung fix verankerte Kategorie behandelt, die sich in vier Aspekte<br />

aufgliedert (Bußmann 1990): (a) Dynamizität der verbalen Aktion (statisch vs.<br />

dynamisch), (b) ihre Verlaufsweise (durativ vs. nicht-durativ), (c) Frequenz &<br />

Wiederholung (semelfaktiv vs. iterativ/habituativ) und schließlich (d)<br />

Kausalität (durch Agens bewirkt oder nicht).<br />

(47) Hermine kann/muß/darf/soll/will/möchte ihre Tochter besuchen.<br />

Nun denotieren alle MV statische Zustände, das Matrixprädikat in (47)<br />

impliziert nämlich k<strong>ein</strong>erlei Zustandsänderung, woraus auch folgt, daß sie<br />

durativer Natur s<strong>ein</strong> müssen. Kriterium (c) spielt hier k<strong>ein</strong>e Rolle und kann<br />

vernachläßigt werden. Was (d) betrifft, so haben hier die MV <strong>ein</strong>e<br />

Besonderheit aufzuweisen. Mit der Ausnahme von wollen gehen sie wie<br />

schon erwähnt auf Präteritalformen zurück und markierten somit <strong>ein</strong>e<br />

vergangene Handlung. Diese Entwicklung wird durch den resultativen<br />

Charakter der gegenwärtigen MV reflektiert, sie denotieren nämlich das<br />

34


”Erteilt-haben-bekommen” <strong>ein</strong>er Direktive (Diewald 1999: 120&150). Aus<br />

diesem Muster schert aber wollen aus. Diewald (1999: 140) versucht auch,<br />

wollen resultativen Charakter zu unterstellen, in dem sie behauptet, es könne<br />

auch als Verb gesehen werden, dessen Subjekt die Direktive von sich selbst<br />

erhalten hat. Ich halte aber die Diskussion darüber müßig, da sich selbst Ur-<br />

Präteritopräsentien wie Fähigkeits-können nur mit Schwierigkeiten in dieses<br />

Schema integrieren lassen, beziehungsweise bildete sich aus <strong>ein</strong>em anderen<br />

Präteritopräsentium mit möchte <strong>ein</strong> MV-Form heraus, die der verwegenen<br />

Semantik von wollen im Großen und Ganzen gleicht. Viel bedeutender ist der<br />

Umstand, daß MV allesamt <strong>ein</strong>e stative Semantik aufweisen.<br />

1.3.2 Aspekt und Tempus des Infinitivkomplements.<br />

Welche morphologischen und syntaktischen Distributionsrestriktionen für<br />

die Einbettung von Infinitivkomplementen unter MV gelten, haben ich in<br />

Abschnitt 1.2 unter den Schlagworten Kohärenz und Status schon<br />

ausführlich dargestellt. Nun drängt sich die Annahme auf, daß für die<br />

Einbettung <strong>ein</strong>es Infinitivs unter <strong>ein</strong> MV auch semantische<br />

Selektionsbeschränkungen bestehen könnten. Als Merkmale zur<br />

Unterscheidung bieten sich vor allem Aktionsart und Tempus des<br />

<strong>ein</strong>gebetteten Verbs an.<br />

Hinsichtlich der Aktionsart interessiert uns, ob Infinitive existieren, die ob<br />

ihrer Semantik nicht von MV selektiert werden können. Die Spezifikation des<br />

Subjekts hat darauf womöglich Einfluß:<br />

(48) Raimund kann/muß/soll/darf/will/möchte nächste Woche nach<br />

Thailand fliegen.<br />

SUBJ = [+belebt]; INF = [+perfektiv]<br />

(49) Raimund kann/muß/soll/darf/will/möchte heute zuhause bleiben.<br />

SUBJ = [+belebt]; INF = [-perfektiv]<br />

(50) An dieser Stelle kann/muß/soll/darf <strong>ein</strong> Unfall passieren.<br />

SUBJ = [–belebt], INF = [+perfektiv]<br />

35


(51) Das Auto kann/darf/muß/soll vor der Tür stehen.<br />

SUBJ = [–belebt], INF = [-perfektiv]<br />

Prinzipiell sind offensichtlich alle Varianten zulässig. Diewald (1999: 250)<br />

bemerkt aber, daß diese vier Varianten in verschieden starker Frequenz<br />

auftreten, es bestehen ganz klare Präferenzen zu belebtem Subjekt mit<br />

perfektiven Infinitiv (1) und unbelebtem Subjekt mit durativen Infinitiv (4). Für<br />

diese Korrelation sch<strong>ein</strong>t mir aber weniger das MV auschlaggebend zu s<strong>ein</strong>,<br />

als vielmehr die Selektionsvorlieben der <strong>ein</strong>gebetteten Infinitive.<br />

Wenden wir uns dem Verhältnis zwischen Tempus und dem<br />

Infinitivkomplement des MV zu. Die erste Frage die sich hier aufdrängt, ist,<br />

inwiefern der Infinitiv <strong>ein</strong>e andere Tempusrelation ausdrücken kann, als jene,<br />

die im MV kodiert ist. Sind verschiedene Tempora möglich, so müßten den<br />

beiden Verben zwei verschiedene Temporaladverbien zugewiesen werden<br />

können.<br />

(52) a. Im Moment kann/muß/soll/darf/will/möchte er nach Thailand<br />

fliegen.<br />

b. Im Moment kann/muß/soll/darf/will/möchte er morgen nach<br />

Thailand fliegen.<br />

c. Im Moment kann/muß/soll/darf/will/möchte er morgen zuhause<br />

bleiben.<br />

(53) a. Im Moment kann/darf/muß/soll das Auto vor der Tür stehen.<br />

b. ?Im Moment kann/darf/muß/soll das Auto morgen vor der Tür<br />

stehen.<br />

(52b) und mit Einschränkung (53b) sprechen klar dafür, daß die<br />

Infinitivhandlung über <strong>ein</strong>e eigene temporale Spezifikation verfügen kann, die<br />

<strong>ein</strong>e gewisse Nachzeitigkeit zur Matrixhandlung ausdrückt. In (52a) und (53a)<br />

wird aber deutlich, daß Tempus von MV und Infinitiv ident s<strong>ein</strong> können, was<br />

angesichts von (53b) auch als weniger markiertere der beiden Varianten<br />

ersch<strong>ein</strong>t. Daß die quasi-Futurbedeutung, die dem Infinitiv in den (b)-<br />

Beispielsätzen anhaftet, k<strong>ein</strong>eswegs nur durch perfektive Aspektualität<br />

ausgelöst werden kann, zeigt (52c), wo mit bleiben das MV <strong>ein</strong>en ganz klar<br />

durativen Infinitiv regiert (ohne daß die Akzeptabilität darunter leidet).<br />

36


Generell fällt auf, daß das doppelte Tempus am besten mit volitiven MV<br />

wollen, möchte verträglich ist.<br />

Der Infinitiv kann auch mit Einschränkung auf Ereignisse die vor der<br />

Matrixhandlung stattgefunden haben Bezug nehmen:<br />

(54) a. Er will in Paris gewohnt haben.<br />

b. Petra muß den Friedensnobelpreis gewonnen haben.<br />

c. Das Haus kann gebrannt haben.<br />

d. Er dürfte es vergessen haben.<br />

e. Sie muß ihn fürchterlich geliebt haben.<br />

Der vom MV unmittelbar <strong>ein</strong>gebette Infinitiv denotiert aber k<strong>ein</strong> Ereignis,<br />

das der Matrixhandlung voranging, sondern dessen Erfolgt-S<strong>ein</strong> zum<br />

Zeitpunkt der Matrixhandlung. Streng genommen gilt auch für diese Infinitive<br />

in (54a-e) die oben getroffene Generalisierung, daß das Ereignis im Infinitiv<br />

zeitgleich mit der Matrixhandlung oder später stattfindet, wie (55).<br />

(55) Er dürfte ihn morgen schon verkauft haben.<br />

Die Konstruktionen mit Infinitiv Perfekt weisen im Gegensatz zu den<br />

<strong>ein</strong>fachen Infinitivkonstruktionen <strong>ein</strong>e Besonderheit auf: die Aktionsart des<br />

unmittelbar <strong>ein</strong>gebetteten Infinitivs ist immer stativ. Das läßt sich darauf<br />

zurückführen, daß in Infinitiv-Perfekt-Konstruktionen das unmittelbar<br />

<strong>ein</strong>gebettete Verb in jedem Falle von <strong>ein</strong>em der beiden von Natur aus<br />

stativen Auxiliare s<strong>ein</strong> und haben verkörpert wird. Offensichtlich leitet sich<br />

auch hieraus die Präsens/Futurbedeutung in solchen Konstruktionen ab.<br />

S<strong>ein</strong> und haben denotieren ja auch in <strong>ein</strong>fachen Infinitivkonstruktionen<br />

gegenwärtige und zukünftige Ereignisse.<br />

Inwieweit Infinitivkomplemente von MV <strong>ein</strong>e eigene TP brauchen, um die<br />

temporale Unabhängigkeit zu kodieren oder inwieweit dies auch durch die<br />

Modifikation der Infinitiv-VP erfolgen kann, lasse ich an dieser Stelle offen.<br />

Nur soviel dazu, da sich die auffallend enge Beziehung zwischen MV und<br />

ihrem Infinitivkomplement nach Auffassung von Bech (1955/57), Kiss (1995),<br />

Reis (2001) und Wurmbrand (2001) von den meisten übrigen<br />

37


Infinitivkonstruktionen abheben, liegt der Schluß nahe, daß in derartigen<br />

syntaktischen Gebilden <strong>ein</strong> monoklausaler Komplex vorliegt. Nach<br />

Wurmbrands Analyse zählen die MV zu den radikalsten restructuring-<br />

Prädikaten überhaupt. Das spricht tatsächlich dafür, daß infinitivische MV-<br />

Komplemente k<strong>ein</strong>e eigene T-Projektion mehr erfordern und temporale<br />

Spezifikation über die VP möglich s<strong>ein</strong> muß.<br />

Mit <strong>ein</strong>er weiteren semantischen Besonderheit der Infinitiv-Perfekt-<br />

Einbettung unter MV beschäftigt sich Abschnitt 1.3.3.<br />

1.3.3 Deontischer und epistemischer Gebrauch.<br />

Nach weitreichender M<strong>ein</strong>ung, wie H<strong>ein</strong>e (1995) oder Diewald (1999), teilen<br />

alle MV die Eigenschaft, unter Einbettung des Infinitivs Perfekt stark zu <strong>ein</strong>er<br />

anderen Interpretation zu neigen, die wir in weiterer Folge als ”epistemisch”<br />

(EMV) bezeichnen werden:<br />

(56) a. Clara kann/muß/darf/soll/will/möchte/mag den Film sehen.<br />

b. Clara kann/muß/dürfte/soll/will/??möchte/mag den Film gesehen<br />

haben.<br />

Der deontische Gebrauch der <strong>Modalverben</strong> (DMV), wie er in (56a) vorliegt,<br />

ist im Deutschen sicherlich weitgehend der üblichere. Er ist gekennzeichnet<br />

durch <strong>ein</strong>e ausgeprägte Semantik des MV, das in den meisten Fällen <strong>ein</strong>e<br />

bestimmte modale Kraft zwischen dem Satzsubjekt und der Infinitivhandlung<br />

ausdrückt. Demgegenüber verleiten die Beispiele in (54a-e & 56b) zu <strong>ein</strong>er<br />

anderen Interpretation, nämlich <strong>ein</strong>er gewissen Distanz des Sprechers zur<br />

Faktizität der in der Infinitivhandlung ausgedrückten Proposition: er vermutet<br />

oder beruft sich auf andere. Diese sogenannte Polyfunktionalität aufgrund<br />

der Epistemizität trifft auf alle hier betrachteten Lexeme zu.<br />

Nur zwei Notizen dazu: möchte wird höchstwahrsch<strong>ein</strong>lich nie von<br />

Sprechern in s<strong>ein</strong>er quotativ-epistemischen Lesart verwendet. Das hat aber<br />

<strong>ein</strong>en besonderen Grund: die Kontexte in denen volitive MV, wie möchte und<br />

wollen, in ihrer quotativ-epistemischen Interpretation gebraucht werden, sind<br />

extrem rar. Tritt so <strong>ein</strong> Kontext auf, dann kommt meist das gebräuchlichere<br />

wollen zum Zug. Nichtsdestotrotz wäre an dieser Stelle <strong>ein</strong>e Substitution<br />

durch möchte denkbar. Der Form möchte würde am ehesten die<br />

38


Bezeichnung potentielles quotatives EMV oder MV mit schlafender quotativepistemischer<br />

Lesart gerecht.<br />

Zweitens möchte ich auf <strong>ein</strong>e Besonderheit hinweisen, die das Verb dürfen<br />

betrifft. In s<strong>ein</strong>er Indikativform kann dürfen nur als DMV auftreten (57). S<strong>ein</strong>e<br />

Konjunktivform hat sich hingegen weitgehend auf die epistemische<br />

Verwendung festgelegt. Eine deontische Interpretation ist wenn überhaupt<br />

nur ganz marginal möglich (58).<br />

(57) *Clara darfEMV den Film gesehen haben.<br />

(58) Wenn ich ihre Mutter wäre, dürfteDMV Clara den Film sehen.<br />

Auf dieser Beobachtung basierend deklariert Wurmbrand (2001) dürfteEMV<br />

sogar als eigenes Lexem. Dieser Aufspaltung folgen wir nicht, da die<br />

Konjunktivform dürfte im Gegensatz zur (theoretischen) Konjunktivform<br />

möchte durchaus noch in s<strong>ein</strong>er ursprünglichen konjunktivischen Bedeutung<br />

Verwendung findet, siehe Beispiel (9) und (10) auf Seite 9.<br />

Polyfunktionalität erweist sich hiermit als Merkmal, das allen MV zuteil wird.<br />

Nun stellt sich aber die Frage, inwieweit dieses Merkmal nur auf die bisher<br />

betrachteten sieben Lexeme zutrifft. Und es zeigt sich, daß ähnliche<br />

Phänomene auch bei anderen Verballexemen auftreten:<br />

(59) a. Clara wird den Film sehen.<br />

b. Clara wird den Film gesehen haben.<br />

(60) a. Clara braucht den Film nicht (zu) sehen.<br />

b. Clara braucht den Film nicht gesehen (zu) haben.<br />

Auch in diesen Fällen tritt ganz analog zu den sieben bisher betrachteten<br />

Lexemen der oben erläuterte Effekt auf. Nebenbei sei auf <strong>ein</strong>e Besonderheit<br />

von brauchen hingewiesen, die darin besteht, daß es als MV nur mit<br />

Negation akkzeptabel ist. Im Anschluß untersuchen wir, inwieweit es Sinn<br />

macht, diese beiden Lexeme zur Gruppe der MV hinzuzufügen.<br />

39


Zusammenfassung.<br />

Auf der Suche nach den semantischen Wesensmerkmalen der MV, stellte<br />

sich heraus, daß sie an sich stativ hinsichtlich ihrer Aktionsart sind,<br />

zumindest DMV sowohl perfektive als auch imperfektive Infinitivkomplemente<br />

<strong>ein</strong>betten und unabhängig von deren Aktionsart Präsens- oder Futurbezug<br />

aufweisen können. 29 Das Wesen der MV sch<strong>ein</strong>t aber in ihrer<br />

Polyfunktionalität zu liegen, die aussagt, daß jedes MV sowohl als DMV als<br />

auch als EMV auftreten kann. Diese Ansicht vertritt auch Reis (2001). Diese<br />

Polyfunktionalität bildet <strong>ein</strong> Privileg <strong>ein</strong>er kl<strong>ein</strong>en Gruppe, derer die MV<br />

sämtlich Teil sind. Insofern stellt diese <strong>ein</strong> Merkmal dar, anhand dessen die<br />

beobachteten sieben Lexeme weitgehend von der großen Masse an Verben<br />

isoliert werden können. Offensichtlich korreliert diese Polyfunktionalität auch<br />

mit den syntaktischen Eigenheiten der MV. Doch bevor wir uns ausführlich<br />

mit dem möglichen Einfluß der Syntax auf die Polyfunktionalität beschäftigen,<br />

widmen wir uns noch der Frage, wie wir mit den beiden offensichtlich<br />

polyfunktionalen Lexemen (nicht) brauchen und werden verfahren sollen.<br />

1.4 Polyfunktionalität als konstituierendes Merkmal?<br />

Die meisten der <strong>ein</strong>gangs in 1.1 erwähnten Merkmale erwiesen sich als<br />

nicht ausreichend oder für sich betrachtet inkonsistent, das heißt sie gelten<br />

entweder nur für <strong>ein</strong> paar der MV oder gleich für <strong>ein</strong> großes Maß an Verben<br />

mehr. Eine umfassende Definition durch die vorgeschlagenen Merkmale in<br />

Summe ist somit zum Scheitern verurteilt.<br />

Im Laufe der Untersuchung kristallisierte sich jedoch <strong>ein</strong>e kl<strong>ein</strong>e Menge an<br />

Merkmalen heraus, die für alle sieben Lexeme zutreffen und zum Teil (fast)<br />

nur für diese:<br />

1. MV haben immer den koeffizienten (N´:N´´), das heißt, das<br />

Matrixsubjekt ist immer mit dem Infinitivsubjekt referenzident.<br />

29<br />

Eine Untersuchung der EMV hinsichtlich dieser Kriterien steht noch aus und folgt in den<br />

Abschnitten 2.1.4 und 2.2.<br />

40


2. MV sind obligatorisch kohärent, da sie den 1. Status regieren<br />

(oder nach Wurmbrands (2001) Terminologie FR <strong>ein</strong>leiten). 30<br />

3. In MV-Konstruktionen kann die Negation Skopus sowohl über das<br />

MV als auch über den <strong>ein</strong>gebetteten Infinitiv haben. Ähnlich<br />

können sich Adverbialbestimmungen entweder auf das MV oder<br />

auf den Infinitiv beziehen.<br />

4. MV sind stativ hinsichtlich ihrer Aktionsart.<br />

5. Zumindest unter DMV lassen sich sowohl perfektive als auch<br />

imperfektive Infitive <strong>ein</strong>betten, ungeachtet dessen kann das<br />

gesamte Komplement Präsens- oder Futurbezug haben.<br />

6. MV verfügen prinzipiell über <strong>ein</strong>e deontische und auch über <strong>ein</strong>e<br />

epistemische Interpretation.<br />

Ansonsten tauchen allerhand Eigenschaften auf, die zwar für <strong>ein</strong>e Reihe<br />

der MV Gültigkeit besitzt, aber eben nicht für alle. Genaugenommen hat so<br />

ziemlich jedes dieser sieben Lexeme s<strong>ein</strong>e Eigenheiten: so hat wollen k<strong>ein</strong>e<br />

präteritopräsentische Vergangenheit und deswegen auch <strong>ein</strong>e leicht<br />

abweichende Morphologie, es kann als transitives Verb mit daß-Satz<br />

auftreten, ist immer Kontrollverb, hat wie wir noch sehen werden auch <strong>ein</strong>e<br />

markierte epistemische Interpretation. Demgegenüber weicht das<br />

präteritopräsentische sollen noch stärker von der typischen MV-Morphologie<br />

ab, wählt – wie ich noch zeigen werde – in s<strong>ein</strong>er DMV Lesart den dafür<br />

unüblichen engen Negationsskopus und hat ebenso <strong>ein</strong>e hochmarkierte –<br />

weil quotative – epistemische Lesart. Auch können läßt sich als transitives<br />

Verb verwenden, darüberhinaus tritt es auch als Kontrollverb auf. Im Falle<br />

von dürfen hingegen zeichnet sich <strong>ein</strong>e Arbeitsteilung hinsichtlich der<br />

Polyfunktionalität ab. Während die epistemische Modalität <strong>ein</strong>zig und all<strong>ein</strong><br />

durch die Konjunktiv-II-Form dürfte ausgedrückt werden kann, beschränkt<br />

sich die Indikativform auf den Ausdruck der deontischen Modalität. Wie<br />

soviele andere MV auch kann mögen transitiv verwendet werden. Eine<br />

30 Die von Bech als obligatorisch kohärent bezeichneten Verben entsprechen übrigens ziemlich<br />

genau jenen, die Wurmbrand (2001) als ”Functional-Retructuring” bezeichnet. Da sich die<br />

beiden Begriffe inhaltlich kaum unterscheiden, verwende ich weiterhin Bechs Terminologie,<br />

obgleich Wurmbrands Analyse geeigneter ersch<strong>ein</strong>t, um die verschiedenen Arten Verb-Cluster-<br />

Bildung zu erklären.<br />

41


weitere Besonderheit besteht darin, daß es in den meisten deutschen<br />

Dialekten in Kombination mit Infinitiv nur negiert auftritt, dort also negativ<br />

polar ist. Das betrifft aber nur die deontische Verwendung. Im Übrigen trifft<br />

das auch auf <strong>ein</strong>en etwaigen transitiven Gebrauch mit daß-Satz zu. Als EMV<br />

unterliegt es dieser Beschränkung aber nicht. Außerdem zeichnet sich<br />

mögen durch s<strong>ein</strong> breites semantisches Spektrum aus, daß von der<br />

Denotation <strong>ein</strong>er Möglichkeit bis hin zur subjektiven Zuneigung reicht. Daraus<br />

entwickelte sich und ist im Begriff sich weiterhin abzuspalten, die neue Form<br />

möchte. Die vormalige Konjunktiv II Form von mögen wird nicht mehr mit der<br />

ursprünglichen Bedeutung assoziert, und erwarb nach und nach <strong>ein</strong>e volitive<br />

Semantik, wodurch es nun stark dem MV wollen ähnelt. Dementsprechend<br />

viele Besonderheiten besitzt es auch, angefangen damit, daß es über gar<br />

k<strong>ein</strong>e eigene Infinitivform verfügt, bis dahin, daß es nur <strong>ein</strong> potentielles EMV<br />

verkörpert. Ansonsten teilt es noch <strong>ein</strong>e Menge von Idiosynkrasien, die wir<br />

schon anhand von wollen abgehandelt haben. Einzig müssen verhält sich als<br />

MV relativ unspektakulär.<br />

Diese Auflistung sollte veranschaulichen, wie heterogen die Ansammlung<br />

der verschiedenen MV tatsächlich ist. Das Problem, die MV <strong>ein</strong>heitlich zu<br />

beschreiben, verschärft sich durch die Aufnahme neuer Elemente, wie wir es<br />

am Beispiel von möchte gerade gesehen haben. Im Moment könnten wir<br />

nicht <strong>ein</strong>mal die für Verben äußerst triviale Generalisierung machen, daß<br />

jedes MV auch <strong>ein</strong>en Infinitiv besitzt. Wir stünden vor noch größeren<br />

Schwierigkeiten, wenn wir gezwungen wären für dürfteEMV, <strong>ein</strong>en eigenen<br />

Lexikon<strong>ein</strong>trag anzunehmen, wie unter anderem Wurmbrand (2001: 186)<br />

verfährt. Denn auf diese Weise verlöre die als konstituierendes Merkmal der<br />

MV vorgeschlagene Polyfunktionalität ihre Plausibilität. Auf diese Weise<br />

hätten wir zwei neue (Ex-?)MV, die beide ihrer Polyfunktionalität beraubt<br />

wären. Ich komme im Verlauf der Untersuchung noch auf diese Problematik<br />

zurück.<br />

1.5 (nicht) brauchen und werden als MV?<br />

Wenn wir die Polyfunktionalität als Wesensmerkmal der MV heranziehen,<br />

dann sind wir unweigerlich gezwungen, uns mit der Frage zu beschäftigen,<br />

42


wie wir beiden offensichtlich auch polyfunktionalen Lexemen (nicht) brauchen<br />

und werden verfahren.<br />

Zunächst zu (nicht) brauchen. Die negative Polarität dieses potentiellen MV<br />

braucht uns nicht zu kümmern, da sie in <strong>ein</strong>em ähnlichen Maße in den<br />

meisten Dialekten auch für mögen gilt.<br />

(61) a. Wolfgang mag heute nicht am Klavier spielen.<br />

b. ?Wolfgang mag heute am Klavier spielen.<br />

(62) a. Bettina braucht heute nicht am Klavier (zu) spielen.<br />

b. ?Bettina braucht heute am Klavier (zu) spielen.<br />

Abgesehen davon zeigte Lenz (1996) schon, daß die negative Polarität von<br />

brauchen Bedingung war, um überhaupt in die Nähe der MV zu kommen.<br />

Wenden wir uns aber zuerst <strong>ein</strong>mal jenen Kriterien zu, deren Gültigkeit sich<br />

über alle MV erstreckt. Erstens hat auch brauchen den Koeffizienten (N´:<br />

N´´):<br />

(63) Ihri braucht euchi nicht (zu) genieren.<br />

Zweitens ist brauchen wie alle MV obligatorisch kohärent. Im Gegensatz zu<br />

diesen muß es aber nicht den 1. Status regieren. Die Rektion des 2. Status<br />

ist mindestens genauso verbreitet:<br />

(64) a. *daß ihr euch nicht braucht, (zu) genieren.<br />

b. daß ihr euch nicht (zu) genieren braucht.<br />

Aufgrund s<strong>ein</strong>er negativen Polarität treten im Falle von brauchen<br />

Schwierigkeiten hinsichtlich der doppelten Bezugsmöglichkeiten der<br />

Negation auf. Der enge Negationsskopus all<strong>ein</strong>e sch<strong>ein</strong>t nicht möglich zu<br />

s<strong>ein</strong> (65a). Die Möglichkeit der doppelten Negation in (65b) zeigt aber, daß<br />

auch am Infinitiv Platz für <strong>ein</strong>e Negation s<strong>ein</strong> muß. Weitaus<br />

unproblematischer verhält es sich mit dem doppelten Bezug der<br />

Adverbialbestimmung (66).<br />

43


(65) a. ?? Du brauchst [nicht (zu) kommen].<br />

b. ?Du brauchst jetzt nicht [nicht (zu) kommen].<br />

(66) Im Moment brauchst Du morgen nicht kommen.<br />

Viertens ist brauchen stativ, da es den Zustand <strong>ein</strong>er negierten<br />

Notwendigkeit beschreibt. Fünftens verhält sich brauchen hinsichtlich der<br />

temporalen und aspektuellen Spezifikation s<strong>ein</strong>er möglichen<br />

Infinitivkomplemente ident wie die übrigen MV.<br />

(67) Die Projektteilnehmer brauchen jetzt/ab morgen nicht in <strong>Berlin</strong><br />

(zu) wohnen.<br />

(68) Du brauchst morgen/jetzt sofort nicht weg(zu)fahren.<br />

Sechstens wie wir schon in Abschnitt 1.3.3 gesehen haben findet brauchen<br />

sowohl als DMV als auch als EMV Verwendung. Darüber hinaus tritt bei<br />

brauchen <strong>ein</strong> Phänomen auf, das zwar nicht alle MV erfaßt, aber dafür fast<br />

ausschließlich bei diesen anzutreffen ist: der sogenannte infinitivus-proparticipio-(IPP-)Effekt.<br />

Umso erstaunlicher, daß ihn sich brauchen vollständig<br />

angeeignet hat. Der IPP-Effekt besteht darin, daß in periphrastischen<br />

Tempora anstelle des Partizips Perfekt des betreffenden Verbs dessen<br />

Infinitiv stehen muß. Das gilt im vollen Umfang auch für brauchen, das als<br />

MV derartige periphrastische Tempora ausschließlich mit dem Infinitiv bildet.<br />

(69) a. Claudia hat den Mühlst<strong>ein</strong> nicht tragen<br />

können/*gekonnt/müssen/*gemußt/sollen/*gesollt/dürfen/*gedurft/<br />

wollen/*gewollt/mögen/*gemocht/*möchte*-n.<br />

b. Claudia hat den Mühlst<strong>ein</strong> nicht (zu) tragen<br />

brauchen/*gebraucht.<br />

Schließlich kann brauchen wie so viele andere MV auch als transitives<br />

Verbum verwendet werden. Brauchen wurde schon vielfach als MV<br />

bezeichnet, wie von Vater (1975), Lenz (1996), Fritz (1997) oder auch Reis<br />

(2001). Aufgrund der oben gewonnenen Erkenntnisse schließe ich mich<br />

dieser Ansicht an, wenn ich auch nicht gleich über den <strong>ein</strong>zigen wackligen<br />

Punkt hinwegsehe, daß brauchen in vielen Fällen den 2. Status regiert und<br />

44


sich somit von den ”herkömmlichen” MV etwas abhebt. Viel entscheidender<br />

ist aber, daß sich brauchen vor allem in der gesprochenen Sprache auch den<br />

1. Status angeeignet hat, der nur <strong>ein</strong>er geringen Zahl an Verben zu Teil wird.<br />

Somit spricht eigentlich alles dafür, brauchen als gleichwertiges MV zu<br />

betrachten. Von <strong>ein</strong>em funktionalen Standpunkt wäre sogar fahrlässig, nicht<br />

derartig vorzugehen. 31<br />

Etwas schwieriger gestaltet sich der Sachverhalt im Beispiel von werden. 32<br />

Wie schon angedeutet sch<strong>ein</strong>t auch dieses Element auf <strong>ein</strong>e gewisse Art und<br />

Weise polyfunktional zu s<strong>ein</strong>. Ebenso teilt es mit den MV die Eigenschaften<br />

der obligatorischen Kohärenz, die in diesem Fall auf die Rektion des 1.<br />

Status zurückzuführen ist, sowie die Identität von Infinitivsubjekt und<br />

Matrixsubjekt:<br />

(70) a. daß wiri unsi darüber freuen werden.<br />

b. *daß wiri unsi werden darüber freuen.<br />

Außerdem läßt werden sowohl perfektive als auch imperfektive<br />

Infinitivkomplemente zu.<br />

(71) a. Gleich wird das Dach <strong>ein</strong>stürzen.<br />

b. Morgen werde ich den ganzen Tag schlafen.<br />

Während sich werden in den übrigen Punkten hinsichtlich s<strong>ein</strong>er<br />

epistemischen Variante genauso verhält wie die übrigen MV, unterscheidet<br />

sich s<strong>ein</strong>e nicht-epistemische Lesart zum Teil gravierend vom üblichen<br />

Verhalten der DMV. 33 Da werden + INFINITIV im Gegensatz zu den DMV als<br />

r<strong>ein</strong>er Futurmarker dient, weisen die Infinitivkomplemente automatisch<br />

31<br />

Im weiteren Verlauf der Arbeit werde ich sehr oft darauf verzichten, (nicht) brauchen in den<br />

Satzbeispielen mit<strong>ein</strong>zubeziehen. Da dies erforderlich machen würde, aufgrund s<strong>ein</strong>er<br />

negativen Polarität, ausschließlich auf negierte Sätze zurückzugreifen, was zu Ungenauigkeiten<br />

führen könnte. M<strong>ein</strong> Vorgehen bedeutet aber k<strong>ein</strong>eswegs, daß (nicht) brauchen in den<br />

betreffenden Kontexten ausgeschlossen ist. Ich gehe vielmehr davon aus, daß es aufgrund der<br />

auffallenden Ähnlichkeiten auch in allen mit müssen verträglichen Distributionen auftreten kann.<br />

32<br />

Untersuchungen von werden im Zusammenhang mit den MV liegen unter anderen von Vater<br />

(1975) und Erb (2001) vor.<br />

33<br />

Vater (1975) behauptet sogar, daß werden + INF in k<strong>ein</strong>em Fall als Futurmarker auftritt,<br />

sondern immer nur als EMV. Denn im Deutschen ist dieses Hilfsverb gar nicht notwendig, um<br />

Zukunftsbezug zu kodieren. Das kann unteranderem durch die Aktionsart oder durch<br />

Temporaladverbien erfolgen.<br />

45


Futurbedeutung auf. Eine Präsensinterpretation für nicht-epistemische Form<br />

ist somit ausgeschlossen. Die Negation kann bis auf hochmarkierte<br />

Ausnahmefälle nur Skopus über den Infinitiv haben. 34 Die doppelte<br />

Bezugsmöglichkeit von Adverbialbestimmungen sch<strong>ein</strong>t aber möglich zu<br />

s<strong>ein</strong>: 35<br />

(72) Im Moment werde ich morgen kommen.<br />

Auch in anderen Punkten unterscheidet sich die nicht-epistemische Form<br />

von werden von den anderen DMV. Eine Konstruktion der Art werdenDMV +<br />

INFINITIV beschreibt zwei Zustände. Einen ersten in dem die Aussage<br />

gemacht wird und <strong>ein</strong>en notwendig darauf folgenden zweiten, in dem die<br />

Infinitiv Handlung <strong>ein</strong>tritt. Kurz gesagt werdenDMV denotiert den Wandel <strong>ein</strong>es<br />

Zustands in den anderen. Die DMV verhalten sich hier anders: sie<br />

beschreiben nur <strong>ein</strong>en Zustand, nämlich den des Aktivs<strong>ein</strong>s <strong>ein</strong>er modalen<br />

Kraft, der unabhängig von dem Eintreten der Infinitivhandlung ist. So sagt <strong>ein</strong><br />

DMV nichts darüber aus, ob die Infinitivhandlung gerade erfolgt, irgendwann<br />

erfolgen wird oder durch das Erfolgen die modale Kraft erlischt. werdenDMV im<br />

Gegensatz dazu setzt aber voraus, daß zwischen Äußerungszeitpunkt und<br />

Eintreten der Infinitivhandlung <strong>ein</strong>e zeitliche Distanz liegt. Unter der<br />

Vorraussetzung ”Franzi arbeitet gerade” sind in (73) darum nur die<br />

klassischen DMV können, müssen, sollen, dürfen, wollen, mögen möglich.<br />

(73) Franzi kannDMV/mußDMV/sollDMV/darfDMV/willDMV/möchteDMV<br />

/*wirdDMV im Moment arbeiten.<br />

Zwei Möglichkeiten existieren um dieses Problem zu lösen: Erstens werden<br />

besitzt gar k<strong>ein</strong>e nicht-epistemische Lesart und ist r<strong>ein</strong> EMV, wie es Vater<br />

34 Ausnahme siehe Fn. 26.<br />

35 Diese ist sogar in Futursätzen ohne werden möglich und somit Evidenz dafür, daß Futur im<br />

Deutschen nicht overt am Verb repräsentiert werden muß:<br />

(1) Im Moment komme ich morgen.<br />

Wie derartige Konstruktionen mit ”widersprüchlichen” Temporalspezifikationen analysiert<br />

werden müssen, kann ich an dieser Stelle nicht sagen, da dieses Komplex <strong>ein</strong>er ausführlichen<br />

Aus<strong>ein</strong>andersetzung bedarf.<br />

46


(1975) behauptet. Dieser Ansatz impliziert, daß werden nur EMV, somit nicht<br />

polyfunktional im oben besprochenen Sinne und somit auch nicht zu den MV<br />

zu zählen wäre. Zweitens werden existiert tatsächlich als optionaler<br />

Futurmarker im Lexikon. Ich komme im Verlauf der Untersuchung noch<br />

<strong>ein</strong>mal auf dieses Problem zurück. Vorerst betrachte ich werden ebenfalls als<br />

MV, auch wenn dies im Gegensatz zu brauchen <strong>ein</strong> paar Schwierigkeiten mit<br />

sich bringt. Nichtsdestotrotz begehen wir k<strong>ein</strong>en Fehler, wenn wir werden in<br />

die Nähe der MV rücken, da wollen und sollen ursprünglich auch als<br />

Futurmarker dienten und sich selbst heute noch Fälle finden in denen sie<br />

diese Aufgabe übernehmen. Näheres dazu bei Fritz (1997, 2000). Daß MV<br />

und Futurmarker tendenziell in <strong>ein</strong>em Naheverhältnis stehen, zeigt Lehmann<br />

(1995: 28).<br />

Polyfunktionalität erweist sich tatsächlich als effizientestes Kriterium, um<br />

MV von den anderen Verben zu isolieren. Es ist <strong>ein</strong>es der wenigen, das alle<br />

MV und auch nur diese besitzen. Natürlich existieren Zusammenhänge<br />

zwischen syntaktischen und semantischen Gem<strong>ein</strong>samkeiten der MV, die wir<br />

im Laufe dieses Kapitels isoliert haben. Die nächsten beiden Kapitel werden<br />

sich mit genau diesen Zusammenhängen beschäftigen.<br />

1.6 Zusammenfassung.<br />

Kapitel 1 verfolgte die Absicht, den Untersuchungsgegenstand dieser Arbeit,<br />

die deutschen MV in ihrem Wesen zu erfassen. Der bloße Umfang des<br />

Kapitels wie das Ausbleiben <strong>ein</strong>es konkreten Ergebnisses zeugen davon, als<br />

wie kompliziert sich so <strong>ein</strong> Unterfangen tatsächlich herausstellt,<br />

beziehungsweise nähren sie den Zweifel, daß <strong>ein</strong>e griffige Klassendefinition<br />

gar nicht möglich zu s<strong>ein</strong> sch<strong>ein</strong>t. Denn die betrachteten Verben erwiesen sich<br />

als ziemlich heterogene Ansammlung, denn als homogene Klasse. Während<br />

uns nicht gelungen ist, <strong>ein</strong>e passende Klassendefinition für die MV zu<br />

formulieren, haben wir es aber geschafft, die zahlreichen Besonderheiten der<br />

MV auf wenige wesentliche syntaktische und semantische Eigenschaften<br />

zurückzuführen. Wir haben mit Wurmbrand (2001) auch <strong>ein</strong>en Ansatz kennen<br />

gelernt, dem es zum Teil gelingt alle relevanten Eigenschaften zu ver<strong>ein</strong>en,<br />

auch wenn er noch fundamentaler Revisionen bedarf. Einen Sonderstatus<br />

unter den MV-Eigenschaften nimmt die Polyfunktionalität <strong>ein</strong>, die als <strong>ein</strong>ziges<br />

47


Merkmal die MV von den übrigen Verben absondert, worauf auch schon Reis<br />

(2001) hingewiesen hat. Doch auch dieses Kriterium ergibt nicht automatisch<br />

<strong>ein</strong>e homogene und unstreitbare MV-Klasse. Vielmehr konfrontiert es uns<br />

zunächst mit <strong>ein</strong>er Reihe von Hürden:<br />

Erstens bereitet uns möchte aufgrund der nie realisierten epistemischen<br />

Lesart ernsthaftes Kopfzerbrechen. Einerseits sehen wir uns gezwungen, es<br />

aufgrund s<strong>ein</strong>er wachsenden Autonomie als eigenständiges MV-Lexem zu<br />

bezeichnen, andererseits sollte es dann unserer Definition gemäß auch als<br />

EMV auftreten. Wie wir aber oben bemerkt haben, sch<strong>ein</strong>t möchte aber<br />

prinzipiell als EMV möglich zu s<strong>ein</strong>.<br />

Zweitens stehen wir spätestens dann mit unserer Klassifikation vor<br />

gravierenden Problemen, wenn sich dürfteEMV von dürfenDMV vollständig<br />

abspaltet, denn in diesem Falle lägen zwei monofunktionale MV-Lexeme vor.<br />

Drittens führt k<strong>ein</strong> Weg daran vorbei, auch andere Lexeme als die<br />

klassischen MV in die von uns vorgeschlagene Klasse aufzunehmen. Auf alle<br />

Fälle trifft das auf (nicht) brauchen zu. Wie oben beschrieben, spricht auch<br />

<strong>ein</strong>iges dafür, auch werden hinzuzuziehen. Ein endgültiges Urteil in dieser<br />

Frage behalten wir uns zunächst noch vor. Manche Autoren rücken auch<br />

sch<strong>ein</strong>en, drohen und versprechen aufgrund ihrer offenkundigen Epistemizität<br />

in die Nähe der MV. Wurmbrand (2001: 205) zählt bestimmte ihrer<br />

Gebrauchsweisen sogar explizit zu den EMV. Ihr Verhältnis zu den MV wird in<br />

Kapitel 2 ausführlich untersucht.<br />

Wenn MV <strong>ein</strong> Wesensmerkmal haben, das ihnen allen eigen ist, dann kann<br />

dieses nur Polyfunktionalität s<strong>ein</strong>. Was wir hier als MV beschrieben läßt sich<br />

aber nicht als homogene Klasse erfassen, die sich durch <strong>ein</strong> Merkmal [+/-MV]<br />

konstituiert. Vielmehr handelt es sich bei diesen Elementen um <strong>ein</strong>e Gruppe<br />

verwandter Verballexeme, die in verschieden starkem Ausmaß über <strong>ein</strong>e<br />

Reihe von Besonderheiten verfügen. Die Darstellung der MV als<br />

geschlossene, nach außen hin abgegrenzte Klasse (wie unter anderem in<br />

Diewald 1999) entspricht nicht der Empirie, da zwischen MV anderen Verben<br />

k<strong>ein</strong>e absoluten und strikten Grenzen herrschen, sondern vielmehr fließende<br />

Übergänge bestehen, wie im Anschluß noch gezeigt wird. Die folgenden<br />

Kapitel setzen sich mit etwaigen Gründen für diese Vielfalt der MV<br />

aus<strong>ein</strong>ander.<br />

48


2. Epistemizität.<br />

Kapitel 1 bescherte uns die Erkenntnis, daß sich die MV dadurch<br />

charakterisieren und gleichzeitig von allen anderen Verben abheben, daß sie<br />

sowohl in <strong>ein</strong>er deontischen als auch in <strong>ein</strong>er epistemischen Verwendung<br />

auftreten. Diese Eigenschaft haben wir im Einklang mit der Literatur als<br />

Polyfunktionalität bezeichnet.<br />

Während Kapitel 1 fast ausschließlich den deontischen Gebrauch zum<br />

Gegenstand hatte, steht in Abschnitt 2.1 die noch ausstehende<br />

Charakterisierung des epistemischen Gebrauchs im Zentrum der<br />

Beobachtung. Dazu vergleichen wir in Abschnitt 2.2 & 2.3 die MV noch mit<br />

<strong>ein</strong>er Reihe von Verben, die oft in ihre Nähe gerückt werden. Schlußendlich<br />

verf<strong>ein</strong>ern wir die im Kapitel 1 vorgeschlagene Definition des<br />

Wesensmerkmals der MV.<br />

2.1 Abgrenzung DMV/EMV<br />

Bisher hat sich die vorliegende Untersuchung bestenfalls marginal mit dem<br />

Wesen der EMV aus<strong>ein</strong>andergesetzt. Der <strong>ein</strong>zige Anhaltspunkt zur<br />

Unterscheidung von DMV und EMV, den wir bislang kennengelernt haben<br />

(vgl. Abschnitt 1.3.3), besteht darin, daß <strong>ein</strong> MV in Kombination mit dem<br />

Infinitiv Perfekt in den meisten Fällen als epistemisch interpretiert wird: das<br />

ergab <strong>ein</strong>erseits H<strong>ein</strong>es (1995: 24) Korpusstudie, aber auch Diewalds (1999:<br />

380ff.) diachrone Studie. Zu vergleichbaren Ergebnissen kommt unabhängig<br />

davon auch noch Krause (1997: 94f.) Dennoch bedeutet dieses auffällige<br />

Verhalten noch lange nicht, daß der Infinitiv Perfekt all<strong>ein</strong> mit epistemischen<br />

Kontexten verträglich ist.<br />

(1) Einmal soll man dort gewesen s<strong>ein</strong>.<br />

Beispiel (1) b<strong>ein</strong>haltet nun k<strong>ein</strong>e Annahme beziehungsweise k<strong>ein</strong>en<br />

Verweis auf <strong>ein</strong>e andere Quelle, sondern denotiert vielmehr <strong>ein</strong>e<br />

(abgeschwächte) Direktive. Umgekehrt muß <strong>ein</strong> EMV nicht immer unbedingt<br />

49


<strong>ein</strong>en Infinitiv Perfekt involvieren.<br />

(2) Er dürfte noch schlafen.<br />

Kurz zusammengefaßt: Auch wenn EMV und Infinitiv Perfekt meistens<br />

mit<strong>ein</strong>ander kookkurieren, besteht zwischen den beiden k<strong>ein</strong>erlei<br />

Implikation. 36 Insoferne ist es unerläßlich, nach weiteren Kriterien zu suchen,<br />

die zu <strong>ein</strong>er <strong>ein</strong>deutigen Unterscheidung von EMV und DMV taugen.<br />

Beginnend mit den morphologischen Verschiedenheiten zeige ich im<br />

Anschluß Möglichkeiten auf, wie diese Unterteilung erfolgen könnte.<br />

2.1.1 Morphologische Unterschiede.<br />

Im Gegensatz zu den DMV weisen die EMV nach weit verbreiteter M<strong>ein</strong>ung<br />

lediglich <strong>ein</strong> stark defektives Paradigma auf. Abraham (2001) weist auf das<br />

Fehlen <strong>ein</strong>es EMV-Infinitivs hin. Implizit ist auch Vater (1975: 127) dieser<br />

Position sehr nahe, wenn er <strong>ein</strong> Iterationsverbot für EMV annimmt. Diewald<br />

(1999: 25f) hält fest, daß EMV k<strong>ein</strong>e analytischen Tempora bilden und ihre<br />

Präteritalformen streng auf die literarische Erzählform der ”erlebten Rede”<br />

limitiert ist. Ein Verbot der periphrastische Tempora für EMV postulieren auch<br />

Durbin/Sprouse (2001). 37<br />

(3) *Die neue Mannschaft versucht/sch<strong>ein</strong>t/dürfte heute verlieren<br />

könnenEMV/müssenEMV/sollenEMV/wollenEMV/mögenEMV/werdenE<br />

MV.<br />

(4) *Die neue Mannschaft hat/hatte zuvor verlieren<br />

könnenEMV/müssenEMV/sollenEMV/wollenEMV/mögenEMV/werdenEMV.<br />

Ohne eigenständigen Infinitiv kann <strong>ein</strong> EMV auch nie im werden-Futur<br />

stehen. Diese Restriktionen gelten aber nicht un<strong>ein</strong>geschränkt. In <strong>ein</strong>igen<br />

36<br />

Vor voreiligen Generalisierungen im Hinblick auf das Verhältnis zwischen MV und Infinitiv<br />

Perfekt warnen auch Diewald (1999), H<strong>ein</strong>e (1995) und Krause (1997: 94f.).<br />

37<br />

Wie Durbin/Sprouse aber zeigen, betrifft das Periphrase-Verbot nicht die Konjunktivformen<br />

der EMV:<br />

(1) Naja, da hätte sich Peter aber schwer täuschen müssenEMV.<br />

(=D/S 10)<br />

(2)<br />

50


Sonderfällen können EMV <strong>ein</strong>ander <strong>ein</strong>betten beziehungsweise als Infinitiv<br />

auftreten.<br />

(5) Morgen wird er bestimmt wieder etwas Interessantes gehört<br />

haben wollenDMV/EMV. (=OL 2002b)<br />

Ole Letnes (2002b) zieht dieses Beispiel in s<strong>ein</strong>er Untersuchung als<br />

Beispiel dafür heran, um die Verträglichkeit von wollenEMV mit<br />

periphrastischen Tempora zu belegen. Dieses Beispiel über Letnes´<br />

Feststellungen hinaus noch zwei Besonderheiten: <strong>ein</strong>erseits belegt es <strong>ein</strong>en<br />

EMV-Infinitiv, zweitens enthält es <strong>ein</strong>e Lesart in der <strong>ein</strong> EMV (werden) <strong>ein</strong><br />

anderes (wollen) <strong>ein</strong>bettet. Denn schenkt man Vater (1975) Glauben, so<br />

existiert werden nur als EMV. Ist man der anderen Auffassung, daß werden +<br />

INFINITV sowohl in epistemische als auch in nicht-epistemischer Variante<br />

auftritt, so ist zumindest auch die Lesart möglich, in der werden als EMV<br />

verwendet wird. Schließlich läßt es sich ohne große Bedeutungsveränderung<br />

durch das EMV dürfte ersetzen:<br />

(6) Morgen dürfte er bestimmt wieder etwas Interessantes gehört<br />

haben wollenDMV/EMV.<br />

Auch Reis (2001: 294f.) bringt ähnliche Beispiele, die dafür sprechen, daß<br />

die Infinitivlücke bei den EMV k<strong>ein</strong>e absolute Gültigkeit beanspruchen kann.<br />

Erstens lassen sich sollenEMV und wollenEMV aufgrund ihrer eigentümlichen<br />

evidentiellen Semantik definitiv von anderen EMVs <strong>ein</strong>betten. Zweitens<br />

existieren periphrastische Konjunktivkonstruktionen, die <strong>ein</strong> infinites EMV<br />

b<strong>ein</strong>halten können. 38<br />

Andere Autoren, wie Durbin/Sprouse (2001: 141) oder Öhlschläger (1989:<br />

210), führen auch Beispiele anderer Art an, die von der Iterierbarkeit von<br />

EMV zeugen sollen:<br />

38 Siehe Fn. 37.<br />

(7) Der Angeklagte kann der Täter s<strong>ein</strong> müssen. (=GÖ 333)<br />

51


Diese Autoren unterscheiden in ihren Ansätzen 2 Arten von Epistemizität,<br />

von denen die sogenannte objektive Epistemizität <strong>ein</strong>mal iteriert werden<br />

kann, während hingegen die subjektive Epistemizität sich unter k<strong>ein</strong>en<br />

Umständen als Infinitiv <strong>ein</strong>betten läßt. Eine derartige Unterscheidung ist<br />

m<strong>ein</strong>er M<strong>ein</strong>ung nach irreführend, worauf ich im Anschluß noch <strong>ein</strong>gehe.<br />

Ich würde diese Kookurrenz aber anders beurteilen. Ich bezweifle, daß<br />

durch zwei mit <strong>ein</strong>ander kombinierte EMV doppelte Epistemizität ausgedrückt<br />

wird. Vielmehr sehe ich darin <strong>ein</strong>en redundanten Gebrauch von EMV, sodaß<br />

tatsächlich nur <strong>ein</strong>e <strong>ein</strong>zige Epistemizität zum Ausdruck kommt. Anderenfalls<br />

müßte nachstehendes Beispiel auf kaum nachvollziehbare Art und Weise<br />

interpretiert werden:<br />

(8) sie werdenEMV ihn in Leipzig oft genug müssenEMV gesehen<br />

haben, den bösen buben (Lenz ges. schr. (1828: 1, 70) = DWB<br />

Bd. 12, S. 256)<br />

Wie wir gesehen haben, stellt sich die Behauptung, EMV hätten <strong>ein</strong> stark<br />

verarmtes Paradigma, als fragwürdig heraus. Reis (2001: 291ff.) geht in ihren<br />

Ausführungen soweit, daß sie den EMV <strong>ein</strong> komplettes Paradigma<br />

zugesteht, das aber aus semantischen Gründen nur selten voll genutzt wird.<br />

Demgemäß lassen sich die EMV nicht in allen oben diskutierten Belangen<br />

als absolut defektiv beschreiben. Wenn diesen heute auch <strong>ein</strong>ige Tempora<br />

fehlen, verfügen <strong>ein</strong>ige Formen noch über <strong>ein</strong>en Infinitiv. Es handelt sich<br />

hierbei also nicht immer um absolute Lücken, sondern oft nur um Tendenzen<br />

zum Abbau <strong>ein</strong>er speziellen Form.<br />

Im Gegensatz zu den klassischen MV + (nicht) brauchen hat werden +<br />

INFINITIV selbst nicht nur s<strong>ein</strong>e Präteritalform – wie Vater (1975: 127ff.)<br />

berichtet –, sondern auch s<strong>ein</strong>en Infinitiv vollständig verloren. Das läßt<br />

zweierlei Schlüsse zu: <strong>ein</strong>erseits, daß es <strong>ein</strong> hoch grammatikalisierter<br />

Tempusmarker geworden ist, andererseits, daß es sich zu <strong>ein</strong>em hoch<br />

grammatikalisierten, r<strong>ein</strong>en EMV verwandelt hat.<br />

52


Zu den eben beschriebenen morphologischen Besonderheiten der EMV<br />

gesellen sich noch jene, die den MV generell gem<strong>ein</strong> und sie somit nicht von<br />

den DMV unterscheiden. Einen Überblick über jene Kriterien geben unter<br />

anderem Durbin/Sprouse (2001).<br />

2.1.2 Syntaktische Unterschiede.<br />

In der MV-Forschung wurde immer wieder versucht, die verschiedenen<br />

Gebrauchsformen auf wesentliche Unterschiede in ihren syntaktischen<br />

Strukturen zurückzuführen.<br />

Abraham (2001, 2003a,b, 2004) und Diewald (1999) analysieren in der<br />

Tradition von Ross (1969) die DMV durchgängig als Kontrollverben und die<br />

EMV durchgängig als Anhebungsverben. Daß <strong>ein</strong>e derartige Analyse nicht<br />

aufrechtzuerhalten ist, zeigte schon der Abschnitt 1.2.3, der Vorkommen von<br />

DMV in Anhebungskonstruktionen belegt. Abgesehen davon existiert mit<br />

wollenEMV <strong>ein</strong> EMV, das zweifellos <strong>ein</strong> Kontrollverb ist. Erstens geht die<br />

Subjektswahl nicht vom <strong>ein</strong>gebetteten Infinitiv aus, sondern vom MV, wie<br />

(10) beweist, und zweitens besteht darüber hinaus <strong>ein</strong>e thematische Relation<br />

zwischen MV und Matrixsubjekt, die sich folgendermaßen beschreiben läßt:<br />

der Subjektagens besteht darauf, daß die Infinitivhandlung Gültigkeit besitzt.<br />

Auch viele andere Autoren, wie Kiss (1995), Öhlschläger (1989) und Reis<br />

(2001) zählen wollenEMV zu den Kontrollverben.<br />

(9) Der Angeklagte will von all dem nichts gewußt haben.<br />

(10) *Es will geregnet haben.<br />

Diese Annahme wird dadurch gestärkt, daß wollenEMV als <strong>ein</strong>ziges EMV<br />

nicht die Lesart zuläßt, in der das Objekt Skopus über das Subjekt hat.<br />

Sprich: nur (12) kann paraphrasiert werden als: ”Es sch<strong>ein</strong>t daß, jeder<br />

Student von mindestens <strong>ein</strong>em Professor betreut wurde.”<br />

(11) *Ein Professor will jeden Studenten betreut haben.<br />

(12) Ein Professor kann/muß/dürfte/soll/wird jeden Studenten betreut<br />

haben.<br />

53


In Anbetracht dieses Diagnostikums ergibt sich <strong>ein</strong> weiteres Argument<br />

gegen die Annahme, daß alle subjektsindifferenten DMV durchweg zu den<br />

Anhebungsverben zu zählen sind. 39 Während die DMV – wie wir in Abschnitt<br />

1.2.4 bereits gezeigt haben – in SVO-Stellung k<strong>ein</strong>en Skopus des Objekts<br />

über das Subjekt dulden, lassen die EMV <strong>ein</strong>en derartigen Skopuseffekt<br />

ohne weiteres zu. Das deutet darauf hin, daß der syntaktische Status von<br />

DMV und EMV ganz offensichtlich <strong>ein</strong> verschiedener ist. Subjektsindifferente<br />

DMV können somit nicht bedingungslos Anhebungsverben s<strong>ein</strong>, wie es Axel<br />

(2001), Kiss (1995), Öhlschläger (1989) und Reis (2001) vorschlagen.<br />

Genaueres vermag ich, an dieser Stelle über die syntaktischen Unterschiede<br />

zwischen EMV und DMV auchn nicht zu sagen.<br />

Abgesehen von dem wollenEMV (und <strong>ein</strong>em etwaigen möchteEMV), fallen die<br />

restlichen EMV geschlossen unter die Anhebungsverben und können im<br />

Unterschied zu ihren deontischen Gegenstücken niemals als Kontrollverben<br />

auftreten.<br />

Wurmbrand (2001) erwägt <strong>ein</strong>e alternative Variante, in der sie MV in drei<br />

Gruppen teilt: Dynamische MV, die offensichtlich in etwa unseren<br />

subjektssensitiven MV entsprechen und den Kontrollverben zuzurechnen<br />

sind, DMV und EMV. Letztere beide zählt sie geschlossen zu den<br />

Anhebungsverben. Jedes MV erzeugt s<strong>ein</strong>e eigene Projektion, die je nach<br />

dessen Art und der MV-Hierarchie entsprechend (EMV > DMV > DynMV)<br />

verschiedene Positionen im Strukturbaum <strong>ein</strong>nehmen. Da sie aber ihre<br />

Analyse nicht hinreichend expliziert, unter anderem nicht erwähnt, welche<br />

Rolle wollenEMV <strong>ein</strong>nimmt, hat es an dieser Stelle wenig Sinn, sich mit dieser<br />

Theorie weiterhin aus<strong>ein</strong>anderzusetzen. Ganz abgesehen davon verböte<br />

dieser Ansatz <strong>ein</strong>e Einbettung <strong>ein</strong>es Auxiliars unter <strong>ein</strong> MV, egal welchen<br />

Typs, was im Anbetracht der EMV, die präferiert mit Infinitiv Perfekt auftreten,<br />

schon große empirische Probleme bereiten würde. 40<br />

Syntaktische Unterschiede zwischen EMV und DMV dürften aller<br />

Wahrsch<strong>ein</strong>lichkeit nach existieren. Vermutlich bestehen sie unter anderem<br />

auch darin, daß EMV an <strong>ein</strong>er höheren (funktionalen) Projektion<br />

basisgeneriert werden als dies bei den DMV der Fall ist, wie Wurmbrand<br />

(2001) auch annimmt. Wie oben gezeigt wurde verhalten sich EMV und DMV<br />

39 Siehe auch Fn. 27 und Abschnitt 1.2.4.<br />

54


hinsichtlich ihrer semantischen Beziehungen zum Matrixsubjekt, aber<br />

k<strong>ein</strong>eswegs so homogen, wie es sich Wurmbrand vorstellt. Vielmehr<br />

sch<strong>ein</strong>en diese Verschiedenheiten, die im unterschiedlichen Skopusverhalten<br />

von EMV und DMV zum Ausdruck kommen, weitere Anhaltspunkte für <strong>ein</strong>e<br />

syntaktische Unterscheidung s<strong>ein</strong>.<br />

2.1.3 Semantische Unterschiede.<br />

Leichter als die syntaktischen Verschiedenheiten, sind schon die<br />

semantischen zu erfassen. Zwei wesentliche Theorien hat die Forschung<br />

hervorgebracht:<br />

Die <strong>ein</strong>e, unter anderem vertreten von Reisenbichler (1994), grenzt die<br />

EMV von DMV dadurch ab, daß sie für jene <strong>ein</strong>e uniforme Bedeutung<br />

postuliert, während hingegen diese sich durch lexemspezifische Bedeutung<br />

charakterisieren. Diese <strong>ein</strong>heitliche Bedeutung bestünde darin, daß <strong>ein</strong> EMV<br />

immer <strong>ein</strong>e Vermutung des Sprechers zum Ausdruck bringt. Daß diese<br />

Auffassung falsch ist, zeigt nicht nur die eigentümliche Semantik von<br />

wollenEMV und sollenEMV: Beide denotieren die Wiedergabe von indirekter<br />

Rede entweder <strong>ein</strong>es beliebigen Erzählers oder <strong>ein</strong>es solchen der<br />

gleichzeitig das Subjekt des MV-Satzes darstellt.<br />

Als adäquater erweisen sich da Ansätze im Stile von Abraham (2003b) oder<br />

Diewald (1999), in denen EMV noch Reste der ursprünglichen DMV-<br />

Bedeutung widerspiegeln. Diese These wird darüber hinaus durch andere<br />

Konstruktionen empirisch gestützt, denen wir uns in Abschnitt 2.2 zuwenden<br />

werden.<br />

Doch auch derartige Ansätze müssen mit Vorsicht genossen werden, da sie<br />

nicht un<strong>ein</strong>geschränkt richtige Vorhersagen treffen. So enthält dürfteEMV<br />

k<strong>ein</strong>erlei Rückstände von <strong>ein</strong>er Erteilung <strong>ein</strong>er Erlaubnis, und mögenEMV<br />

verweist weder auf Zuneigung noch auf <strong>ein</strong>en Willen. Lösungsvorschläge für<br />

Abweichungen dieser Art bieten die Kapitel 3 und 4 an.<br />

Ein wesentlicher semantischer Unterschied zwischen EMV und DMV<br />

besteht darin, daß sich erstere immer auf die Zeit der Äußerung beziehen. 41<br />

Ein EMV drückt also <strong>ein</strong>e Vermutung des Sprechers oder <strong>ein</strong>en Verweis auf<br />

<strong>ein</strong>e andere Quelle zu genau jenem Zeitpunkt aus, zu der er selbiges<br />

40 Siehe Wurmbrand (2001: 185 ff.).<br />

55


ausspricht. Ein EMV mit Futur- oder Perfektmarkierung würde nun aber<br />

bedeuten, daß <strong>ein</strong>e vergangene oder künftige Vermutung zum<br />

Äußerungszeitpunkt Geltung haben sollte. Und das ist mit Ausnahme der<br />

erlebten Rede nicht möglich, in der <strong>ein</strong> innerer Monolog, der oft EMV enthält,<br />

ins Präteritum gesetzt wird. Daraus leitet sich die Tempusrestriktion für EMV<br />

ab. Von diesem Phänomen ist wollenEMV übrigens wieder <strong>ein</strong>mal<br />

ausgenommen, da es – wie das semantisch nah verwandte behaupten –<br />

weitgehend unabhängig von der Äußerungszeit <strong>ein</strong>gesetzt werden kann.<br />

Im Gegensatz zu den EMV können DMV Modalitäten enkodieren, die vor<br />

dem Äußerungszeitpunkt bereits beendet sind oder erst danach wirksam<br />

werden.<br />

2.1.4 Unterschiede in der Distribution.<br />

Hinsichtlich ihrer Distribution verhalten sich EMV und DMV in höchstem<br />

Maße verschieden. Betrachten wir zunächst die syntaktische und<br />

semantische Umgebung innerhalb des Satzes.<br />

Zum <strong>ein</strong>en haben die Eigenschaften des Infinitivkomplements Einfluß<br />

darauf, ob das MV als EMV oder DMV aufgefaßt wird: so tritt <strong>ein</strong> EMV<br />

meistens mit stativem Infinitiv auf, während <strong>ein</strong> DMV <strong>ein</strong>en perfektiven<br />

Infinitiv mit Handlungssemantik bevorzugt, wie Diewald (1999: 255f.) belegt.<br />

Daraus folgt aber k<strong>ein</strong>eswegs, daß <strong>ein</strong> DMV k<strong>ein</strong>e imperfekten Komplemente<br />

erlaubt. Daß diese Kombination nicht zu den abwegigen zu zählen ist, haben<br />

wir schon in 1.3.2 (Beispiele 59,51) gesehen. Abraham (2001, 2002, 2003a)<br />

und Leiß (2003a,b), die ebenfalls festhalten, daß sich MV in diesem Sinne<br />

aspektsensibel verhalten, vertreten nun die Ansicht, daß EMV terminative<br />

Komplemente prinzipiell verbieten. Ich bezweifle aber, daß diese Forderung<br />

in dieser Rigorosität zutrifft, schließlich lassen sich auch Konstruktionen<br />

finden, wie (13) und (14), die zweifellos <strong>ein</strong> EMV b<strong>ein</strong>halten.<br />

(13) Sie dürfte spätestens in drei Stunden <strong>ein</strong>schlafen.<br />

(14) Euch dürfte ziemlich schlecht werden.<br />

41 Siehe Marga Reis (2001:298).<br />

56


Das alles spricht für H<strong>ein</strong>es (1995) und Diewalds (1999) Ansicht, diese<br />

distributiven Präferenzen von EMV und DMV nicht als absolute<br />

Charakteristika anzusehen, sondern wirklich nur als Tendenzen.<br />

Ebensowenig vermag das Subjekt festzulegen, welche der beiden<br />

Modalitäten nun zum Ausdruck kommt. Zwar bevorzugt <strong>ein</strong> DMV <strong>ein</strong><br />

agentivisches und vor allem <strong>ein</strong> belebtes Subjekt, setzt <strong>ein</strong> solches aber<br />

k<strong>ein</strong>eswegs voraus, wie auch schon Diewald (1999: 255) und H<strong>ein</strong>e (1995)<br />

festgestellt haben.<br />

Auch im Skopusverhalten der Negation treten Unterschiede zwischen DMV<br />

und EMV zu Tage. Während jedes DMV s<strong>ein</strong>e eigenen Präferenzen<br />

hinsichtlich der Wahl des Negationsskopus hat, tendieren alle EMV stark<br />

zum engen Skopus der Negation. Öhlschläger (1989: 207) vertritt sogar die<br />

Ansicht, daß (subjektive) EMV weiten Negationsskopus generell verbieten.<br />

Daß dies nicht un<strong>ein</strong>geschränkt gilt, haben wir aber schon in Abschnitt 1.2.4<br />

gesehen. Diese Neigung der EMV zum engen Negationsskopus hat ihren<br />

ganz <strong>ein</strong>fachen Grund darin, daß <strong>ein</strong> Sprecher viel eher in <strong>ein</strong>e Situation<br />

kommt, in der er Vermutungen über <strong>ein</strong>e negierte Handlung anstellt, als in<br />

<strong>ein</strong>e Situation, in der er das Vermuten selbst negiert. In solchen Fällen würde<br />

er im Normalfall auf den Gebrauch <strong>ein</strong>es EMV verzichten. Der Vollständigkeit<br />

halber noch <strong>ein</strong> Beispiel, in dem durch weiten Skopus die Epistemizität<br />

negiert wird.<br />

(15) Sie [DÜRFTEN ihn nicht] festgenommen haben, sie haben ihn<br />

tatsächlich geschnappt.<br />

Nichtsdestotrotz lassen sich Beispiele finden, in denen <strong>ein</strong> negiertes EMV<br />

auftritt, ohne daß aber s<strong>ein</strong>e Epistemizität negiert ist. 42<br />

42 Öhlschläger (1989: 208) behauptet, es kann k<strong>ein</strong> subjektives EMV müssen mit<br />

morphologischer Negation geben, da k<strong>ein</strong> entsprechendes epistemisches Adverb mit<br />

morphologischer Negation existiert. nicht können hingegen hat in unmöglich und dürfte nicht in<br />

unwahrsch<strong>ein</strong>lich s<strong>ein</strong> Äquivalent. Ich halte diese Argumentation für nicht stichhaltig, deswegen<br />

57


(16) a. Der Koffer [muß/braucht nicht] verschwunden s<strong>ein</strong>. (Er kann<br />

noch hier s<strong>ein</strong>.)<br />

b. Der Koffer kann [nicht verschwunden s<strong>ein</strong>].<br />

c. Der Koffer [muß/*braucht] nicht verschwunden s<strong>ein</strong>.<br />

(17) a. Der Koffer [kann nicht] verschwunden s<strong>ein</strong>. (Er muß noch hier<br />

s<strong>ein</strong>.)<br />

b. Der Koffer muß [nicht verschwunden s<strong>ein</strong>].<br />

In (16) und (17) liegen ausschließlich EMV vor. Dennoch verhalten sie sich<br />

hinsichtlich ihres Negationsverhalten exakt wie DMV. Anstelle den engen<br />

Skopus der Negation zu wählen, nehmen sie jenen Negationsskopus, den ihr<br />

deontisches Äquivalent bevorzugt. müssen und können konstruieren als<br />

DMV vor allem mit weitem Negationsskopus, (nicht) brauchen ist sogar nur<br />

mit diesem möglich (16a/c). Auch zu <strong>ein</strong>ander stehen diese negierten<br />

epistemischen Varianten von können, müssen und (nicht) brauchen im<br />

selben Verhältnis wie ihre deontischen Geschwister. [nicht können] läßt sich<br />

ersetzen durch [[nicht] müssen] und [nicht müssen] und [nicht brauchen]<br />

durch [[nicht] können], siehe (16a/b) und 17(a/b). Im Unterschied zu (15)<br />

bleibt die Epistemizität unnegiert.<br />

Öhlschläger (1989:208) gesteht <strong>ein</strong>, daß dieses Phänomen auch für die<br />

subjektive Epistemizität gilt. Um das Verbot der weiten Negation für EMV<br />

weiterhin aufrecht zu erhalten, ist er gezwungen, davon auszugehen, daß in<br />

den oben illustrierten Fällen Negationspartikel und Verb zusammen <strong>ein</strong><br />

eigenständiges Lexem ergeben. Das ist auch plausibel, da in diesen Sätzen<br />

die Epistemizität Skopus über die Negation hat und nicht umgekehrt.<br />

Grundsätzlich bestehen zwei Möglichkeiten, diesen Konflikt zu lösen:<br />

entweder man dehnt Abrahams (2003b) These, EMV spiegeln Reste der<br />

DMV-Bedeutung wieder, dahingehend aus, daß sich auch das Verhalten der<br />

Negation der EMV von ihren DMV Äquivalenten herleitet. In diesem Lichte<br />

erschiene dann <strong>ein</strong>e These im Sinne Öhlschlägers, EMV verbieten weite<br />

Negation, nicht mehr haltbar. Oder man geht davon aus, daß EMV in ihren<br />

unmarkierten Vorkommen tatsächlich nur den engen Skopus dulden, wie es<br />

scheue ich mich nicht, nicht müssen und nicht brauchen hinzuziehen, während ich dürfte<br />

weglasse, da es mir in diesem Gebrauch völlig fremd ist.<br />

58


für die meisten EMV oder ihnen nahestehenden Verben, wie drohen, werden<br />

oder sch<strong>ein</strong>en ohnehin der Fall ist. Dann aber müssen die oben diskutierten<br />

MV von den EMV zu unterscheiden s<strong>ein</strong>. Ich halte mich an dieser Stelle mit<br />

etwaigen Bewertungen zurück und überlasse das künftigen Untersuchungen.<br />

Die Distributionspräferenzen von EMV und DMV beschränken sich aber<br />

nicht nur auf ihre unmittelbare syntaktische Umgebung. Auch der Satztypus<br />

spielt unter anderem <strong>ein</strong>e Rolle. Im Gegensatz zu DMV sind EMV in<br />

Fragesätzen so gut wie ausgeschlossen, wie auch schon H<strong>ein</strong>e (1995),<br />

Diewald (1999) und Reis (2001) gezeigt haben. 43<br />

(18) a. Wohin *muß/*dürfte/??mag/*wird er s<strong>ein</strong>en Schlüssel gelegt<br />

haben?<br />

b. Wohin ?will/?soll sie ihren Schlüssel gelegt haben?<br />

c. Wohin kann ich m<strong>ein</strong>en Schlüssel gelegt haben?<br />

Unter der Vorraussetzung, daß man (18) nicht als Echofrage interpretiert,<br />

denn solche erlauben durchweg die Einbettung von Epistemizität, sind hier<br />

die klassischen EMV sämtlich ausgeschlossen. Das davon abweichende<br />

Verhalten von (18b) läßt sich auf die spezielle Semantik von sollenEMV und<br />

wollenEMV zurückführen. Letzteres ist uns schon des öfteren ob s<strong>ein</strong>es<br />

untypischen EMV-Verhalten ins Auge gestochen. Wie ist aber (18c) zu<br />

beurteilen? Liegt hier <strong>ein</strong> epistemischer Gebrauch von können in <strong>ein</strong>em<br />

Fragesatz vor, der sich <strong>ein</strong>deutig auch nicht als Echofrage interpretieren<br />

läßt? N<strong>ein</strong>, denn offensichtlich darf können mit imperfektivem Komplement<br />

grundsätzlich in Fragesätzen ersch<strong>ein</strong>en, was für die EMV grundsätzlich fast<br />

nie erlaubt ist. Mehr Plausibilität hat da schon der Ansatz, diese Variante von<br />

können als DMV zu betrachten. Und tatsächlich handelt es sich hierbei um<br />

jene DMV-Variante, die dem im Kapitel 1 oft erwähnten Fähigkeits-können<br />

gegenübersteht, nämlich um das subjektindifferente können (siehe Abschnitt<br />

1.2.3). Wir dürfen uns nicht vom Infinitiv-Perfekt irreführen lassen, denn<br />

dieser kann auch von DMV <strong>ein</strong>gebettet werden:<br />

43<br />

Inwieweit sich EMV doch in Fragesätze <strong>ein</strong>betten lassen, hängt offensichtlich nicht nur vom<br />

jeweiligen Lexem ab, sondern vor allem davon, um welchen Typus von Frage es sich genau<br />

handelt. mir sch<strong>ein</strong>t es gefährlich zu s<strong>ein</strong>, alle Fragetypen in diesem Aspekt gleich zu<br />

behandeln.<br />

59


(19) D.h. dag kann das gar nicht so im ORF-Frühradio gehört haben.<br />

(Der Standard 21.01. 2004)<br />

Auch wenn sich dann zugegebenermaßen im Falle von können DMV und<br />

EMV kaum noch unterscheiden lassen, abgesehen davon, daß nur letztere<br />

im Fragesatz akzeptabel sind. Interessanterweise tritt auch ver<strong>ein</strong>zelt bei<br />

mögen <strong>ein</strong> ähnliches Verhalten zu Tage:<br />

(20) Wer mag/kann das gewesen s<strong>ein</strong>?<br />

(21) Wer mag/kann der Herr wohl von diesem Häuschen s<strong>ein</strong> ?<br />

Diese Ähnlichkeit sollte uns eigentlich wenig wundern, da mögen lange Zeit<br />

zum Ausdruck <strong>ein</strong>er abstrakten Möglichkeit herangezogen wurde, also die<br />

gleiche Funktion inne hatte, wie das gwd DMV können. Die Verwendungen in<br />

(20) und (21) sind in diesem Sinne Reminiszenzen s<strong>ein</strong>er früheren Semantik.<br />

Es ist offensichtlich genau dieser Gebrauch von können, der vielfach und<br />

irreführenderweise als objektiv epistemischer Gebrauch bezeichnet wurde –<br />

wie von Öhlschläger (1989). Diese Behauptung ist mit dem Problem<br />

konfronitiert, zu erklären, worin der Unterschied zwischen objektiv<br />

epistemischen können und DMV können besteht. Ich habe k<strong>ein</strong>en gefunden,<br />

weshalb ich zumindest für können k<strong>ein</strong>e objektiv epistemische Lesart<br />

annehme.<br />

Trotzdem kann die Behauptung, daß EMV sich prinzipiell nie mit<br />

Fragesätzen vertragen, nicht aufrechterhalten werden. Je nach Typ der<br />

Frage und Eigenheiten des Lexems sind gewisse Kombinationen zulässig.<br />

Reis (2001:296f) postuliert für die EMV <strong>ein</strong>e assertive Restriktion mit<br />

unscharfen Rändern, die je nach EMV differieren. Daß Epistemizität aber<br />

dennoch mit Fragesätzen schwerlich in Einklang zu bringen ist, zeigt der<br />

Umstand, daß sich auch epistemische Satzadverbien nicht in solche Sätze<br />

<strong>ein</strong>betten lassen.<br />

(22) *Wohin habe ich vielleicht/wahrsch<strong>ein</strong>lich/sicher m<strong>ein</strong>en<br />

Schlüssel gelegt?<br />

60


Als weitere distributive Restriktion führen Diewald (1999: 82-84) und<br />

Öhlschläger (1989: 209) an, daß subjektive EMV (=EMV in unserem Sinne)<br />

nicht <strong>ein</strong>gebettet werden können. Reis (2001: 297), die nicht zwischen<br />

objektiven und subjektiven EMV unterscheidet, macht die Beschränkung vom<br />

Typ des Komplementsatzes abhängig: Während unter Glaubens-, Sagensund<br />

inferentiellen Prädikaten <strong>ein</strong>gebettete Gliedsätze sich mit EMV<br />

kompatibel erweisen, sind diese in den anderen Arten von Nebensätzen<br />

weitgehend ausgeschlossen.<br />

Auch wenn sich in diesem Abschnitt kaum <strong>ein</strong>e Distribution als derartig<br />

erwiesen hat, daß sie nur <strong>ein</strong>e der beiden Modalitäten zuläßt, so haben wir<br />

zahlreiche distributiven Kriterien kennen gelernt, die von DMV<br />

beziehungsweise EMV bevorzugt werden. Absolute Diagnostika sch<strong>ein</strong>t es<br />

auch hier nicht wirklich zu geben, bestenfalls von verschieden starken<br />

distributiven Präferenzen kann die Rede s<strong>ein</strong>.<br />

2.1.5 Arten von Epistemizität.<br />

In den letzten Abschnitten war des öfteren von <strong>ein</strong>er Unterteilung in<br />

objektive und subjektive EMV die Rede. An dieser Stelle suchen wir nach<br />

etwaigen Gründen für diese Trennung und prüfen deren Stichhaltigkeit.<br />

Während sich zahlreiche Autoren, wie Diewald (1999) oder Öhlschläger<br />

(1989) zwar dieser Unterteilung der deutschen MV in DMV, objektive EMV<br />

und subjektive EMV angenommen haben, besteht weiterhin Unklarheit über<br />

deren genauen Status. Öhlschläger und Durbin/Sprouse (2001) auf der <strong>ein</strong>en<br />

Seite rücken sie eher in die Nähe der subjektiven EMV, Diewald (1999) auf<br />

der anderen Seite zählt sie zu den nicht-deiktischen MV, die eher den hier<br />

als DMV identifizierten MV entsprechen. 44<br />

Worin besteht nun die Idee der Unterteilung? Öhlschläger (1989) und<br />

Diewald (1999) haben bemerkt, daß sich <strong>ein</strong>e Reihe von MV in typischen<br />

EMV-Distributionen in manchen Punkten unterschiedlich verhalten als die<br />

meisten anderen modalen Lexemen in derartigen Kontexten. Die beiden<br />

Autoren gehen folglich davon aus, daß hier zwei verschiedene Arten von<br />

44 Diese Zuordnung ist aber alles andere als genau, da Diewald ihre Unterscheidung anhand<br />

des Kriteriums der Deiktizität vornimmt. Unter den deiktischen MV versteht sie lediglich jene<br />

Lexeme, mittels derer sich der Sprecher vom Wahrheitsgehalt der Infinitivhandlung distanziert.<br />

Wir hingegen unterscheiden die EMV von den DMV anhand ihrer verblaßten Semantik.<br />

61


EMV vorliegen müssen. Die objektiven EMV kodieren <strong>ein</strong>en logischen<br />

Schluß aus Evidenz und beruhen somit auf Tatsachen – der Zusammenhang<br />

zwischen Sachlage und Möglichkeit der Proposition ist für jeden zugänglich.<br />

Die subjektiven EMV hingegen b<strong>ein</strong>halten <strong>ein</strong>e Faktizitätsbewertung der<br />

Proposition durch den Sprecher. Diewald nimmt an, daß die objektiven EMV<br />

zum propositionalen Gehalt der Äußerung gehören, während subjektive EMV<br />

die gesamte Proposition inklusive alle ihre Modalisierungen erfaßt.<br />

Subjektive EMV kodieren die Distanz des Sprechers zum Gehalt der<br />

Proposition. Öhlschläger (1989: 207ff.) folgert daraus, daß sich bestimmte<br />

Kontexte nicht mit der Kodierung <strong>ein</strong>er Bewertung durch den Sprecher<br />

vertragen. In solchen Kontexten sind also bestenfalls DMV oder objektive<br />

EMV anzutreffen. Im Anschluß folgt <strong>ein</strong>e kritische Auss<strong>ein</strong>andersetzung mit<br />

diesen Vorschlägen Öhlschlägers.<br />

Erstens behauptet Öhlschläger, daß nur objektive EMV den Hauptakzent<br />

tragen können. Diese Behauptung kann so nicht aufrechterhalten werden.<br />

Einerseits lassen sich Situationen finden, in denen der Akzent dazu<br />

verwendet kann, um des Sprechers Vermutung Nachdruck zu verleihen, was<br />

vor allem dann auftreten kann, wenn die Vermutung vom Gesprächspartner<br />

schon bezweifelt worden ist, siehe (23). Andererseits benötigen die von<br />

Öhlschläger als EMV klassifizierten Verben gerade den Hauptakzent dazu,<br />

um die ambige Negationspartikel auf sich zu beziehen, wenn sie mit<br />

“morphologischer” Negation konstruieren (24). Darüber hinaus sind noch<br />

Beispiele denkbar, in denen nur die epistemische Funktion negiert wird<br />

(siehe 1.2.4 Beispiele (38) und (39), sowie Fußnote 25) .<br />

(23) Er WIRD ihn gesehen haben. Ich kann mir gar nichts anderes<br />

vorstellen.<br />

(24) Er MUSS/KANN/BRAUCHT ihn nicht gesehen haben.<br />

(25) Du MUSST/??WIRST/??DÜRFTEST/?KANNST ihn gesehen<br />

haben.<br />

Daß in (25) müssen an dieser Stelle am besten verträglich ersch<strong>ein</strong>t, ist<br />

offenbar auf Idiosynkrasien zurückzuführen. Einerseits sind die<br />

verschiedenen Lexeme in verschiedenem Grade akzeptabel, <strong>ein</strong>zig mit<br />

müssen liegt <strong>ein</strong> reibungsloser Satz vor. Daß dieses müssen hier aber<br />

62


k<strong>ein</strong>eswegs nach obiger Definition objektiv epistemisch s<strong>ein</strong> kann, legt der<br />

Umstand nahe, daß es hier k<strong>ein</strong>eswegs <strong>ein</strong>en logischen Schluß aus Evidenz<br />

denotiert, der jedermann zugänglich ist. Vielmehr verhält es sich<br />

diesbezüglich genau wie das unbetonte müssen: es kodiert nämlich <strong>ein</strong>e<br />

Annahme des Sprechers. Der <strong>ein</strong>zige Unterschied der hier durch die<br />

Akzentverschiebung ausgelöst wird, besteht darin, daß durch die Betonung<br />

der Vermutung mehr Nachdruck verliehen wird.<br />

Zweitens postuliert Öhlschläger, daß die subjektiven EMV niemals negiert<br />

ersch<strong>ein</strong>en können. Dadurch daß er aber selbst <strong>ein</strong>räumt, daß <strong>ein</strong>e Quasi-<br />

Form des weiten Negationsskopus auch bei den subjektiven EMV möglich<br />

ist, beraubt er sich <strong>ein</strong>es der wenigen Argumente, die für <strong>ein</strong>e Unterteilung<br />

der epistemischen Lesart sprechen. Auf die Problematik, die aus der<br />

Annahme der Möglichkeit <strong>ein</strong>es weiten Negationsskopus für die EMV<br />

enspringt, habe ich schon in Abschnitt 2.1.4. aufmerksam gemacht. Da in<br />

diesen Fällen Epistemizität ganz klar Skopus über die Negation hat, tendiere<br />

ich zu <strong>ein</strong>em Ansatz, der diese als <strong>ein</strong>e Art morphologische Negation<br />

betrachtet. Im Unterschied zu Öhlschläger sehe ich dann k<strong>ein</strong>e<br />

Notwendigkeit mehr, noch <strong>ein</strong>e weitere Art von MV anzunehmen. Denn mit<br />

obenstehender Analyse lassen sich alle epistemischen Vorkommen von MV<br />

als subjektive EMV adäquat erfassen. Eine zweite Art von fast<br />

bedeutungsgleichen MV anzunehmen erwiese sich angesichts dessen als<br />

überflüssig.<br />

Öhlschläger führt noch drei weitere Kriterien an: subjektive EMV können<br />

niemals im Skopus von Einstellungsausdrücken stehen, nie in<br />

Konditionalsätzen auftreten und sind nie direkt kommentierbar. Für mich sind<br />

aber Öhlschlägers objektive und subjektive EMV in derartigen Kontexten<br />

gleich gut beziehungsweise schwer verträglich, bis auf die Ausnahme von<br />

<strong>ein</strong>er bestimmten Gebrauchsweise von können, auf die ich noch<br />

zurückkomme.<br />

Öhlschläger (1989: 207ff.) findet drei Lexeme, auf die s<strong>ein</strong>e fünf Kriterien<br />

anwendbar sind: können, dürfen, müssen. Diesen drei MV gesteht<br />

Öhlschläger <strong>ein</strong>e objektiv-epistemische Lesart zu. S<strong>ein</strong>e Beweisführung ist<br />

aber leicht trügerisch. Diesen drei Lexemen stellt er <strong>ein</strong>zig und all<strong>ein</strong> magEMV<br />

gegenüber, das nie als objektives EMV auftritt. Trifft <strong>ein</strong> Kriterium auf dieses<br />

63


EMV nicht zu, verallgem<strong>ein</strong>ert Öhlschläger dessen Gültigkeit gleich für alle<br />

EMV. Öhlschläger übersieht aber, daß die Semantik von magEMV zum Teil<br />

hochmarkiert, zum Teil archaisch ist, sodaß sich die Unverträglichkeiten mit<br />

s<strong>ein</strong>en Kriterien nicht selten daraus ergeben. 45<br />

Diewald (1999: 82f.) stimmt mit den obigen Kriterien zur Charakterisierung<br />

der objektiv-epistemischen Lesart im Großen und Ganzen über<strong>ein</strong>.<br />

Gesonderte Beachtung verdient der Umstand, daß sie ihre Diagnostika<br />

ausschließlich anhand von können expliziert. So ist es wenig verwunderlich,<br />

daß sie noch weitere Kriterien zur Unterscheidung von subjektiver und<br />

objektiver EMV hinzufügen kann: nämlich daß subjektive EMV weder<br />

<strong>ein</strong>bettbar noch erfragbar sind. Denn dieses können, das sie für ihre<br />

Beweisführung heranzieht, ist ganz klar <strong>ein</strong> DMV, wie wir in 2.1.4 schon<br />

gesehen haben (Beispiele 18a-c). Es wird schwer s<strong>ein</strong>, andere MV-Lexeme<br />

zu finden, die in dem Maße Diewalds Kriterien für objektive Epistemizität<br />

erfüllen. Der Grund warum dieser DMV-Gebrauch von können zu den EMV<br />

gerechnet wird, liegt offenbar darin, daß die deontische Bedeutung kaum von<br />

der epistemischen zu trennen ist. Somit unterscheidet sich der hier<br />

vertretene Ansatz mit jenem Diewalds eigentlich nur durch unterschiedliche<br />

Terminologie. Ihre objektiven EMV entsprechen dem hiesigen unmarkierten<br />

DMV-Gebrauch von können.<br />

Anders verhält sich die Sache bei Öhlschläger. Gehen wir davon aus, daß<br />

s<strong>ein</strong> objektiv epistemisches können unserem DMV-können gleichkommt,<br />

verbleiben noch zwei weitere Lexeme, denen er <strong>ein</strong>e objektiv-epistemische<br />

Lesart unterstellt: dürfte und müssen. Abgesehen davon, daß diese nie in<br />

echten Fragesätzen auftreten, unterscheiden sie sich auch in <strong>ein</strong>em weiteren<br />

Punkt von dem verm<strong>ein</strong>tlich objektiv-epistemischen können: sie sind beide<br />

(subjektive) EMV. Der <strong>ein</strong>zige Unterschied in Öhlschlägers (1989: 192ff.)<br />

Ausführungen zwischen den subjektiv-epistemischen und den objektivepistemischen<br />

Vorkommen von dürfte und müssen liegt letzten Endes darin,<br />

daß er sie verschieden paraphrasiert. Während er die beiden objektiven EMV<br />

müssen und dürfte als logische Folge (mit <strong>ein</strong>er gewissen<br />

Wahrsch<strong>ein</strong>lichkeit) aus <strong>ein</strong>er Evidenz umschreibt, deren Ergebnis der Inhalt<br />

der Infinitivhandlung ist, charakterisiert er deren subjektiv-epistemischen<br />

45 Zur Semantik von magEMV siehe Diewald (1999: 236ff.) und Fritz (1997: 95).<br />

64


Gebrauch als verschieden starke Vermutung des Sprechers, daß <strong>ein</strong><br />

Sachverhalt besteht. Ich halte <strong>ein</strong>e derartige Unterscheidung, wie oben<br />

schon angedeutet für nicht plausibel: Nicht nur, daß diese verschiedenen<br />

Paraphrasierungen in den unterschiedlichen Kontexten nach m<strong>ein</strong>em<br />

Beurteilungsvermögen immer im gleichen Maße verträglich oder<br />

unverträglich sind, gewissermaßen ist auch der Bedeutungsunterschied<br />

zwischen den beiden Paraphrasierungen verschwindend gering. Denn <strong>ein</strong><br />

Sprecher, der <strong>ein</strong>e Vermutung anstellt, tut dies genauso aufgrund irgend<strong>ein</strong>er<br />

Evidenz und aufgrund mehr oder weniger logischer Prinzipien – also analog<br />

zu Öhlschlägers objektiver Epistemizität.<br />

Auch die Annahme, objektive Epistemizität zeichnet sich dadurch aus, daß<br />

der logische Schluß und die Evidenz allgem<strong>ein</strong> zugänglich ist und allgem<strong>ein</strong><br />

geteilt wird, kann unserer Analyse nicht standhalten. Wie wir oben gesehen<br />

haben, korreliert die allgem<strong>ein</strong>e Zugänglichkeit des logischen Schlusses<br />

eben nicht mit den postulierten syntaktischen Besonderheiten der objektivepistemischen<br />

MV. Denn es lassen sich Sätze wie (25) finden, in denen das<br />

EMV zwar den Satzakzent trägt, aber deswegen k<strong>ein</strong>en allgem<strong>ein</strong><br />

zugänglichen Schluß enkodiert. Schließlich gesteht Öhlschläger (1989: 210)<br />

noch weitere Schwierigkeiten <strong>ein</strong>, die s<strong>ein</strong>e Unterscheidung in objektive und<br />

subjektive EMV beschert: <strong>ein</strong>erseits nimmt er diese Trennung aufgrund von<br />

Einstellungsausdrücken (Satzadverbien etc.) vor, die <strong>ein</strong>e den subjektiven<br />

EMV entsprechende Bedeutung haben, auf der anderen Seite können diese<br />

durchwegs genau in jenen fünf Kontexten stehen, in denen er die subjektiven<br />

EMV kategorisch ausschließt. Darum plädiere ich für Analysen, wie jene<br />

Reis´ (2001), die nahelegt, daß sich EMV k<strong>ein</strong>eswegs so homogen verhalten<br />

müssen, wie es aussieht.<br />

Wenn von verschiedenen Arten von Epistemizität die Rede ist, muß im<br />

Falle der MV noch <strong>ein</strong> weiteres Problem berücksichtigt werden. Es stellt sich<br />

nämlich die Frage, inwieweit die nicht-deontischen Varianten von wollen und<br />

sollen ob ihrer eigentümlichen Semantik überhaupt zu den EMV gezählt<br />

werden können. Während die anderen nicht-deontischen Lexeme <strong>ein</strong>e<br />

epistemische Lesart im klassischen Sinne besitzen, das heißt <strong>ein</strong>en<br />

verschieden starken Grad <strong>ein</strong>er Vermutung ausdrücken, verhalten sich die<br />

nicht-deontischen Verwendungen von wollen und sollen deutlich anders.<br />

65


Diese verweisen nämlich darauf, daß nicht der Sprecher der Urheber der<br />

Proposition ist, sondern jemand anders. Im Falle von wollen ist diese andere<br />

Person notwendigerweise mit Satzsubjekt ident, im Falle von sollen<br />

notwendigerweise von diesem verschieden. Diewald (1999: 136&225ff.)<br />

begründet diese markante Abweichung dieser beiden E(?)MV damit, daß ihre<br />

modale Quellen beide <strong>ein</strong> volitives Element enthalten: <strong>ein</strong>mal ist der Wille<br />

des Satzsubjekts involviert, das andere Mal <strong>ein</strong> fremder.<br />

Doch ist es vor allem wollen, das uns schweres Kopfzerbrechen bereitet: im<br />

Unterschied zu allen übrigen EMV ist es klar Kontrollverb, kann es<br />

problemlos erfragt werden (26, 27) und ohne weiteres weiten<br />

Negationsskopus tragen (28).<br />

(26) Was wollen die denn schon darüber wissen?<br />

(27) Will sie ihn schon gesehen haben?<br />

(28) Er [will nicht] dort gewesen s<strong>ein</strong>. Das hat er nie behauptet.<br />

Das alles spricht tatsächlich dafür, zumindest wollen nicht zu den EMV zu<br />

zählen. Gestärkt wird diese Annahme dadurch, daß in anderen Sprachen<br />

Verben mit <strong>ein</strong>er wollen entsprechenden Bedeutung gar nicht zu den MV<br />

gezählt werden, wie im Englischen. 46 Darüber hinaus tritt offensichtlich<br />

vergleichbare ”Polyfunktionalität” (?) auch in Wendungen mit ähnlicher<br />

Bedeutung auf:<br />

(29) Ihm ist wichtig, in <strong>Berlin</strong> studiert zu haben.<br />

(i) Denn für s<strong>ein</strong>e persönliche Entfaltung war dies unabdingbar.<br />

Implikation: er hat wirklich dort studiert.<br />

(ii) Er legt Wert darauf, daß wir von ihm denken, er habe in <strong>Berlin</strong><br />

studiert. Ob er es wirklich getan hat, bleibt offen.<br />

So gesehen könnte man m<strong>ein</strong>en, daß wollen + INFINITIV PERFEKT gar<br />

k<strong>ein</strong> epistemischer Gebrauch ist, sondern dem <strong>ein</strong>fachen Vollverbgebrauch<br />

zuzurechnen ist.<br />

46 Siehe Abraham (2001), Classen (1987).<br />

66


Dennoch sollten wir bedenken, was <strong>ein</strong> Aberkennen <strong>ein</strong>er epistemischen<br />

Lesart von wollen im weiteren Sinne für Implikationen hat. Ohne dieser<br />

zweiten Lesart kann es nicht mehr als polyfunktional erachtet werden, sprich<br />

wir könnten es nicht mehr zu den MV zählen. Je nachdem wie eng man die<br />

epistemische Lesart definiert, könnte dieser Funke auch auf sollen<br />

überspringen und auch dieses Lexem aus dem Kreise der MV verbannen.<br />

Wir bleiben aber lieber vorerst bei der in Kapitel 1 vorgeschlagenen Gruppe<br />

an Lexemen und halten uns an die These, die Abraham (2003b) und Diewald<br />

(1999) vorgeschlagen haben, daß nämlich EMV die Kernbedeutung s<strong>ein</strong>es<br />

äquivalenten DMV widerspiegelt. Wenn man diese These auf syntaktische<br />

Aspekte ausweitet, so können wir auch <strong>ein</strong>e Reihe von anderen Problemen<br />

erklären: das augensch<strong>ein</strong>liche Kontrollverhalten von wollenEMV oder das<br />

merkwürdige Negationsverhalten von könnenEMV und müssenEMV.<br />

Zusammenfassung.<br />

In diesem Abschnitt haben wir uns mit der Abgrenzung der DMV von den<br />

EMV beschäftigt und sind zu folgendem Ergebnis gekommen. Zwischen<br />

EMV und DMV bestehen gewisse Unterschiede, die sich aber in den meisten<br />

Fällen nicht durch absolute Verallgem<strong>ein</strong>erungen erfassen lassen, sondern<br />

vielmehr in verschieden starken Präferenzen zum Ausdruck kommen.<br />

Das läßt sich darauf zurückführen, daß zum Beispiel gewisse Formen der<br />

EMV nicht <strong>ein</strong>fach im morphologischen Paradigma fehlen, sondern aus<br />

pragmatischen und semantischen Gründen sehr selten oder so gut wie nie<br />

zum Einsatz kommen. Das trifft zum Beispiel auf den Infinitiv der EMV zu,<br />

wie Reis (2001) gezeigt hat. Ähnliches gilt für die Unterschiede in der<br />

Distribution; auch diese sind nicht zwangsläufig syntaktisch festgelegt,<br />

sondern oft darauf zurückzuführen, daß bestimmte Kombinationen aus<br />

semantischen Gründen sehr selten verwendet werden.<br />

Dennoch lassen sich die EMV klar von den DMV abgrenzen. Im<br />

Unterschied zu diesen bevorzugen EMV imperfektive Komplemente, und ihre<br />

Vorkommen beschränken sich vor allem auf assertive Kontexte. Eine weitere<br />

Einsicht von Abschnitt 2.2 besteht darin, daß sich EMV bei weitem nicht als<br />

homogene Klasse verhalten, sondern viele Lexeme ihre Eigenheiten haben.<br />

Das läßt sich aber darauf zurückführen, daß sie offenbar ihre zentralen<br />

67


Eigenschaften von der deontischen Vollform geerbt haben. Außerdem erwies<br />

sich <strong>ein</strong>e Unterteilung der epistemischen Interpretation in objektivepistemische<br />

und subjektiv-epistemische Lesart als unscharf und damit nicht<br />

notwendig.<br />

2.2 Andere Formen von Polyfunktionalität?<br />

Da wir nun wissen, worin das Wesen der EMV und somit auch der<br />

Polyfunktionalität besteht, können wir uns jenen Verben zuwenden, die so oft<br />

mit den (E)MV und Polyfunktionalität in Verbindung gebracht werden:<br />

sch<strong>ein</strong>en, versprechen, drohen, von manchen Autoren, wie Wurmbrand<br />

(2001: 205) sogar explizit als EMV bezeichnet werden. Im Anschluß ermitteln<br />

wir, inwieweit diese Verben die wesentlichen MV-Eigenschaften aufweisen.<br />

Darauf folgt <strong>ein</strong>e Aus<strong>ein</strong>andersetzung mit den epistemischen<br />

Verwendungsweisen dieser drei Verben.<br />

2.2.1 Zählen ”sch<strong>ein</strong>en”, ”versprechen”, ”drohen” zu den MV?<br />

Im Kapitel 1 haben sich vor allem zwei Kriterien als wesentlich für die MV<br />

herausgestellt: obligatorische Kohärenz (FR) und Polyfunktionalität, wovon<br />

wir letzteres als das eigentliche klassenkonstituierende Merkmal angesehen<br />

haben. Beginnen wir auch mit diesem:<br />

(30) Die Abgesandte droht zu spät zu kommen.<br />

(i) Die Abgesandte droht: ”Ich komme zu spät.”<br />

(ii) Es droht die Situation, daß die Abgesandte zu spät kommt.<br />

(31) Die Abgesandte verspricht pünktlich zu ersch<strong>ein</strong>en.<br />

(i) Die Abgesandte verspricht: ”Ich ersch<strong>ein</strong>e pünktlich.”<br />

(ii) Alle Evidenz verspricht, daß die Abgesandte pünktlich ersch<strong>ein</strong>t.<br />

(32) Die Abgesandte sch<strong>ein</strong>t morgen zu kommen.<br />

(i) *Die Abgesandte sch<strong>ein</strong>t: ”Ich komme morgen.”<br />

(ii) Es hat den Ansch<strong>ein</strong>, daß die Abgesandte morgen kommt.<br />

Während drohen und versprechen tatsächlich zwei verschiedene<br />

Gebrauchsformen mit Infinitiv aufweisen – von denen <strong>ein</strong>e Ähnlichkeiten mit<br />

68


der epistemischen Lesart hat –, gilt das für sch<strong>ein</strong>en <strong>ein</strong>deutig nicht. Somit<br />

kommen nur noch erstere als MV in Frage. Deswegen kann sch<strong>ein</strong>en nach<br />

unserer Definition aufgrund der fehlenden Polyfunktionalität nicht<br />

hinzugezogen werden. Der selben Auffassung ist Reis (2001: 312). Der<br />

Grund für diesen Unterschied ist darin zu suchen, daß sch<strong>ein</strong>en + INFINITIV<br />

im Gegensatz zu drohen und versprechen niemals als Vollverb mit eigener<br />

Thetazuweisung verwendet werden konnte. Zur Sicherheit und wegen s<strong>ein</strong>er<br />

dennoch großen Ähnlichkeit zu den (E)MV schließen wir aber sch<strong>ein</strong>en noch<br />

nicht aus unserem Vergleich aus.<br />

Eine weitere Eigenschaft, die sich für die MV als unentbehrlich erwies, stellt<br />

die obligatorische Kohärenz dar, die in ihrem Falle durch die Rektion des<br />

ersten Status ausgelöst wird. 47<br />

(33) a. daß die Abgesandte droht, zu spät zu kommen.<br />

(*epistemisch)<br />

b. daß die Abgesandte zu spät zu kommen droht.<br />

(34) a. daß die Abgesandte verspricht, pünktlich zu ersch<strong>ein</strong>en.<br />

(*epistemisch)<br />

b. daß die Abgesandte pünktlich zu ersch<strong>ein</strong>en verspricht.<br />

(35) a. *daß die Abgesandte sch<strong>ein</strong>t, morgen zu kommen.<br />

b. daß die Abgesandte morgen zu kommen sch<strong>ein</strong>t.<br />

Zwar verhalten sich die ”epistemischen” Varianten dieser Verben ebenso<br />

wie die richtigen EMV obligatorisch kohärent, was aber nicht dazu verleiten<br />

darf, jene vorschnell den MV zuzurechnen. Zumindest zwei Aspekte trennen<br />

diese Verben von den bisherigen MV:<br />

Erstens konstruieren die nicht-epistemischen Formen von drohen und<br />

versprechen im Gegensatz zu den DMV optional kohärent. Natürlich könnte<br />

man an dieser Stelle entgegnen, DMV seien grundsätzlich auch Vollverben<br />

und aufgrund dessen ihr obligatorisch kohärentes Verhalten all<strong>ein</strong> auf r<strong>ein</strong><br />

47<br />

Wenn Kontexte, in denen epistemische Verben <strong>ein</strong>gebettet auftreten, auch eher die<br />

Ausnahmeersch<strong>ein</strong>ung darstellen, erlaube ich mir hier zu Zwecken der Veranschaulichung,<br />

Konstituentensätze für die Beweisführung heranzuziehen, anhand derer der Unterschied<br />

zwischen obligatorischer Kohärenz und Inkohärenz deutlicher ersichtlich ist. Auch wenn ich<br />

Wurmbrands (2001) Ansatz gegenüber jenem Bechs (1955/57) den Vorzug gegeben habe, was<br />

die Charakterisierung von Infinitivkonstruktionen betrifft, greife ich in diesem Punkt weiter auf<br />

Bechs Terminologie zurück. Denn im Falle der hier relevanten obligatorischen Kohärenz<br />

besteht kaum <strong>ein</strong> Unterschied zu Wurmbrands Konzept des functional-restructuring.<br />

69


morphologische Faktoren, nämlich die Rektion des 1. Status zurückzuführen.<br />

Folglich könnten sie ihrem syntaktischen und semantischen Verhalten nach,<br />

die gleichen Stelle auf dem Grammatikalisierungspfad <strong>ein</strong>nehmen, wie die<br />

Vollverbformen von drohen und versprechen. Dagegen spricht aber nicht nur<br />

die DMV-Verwendung von (nicht) brauchen, die trotz des 2. Status´ k<strong>ein</strong>e<br />

inkohärenten Infinitivkomplemente zuläßt (siehe 1.4 Beispiel (64a/b)).<br />

Wurmbrand (2001: 205ff.&265ff.) verschafft in dieser Angelegenheit<br />

endgültige Klarheit, indem sie zeigt, daß sich die nicht-epistemischen<br />

Formen von drohen und versprechen in zahlreichen syntaktischen Aspekten<br />

erheblich von den DMV unterscheiden. Während sie erstere den nichtrestrukturierenden<br />

Prädikaten zurechnet, klassifiziert sie DMV wie EMV als<br />

die radikalsten Restrukturierungsprädikate, die in Verbindung mit dem<br />

Infinitiv auftreten. Daran schließt <strong>ein</strong>e weitere interessante Beobachtung an.<br />

Auch wenn der Bedeutungsunterschied zwischen EMV und DMV <strong>ein</strong> ziemlich<br />

klarer ist, beschränken sich die syntaktischen Unterschiede auf <strong>ein</strong> Minimum.<br />

EMV, die als Anhebungsverben auftreten, haben in der Regel auch <strong>ein</strong><br />

entsprechendes DMV mit Anhebungsverben. wollenEMV demgegenüber bleibt<br />

wie s<strong>ein</strong> nicht-epistemisches Äquivalent Kontrollverb. Darüber hinaus<br />

konstruieren alle MV ungeachtet ihrer Modalität obligatorisch kohärent. Im<br />

Gegensatz dazu lassen sich die epistemischen(?) Varianten von drohen und<br />

versprechen syntaktisch ziemlich deutlich von ihren Vollverbformen<br />

abgrenzen. Während sich erstere obligatorisch kohärent verhalten und<br />

zweifellos zu den Anhebungsverben zählen, sind letztere <strong>ein</strong>deutig<br />

Kontrollverben, die k<strong>ein</strong>e Form von Restrukturierung dulden.<br />

In <strong>ein</strong>em weiteren Aspekt heben sich drohen und versprechen Verben auch<br />

noch von den MV ab: sie regieren im Gegensatz zu den MV den 2. Status.<br />

M<strong>ein</strong>es Erachtens kommt diesem Unterschied k<strong>ein</strong>e tragende Bedeutung zu.<br />

Immerhin existiert mit (nicht) brauchen <strong>ein</strong> MV-Lexem, das mit Rektion des 2.<br />

Status sowohl die deontische als auch die epistemische Interpretation zuläßt.<br />

Im Gegensatz zu Reis (2001: 312), die die Ansicht vertritt, daß<br />

Polyfunktionalität durch obligatorische Kohärenz qua Rektion des 1. Status´<br />

ausgelöst würde, bin ich der M<strong>ein</strong>ung, daß der Infinitivmarker zu mit<br />

epistemischen Kontexten prinzipiell verträglich ist. So gesehen ist das<br />

70


entscheidende Kriterium in der obligatorischen Kohärenz ungeachtet<br />

jedweder Statusrektion zu suchen. Diewald (2001: 108) bringt Indizien dafür,<br />

daß sich zumindest sch<strong>ein</strong>en, wie schon brauchen hinsichtlich s<strong>ein</strong>er<br />

Statusrektion den MV anpaßt, in s<strong>ein</strong>er diachronen Entwicklung aber erst<br />

später.<br />

Eine frappante Ähnlichkeit zwischen MV und drohen und versprechen ist<br />

dennoch zu verzeichnen: Auch in den verblaßten Bedeutungen der<br />

epistemischen Varianten dieser Verben spiegeln sich zentrale Aspekte der<br />

Semantik des Vollverbs wieder. Das entspricht ganz dem typischen MV-<br />

Verhalten, wie es Abraham (2003b) oder Diewald (1999) festgestellt haben.<br />

Im Gegensatz zu den MV kann im Falle der epistemischen Varianten von<br />

drohen und versprechen von syntaktischen Reflexen der nicht-epistemischen<br />

Form k<strong>ein</strong>e Rede s<strong>ein</strong>.<br />

2.2.2 Lassen sich ”sch<strong>ein</strong>en”, ”versprechen”, ”drohen” epistemisch<br />

interpretieren?<br />

Abschnitt 2.2.1 ließ uns im Zweifel darüber, inwieweit drohen und<br />

versprechen den MV zuzurechnen wären, inwieweit sich die in ihnen<br />

offensichtlich zu Tage tretende Polyfunktionalität mit jener der MV deckt. Das<br />

bedarf zunächst <strong>ein</strong>er Klärung der Frage, ob diese Verben überhaupt <strong>ein</strong>e<br />

mit den EMV vergleichbare Interpretation zulassen. Der Vollständigkeit<br />

halber lassen wir in unserer Untersuchung das bereits disqualifizierte<br />

sch<strong>ein</strong>en nicht außer Acht, womöglich ist dieses tatsächlich <strong>ein</strong> r<strong>ein</strong>es EMV,<br />

wie es Wurmbrand (2001: 205ff.) nahelegt.<br />

Während Reis (2001: 311ff.) sch<strong>ein</strong>en volle epistemische Interpretation<br />

zugesteht, stellt sie diese im Falle von drohen und versprechen aus zweierlei<br />

Gründen in Abrede: erstens erfordert die Herausbildung <strong>ein</strong>er epistemischen<br />

Lesart aus <strong>ein</strong>em Vollverb, daß dieses stark kohärent konstruiert, das heißt,<br />

obligatorisch kohärent bei Rektion des 1. Status. Folglich kann zweitens die<br />

zweite Lesart dieser beiden Verben k<strong>ein</strong>e epistemische s<strong>ein</strong>, da in ihr – so<br />

Reis – der Sprecher die Faktizität nicht epistemisch, sondern durch s<strong>ein</strong>e<br />

negative oder positive Einstellung relativiert.<br />

Ich bin aber der Auffassung, daß diese Verschiedenheit in der Art der<br />

Relativierung k<strong>ein</strong>en hinreichenden Grund ausmacht, drohen und<br />

71


versprechen <strong>ein</strong>e epistemische Interpretation abzuerkennen. Vielmehr läßt<br />

sich die Wesensverwandtschaft dieser drei Verben <strong>ein</strong>fach nicht leugnen:<br />

(36) Die Brücke sch<strong>ein</strong>t/droht/verspricht <strong>ein</strong>zustürzen.<br />

Während sch<strong>ein</strong>en <strong>ein</strong>e Annahme (des Sprechers) mitausdrückt,<br />

inkludieren drohen und versprechen, <strong>ein</strong>e Befürchtung (des Sprechers) oder<br />

<strong>ein</strong>e Gewißheit (des Sprechers). Mir ist k<strong>ein</strong> Grund bekannt, der dagegen<br />

spricht, diese drei Verben in (36) analog zu behandeln. Ganz im Gegenteil,<br />

unsere Annahme, daß sich in den epistemischen Varianten immer noch <strong>ein</strong><br />

Rest der Ursprungsbedeutung widerspiegelt, trifft sogar diese Vorhersage,<br />

daß sich drohen und vesprechen als epistemische Verben so verhalten<br />

müssen.<br />

Vergleichen wir aber nun diese drei Verben mit den MV. Wie wir schon in<br />

Erfahrung gebracht haben, ergeben sich epistemische Interpretationen<br />

typischerweise beim Infinitiv Perfekt oder imperfektiven Komplementen:<br />

(37) a. Die Brücke kann/muß/dürfte/soll/will/mag/wird <strong>ein</strong>gestürzt s<strong>ein</strong>.<br />

b. Die Brücke sch<strong>ein</strong>t/*droht/*verspricht <strong>ein</strong>gestürzt zu s<strong>ein</strong>.<br />

(38) a. Er kann/muß/dürfte/soll/will/mag/wird in <strong>Berlin</strong> wohnen.<br />

b. Er sch<strong>ein</strong>t/*droht/*verspricht in <strong>Berlin</strong> zu wohnen<br />

Im Gegensatz zu sch<strong>ein</strong>en und den klassischen EMV sperren sich drohen<br />

und versprechen in ihrer ”quasi-epistemischen” Lesart gegen derartige<br />

Kontexte. Worin liegt der Grund dafür? Ist die Aktionsart des Komplements<br />

oder dessen Tempusspezifikation dafür verantwortlich? Oder verfügen diese<br />

Lexeme tatsächlich über k<strong>ein</strong>erlei epistemische Interpretation? Folgende<br />

Sätze geben mehr Aufschluß darüber.<br />

(39) a. Die Brücke droht/verspricht noch lange zu stehen.<br />

b. Die Brücke sch<strong>ein</strong>t noch lange zu stehen.<br />

c. Die Brücke dürfte noch lange stehen.<br />

(40) a. *Die Brücke droht/verspricht seit langem zu stehen.<br />

b. Die Brücke sch<strong>ein</strong>t seit langem zu stehen.<br />

c. Die Brücke dürfte seit langem stehen.<br />

72


(41) a. *Die Brücke droht/verspricht [gerade <strong>ein</strong>zustürzen].<br />

b. Die Brücke sch<strong>ein</strong>t [gerade <strong>ein</strong>zustürzen].<br />

c. Die Brücke dürfte [gerade <strong>ein</strong>stürzen].<br />

Tatsächlich lassen sich Beispiele finden in denen die ”quasi-epistemischen”<br />

Vorkommen von drohen und versprechen stative Infinitive regieren. Also<br />

kann die mangelnde Akzeptabilität in (37b, 38b) nicht auf die Selektion <strong>ein</strong>es<br />

Komplementes mit falscher Aktionsart zurückgeführt werden. Vielmehr zeigt<br />

sich Tempusspezifikation des Infinitivkomplementes verantwortlich für die<br />

Ungrammatikalität der Sätze in (37b, 38b). drohen und versprechen ergeben<br />

in ihrer ”quasi-epistemischen” Interpretation nur dann akzeptable Ergebnisse,<br />

wenn ihr Infinitivkomplement als Konstituente für <strong>ein</strong>e Futurlesart spezifiziert<br />

ist, wie in (39a), und nicht für Präsens wie (40a, 41a). sch<strong>ein</strong>en und dürfte,<br />

das hier repräsentativ für die restlichen EMV steht, hingegen weisen beide<br />

k<strong>ein</strong>erlei Sensitivität des Infinitivtempus auf.<br />

Doch dieser Sachverhalt bedeutet noch k<strong>ein</strong>eswegs, daß diese Verben<br />

überhaupt k<strong>ein</strong>e epistemische Interpretation haben müssen. Denn nach wie<br />

vor bestehen Kontexte, in denen sie den EMV in ihren Wesensmerkmalen<br />

gleichen:<br />

(42) a. Die Brücke droht/verspricht <strong>ein</strong>zustürzen.<br />

b. Die Brücke dürfte <strong>ein</strong>stürzen.<br />

Eine genauere Auss<strong>ein</strong>andersetzung mit derartigen Kontexten erfolgt in<br />

Abschnitt 2.3.<br />

Zusammenfassung.<br />

Zu Beginn von Abschnitt 2.2 stellten wir uns die Frage, inwieweit drohen,<br />

versprechen und sch<strong>ein</strong>en zu den MV zählen. Gehen wir von der<br />

Polyfunktionalität als <strong>ein</strong>endes Kriterium der MV aus, sch<strong>ein</strong>t das für alle drei<br />

Lexeme mit Vorbehalten nicht der Fall zu s<strong>ein</strong>. Einerseits sperrt sich<br />

sch<strong>ein</strong>en gegen <strong>ein</strong>e Aufnahme zu den MV, da ihm trotz s<strong>ein</strong>er<br />

offenkundigen Epistemizität jegliche Polyfunktionalität fehlt. Abgesehen<br />

davon verfügt es im Gegensatz zu den MV über <strong>ein</strong> optionales<br />

Dativargument, wie Pafael (1989) gezeigt hat. Andererseits entsprechen<br />

73


die epistemischen Verwendungen von drohen und versprechen nicht jenen<br />

der bisher behandelten EMV: während diese nicht sensitiv hinsichtlich der<br />

temporalen Spezifikation ihres Infinitivkomplements sind, lassen jene nur<br />

Infinitive mit Zukunftslesart zu. Nimmt man nun auch für drohen und<br />

versprechen Polyfunktionalität an, so läßt sich bei aller<br />

Wesensverwandtschaft ihrer epistemischen Verwendungen mit jenen der MV<br />

nicht leugnen, daß sich auch große Unterschiede auftun, so zum Beispiel<br />

was die Eigenschaften ihrer nicht-epistemischen Formen anbelangt. Die in<br />

diesem Abschnitt gewonnene Erkenntnis, über die verschiedene temporale<br />

Spezifikation von EMV-Komplementen, werden wir nun etwas <strong>ein</strong>gehender<br />

betrachten.<br />

2.3 Epistemizität und Tempus.<br />

Die Einsicht, die uns Abschnitt 2.2 bescherte, legt nahe die epistemische<br />

Modalität hinsichtlich ihrer temporalen Spezifikation zu unterscheiden. Denn<br />

die bei drohen und versprechen beobachtbaren Effekte, gelten auch für die<br />

EMV und sch<strong>ein</strong>en und somit offenkundig für epistemische Verben generell.<br />

(43) a. Sie droht/verspricht gleich <strong>ein</strong>zuschlafen.<br />

b. Sie sch<strong>ein</strong>t gleich <strong>ein</strong>zuschlafen.<br />

c. Sie kann/muß/dürfte/soll/will/wird gleich <strong>ein</strong>schlafen.<br />

(44) a. *Sie droht/verspricht jetzt zu schlafen.<br />

b. Sie sch<strong>ein</strong>t jetzt zu schlafen<br />

c. Sie kann/muß/dürfte/soll/will/wird jetzt schlafen<br />

Während die Sätze in (43) <strong>ein</strong>e Vermutung/Befürchtung/Gewißheit (...) über<br />

<strong>ein</strong>e noch <strong>ein</strong>zutretende Aktion zum Ausdruck bringen, denotieren die Sätze<br />

in (44) <strong>ein</strong>e Vermutung (...) über <strong>ein</strong>en gegenwärtigen Zustand. Ich schlage<br />

zur besseren Unterscheidung vor, jene epistemische Modalität, die sich auf<br />

die Gegenwart bezieht, als präsentische epistemische Modalität (PräE) zu<br />

bezeichnen, und jene Modalität, die in die Zukunft weist, als futurische<br />

epistemische Modalität (FutE) zu bezeichnen. Elemente, die <strong>ein</strong>e<br />

Interpretation der jeweiligen Epistemizität zulassen, nenne ich in der Folge<br />

FutEMV und PräEMV.<br />

74


Daß es sich hierbei wirklich um zwei verschiedene Arten von Epistemizität<br />

handeln muß, legt <strong>ein</strong>e Reihe von interessanten Beobachtungen nahe.<br />

Wir haben oben aufgrund von nicht zu leugnenden Verwandtschaften in<br />

ihrem Wesen mit den EMV drohen und versprechen Epistemizität unterstellt.<br />

Dennoch vertragen sie sich nicht mit <strong>ein</strong>er Reihe von geradezu typischen<br />

EMV-Kontexten. Im Gegensatz zu den MV aber auch sch<strong>ein</strong>en erlauben<br />

drohen und versprechen, wie schon mehrfach gezeigt, k<strong>ein</strong>e PräE<br />

Interpretation. Woran mag das liegen? Werfen wir <strong>ein</strong>en Blick zurück auf die<br />

Aus<strong>ein</strong>andersetzungen in Abschnitt 1.3.2. Darin erwiesen sich die DMV mit<br />

prinzipiell allen Arten von temporal spezifizierten Infinitivkomplementen<br />

kompatibel: sowohl mit jenen, die Gleichzeitigkeit mit der Matrixhandlung<br />

ausdrücken, als auch mit jenen, die Nachzeitigkeit zur Matrixhandlung<br />

denotieren. Die Vollverbformen von versprechen und drohen lassen sich<br />

hingegen aus semantischen Gründen nur kaum mit präsentischen<br />

Infinitivkomplementen kombinieren, denn Drohungen und Versprechungen<br />

weisen per se in die Zukunft. So wundert es wenig, daß auch die<br />

epistemischen Varianten von drohen und versprechen ausschließlich<br />

Komplemente mit Zukunftsbezug selegieren können. Unsere Annahmen<br />

erweisen sich als weitere Evidenz für die schon mehrfach zitierte<br />

Reflextheorie von Abraham (2003a,b) und Diewald (1999), die sich darin<br />

ausdrückt, daß sich gewisse Eigenschaften der nicht-epistemischen Form in<br />

der epistemischen Form widerspiegeln. Dem oben erwähnten Problem,<br />

warum drohen und versprechen k<strong>ein</strong>e PräE-Interpretation dulden, könnten<br />

wir mit der Annahme entgegnen, daß zwar EMV und sch<strong>ein</strong>en indifferent<br />

bezüglich Tempus des Infinitivkomplements sind, drohen und versprechen in<br />

ihrer epistemischen Interpretation aber nur für FutE-Komplemente<br />

subkategorisiert sind.<br />

All diese Annahmen werden aber noch durch weitere Evidenz gestützt.<br />

Abraham (2001, 2002) hat gezeigt, daß perfektive Komplemente mit EMV in<br />

dergleichen Kontexten nur dann möglich sind, wenn ihnen <strong>ein</strong>e progressive<br />

Bedeutung zukommt. Das gilt aber nicht un<strong>ein</strong>geschränkt, sondern nur für<br />

die PräEMV. FutEMV lassen sich nämlich mit Infinitivkomplementen jeglicher<br />

Aktionsart kombinieren, wie ich schon in Abschnitt 2.2.2 gezeigt habe. Das<br />

heißt aber auch, daß EMV prinzipiell perfektive Komplemente zulassen,<br />

75


wenn sie futurisch Interpretiert werden. Diese FutE-Interpretation ist im Falle<br />

der MV nicht immer leicht zu finden, da die Kontexte, in denen sie auftritt,<br />

eigentlich focal zu der weitaus üblicheren DMV-Interpretation <strong>ein</strong>laden.<br />

Sehen wir uns noch <strong>ein</strong>mal die Sätze aus (43), hier wiederholt als (45) an:<br />

(45) a. Sie kann/muß/soll/will/wird gleich <strong>ein</strong>schlafen.<br />

b. Sie droht/verspricht gleich <strong>ein</strong>zuschlafen.<br />

c. Sie sch<strong>ein</strong>t gleich <strong>ein</strong>zuschlafen.<br />

d. Sie dürfte gleich <strong>ein</strong>schlafen.<br />

(45a) ist zunächst ambig. Die deontische Interpretation ist leichter verfügbar<br />

und liegt somit auf der Hand. (45b) zeigt aber, daß dieses Komplement<br />

zumindest in Kombination mit anderen Verben auch <strong>ein</strong>e futurischepistemisch<br />

Interpretation erfahren kann. (45c) macht deutlich, daß sich<br />

dieser Effekt k<strong>ein</strong>eswegs auf die verm<strong>ein</strong>tlich nicht-epistemischen Verben<br />

drohen und versprechen beschränkt, sondern auch das von Reis (2001: 311)<br />

als epistemisch klassifizierte Verb sch<strong>ein</strong>en erfaßt. In (45d) sehen wir, daß<br />

selbst das fast ausschließlich epistemisch gebrauchte MV dürfte davon<br />

betroffen ist. Und tatsächlich können die MV in (45a) auch auf diese Weise<br />

interpretiert werden. Reis´ (2001: 312) Behauptung, drohen und versprechen<br />

erlauben k<strong>ein</strong>e epistemische Interpretation, läßt sich nur mit Mühe<br />

aufrechterhalten. Einerseits ist ihre Bedeutung fast synonym zu jener der<br />

EMV, anderseits lassen sich die semantischen Unterschiede aber auch<br />

durch die für die MV entworfene Reflextheorie erklären.<br />

Die lang gehegte Ansicht, EMV wären nur hinsichtlich des Aspekts sensibel<br />

(siehe unter anderem Abraham (2001, 2002) oder Leiss (2003)), ist<br />

angesichts dessen überholt. Somit stimmt aber auch die von Leiss und<br />

Abraham vertretene Generalisierung nicht mehr, EMV vertrügen k<strong>ein</strong>e<br />

perfektive Komplemente. Sie muß vielmehr auf die PräEMV beschränkt<br />

werden. Aber Vorsicht, aus der Generalisierung, daß perfektive<br />

Komplemente in Kombination mit EMV nur als FutEMV interpretiert werden<br />

können, folgt k<strong>ein</strong>eswegs, daß stative Komplemente in Kombination mit EMV<br />

<strong>ein</strong>e PräE-Interpretation erzwingen. Denn wie schon Beispiel (39) in<br />

Abschnitt 2.2.2 gezeigt hat, kann <strong>ein</strong> FutEMV durchaus <strong>ein</strong>en stativen Infinitiv<br />

selegieren. Das darf aber wiederum nicht zu dem Fehlschluß verleiten,<br />

76


FutEMV harmonierten mit wirklich aller Art von infinitivischen Komplementen.<br />

Gewisse Selektionsrestriktionen dürften auch für diese gelten, wie folgendes<br />

Beispiel nahelegt:<br />

(46) a. *Die Brücke droht <strong>ein</strong>gestürzt zu s<strong>ein</strong>.<br />

b. ??Die Brücke droht morgen <strong>ein</strong>gestürzt zu s<strong>ein</strong>.<br />

Der Zukunftsbezug in (46b) macht zwar den Satz grammatikalischer, läßt<br />

ihn aber trotzdem sehr markiert.<br />

Die Annahme von zweierlei epistemischen Modalitäten hat aber auch <strong>ein</strong>e<br />

Implikation für die MV. Denn diese müßten dann aufgrund der oben<br />

getroffenen Annahmen allesamt beide Interpretationen aufweisen, was aber<br />

zumindest in zwei Fällen auf Probleme stößt.<br />

wollenEMV sch<strong>ein</strong>t auf den ersten Blick r<strong>ein</strong> PräEMV zu s<strong>ein</strong>, <strong>ein</strong>e FutEMV-<br />

Interpretation weicht in (45a) zugunsten der DMV Interpretation zurück. Das<br />

mag aber <strong>ein</strong>erseits daran liegen, daß sich die Bedeutungen von DMV und<br />

FutEMV nur marginal unterscheiden, und andererseits daran, daß wollen als<br />

EMV so selten ist, daß davon nur <strong>ein</strong> verschwindend geringer Anteil die<br />

unüblichere FutE-Interpretation ausmacht. Dennoch beharre ich auf dem<br />

Standpunkt, daß wollen theoretisch auch <strong>ein</strong>e FutE-Interpretation erlaubt.<br />

Ähnlich geartet aber als etwas schwieriger stellt sich der Sachverhalt von<br />

werden dar. Wenn wir werden + INFINITIV als r<strong>ein</strong>es EMV betrachten, wie<br />

dies Vater (1975) tut, dann sind wir mit k<strong>ein</strong>erlei Probleme konfrontiert. Denn<br />

das was gem<strong>ein</strong>hin als werden-Futur bezeichnet wird, entspräche dann ganz<br />

<strong>ein</strong>fach unserem FutEMV-Gebrauch. Nur liegen nun Vorkommen von werden<br />

+ INFINITIV vor, die sich in Fragesätzen <strong>ein</strong>betten lassen:<br />

(47) Wann wird sie <strong>ein</strong>schlafen?<br />

(48) Wird sie <strong>ein</strong>schlafen?<br />

Da EMV in derartigen Kontexten nicht akzeptabel sind, muß es sich hier um<br />

<strong>ein</strong>e andere Form handeln. Offensichtlich liegt hier der in Abschnitt 1.4<br />

gesuchte nicht-epistemische-Gebrauch vor. Wenn aber werden auch über<br />

<strong>ein</strong>en nicht-epistemischen Gebrauch verfügt, dann stellt sich aber die Frage,<br />

ob nicht in jenen Kontexten, wo es sich mit perfektiven Infinitiven paart,<br />

77


durchwegs eben dieser nicht-epistemische Gebrauch vorliegt, anstelle <strong>ein</strong>er<br />

FutEMV-Interpretation. Aber auch im Falle von werden dürfte mit großer<br />

Sicherheit <strong>ein</strong>e Verwendung als FutEMV existieren, die ich hier aber nicht mit<br />

griffigen Diagnostika vom nicht-epistemischen Gebrauch trennen vermag.<br />

Ein Anhaltspunkt könnte in der Möglichkeit <strong>ein</strong>er Kombination mit<br />

epistemischen Satzadverbien liegen. Doch auch dadurch läßt sich der<br />

FutEMV-Gebrauch nicht klar isolieren, denn die Epistemizität könnte dann<br />

all<strong>ein</strong> durch die Satzadverbien getriggert s<strong>ein</strong>. Nichtsdestotrotz sprechen die<br />

oben angestellten Beobachtungen zumindest dafür, werden als<br />

polyfunktionales Element anzusehen. Zugegebenermaßen weist werden<br />

über <strong>ein</strong>e andere Form von Polyfunktionalität auf als die MV, da s<strong>ein</strong>e nichtepistemische<br />

Form nicht als deontische bezeichnet werden kann, sondern<br />

als Futur-Auxiliar. So kann dieses im in s<strong>ein</strong>er nicht-epistemischen Form im<br />

Gegensatz zu den DMV nur Zukunftsbezug haben.<br />

Um etwaigen Mißverständissen vorzubeugen, weise ich abschließend<br />

darauf hin, daß ich FutEMV und PräEMV nicht als verschiedene Lexeme<br />

betrachte, sondern verschiedene Arten der Interpretation, die durch die<br />

temporale Spezifikation der infinitivischen Komplemente ausgelöst wird und<br />

die für manche Lexeme bestimmte Beschränkungen erfährt.<br />

2.4 Zusammenfassung.<br />

Die Erkenntnisse aus Kapitel 2 sind wie folgt zusammenzufassen. Erstens<br />

läßt sich das unterschiedliche Verhalten von EMV und DMV nur in den<br />

seltensten Fällen auf absolute Verschiedenheiten zurückführen. Während<br />

DMV nur wenige Beschränkungen auferliegen, sind die EMV aufgrund ihrer<br />

Semantik in vielen Kontexten schwer verträglich. Beide Arten von MV<br />

bevorzugen bestimmte Distributionen, EMV wählen typischerweise stative<br />

Komplemente in assertiven Kontexten, DMV paaren sich meist mit<br />

perfektiven Komplementen mit Handlundssemantik. Die Annahme <strong>ein</strong>er<br />

dritten Modalität von Öhlschläger (1989), Diewald (1999) und Durbin/Sprouse<br />

(2001) , den objektiven EMV, erwies sich als müßig.<br />

Demgegenüber muß Epistemizität aber hinsichtlich ihrer temporalen<br />

Spezifikation unterteilt werden: Erstens in PräE, die nur die Einbettung von<br />

imperfektiven beziehungsweise perfektiven Komplementen in progressiver<br />

78


Bedeutung zuläßt, und zweitens in FutE, die offensichtlich k<strong>ein</strong>erlei<br />

Einschränkungen für die Aktionsart des Verbs aufweist. drohen und<br />

versprechen erlauben in ihrer epistemischen Form nur die Einbettung von<br />

FutE-Komplementen, was auf die Semantik ihres Vollverbgebrauchs<br />

zurückzuführen ist und verhalten sich somit wie die (E)MV der Reflextheorie<br />

entsprechend. In ihrer Polyfunktionalität unterscheiden sie sich dennoch von<br />

den MV, da zwischen ihren Vollverbformen und ihren epistemischen Formen<br />

große syntaktische Unterschiede bestehen. Die Frage, ob nun sie folglich zu<br />

den MV zu zählen sind oder nicht, halte ich für nicht essentiell und zum<br />

jetzigen Standpunkt nicht ohne Willkür zu beantworten. Als viel wichtiger<br />

erachte ich es, festzuhalten, daß <strong>ein</strong> nicht zu leugnendes Naheverhältnis<br />

zwischen MV und drohen und versprechen besteht und daß diese beiden<br />

Verben über <strong>ein</strong>e Eigenschaft verfügen, die der Polyfunktionalität sehr<br />

nahekommt oder sogar exakt entspricht. Es bleibt der Willkür des<br />

Forschenden überlassen, je nachdem, wie er die Definition von<br />

Polyfunktionalität formt, drohen und versprechen den MV zuzurechnen oder<br />

nicht. Das bleibt aber nur <strong>ein</strong>e r<strong>ein</strong> begriffliche Frage und ist deswegen auch<br />

nur von sekundärer Bedeutung. Primär sind nämlich vielmehr die<br />

empirischen Fakten, die von <strong>ein</strong>er Wesensverwandtschaft der beiden Verben<br />

mit den MV zeugen. Demgegenüber hat sich sch<strong>ein</strong>en ziemlich deutlich<br />

disqualifiziert, da es nur als epistemisches Verb auftritt, somit über k<strong>ein</strong>erlei<br />

Polyfunktionalität verfügt. Dafür haben wir im Falle von werden klare Evidenz<br />

gefunden, die dafür spricht, es auch als polyfunktionales Lexem zu<br />

behandeln, und nicht nur als r<strong>ein</strong>es EMV, wie es Vater (1975) erwägt.<br />

EMV verhalten sich ganz und gar nicht homogen. Dies liegt aber nicht so<br />

sehr an der Aufnahme neuer Lexeme, sondern vielmehr an den klassischen<br />

MV selbst. So hebt sich vor allem wollen aber auch sollen von den anderen<br />

EMV ab. All<strong>ein</strong> die Reflextheorie vermag all diese epistemischen Verben<br />

zusammenzuhalten und lieferte auch noch für andere Ersch<strong>ein</strong>ungen<br />

Erklärungen. Dennoch gelang es bisher noch nicht, mögliche Gründe für<br />

diese Vielfalt und Heterogenität der MV zu finden, die zur Folge hat, daß<br />

diese Verben begrifflich so schwer zu erfassen sind. Damit beschäftigt sich<br />

das nächste Kapitel.<br />

79


3. Herausbildung der EMV.<br />

Einer wesentlichen Implikation der These, daß das Wesensmerkmal der MV<br />

in ihrer Polyfunktionalität besteht, haben wir bisher kaum Beachtung<br />

geschenkt. Wenn <strong>ein</strong> Verb erst dann als MV bezeichnet werden kann, wenn<br />

es polyfunktional ist, erfaßt unser Begriff von MV die oben untersuchten<br />

Verben erst ab jenem Zeitpunkt, zu dem sie systematisch <strong>ein</strong>e deontische<br />

und <strong>ein</strong>e epistemische Variante ausgebildet haben. An dieser Stelle<br />

ersch<strong>ein</strong>t es als wünschenswert, den Zeitpunkt und die Umstände der<br />

Herausbildung der Polyfunktionalität genauer zu bestimmen, um die MV<br />

besser von ihren Vorläufern abgrenzen zu können. 48<br />

Angesichts der sich bisher offenbart habenden Vielfalt an idiosynkratischen<br />

Eigenschaften der verschiedenen MV-Lexeme, sch<strong>ein</strong>t <strong>ein</strong>e <strong>ein</strong>heitliche<br />

Behandlung aller epistemischen Formen mit wachsenden Schwierigkeiten<br />

verbunden. Ganz zu schweigen von <strong>ein</strong>er gem<strong>ein</strong>samen Betrachtung der<br />

diachronen Entwicklung der EMV. So aussichtslos die Lage aber hier zu s<strong>ein</strong><br />

sch<strong>ein</strong>t, könnte sich <strong>ein</strong> diachroner Ansatz auch als eigentlicher Schlüssel<br />

zum Problem erweisen, weswegen sich Kapitel 3 mit der<br />

Entwicklungsgeschichte der (Prä-)MV, im Speziellen mit der Herausbildung<br />

jenes Merkmals beschäftigt, das wir als wesentlich charakterisiert haben: der<br />

Polyfunktionalität. Darüber hinaus erwarte ich von <strong>ein</strong>er Analyse der<br />

Entstehung dieses klassenkonstituierendes Merkmals der MV weitere<br />

Aufschlüsse über das Wesen der MV selbst.<br />

Bevor wir <strong>ein</strong>en Blick auf die Entwicklung der MV-Syntax werfen können,<br />

bedarf es noch <strong>ein</strong>er groben theoretischen Aus<strong>ein</strong>andersetzung mit jenen<br />

Bedingungen, die all<strong>ein</strong>e im Stande sind, in der diachronen Syntax <strong>ein</strong>e<br />

methodisch zuverlässige Analyse zu gewährleisten.<br />

48 Abraham (2003b) erwägt indes, daß Polyfunktionalität den MV aufgrund ihrer<br />

präteritopräsentischem Wesen schon von Beginn an zu eigen war. Das Ergebnis der folgenden<br />

diachronen Untersuchung liefert aber k<strong>ein</strong>e Evidenz für derartige Überlegungen, noch können<br />

solche <strong>ein</strong>deutig widerlegt werden. Der Umstand, daß bis zum Fnhd k<strong>ein</strong>e systematisch<br />

herausgebildeten EMV vorliegen, spricht aber gegen derartige Erwägungen.<br />

80


3.1 Theoretische Vorbedingungen <strong>ein</strong>er diachronen Betrachtung der<br />

Syntax.<br />

Anders als synchrone Sprachbetrachtung ist die diachrone Syntax mit <strong>ein</strong>er<br />

Zahl an erheblichen Schwierigkeiten konfrontiert, die ihrer synchronen<br />

Schwesterdisziplin fremd sind. Um die syntaktischen Eigenschaften der MV<br />

darstellen zu können, bedarf es zunächst der Rekonstruktion der<br />

syntaktischen Eigenschaften der Vorläufer der gwd MV, die wiederum nicht<br />

ohne methodologischen Rahmenbedingungen erfolgen kann. Diese<br />

Bedingungen erweisen sich für die historisch vergleichende Syntax als<br />

äußerst komplex, da sie sich im Gegensatz zur diachronen Phonologie und<br />

auch Morphologie mit schwer faßbaren, lexemübergreifenden Strukturen<br />

beschäftigt. 49 Mehr Aufschluß über die Möglichkeit, syntaktische<br />

Zusammenhänge zurückliegender Sprachstände zu rekonstruieren, gibt die<br />

im Anschluß folgende kurze Aus<strong>ein</strong>andersetzung mit den Gründen und<br />

Voraussetzungen für syntaktischen Wandel.<br />

3.1.1 Transparenzprinzip und Reanalyse.<br />

Lightfoot (1979) hat sich als erster an <strong>ein</strong>er umfassenden generativen<br />

Theorie der diachronen Syntax versucht, zeigte jedoch auch die ziemlich<br />

engen Grenzen <strong>ein</strong>es derartigen Vorgehens auf. Er kommt zu dem Schluß,<br />

daß syntaktischer Sprachwandel <strong>ein</strong>e Funktion ist, die durch <strong>ein</strong>e Reihe<br />

Notwendigkeiten reglementiert und von <strong>ein</strong>er Unzahl an<br />

extragrammatikalischen Faktoren be<strong>ein</strong>flußt wird. 50 Ihre Beschränkungen<br />

erfährt diese Funktion vor allem durch synchrone Prinzipien. Einerseits muß<br />

die erneuerte Sprache auch allen UG-Prinzipien gehorchen, andererseits<br />

darf <strong>ein</strong>e Sprache niemals in ihrem Regelwerk soviel Komplexität anhäufen,<br />

daß <strong>ein</strong> gewisses verarbeitbares Maß überschritten wird. Ist das jedoch der<br />

Fall, erfolgt <strong>ein</strong>e ”therapeutische” Reanalyse, die den Grad an Komplexität<br />

<strong>ein</strong>er Grammatik wieder reduziert. Eine Grammatik muß für den Sprecher<br />

immer in <strong>ein</strong>em gewissen Maße transparent s<strong>ein</strong> – das besagt zumindest<br />

Lightfoots (1979: 121ff.) Transparenzprinzip, das dessen Auffassung nach<br />

nur Teil der synchronen Grammatiktheorie (=UG) s<strong>ein</strong> kann. Die <strong>ein</strong>zige<br />

49<br />

Eine detailliertere Unterscheidung der diachronen Syntax von älteren historisch-vergleichenden<br />

Disziplinen führt Lightfoot (1979: 5ff.) an.<br />

50<br />

Siehe Lightfoot (1979: 405ff.).<br />

81


Beschränkung von Lightfoots Funktion, die nicht durch die Grammatiktheorie<br />

(=UG) erfolgt, und als diachrones Prinzip formuliert werden müßte, besteht<br />

darin, daß Grammatiken von Sprechern aus auf<strong>ein</strong>anderfolgenden<br />

Generationen nur soweit von <strong>ein</strong>ander differieren dürfen, daß unter diesen<br />

Sprechern noch Kommunikation ohne Verständnisschwierigkeiten möglich<br />

ist. Lightfoot (1979: 143) sieht aber k<strong>ein</strong>en Weg, diese Restriktion zu<br />

formalisieren.<br />

Die <strong>ein</strong>zigen formalen Beschränkungen, denen Sprachwandel unterliegt,<br />

sind somit ausschließlich jene Prinzipien, aus denen sich die UG selbst<br />

zusammensetzt. Sprachwandel ist nach Lightfoots Auffassung vor allem<br />

Resultat der ver<strong>ein</strong>fachenden Lernmechanismen des Erstspracherwerb.<br />

Demnach versuchen Kinder dem aufgenommenen Input die <strong>ein</strong>fachste<br />

Struktur zu unterstellen, die anhand ihres bisherigen Regelwissens möglich<br />

ist. Auf diese Weise erwerben Kinder im Laufe der Zeit zwar <strong>ein</strong>e Grammatik,<br />

die <strong>ein</strong>erseits in etwa in der Lage ist, Sätze nach <strong>ein</strong>em Muster zu<br />

generieren, das jenem der Eltern sehr ähnlich ist, die aber andererseits<br />

k<strong>ein</strong>eswegs mit der Grammatik der Elterngeneration vollkommen identisch<br />

ist. Dementsprechend sieht Lightfoot (1979: 375) den Erstspracherwerb als<br />

eigentlichen Ort des Sprachwandels an. Ver<strong>ein</strong>facht ließe sich diese These<br />

als <strong>ein</strong>e Art ”Stille Post”-Spiel darstellen, in dem eben nicht nur für <strong>ein</strong> Wort,<br />

sondern für <strong>ein</strong>e gesamte Sprache von jedem Teilnehmer aufs Neue <strong>ein</strong>e<br />

Analyse und deren Weitervermittlung versucht wird.<br />

Auch wenn Lightfoots Ideen zwar viel Richtiges enthalten, bleiben sie<br />

gesamt gesehen ungenau. So verkennt s<strong>ein</strong> Ansatz zum Beispiel die<br />

Dynamizität, der die individuelle Grammatiken aller Sprecher offenkundig<br />

unterworfen sind. Auch erwachsene Sprecher bleiben für Veränderungen<br />

ihrer parametrischen Konfiguration empfänglich, wenngleich auch bei weitem<br />

nicht in dem Maße, wie dies beim Kl<strong>ein</strong>kind der Fall ist. So passen sich<br />

Erwachsene nach <strong>ein</strong>em Wechsel des Wohnorts häufig den parametrischen<br />

Gegebenheiten des neuen Dialekts an. Ein anderes Beispiel bieten gewisse<br />

Formen neologistischer Verwendungen, die langsam in den Sprachgebrauch<br />

auch von Erwachsenen <strong>ein</strong>sickern. Einen rezenten Fall stellt das Partikelverb<br />

anerkennen dar, das vermehrt als nicht-trennbares Verb reanalysiert wird,<br />

auch von Sprechern, die vormals die andere Variante verwendeten (Er<br />

82


anerkannte dieses Begehren statt Er erkannte dieses Begehren an). Darüber<br />

hinaus lädt Lightfoots Theorie zu dem Fehlschluß <strong>ein</strong>, daß sich<br />

Sprachwandel tatsächlich in <strong>ein</strong>er ähnlich gewaltigen Geschwindigkeit<br />

fortpflanzt, wie das sich stets ändernde Wort im ”Stille Post”-Spiel: Die<br />

Elterngeneration produziert <strong>ein</strong>en Satz als Struktur1, während ihn die jüngere<br />

Generation ver<strong>ein</strong>fachte Struktur2 versteht und reproduziert. Auf diese Weise<br />

müßte sich <strong>ein</strong>e Sprache binnen weniger Generationen rasant verändern.<br />

Tatsächlich sind im Sprachwandel noch zahlreiche Faktoren mehr involviert,<br />

unter anderem solche die ihn bremsen, wie das Vorhandens<strong>ein</strong> <strong>ein</strong>er<br />

überregionalen im Volk weitverbreiteten Schriftsprache.<br />

Lightfoots Einschätzung, daß die <strong>ein</strong>zigen formalen Beschränkungen des<br />

syntaktischen Sprachwandels durch die UG-Prinzipien erfolgen, daß die<br />

Grammatiken aller älteren Sprachen auch alles ”mögliche” Grammatiken s<strong>ein</strong><br />

müssen, vermag all<strong>ein</strong>e recht wenig zur diachronen Analyse der MV<br />

beisteuern, weswegen ich weitere Ansätze hinzuziehe.<br />

3.1.2 Lehmanns Theorie der Grammatikalisierung.<br />

Im Unterschied zu Lightfoot, der auf der Suche nach die ganze Syntax<br />

betreffende diachronen Prinzipien ist, begnügt sich Lehmann (1995) mit<br />

<strong>ein</strong>em kl<strong>ein</strong>eren Teilbereich der historisch-vergleichenden<br />

Sprachwissenschaft, der Grammatikalisierung (GR). Roussou/Roberts (1999:<br />

1011) und Abraham (2003d) verstehen unter GR in Termini der generativen<br />

Grammatik den Wandel von lexikalischem Material zu funktionalem – was<br />

weitgehend auch der Auffassung Lehmanns (1995: 9ff) entspricht.<br />

In s<strong>ein</strong>en Ausführungen erarbeitet Lehmann (1995: 121ff.) sechs<br />

Parameter, anhand derer sich der Fortgeschrittenheitsgrad der GR <strong>ein</strong>es<br />

Zeichen zu erkennen gibt. Jeder dieser Parameter kann Werte entlang <strong>ein</strong>es<br />

Vektors annehmen, der vom vollen lexikalischen Status <strong>ein</strong>es Zeichens bis<br />

zu dessen kompletten Verschwinden reicht. Lehmann (1995: 18) sieht GR<br />

als unidirektionalen Prozess, in dem <strong>ein</strong> lexikalisches Zeichen nach und nach<br />

s<strong>ein</strong>en komplexen phonologischen und semantischen Gehalt und s<strong>ein</strong>e<br />

Unabhängigkeit aufgibt. Roussou/Roberts (1999: 1014) zufolge bedeutet GR<br />

immer auch strukturelle Ver<strong>ein</strong>fachung.<br />

83


Lehmanns (1995: 25ff.) Ansatz zeichnet sich des weiteren durch die<br />

Annahme von sogenannten GR-Kanälen aus. Jedes Lexem ist aufgrund<br />

s<strong>ein</strong>er Bedeutung und syntaktischen Funktion für <strong>ein</strong>en oder mehrere<br />

bestimmte GR-Kanäle prädestiniert. Ein solcher GR-Kanal legt für das<br />

betreffende Element nun fest, auf welche Weise es sich entwickeln kann.<br />

Den für die MV relevanten Kanal beschreibt Lehmann (1995: 27&33) auf<br />

folgende Weise: Aus bestimmten Vollverben entstehen zunächst die MV, die<br />

mit fortschreitendem Grade der GR sich in Modusaffixe verwandeln.<br />

Während für die Stufe der MV genügend Evidenz vorliegt, hat Lehmann<br />

jedoch für aus MV entstandene Modusmorpheme noch k<strong>ein</strong>e Belege<br />

gefunden. Diewald (1999: 21&181f.) pflichtet Lehmann in ihrem Ansatz bei,<br />

indem sie zu zeigen versucht, daß die (E)MV im Deutschen bereits<br />

vollständig ins Modusparadigma integriert sind, was gewissermaßen als<br />

unentbehrliche Vorstufe zur Entwicklung hin zum Affix aufzufassen ist. Ich<br />

schließe mich aber an dieser Stelle der M<strong>ein</strong>ung von Reis (2001: 293) an,<br />

der zufolge die deutschen MV (noch) nicht als Teil des Modusparadigmas zu<br />

sehen sind.<br />

Bieten die GR-Kanäle <strong>ein</strong>e Lösung für Lightfoots Problem, daß sich<br />

Sprachwandel nicht vorhersehen läßt? N<strong>ein</strong>, auch das Konzept der GR-<br />

Kanäle ist im Endeffekt nicht im Stande, die Entwicklung <strong>ein</strong>es<br />

Zeichens/<strong>ein</strong>er Zeichenkombination vorherzusagen. Denn, wie wir im<br />

weiteren Verlauf der Arbeit noch sehen werden, sagt der gegenwärtige Grad<br />

der GR <strong>ein</strong>es Lexems all<strong>ein</strong>e niemals etwas darüber aus, ob und wie dieses<br />

sich entwickeln wird. Da Sprachwandel zum großen Teil <strong>ein</strong>er<br />

unüberschaubaren Fülle an außersprachlichen Faktoren unterworfen ist, die<br />

Lightfoot als ”Zufall” umschreibt, läßt er sich nicht zuverlässig voraussagen.<br />

Sprachentwicklung bleibt somit ebenso schwer vorhersagbar wie die Zukunft<br />

selbst. Nichtsdestotrotz kann Lehmanns Konzept der GR-Kanäle zumindest<br />

Hilfestellung s<strong>ein</strong>, um vergangene Formen zu rekonstruieren.<br />

3.1.3 Weitere theoretische Voraussetzungen.<br />

Eine weitere Schwierigkeit, mit der die diachrone Syntax zu kämpfen hat,<br />

hat Lightfoot (1979: 5ff) schon angedeutet: Syntax ist gleichsam ”unsichtbar”.<br />

Im Unterschiede zur Phonologie, die in der Regel auf phonetisch<br />

84


wahrnehmbare Einheiten zurückgreifen kann, beschäftigt sich die Syntax mit<br />

Beziehungen zwischen Elementen, die sich nur mithilfe der jeweiligen<br />

Sprachkompetenz rekonstruieren lassen. Ausgehend von der Annahme, daß<br />

sich die gwd Syntax von ihren mhd und ahd Vorläufern unterscheidet, stehen<br />

wir vor <strong>ein</strong>em schweren methodischen Problem: wir müssen uns nämlich der<br />

Möglichkeit bewußt s<strong>ein</strong>, daß syntaktische Konstruktionen in früheren<br />

Sprachständen des Deutschen deutlich anders zu interpretieren s<strong>ein</strong><br />

konnten, als es unsere muttersprachliche Kompetenz vermuten läßt.<br />

So treten die gwd MV in den allermeisten Fällen in Verbindung mit dem<br />

Infinitiv auf, was dazu verlockt, diese Form als standardtypischen MV-<br />

Gebrauch anzusehen. Folglich tendieren Sprecher des nhd häufig dazu,<br />

infinitivlose Vorkommen von MV <strong>ein</strong>fach als Ellipsen aufzufassen. Das heißt<br />

aber noch lange nicht, daß Sprecher der verschiedenen Sprachstufen des<br />

Deutschen immer schon zu ähnlichen Analysen geneigt waren.<br />

Einen bemerkenswerten Beitrag liefert an dieser Stelle das DWB im Eintrag<br />

von sollen. 51<br />

doch gibt es zahlreiche gebrauchsweisen, wo sollen ohne inf. auftritt.<br />

hier ist in vielen fällen der inf. zu ergänzen, und für das heutige<br />

sprachgefühl [m<strong>ein</strong>e Hervorhebung: J.M] ist in allen fällen die<br />

annahme <strong>ein</strong>er ellipse und supplierung <strong>ein</strong>es solchen inf. möglich. die<br />

historische entwicklung macht jedoch wahrsch<strong>ein</strong>lich, dasz in <strong>ein</strong>igen<br />

dieser gebrauchsweisen, wo sollen ohne inf. als vollverb ersch<strong>ein</strong>t, <strong>ein</strong>e<br />

ursprüngliche bedeutung vorliegt.<br />

Der Autor dieses Eintrags trifft, wenn auch nicht ganz explizit, <strong>ein</strong>en<br />

entscheidenden Punkt. Er deutet an, daß das ”Sprachgefühl” über<br />

Generationen hinweg k<strong>ein</strong>eswegs das gleiche bleibt. Er geht sogar noch<br />

weiter und stellt fest, daß Sprecher des ”heutigen Sprachgefühls” <strong>ein</strong>e<br />

Konstruktion womöglich anders beurteilen, als Sprecher aus<br />

vorangegangenen Generationen.<br />

51 Siehe DWB Bd. 16, S. 1468.<br />

85


sollen tritt in zahlreichen historischen Belegen, die das DWB anführt, mit an<br />

Sicherheit grenzender Wahrsch<strong>ein</strong>lichkeit tatsächlich als transitives Vollverb<br />

auf, wie zum Beispiel in (1):<br />

(1) Duo debitores erant cuidam foeneratori: unus debebat denarios<br />

quingentos, alius quinquaginta.<br />

Zuêne sculdîgon uuârun sihuuelîhemo inlîhere: <strong>ein</strong> solta finfhunt<br />

pfenningo, ander solta finfzug. (Tatian 138,9)<br />

Dieser Vorläufer des gwd sollen ließe sich aber nach ”heutigem<br />

Sprachgefühl” ohneweiters auch als Ellipse interpretieren (zum Beispiel<br />

durch <strong>ein</strong>e Ergänzung mit geben oder bezahlen), was aber ziemlich sicher<br />

nicht der Auffassung <strong>ein</strong>es Sprechers des Ahd entspräche, wie die<br />

lat<strong>ein</strong>ische Vorlage nahelegt. Am ehesten wäre solan hier mit schulden zu<br />

übersetzen. Der Sprachwandel ist im Beispiel von sollen soweit<br />

vorangeschritten, daß die Sprecher der verschiedenen Epochen die gleiche<br />

Konstruktion völlig verschieden analysieren und interpretieren. In diesem<br />

Aspekt hat sich die nhd Grammatik in <strong>ein</strong>em derartigen Maße von jener des<br />

Ahd. wegentwickelt, sodaß der transitive Gebrauch von solan im Ahd. aus<br />

heutigem Blickwinkel nicht ohne weiteres nachzuvollziehen ist. Vielmehr<br />

verleitet die noch offenkundige Ähnlichkeit in der Lexik der beiden<br />

Sprachstufen den nhd Sprecher dazu, dem Verb die gleichen syntaktischen<br />

Eigenschaften wie dessen nhd Abkömmling zu unterstellen und somit s<strong>ein</strong><br />

eigentliches syntaktisches Verhalten zu verkennen. Sozusagen verstellt uns<br />

unsere erworbene Grammatik des Gwd den Blick auf jene des Ahd. In<br />

Termini, die wohl der Autor des DWB-Artikel verwenden würde: das heutige<br />

Sprachgefühl entspricht nicht durchwegs jenem vergangener Epochen.<br />

Einem ähnlichen Leitgedanken folgt Lightfoot (1979: 35) wenn er fordert, daß<br />

ältere Grammatiken unabhängig erforscht und nicht nur aus gegenwärtigen<br />

Grammatiken abgeleitet werden sollen, um für Thesen der synchronen<br />

Syntaxtheorie Evidenz zu liefern.<br />

Aus dieser Feststellung ergeben sich erhebliche methodologische<br />

Einschränkungen. Da sich unsere kognitiven Grammatiken von jenen<br />

früherer Sprachstufen unterscheiden, fehlt uns die Möglichkeit, mit<br />

86


muttersprachlicher Kompetenz Sätze aus älteren Stufen der deutschen<br />

Sprache nach ihrer Akzeptabilität hin zu bewerten. Somit sind wir <strong>ein</strong>er<br />

Methode beraubt, die eigentlich konstitutiv für die synchrone Syntax ist. Die<br />

<strong>ein</strong>zigen verwertbaren empirischen Daten, die uns verbleiben, sind<br />

überlieferte Handschriften, deren sprachliche Korrektheit wir <strong>ein</strong>fach<br />

voraussetzen müssen. Eine diachrone Analyse der Syntax wird weiter<br />

dadurch erschwert, daß die früheren Daten stets in regional beschränkten<br />

Dialekten verfaßt wurden, denen jeweils unterschiedliche Grammatiken<br />

zugrunde lagen. Dialektübergreifende Behandlungen der Syntax von frühen<br />

deutschen Sprachzeugnissen haben also mit größter Vorsicht zu erfolgen.<br />

So gesehen muß diachrone Syntax zum großen Teil sehr spekulativ bleiben.<br />

Zusammenfassung.<br />

Abschnitt 3.1 nahm sich vor, zu skizzieren, worin die Grenzen und die<br />

Möglichkeiten von diachronen Untersuchungen bestehen. Lehmann (1995)<br />

und Lightfoot (1979) steuerten mit ihren Konzepten des GR-Kanals und der<br />

Re-Analyse wertvolle Instrumente für unsere Zwecke bei, was aber die<br />

prinzipiellen Schwierigkeiten, mit denen sich diachrone Betrachtungen der<br />

Syntax konfrontiert sehen, bei weitem nicht neutralisiert. So warnt Lightfoot<br />

selbst davor, formale Regeln wie Transformationsregeln für den<br />

Syntaxwandel zu postulieren, und er geht vielmehr davon aus, daß<br />

Syntaxwandel nicht formal zu erfassen ist. Auf der anderen Seite droht uns<br />

unsere heutige Grammatik, unser heutiges Sprachgefühl, den Blick auf die<br />

Gestalt der Syntax früherer Sprachstufen zu verstellen. Ohne<br />

muttersprachliche Kompetenz der früheren Grammatiken verfügen wir nicht<br />

über die Möglichkeit, Sätze aus vergangenen Sprachstadien hinsichtlich ihrer<br />

Akzeptabilität zu bewerten. Das wohl wichtigste Werkzeug der synchronen<br />

Syntaxtheorie ist uns an dieser Stelle also versagt.<br />

3.2 Der Beginn der Entwicklung.<br />

Die Vorgänger der heutigen MV lassen sich allesamt schon in frühesten<br />

Dokumenten der deutschen Sprache finden, wenn auch meistens in <strong>ein</strong>er<br />

anderen Form. Bis auf muozan sind all diese Verben auch noch als Vollverb<br />

87


ohne Infinitiv belegt. 52 Da der Vollverbgebrauch von mögen, können und<br />

wollen im Gwd noch üblich beziehungsweise nachzuvollziehen ist, werfen wir<br />

<strong>ein</strong>en kurzer Blick auf thurfan und sculan.<br />

Als ursprüngliche Bedeutung von thurfan setzt das DWB den Ausdruck<br />

<strong>ein</strong>er Notwendigkeit an. Syntax und Semantik entsprechen weitgehend dem<br />

verwandten gwd bedürfen. Auf dem Weg zu s<strong>ein</strong>em gwd Abkömmling hat<br />

thurfan <strong>ein</strong>e Reihe von gravierenden Veränderungen syntaktischer und<br />

semantischer Natur erfahren. sculan diente hingegen zum Ausdruck <strong>ein</strong>er<br />

Verpflichtung zur Leistung (materieller) Schuld, und ließ sich, wie schon<br />

Beispiel (1) zeigte, auch als transitives Vollverb gebrauchen.<br />

Daß auch ahd muozan auf <strong>ein</strong> infinitivloses Verb zurückgeht ist, legt s<strong>ein</strong>e<br />

in hohem Maße spezifizierte Semantik nahe, die das DWB auf folgende<br />

Weise paraphrasiert (Bd. 12 S. 2749):<br />

den präterito präsentialen Formen des verbums liegen verschollene<br />

präsentische zu grunde, <strong>ein</strong> goth. alts. ags. matan, ahd. mazan, was,<br />

wenn man zumal gemet, angewiesene grenze, schranke, erwägt, wol<br />

nur den begriff <strong>ein</strong>er raumzutheilung in sich schlieszen konnte, etwa, ich<br />

bekomme <strong>ein</strong>e stätte, <strong>ein</strong>en fleck môt, ahd. muoz, daher ich habe solche<br />

erlangt, habe statt, finde raum, von welcher bedeutung sich das eben<br />

angeführte ahd. ni môz, careo als noch halb präterital gedacht (etwa ich<br />

habe nichts zugewiesen erhalten) gut erklärt.<br />

Demgemäß ist es als sehr wahrsch<strong>ein</strong>lich anzusehen, daß wenigstens das<br />

ursprüngliche Lexem, von dem sich das Präteritopräsens abgespaltet hat, als<br />

infinitivloses Vollverb gebräuchlich war.<br />

Weitere Evidenz für die Annahme, daß allen diesen Verben <strong>ein</strong><br />

(in)transitiver Vollverbgebrauch zugrunde liegt, liefern auch die jüngeren<br />

epistemisch verwendbaren Verben brauchen, drohen, versprechen und<br />

sch<strong>ein</strong>en. Da in diesen Fällen der GR-Prozeß meist erst später <strong>ein</strong>gesetzt<br />

hat, verfügen wir über dementsprechend mehr Belege und sind darüber<br />

hinaus besser in der Lage, die Anfänge dieses Prozesses zu rekonstruieren.<br />

So sind in allen vier Fällen heute noch die ursprünglichen Vollverbformen<br />

52 Siehe Diewald (1999: 335) und DWB unter den Einträgen der hier behandelten Verben.<br />

88


geläufig, die ausnahmslos nachweislich <strong>ein</strong> größeres Alter aufzuweisen<br />

haben als die Formen mit Infinitiv.<br />

Das alles spricht für die Annahme <strong>ein</strong>es GR-Kanals für die deutschen MV<br />

im Lehmannschen Sinne, der bei Vollverben ohne Infinitivanschluß mit<br />

geeigneter Semantik beginnt und zumindest bis zur Herausbildung <strong>ein</strong>er<br />

epistemischen Lesart führt. Diewald (1999:34) expliziert Lehmanns Ansatz<br />

für die deutschen MV und unterteilt den GR-Prozeß in drei große Stufen:<br />

Vollverb > Vektorverb > Auxiliar<br />

Ohne schwerwiegende Ungenauigkeiten zu begehen, lassen sich die<br />

Begriffe Vektorverb und Auxiliar in DMV beziehungsweise EMV übersetzen.<br />

Doch Vorsicht, diese GR-Theorie bedeutet nun k<strong>ein</strong>eswegs, daß sobald <strong>ein</strong><br />

Lexem <strong>ein</strong>e neue Stufe erreicht hat, s<strong>ein</strong>e Formen aus der vorangegangenen<br />

Stufe allesamt ausgelöscht sind. Vielmehr überleben auch die alten Formen<br />

diesen ”Generationswechsel” zumindest <strong>ein</strong>e bestimmte Zeit, sodaß jedes<br />

Lexem über interkategoriale Formen verfügt, wie Diewald (1999: 49) zeigt. Im<br />

Falle des MV können besteht diese Interkategorialität in der gleichzeitigen<br />

Existenz von transitiven Vollverbgebrauch, DMV und EMV. Genausowenig<br />

bedeutet diese GR-Theorie, daß sich die (Vorgänger der) sechs klassischen<br />

MV-Lexeme immer synchron zu <strong>ein</strong>ander entwickelt haben. Selbst diese<br />

haben zu verschiedenen Zeitpunkten in den hier besprochenen GR-Kanal<br />

getreten. Basierend auf den frühesten Dokumenten der deutschen Sprache<br />

entwirft Diewald (1999: 296) folgendes Bild der (Prä-)MV: nur drei der sechs<br />

Verben, deren Abkömmlinge zum Kern des heutigen MV-Systems zählen,<br />

weisen <strong>ein</strong> nennenswertes Maß an GR auf: sculan, mugan und wellen. Die<br />

verbleibenden drei tauchen vor allem als Vollverben auf und sind anfangs nur<br />

marginal grammatikalisiert, von den jüngeren MV ganz zu schweigen. Diese<br />

Auffassung wird vielfach geteilt, unter anderem von Krause (1997) und<br />

Schrodt (2004).<br />

Angesichts der Tatsache, daß im Ahd die meisten der hier im Mittelpunkt<br />

der Forschung stehenden Verben höchstens die zweite Stufe in der GR<br />

erreicht haben, ist es mehr als nur fragwürdig sie nach obiger Definition<br />

schon als MV zu bezeichnen. Das heißt, nach der hier vertretenen Ansicht<br />

89


kann von MV erst nach der Entstehung der epistemischen Formen überhaupt<br />

die Rede s<strong>ein</strong>.<br />

Inwieweit sich im Ahd tatsächlich noch k<strong>ein</strong>e epistemische Interpretation<br />

herausgebildet hat, ist in der Forschung umstritten. Abraham (2003b),<br />

Diewald (1999: 385), Fritz (1997: 94f.) und Leiss (2003a,b) nehmen mit<br />

mugan die Existenz <strong>ein</strong>es ahd EMV an, Krause (1997: 95) will neben mugan<br />

auch noch sculan <strong>ein</strong>e epistemische Variante zugestehen. Axel (2001: 44ff.)<br />

ist der gegenteiligen Auffassung, daß von EMV im Ahd noch nicht die Rede<br />

s<strong>ein</strong> kann. Sie zeigt, daß <strong>ein</strong> großer Teil der in Frage kommenden Belege in<br />

Kontexten vorkommt, mit denen zumindest die gwd EMV unverträglich sind:<br />

so steht das MV entweder im Präteritum, in nicht-assertiven oder nichtfaktiven<br />

Kontexten. Das betrifft auch Leiss (2003a), die als Beleg für <strong>ein</strong>en<br />

epistemischen Gebrauch von mugan <strong>ein</strong>en inkompatiblen Fragesatz wählt.<br />

Für alle mugan-Belege besteht jedoch k<strong>ein</strong>erlei semantische Notwendigkeit,<br />

diese als EMV anzusehen. Anders als im Falle der anderen MV, lassen sich<br />

Verben, die in ihrem deontischen Gebrauch <strong>ein</strong>e Möglichkeit ausdrücken, in<br />

vielen Fällen kaum von ihren epistemischen Geschwistern unterscheiden. 53<br />

Ein <strong>ein</strong>ziger Anhaltspunkt, der dagegen spricht, die beiden Vorkommen völlig<br />

gleichzusetzen, existiert jedoch: die deontischen Formen erfahren viel<br />

weniger distributive Restriktionen und können im Gegensatz zu den<br />

epistemischen Varianten zum Beispiel in Fragesätzen <strong>ein</strong>gebettet werden,<br />

wie ich in den Abschnitten 2.1.4 und 2.1.5 anhand des Beispiels von können<br />

gezeigt habe. Nun hat ahd mugan <strong>ein</strong>e vergleichbare Semantik wie gwd<br />

können und tritt mitunter ver<strong>ein</strong>zelt auch noch in archaischen Wendungen in<br />

<strong>ein</strong>em solchen Gebrauch auf. 54 Nichts ist naheliegender, die relevanten<br />

Vorkommen von mugan als dessen deontischen Gebrauch anzusehen.<br />

K<strong>ein</strong>e (semantische) Notwendigkeit besteht gesonderte Formen<br />

anzunehmen. 55 Viel mehr spricht der Umstand, daß die meisten aller in<br />

53<br />

Axel (2001) hat zwar <strong>ein</strong>e Reihe von Diagnostika zur Unterscheidung der beiden Modalitäten<br />

entwickelt, die aber nicht in jedem Fall zur Anwendung kommen können. Die <strong>ein</strong>zige<br />

Restriktion, die sie trifft, liegt darin, daß sie EMV auf assertive, präsentische Kontexte<br />

beschränkt. Dadurch bleiben MV-Vorkommen von können oder ahd mugan in eben solchen<br />

Kontexten meistens ambig zwischen den beiden Modalitäten.<br />

54<br />

Siehe Beispiel (21) in Abschnitt 2.1.4.<br />

55<br />

Auch Leiss´ (2003) Einwand, EMV und DMV unterschieden sich hinsichtlich der aspektuellen<br />

Beschaffenheit ihrer Inifinitivkomplemente, greift hier nicht. Wie sich in Kapitel 2 zeigte, läßt die<br />

deontische Variante von (Möglichkeits-)können Infinitive der selben Aktionsart zu, wie die<br />

epistemische Variante.<br />

90


Frage kommenden mugan-Belege in mit Epistemizität unverträglichen<br />

Kontexten auftreten, dafür, daß in diesen Fällen die semantisch ähnliche<br />

deontische Form vorliegt. Bisher liegt k<strong>ein</strong> wirklich zwingender Grund vor,<br />

mugan <strong>ein</strong>e epistemische Variante zuzuschreiben.<br />

Bleiben <strong>ein</strong>zig Krauses (1997: 95) Beleg für sculan noch ungeklärt.<br />

(2) Waz quit fon mir ther liutstam? thaz gizellet mir nu fram;<br />

werquedent sie theih sculi sin odo ouh racha wese min?<br />

(Otfrid 3.12.7/8)<br />

(3) Nintheizit mir iz muat min, ni ther fon gote sculi sin,<br />

es alleswio ni thenkit ther sulih werk wirkit.<br />

(Otfrid 3.20.149/150)<br />

(4) Ein man ist uns giheizan joh scal ouh Krist heizan,<br />

uns duit sin kunft noh wanne thaz al zi wizanne, (Otfrid<br />

2.14.75/76)<br />

Axel (2001: 47) bestreitet aber, daß diese Belege von sculan epistemisch<br />

beziehungsweise quotativ zu lesen sind. Wie unter anderen Fritz (1997: 64)<br />

schon zeigte, diente sculan im Ahd oft zur Markierung des Futurs – und als<br />

Futurmarker lassen sich diese Beispiele alle durchgängig auffassen. Nach<br />

Auffassung von Fritz (1997: 11) kann sollen in quotativem Gebrauch erst ab<br />

dem 12. Jahrhundert belegt werden. Diewald (1999: 421) zeigt weiter, daß<br />

sich diese Variante erst mit dem 16. Jahrhundert zu <strong>ein</strong>er eigenständigen<br />

Form ausgrammatikalisiert hat.<br />

Kurz zusammengefaßt: Alle (quasi-)MV entstanden ausnahmslos aus<br />

infinitivlosen Vollverben. Die epistemische Varianten entwickelten sich<br />

offensichtlich erst mit fortgeschrittenem Stadium der GR, da für wenig<br />

grammatikalisierte Lexeme k<strong>ein</strong>e derartigen Lesarten gefunden werden<br />

konnten. Umstritten bleibt, ob die bereits im Ahd stärker grammatikalisierten<br />

sculan und mugan schon über epistemische Formen verfügen. In den<br />

Ausführungen zeigte sich jedoch, daß k<strong>ein</strong> zwingender Anlaß besteht,<br />

derartige Formen anzunehmen. Darüber hinaus bezweifeln selbst die<br />

genannten Befürworter der Ansicht, im Ahd existierten schon ver<strong>ein</strong>zelt<br />

91


epistemische MV-Formen, nicht, daß sich das System der EMV erst viel<br />

später herausgebildet hat, sodaß von polyfunktionalen MV nach obiger<br />

Definition im Ahd noch gar nicht die Rede s<strong>ein</strong> kann. Auch das DWB kann<br />

k<strong>ein</strong>e Belege von EMV vor dem Mhd aufweisen.<br />

Es sch<strong>ein</strong>t somit für die deutschen MV tatsächlich <strong>ein</strong>en GR-Kanal zu<br />

geben, der bei semantisch geeigneten Vollverben beginnt und zumindest bis<br />

zur Entwicklung <strong>ein</strong>er epistemischen Variante führt.<br />

3.3 Voraussetzungen für die Herausbildung EMV.<br />

Da MV offenkundig nicht von Anfang an mit <strong>ein</strong>er epistemischen Lesart<br />

versehen waren, untersuchen Abschnitt 3.3 & 3.4 die Umstände ihrer<br />

Herausbildung. Drei Faktoren werden immer wieder mit EMV in<br />

Zusammenhang gebracht: Kohärenz, Aspekt und Anhebung. Im Anschluß<br />

folgt <strong>ein</strong>e kurze Analyse, die bewertet, wie wichtig sie in der diachronen<br />

Entstehung waren. Als empirische Grundlage dafür dient vor allem Wolframs<br />

Parzival.<br />

3.3.1 Starke und obligatorische Kohärenz.<br />

Die meisten Ansätze zur Infinitivsyntax in der Tradition von Bech (1955/57)<br />

sehen in der obligatorischen Kohärenz <strong>ein</strong>e wesentliches Merkmal der MV,<br />

so unter anderen Grewendorf (1987: 128), Kiss (1995), Öhlschläger (1989)<br />

und Reis (2001). Reis (2001: 310) macht ihr modifiziertes Konzept der<br />

starken Kohärenz sogar für die mögliche epistemische Interpretation der MV<br />

verantwortlich. Starke Kohärenz (das heißt: obligatorische Kohärenz auf der<br />

Basis des 1. Status) gewährleistet die nach Ansicht Reis´ (2001: 308) für Epistemizität<br />

notwendige Transparenz des regierenden Verbs gegenüber dem<br />

Infinitivkomplement. Wurmbrand (2001: 292ff.) hingegen stellt fest, daß<br />

epistemische Verben mit Infinitiv k<strong>ein</strong>e Extraposition desselben dulden; mit<br />

anderen Worten: diese Verben sind obligatorisch kohärent.<br />

Läßt sich für diesen Verdacht des engen Zusammenhangs zwischen<br />

Kohärenz und Epistemizität auch diachrone Evidenz finden? Eine<br />

Untersuchung der Syntax der MV in Wolframs Parzival, der aufgrund s<strong>ein</strong>es<br />

Umfangs hierfür besonders geeignet ersch<strong>ein</strong>t, gibt mehr Aufschluß darüber.<br />

Kohärenz offenbart sich (wie Abschnitt 1.2.2 bereits zeigte) topologisch, in<br />

92


der Reihung der Satzglieder. Kohärente Konstruktionen sind nur dort von<br />

inkohärenten zu unterscheiden, wo das übergeordnete statusregierende<br />

Verb (oder gegebenenfalls dessen Partikel) die letzte Position im Satz<br />

<strong>ein</strong>nimmt. Da MV nicht zu den Partikelverben zählen und im Parzival nicht in<br />

periphrastischen Tempora vorkommen, verbleiben all<strong>ein</strong>e jene Sätze für<br />

unsere Zwecke, in denen das Verb in der finiten Form an letzter Stelle steht.<br />

Doch damit der Erschwernisse noch nicht genug. Denn erstens unterliegt das<br />

Mhd nicht zwangsläufig den gleichen Wortstellungsbeschränkungen wie das<br />

Nhd, und zweitens bedient sich Wolframs Parzival der gebundenen Rede.<br />

Folglich ist der darin befindliche Sprachgebrauch nicht mit dem natürlichen<br />

gleichzusetzen, sondern bedient sich im Gegensatz zu diesem in <strong>ein</strong>em viel<br />

großzügigeren Maß markierter Wortstellung, im äußersten Fall womöglich<br />

sogar ungrammatischer Konstruktionen. Vorsicht ist also geboten.<br />

Die Untersuchung beschränkt sich auf Vorkommen von MV in<br />

Distributionen, in denen epistemische Formen am ehesten zu erwarten sind,<br />

also auf Formen im Indikativ Präsens, die im Zuge der Ausarbeitung in ihrer<br />

Vollständigkeit systematisch erfaßt und beurteilt wurden. 56 Die Analyse<br />

konzentriert sich auf zwei in ihrer Entwicklungsgeschichte und Semantik<br />

äußerst unterschiedliche Verben mugen und müezen. Ersteren gestehen<br />

Abraham (2003b), Diewald (1999: 385), Fritz (1997: 94f.) und Leiss (2003a)<br />

bereits seit ahd Zeit <strong>ein</strong>e epistemische Lesart zu. Letzteres läßt im<br />

Gegensatz zu jenem <strong>ein</strong>e klare semantische Unterscheidung von<br />

epistemischer und deontischer Variante zu.<br />

Was das topologische Verhalten der (Prä-)MV im Parzival betrifft, ist<br />

folgendes festzustellen. In der Tat treten mugen und müezen in derart großer<br />

Zahl in fremdartigen Konstruktionstypen auf, die dem heutigen Sprachgebrauch<br />

völlig fremd sind, daß nicht mehr davon ausgegangen werden kann,<br />

daß in diesen Fällen stets markierte Wortstellung vorliegt, die auf Gründe des<br />

Reimes und des Versmaßes zurückzuführen ist.<br />

So finden sich zuhauf Verberst (V1)- und Verbzweit (V2)-Sätze mit<br />

Extraposition von nominalen Komplementen und auch Adjunkten, die in den<br />

meisten Fällen jeweils vom Infinitiv regiert werden:<br />

56 Siehe Appendix.<br />

93


(5) Ist zwîvel herzen nâchgebûr ,<br />

daz muoz der sêle werden sûr ,<br />

(Parz. 1,1-2)<br />

(6) solde ich nû drum ersterben ,<br />

sô muoz ich leisten sicherheit<br />

die sîn hant an mir erstreit .<br />

(Parz. 424,24-26)<br />

(7) jâ mac mit êren nû mîn lîp<br />

ergetzen diz werde wîp ,<br />

(Parz. 279,29-30)<br />

In (6) und (7) liegen mit sicherheit beziehungsweise diz werde wîp jeweils<br />

NP-Komplemente in Extraposition vor, in (5) wurde <strong>ein</strong> prädikatives Adjektiv<br />

extraponiert. Auch wenn diese Konstruktionen je nach syntaktischen Status<br />

des extraponierten Elements k<strong>ein</strong>eswegs <strong>ein</strong>heitlich zu behandeln sind,<br />

teilen sie die Eigenschaft, daß sie im Nhd nicht zulässig sind. 57 Diese<br />

Wortstellungen erweisen sich jedoch im Parzival als sehr frequent. So<br />

weisen 70 von den 162 Vorkommen von mugen in V1/V2 die im Nhd<br />

unerlaubte Extraposition auf, während die restlichen 92 Auftreten in diesem<br />

Aspekt dem nhd. Gebrauch entsprechen. müezen hingegen taucht 129 mal<br />

in V1/2 auf, davon nur 38 mal mit Extraposition und immerhin 91 mal ohne. 58<br />

Nun stellt sich die Frage, wie mit der vom nhd Sprachgebrauch<br />

abweichenden MV-Konstruktion umgegangen werden soll. Ist die<br />

Extraposition von Elementen aus dem Verbalfeld des Infinitivs <strong>ein</strong> Zeichen<br />

für Inkohärenz in V1 und V2-Sätzen? Wohl kaum. Denn in den in Frage<br />

kommenden Beispielen ist meist nur <strong>ein</strong> Element aus dem Verbalfeld des<br />

Infinitivs nachgestellt, so daß die Elemente dieses Verbalfeldes den<br />

regierenden Infinitiv umgeben, wie in (6) oder (7). Darüber hinaus existieren<br />

k<strong>ein</strong>e gewichtigen Gründe, die dafür sprechen, das Vorhandens<strong>ein</strong> <strong>ein</strong>er<br />

nominalen Extraposition mit Inkohärenz gleichzusetzen beziehungsweise<br />

57<br />

Abgesehen davon müssen nicht alle dieser Fälle im Parzival, wo <strong>ein</strong> MV mit extraponiertem<br />

Komplement oder Adjunkt auftritt, für das Mhd grammatisch s<strong>ein</strong>. Es bestünde ja noch immer<br />

die Möglichkeit, daß <strong>ein</strong>ige dieser Beispiele tatsächlich reim- und versmaßbedingte grammatikalische<br />

Verstöße darstellen.<br />

58<br />

Siehe Appendix für Auflistung sämtlicher Belege.<br />

94


deren Abwesenheit mit Kohärenz zu identifizieren. Offenkundig stehen die im<br />

Parzival frequenten Extrapositionen kl<strong>ein</strong>erer Konstituenten in k<strong>ein</strong>em<br />

Zusammenhang mit der Frage, inwieweit <strong>ein</strong>e Konstruktion als kohärent oder<br />

inkohärent zu erachten ist. Eine genauere Untersuchung des syntaktischen<br />

Status der Möglichkeit zu derartigen Extrapositionen steht noch aus.<br />

Als weitaus unproblematischer erweist sich diesbezüglich die<br />

Charakterisierung von MV in Verbletztstellung (VL). 59 Analog zum Nhd<br />

lassen sich im Mhd anhand von Bechs (1955/57) Kriterien zwei grundlegend<br />

verschiedene Wortstellungstypen finden. In dem <strong>ein</strong>en Fall steht das<br />

gesamte Verbalfeld des untergeordneten Infinitivs links des regierenden MV<br />

– der klassische Fall von Kohärenz:<br />

(8) ob ich ir dar nâch dienen muoz<br />

und ob ich des wirdec bin ,<br />

sô rætet nir mîn bester sin<br />

daz ichs mit rehten triuwen phlege .<br />

(Parz. 8,12-15)<br />

(9) dâ nie getrat vilânes vuoz ,<br />

ob ichz iu rehte sagen muoz ,<br />

noch lîhte nimmer dâ geschiht .<br />

(Parz. 74,13-15)<br />

(10) Segramors enbin ich niht ,<br />

den man durch vehten binden muoz :<br />

(Parz. 421,20-21)<br />

(11) swâ werc verwürkent sînen gruoz ,<br />

daz gotheit sich schamen muoz ,<br />

wem lât den menneschlîchiu zuht ?<br />

(Parz. 467,1-3)<br />

59<br />

Ferner verdient der Umstand Beachtung, daß die VL-Belege viel seltener jene Form der<br />

Extrapositionen aufweist, die uns in der Untersuchung der V1/V2-Sätze Kopfzerbrechen<br />

bereitete. Nur in sechs Fällen von 38 tritt mugen mit dieser Extraposition auf. Im Falle von<br />

müezen sind es gar nur 4 von 33.<br />

95


(12) bî manheit sælde helfen mac .<br />

(Parz. 548,12)<br />

Von den 33 müezen-Belegen in VL, weisen insgesamt 15 <strong>ein</strong>e derartige<br />

Form auf, von den 38 mugen-Belegen in VL sind 20 <strong>ein</strong>deutig in der für<br />

Kohärenz typischen Wortfolge. 60 Wie mit jenen Belegen zu verfahren ist, die<br />

nach obigem Schema nicht diese Wortfolge aufweisen, bleibt vorerst unklar.<br />

Jene Belege unterscheiden sich von den kohärenten dadurch, daß in ihnen<br />

das MV dem untergeordnetem Infinitiv vorangeht (14) und das MV somit<br />

nicht am Ende des Verbalkomplexes aufsch<strong>ein</strong>t, wie für kohärente<br />

Konstruktionen charakteristisch (13).<br />

(13) ARG2 V´´(INF) V´(MV).<br />

(14) ....V´(MV)....V´´(INF).<br />

Auch wenn sich die noch nicht klassifizierten Belege in der Abfolge von MV<br />

und Infinitivkomplement gleichen, ergeben sie <strong>ein</strong> recht heterogenes Bild,<br />

was die Stellung der zum Infinitiv gehörenden Komplemente und Adjunkte<br />

angeht: so finden sich Beispiele mit der bloßen Extraposition des Infinitivs bei<br />

gleichzeitiger Intraposition der von ihm abhängenden Elemente:<br />

(15) daz senftet mir mîn gemüete ,<br />

ob ich ir sicherheit muoz geben ,<br />

daz ich ir vrides hie sol leben . "<br />

(Parz. 394,14-16)<br />

(16) Parzivâl sprach : " ir sult noch sehen<br />

liute , den ir prîses müezet jehen ,<br />

bî Artûs dem houbetman ,<br />

manegen ritter manlîch getân .<br />

(Parz. 763,21-24)<br />

96


(17) dô sprach er: "vrouwe, swâ daz rîs<br />

stêt, daz sô hôhen prîs<br />

mir ze sælden mac bejagen,<br />

(Parz 600,25-27)<br />

Des weiteren existieren zahlreiche Belege, in denen der Infinitiv samt allen<br />

zugehörigen Konstituenten extraponiert ersch<strong>ein</strong>t:<br />

(18) sît iuwer minne mir gebôt<br />

daz ich muoz ziuwerm gebote stên ,<br />

ich mege rîten oder gên . "<br />

(Parz. 530,18-20)<br />

(19) der habe mit ritterlîcher kraft<br />

minne und prîs behalden ,<br />

daz er muoz beider walden :<br />

(Parz. 746,16-18)<br />

(20) alhie . muget ir versuochen ,<br />

welt ir mîns lebens ruochen ,<br />

ob mich der künec welle sehen ,<br />

dem ich muoz mîner vreuden jehen ? "<br />

(Parz. 716,27-30)<br />

(21) bezal aber ich immer ritters prîs ,<br />

sô daz ich wol mac minne gern ,<br />

ir sult mich Lîâzen wern ,<br />

iuwer tohter , der schoenen maget .<br />

(Parz. 178,30-179,03)<br />

Darüber hinaus liegen ver<strong>ein</strong>zelt auch noch Fälle vor, in denen die vom<br />

Infinitiv abhängenden Konstituenten zum Teil mit diesem extraponiert und<br />

zum anderen Teil intraponiert sind. 61<br />

60<br />

Die restlichen Belege siehe Appendix.<br />

61<br />

Einige der hier nicht angeführten Belege sind dieser Dreiteilung nicht <strong>ein</strong>deutig zuzuordnen.<br />

Das betrifft vor allem die Vorkommen der 0- und 1-wertigen Verben ohne weitere Adjunkte, die<br />

aufgrund der fehlenden Komplemente und Adjunkte nicht über das Merkmal verfügen, anhand<br />

dessen die obige Klassifikation vonstatten ging.<br />

97


(22) " waz ob diu minne disen man<br />

twinget als si mich dô twanc ,<br />

und sîn getriulîch gedanc<br />

der minne muoz ir siges jehen ? "<br />

(Parz. 301,22-23)<br />

(23) der besneit in an dem lîbe ,<br />

daz er deh<strong>ein</strong>em wîbe<br />

mac ze schimphe niht gevromen .<br />

(Parz. 657,23-25)<br />

Die hier zu Tage tretende Vielfalt der Konstituentenfolgen wirft <strong>ein</strong>ige<br />

Fragen auf: Wie ist diese zu interpretieren? Unterliegen den verschiedenen<br />

Wortfolgen verschiedene syntaktische Status oder repräsentieren sie<br />

allesamt den selben Konstruktionstypus? Befinden sich unter den Belegen<br />

mit für Kohärenz untypischer Wortfolge solche, deren Konstituentenfolge r<strong>ein</strong><br />

durch Reim und Metrum bedingt sind und gar nicht dem natürlichen<br />

Sprachgebrauch entsprechen? Die genaue Beantwortung dieser Fragen muß<br />

künftigen Studien überlassen werden, die sich umfassender mit der mhd<br />

Wortstellung beschäftigen. Aussagen über die mhd Infinitivsyntax müssen<br />

hier folglich zum großen Teil recht spekulativ bleiben. Im Hinblick darauf<br />

erschiene <strong>ein</strong>e Behauptung als recht waghalsig, alle Belege, die nicht die für<br />

Kohärenz typische Wortfolge aufweisen, als inkohärent zu bezeichnen.<br />

Eine grundlegender Unterschied zum Nhd läßt sich aber trotzdem feststellen:<br />

Ein großer Teil der herangezogenen (Prä)MV-Belege weist <strong>ein</strong>e für<br />

den heutigen Sprachgebrauch absolut unverträgliche Wortstellung auf: das<br />

betrifft 18 (von 33) Vorkommen von müezen und 14 (von 38) von mugen.<br />

Diese Abweichungen bestehen in der Extraposition des Infinitivs mit und<br />

ohne Komplement, deren Unverträglichkeit fürs Nhd Wurmbrand (2001:<br />

292ff.) zeigte. Diese vom nhd Gebrauch unterschiedlichen Belege kommen<br />

in derart großer Zahl vor, daß Reim und Metrum wohl kaum in jedem Fall für<br />

ihren abweichenden Charakter verantwortlich sind. Folglich existieren im<br />

Mhd mit an Sicherheit grenzender Wahrsch<strong>ein</strong>lichkeit Konstruktionen, die<br />

98


aufgrund ihrer Wortstellung NICHT als kohärent bezeichnet werden<br />

können. 62<br />

Hinsichtlich der Topologie der MV ergeben die gesammelten Daten aus<br />

Wolframs Parzival folgendes Bild: sowohl in V1/V2 und VL sch<strong>ein</strong>en im Mhd<br />

die MV und die von ihnen abhängenden Elemente lockereren<br />

Stellungsbeschränkungen zu unterliegen als im Nhd. In V1/V2 äußert sich<br />

dies durch die Möglichkeit der Extraposition von Komplementen und<br />

Adjunkten (vor allem) des Infinitivs, in VL in erster Linie in der Möglichkeit,<br />

den Infinitiv selbst zu extraponieren. Ein extraponierter Infinitiv in VL stellt im<br />

Nhd den Paradefall für Inkohärenz da. Die Wahrsch<strong>ein</strong>lichkeit ist sehr groß,<br />

daß die MV im Mhd in anderen Konstruktionen vorkamen als in kohärenten.<br />

Da sich aber nicht eruieren läßt, zu welchem Ausmaß die vom nhd Gebrauch<br />

abweichenden Wortstellungen nicht durch Reim und Metrum bedingt sind,<br />

bleiben die hier getroffenen Aussagen über die Topologie der MV zum<br />

großen Teil recht spekulativ. Einen interessanten Verweis hiezu bringt Reis<br />

(2001: 309), demzufolge sich die Opposition [+/- kohärent] sich erst nach<br />

62 Folgt man Bechs (1955/57) Unterscheidung von Kohärenz und Inkohärenz im Detail, so<br />

fände man Einwand gegen diese Behauptung. Bech (1955/57: 62ff.) geht nämlich davon aus,<br />

daß in kohärenten Konstruktionen das Kohärenzfeld auch über <strong>ein</strong> sogenanntes Oberfeld<br />

verfügen kann, das entweder nur aus finiten Verben und Verben des 1. Status bestehen kann.<br />

Das Oberfeld befindet sich am linken Rand des Kohärenzfeldes und b<strong>ein</strong>haltet im Regelfall<br />

dessen maximal übergeordnetes Verb und selten auch noch <strong>ein</strong> davon regiertes Verb des 1.<br />

Status, die übrigen Verben ergeben das Unterfeld. Bech (1955/57) und in der Folge auch<br />

Grewendorf (1987: 130) unterscheiden Oberfeld und Unterfeld darüber hinaus durch die<br />

Reihenfolge der Verben: während für das Unterfeld die Folge ”Rektum vor Regens” gilt,<br />

zeichnet sich das Oberfeld durch die Folge ”Regens vor Rektum” aus:<br />

(1) daß er (wird1 können2) (liegen3 bleiben4). (=Günther<br />

Grewendorf 2-16)<br />

(2) (V´ V´´) (V´´´´ V´´´)<br />

In (1) ergeben das finite Verb wird und s<strong>ein</strong> Rektum können, <strong>ein</strong> Verb des 1. Status,<br />

zusammen das Oberfeld mit der entsprechenden Wortfolge, siehe (2). liegen und bleiben bilden<br />

hingegen das Unterfeld.<br />

Die Annahme <strong>ein</strong>es solchen Oberfeldes für Kohärenz hat aber schwerwiegende konzeptuelle<br />

Konsequenzen. Auf diese Weise würde nämlich in kohärenten Konstruktionen die Extraposition<br />

des Infinitivs erlauben, sodaß diese von inkohärenten Komplexen kaum noch zu unterscheiden<br />

wären. Aufgrund ihres 1. Status könnten MV in jedem Fall in <strong>ein</strong>em Oberfeld stehen, gefolgt von<br />

<strong>ein</strong>em Unterfeld oder in anderen Worten: von <strong>ein</strong>em extraponiertem Infinitiv. Beziehungsweise<br />

könnten alle obligatorisch kohärenten Verben des 2. Status in finiter Form ihren Infinitiv<br />

extraponieren.<br />

Da im Nhd die obligatorisch kohärenten Verben des 1. und 2. Status aber nie mit Extraposition<br />

auftreten, wie Wurmbrand (2001: 292ff.) zeigte, und ich Beispiel (1) als hochgradig markiert bis<br />

ungrammatisch erachte, halte ich <strong>ein</strong>e derartige Theorie des Oberfeldes für fragwürdig. Weder<br />

Bech (1955/57: 62f.) noch Grewendorf (1987: 130) leugnen den markierten Charakter der<br />

Oberfeldkonstruktionen, der sich in intonatorischen Besonderheiten äußert, sodaß es nicht als<br />

99


1500 ausbildete. Das stützt unsere Annahme, daß im Mhd MV in nicht-kohärenten<br />

Formen vorkommen. Inwieweit der Parzival schon MV-Belege mit<br />

epistemischer Interpretation aufweist wird Aufgabe von Abschnitt 3.4 s<strong>ein</strong>.<br />

Auf <strong>ein</strong>ige diachrone Beobachtungen im Zusammenhang mit Kohärenz und<br />

Epistemizität sei dennoch verwiesen. Einige Fälle von epistemischen<br />

Konstruktionen sch<strong>ein</strong>en das Naheverhältnis zwischen (obligatorischer oder<br />

starker) Kohärenz zu widerlegen. So belegen das DWB (Bd.30, 1354) und<br />

Fritz (2000: 274&276) wollen in s<strong>ein</strong>er quotativ-epistemischen Variante in<br />

transitivem Gebrauch mit daß-Satz. Im Falle von wollen kann die Entwicklung<br />

s<strong>ein</strong>es quotativ-epistemischen Gebrauchs somit nicht durch Kohärenz<br />

bedingt s<strong>ein</strong>, da es in diesen Belegen ohne den für kohärente Konstruktionen<br />

ja notwendigen Infinitiv auftritt. Ein weiterer Punkt, in dem sich wollen von<br />

den übrigen MV gravierend unterscheidet. Offensichtlich hat sich s<strong>ein</strong><br />

quotativ-epistemisches Verhalten unabhängig von der Variante mit Infinitiv<br />

entwickelt. Auch sch<strong>ein</strong>en hat s<strong>ein</strong>e epistemische Form vor und somit<br />

unabhängig vom Anschluß des Infinitivs entwickelt, worauf Diewald (2001:<br />

94ff.) schon hingewiesen hat. Darüber hinaus belegt das DWB (Bd. 2, 1345)<br />

auch noch drohen ohne Infinitivanschluß in <strong>ein</strong>er Bedeutung, die s<strong>ein</strong>em<br />

epistemischen Gebrauch entspricht: 63<br />

(24) Es droht <strong>ein</strong> Krieg.<br />

Manche Verben sind also nicht auf den kohärenten Anschluß <strong>ein</strong>es Infinitivs<br />

angewiesen, um epistemisch interpretiert zu werden. Bedeutet dieser Umstand<br />

nun, daß Kohärenz in der Entwicklung von Epistemizität in k<strong>ein</strong>em Fall<br />

<strong>ein</strong>e Rolle spielt? N<strong>ein</strong>, dies ist vielmehr Indiz dafür, daß Kohärenz nicht den<br />

<strong>ein</strong>zigen Weg darstellt, <strong>ein</strong>e epistemische Interpretation zu akquirieren.<br />

Verben wie sch<strong>ein</strong>en oder drohen sind offensichtlich mehr semantische<br />

Komponenten inhärent, die für die Ausbildung <strong>ein</strong>er epistemischen Lesart<br />

wahrsch<strong>ein</strong>lich ersch<strong>ein</strong>t, daß alle als nicht kohärent klassifizierten Belege diesem<br />

Konstruktionstypus zuzuordnen sind.<br />

63 Auch das oft zu den epistemischen Elementen gezählte Anhebungsverb pflegen erwarb s<strong>ein</strong>e<br />

neue Bedeutung offensichtlich unabhängig von der Anbindung des Infinitivs, wie folgender<br />

Beleg nahelegt:<br />

(1) swer ie solher noete phlac<br />

der mac erkennen phîle .<br />

(Parz. 569,8-9)<br />

100


erforderlich sind. 64 Sobald diese Verben aber in epistemischer Interpretation<br />

mit Infinitiv auftreten, sind sie ausnahmslos obligatorisch kohärent, wie<br />

bereits in den Abschnitten 1.4 und 2.2 gezeigt wurde.<br />

Im Unterschied dazu spielt obligatorische Kohärenz für die Herausbildung<br />

der Epistemizität der MV <strong>ein</strong>e bedeutende Rolle; Reis (2001: 309) hat schon<br />

darauf verwiesen, daß die epistemischen Formen justament dann auftauchten,<br />

als die Opposition [+/- kohärent] distinktiven Charakter erlangte.<br />

Im Gegensatz zu Reis wird hier die Auffassung vertreten, daß nicht ihr<br />

Konzept der starken Kohärenz für die Entwicklung von Epistemizität<br />

ausschlaggebend ist, sondern obligatorische Kohärenz all<strong>ein</strong>e hinreichend<br />

dafür ist. Denn mit (nicht) brauchenEMV liegt zumindest <strong>ein</strong> EMV vor, das in<br />

vielen Fällen nur obligatorisch und nicht stark kohärent konstruiert. Darüber<br />

hinaus existieren <strong>ein</strong>e Menge von Verben (sch<strong>ein</strong>en, drohen und<br />

versprechen), die den EMV unbestritten sehr nahe stehen, aber lediglich<br />

obligatorisch kohärent sind. 65<br />

Somit sch<strong>ein</strong>en für die betrachteten epistemischen Verben mehrere GR-<br />

Pfade zu existeren, die auf dem Weg zur Herausbildung der Epistemizität<br />

nach und nach in <strong>ein</strong>ander münden.<br />

3.3.2 Anhebung.<br />

Welche Rolle spielt Anhebung in der Entwicklung der EMV? Ist Anhebung<br />

für die Herausbildung der EMV verantwortlich oder nur Voraussetzung?<br />

Erstere These ist in Anbetracht der Situation im Gwd schwer<br />

aufrechtzuerhalten, wo <strong>ein</strong>deutige Belege für Fälle von DMV in<br />

Anhebungskonstruktionen vorliegen, wie wir bereits in Abschnitt 1.2.3<br />

gesehen haben. Auch die MV-Belege aus dem Parzival liefern weitere<br />

Evidenz gegen die Annahme, daß sich im Falle der MV aus deontischen<br />

Kontrollverben durch <strong>ein</strong>e Re-Analyse epistemische Anhebungsverben<br />

gebildet haben (Auswahl):<br />

64<br />

Auf die semantische Besonderheit von sch<strong>ein</strong>en ohne Infinitiv wies schon Diewald (2001:<br />

94f.) hin.<br />

65<br />

Siehe auch Abschnitt 2.2.1.<br />

101


(25) die wünschen im heiles , wan ez muoz sîn<br />

daz er nû lîdet hôhen pîn ,<br />

etswenne ouch vreude und êre .<br />

(Parz. 224,7-9)<br />

(26) ez muoz nû an <strong>ein</strong> scheiden gên .<br />

(Parz. 331,2)<br />

(27) wirt iu kurzwîle gemêret ,<br />

daz muoz an iuwerm gebote sîn .<br />

(Parz. 405,8-9)<br />

(28) iedoch wil ich iu râten daz ,<br />

heizt entwâpen disen gevangen :<br />

in mac hie stêns erlangen . "<br />

(Parz. 218,28-30)<br />

(29) ez mac mit rede niht ergên ,<br />

daz hôher prîs geneiget sî ,<br />

der Gâwâne ist ledeclîche bî . "<br />

(Parz. 323,10-12)<br />

(30) mac ez mit iuwern hulden sîn ,<br />

ich briche iu nû gesellekeit .<br />

(Parz. 402,10-11)<br />

(31) werdet ir ervunden an rehter ê ,<br />

iu mac zer helle werden wê ,<br />

(Parz. 468,5-6)<br />

(32) dâ enmac niht mêr geslâfen sîn .<br />

(Parz. 802,21)<br />

Die Modalität von mugen läßt sich aufgrund s<strong>ein</strong>er alethischen Semantik in<br />

den meisten Fällen nur schwer <strong>ein</strong>deutig feststellen. Meistens ist sowohl<br />

epistemische Interpretation als auch deontische möglich, weswegen man<br />

argumentieren könnte, in den obigen Belegen läge durchweg der<br />

102


epistemische Gebrauch von mugen vor. Dieser Schluß erweist sich angesichts<br />

der Distribution beziehungsweise des Redehintergrundes in zumindest<br />

drei Fällen als trügerisch: in (30) liegt <strong>ein</strong> mit Epistemizität unverträglicher<br />

Konditionalsatz vor, (29) und (32) involvieren k<strong>ein</strong>erlei für EMV konstitutive<br />

Vermutung.<br />

Einfacher liegt der Sachverhalt für die Bestimmung der Modalität der<br />

müezen-Belege. Da sich die Bedeutung von deontischem und epistemischen<br />

Gebrauch deutlich unterscheiden und die Bedeutung der epistemischen<br />

Form in den Beispielen k<strong>ein</strong>en Sinn ergibt, müssen wir davon ausgehen, daß<br />

auch hier deontische Verben in Anhebungskonstruktion vorliegen.<br />

Axels (2001) Annahme, daß Anhebung nicht als Auslöser der Epistemizität<br />

der MV bestenfalls als Voraussetzung anzusehen ist, sch<strong>ein</strong>t sich angesichts<br />

der Daten aus dem Parzival zu bewahrheiten. Anhaltspunkt dafür, daß im<br />

Parzival alle (Prä-)MV ausschließlich als Anhebungsverb auftreten, ließ sich<br />

aber k<strong>ein</strong>er finden. Vielmehr erwiesen sich nur drei von 164 müezen-Belegen<br />

<strong>ein</strong>deutig als Anhebungsverben.<br />

3.3.3 Funktionale Restrukturierung (FR).<br />

Trotz <strong>ein</strong>iger Einwände haben wir für die synchrone Syntax Wurmbrands<br />

(2001) Ansatz anderen Theorien des verbalen Clusterings gegenüber den<br />

Vorzug gegeben. 66 Hier überprüfen wir die Gültigkeit ihres Modells für das<br />

Mhd.<br />

Wurmbrand ordnet die gwd MV geschlossen den FR-Prädikaten zu, deren<br />

Charakteristika vor allem im Extrapositionsverbot, in Anhebung, IPP-Effekt,<br />

Verbot des Matrix Passivs und im Verbot von relative-clause-pied-piping bestehen.<br />

Von diesen Diagnostika lassen sich nur die ersten beiden anhand<br />

des Parzivals überprüfen. In 3.3.2 zeigte sich schon, daß die untersuchten<br />

Formen von müezen und mugen im Mhd <strong>ein</strong>deutig als Anhebungsverben<br />

auftreten konnten, wenn auch bis hinauf ins Gwd umstritten ist, inwieweit sie<br />

noch in anderen Infinitivkonstruktionen vorkommen. 67 Das<br />

Extrapositionsverbot hingegen kann für die beiden mhd (Prä-)MV, wie in<br />

3.1.1 gezeigt, definitiv k<strong>ein</strong>e Gültigkeit behaupten. Folglich lassen sich<br />

müezen und mugen auch nicht mehr als FR-Prädikate auffassen, da ja <strong>ein</strong>es<br />

66 Siehe Abschnitte 1.2.3 & 1.2.5.<br />

103


der konstitutiven Diagnostika verletzt wird. An diesem Punkt stellt sich aber<br />

die Frage, welcher Form von Restrukturierung die vorliegenden<br />

Infinitivkonstruktionen zugerechnet werden sollen wenn nicht FR. Eine<br />

genaue Entscheidung darüber, wie und ob <strong>ein</strong>e genaue Zuordnung anhand<br />

des Konzepts von Wurmbrand vorgenommen werden kann, muß hier<br />

offengelassen werden. Ein gewisser Sonderstatus dürfte den mhd. (Prä-MV)<br />

aber zukommen, da im gesamten Parzival weder müezen noch mugen als<br />

Infinitiv belegt sind.<br />

3.3.4 Aspekt des Komplements.<br />

In den letzen Jahren gewannen Ansätze an Bedeutung, die der Kategorie<br />

Aspekt <strong>ein</strong>en wesentlichen Anteil an der Herausbildung der EMV beimessen,<br />

wie unter anderem Abraham (2002, 2003a, 2003b), Krause (1997) und vor<br />

allem Leiss (2003a,b).<br />

Die grundlegende Annahme besteht darin, daß EMV <strong>ein</strong> imperfektives<br />

Infinitivkomplement erfordern, während DMV <strong>ein</strong> perfektives bevorzugen.<br />

Leiss (2003a) geht nun davon aus, daß die ursprünglich r<strong>ein</strong> deontischen<br />

(Prä-)MV in ihrer unmarkierten Form lediglich mit perfektiven<br />

Infinitivkomplementen kombiniert werden konnten, beziehungweise im<br />

negierten Falle nur mit imperfektiven Infinitiven. 68 Nun tritt aber das (Prä)-MV<br />

magan im Ahd auch mit ganz klar imperfektiven Komplementen auf. Leiss<br />

will festgestellt haben, daß magan in diesen Fällen <strong>ein</strong>e abweichende<br />

Bedeutung zukommt. In ihrer Argumentation kommt diese semantische<br />

Abweichung dadurch zustande, daß das (Prä-)MV in diesen Fällen <strong>ein</strong> Verb<br />

in markiertem Aspekt wählt. Denn der Auslöser der Epistemisierung der<br />

(Prä-)MV ist in jedem Fall die Wahl des jeweils markierten Aspekts. So erhält<br />

<strong>ein</strong> MV mit Negation und perfektivem Infinitiv genau wie <strong>ein</strong> MV ohne<br />

Negation und imperfektiven Infinitiv immer epistemische Interpretation.<br />

Diese Annahme ist aber mit Schwierigkeiten konfrontiert: Nicht nur, daß die<br />

Annahme von EMV im Ahd – wie wir bereits in 3.2 gesehen haben – trügerisch<br />

ersch<strong>ein</strong>t und die Belege, die Leiss (2003a) anführt, ausschließlich mit<br />

67<br />

Siehe Abschnitt 1.2.3.<br />

68<br />

Leiss (2003a) führt weitere Fälle an, in denen DMV mit imperfektiven Infinitiven auftreten. In<br />

diesen Fällen fungiert aber jeweils <strong>ein</strong> Definitheitskontext, wie zum Beispiel <strong>ein</strong><br />

Demonstrativpronomen als perfektivierender Faktor.<br />

104


Epistemizität unverträgliche Fragesätze sind, auch die im Nhd mögliche<br />

Kombination von EMV mit dem perfektiven Aspekt (siehe 2.3) stellt den<br />

Ansatz vor Probleme. An dieser Stelle bedarf es nämlich <strong>ein</strong>er Klärung,<br />

inwieweit FutEMV schon mit der Herausbildung der EMV existierten oder erst<br />

durch <strong>ein</strong>e jüngere Entwicklung entstanden. Im ersteren Falle kann Leiss<br />

(2003a,b) nicht mehr aufrecht erhalten werden.<br />

Auch für den mhd Parzival sch<strong>ein</strong>t die von Leiss getroffene<br />

Generalisierung, deontische Modalität wählt den unmarkierten Aspekt und<br />

epistemische Modalität den markierten Aspekt, nicht (mehr?) zuzutreffen.<br />

Einerseits finden sich zahlreiche Belege für <strong>ein</strong>deutig deontische (Prä-)MV<br />

mit imperfektivem Infintivkomplement ohne jegliche Negation:<br />

(33) " n<strong>ein</strong> , ich muoz bî riuwen sîn :<br />

ich sene mich nâch der künegîn .<br />

(Parz. 90,17-18)<br />

(34) ich muoz doch sus mit kumber leben<br />

âne alle mîne schulde ,<br />

sît ich darbe sîner hulde .<br />

(Parz. 150,6-8)<br />

(35) der sigehafte sprach : " mîn wîp<br />

mac nû belîben vor dir vrî .<br />

(Parz. 212,30-213,1)<br />

(36) ich mac geselleclîche leben ,<br />

lieber neve , nû g<strong>ein</strong> dir .<br />

(Parz. 701,15-17)<br />

(37) vünf stiche mac turnieren hân ,<br />

die sint mit mîner hant getân :<br />

(Parz. 812,09-109)<br />

Andererseits liegen klar deontische Konstruktionen mit perfektiven Komplementen<br />

und Negation vor. Daß es sich in diesen Fällen um perfektive<br />

105


Infinitive handelt, zeigt sich an deren Präfigierung durch das Aspektpräfix<br />

ge-.<br />

(38) si enmohten mir niht mêr getuon<br />

schaden , denne mir was geschehen<br />

an îsenharte , ich muoz es jehen . "<br />

(Parz. 28,24-26)<br />

(39) ich enmac es niht abe gezwicken . "<br />

(Parz. 124,4)<br />

(40) ich enmac es sô niht geleiden<br />

als ez mir leide kündet ,<br />

sich nû maneger sündet<br />

an mir , der niht weiz mîner klage ,<br />

und ich dâ bî sîn spotten trage .<br />

(Parz. 329,20-24)<br />

Worauf ist dieses Verhalten nun zurückzuführen? Bedeutet diese neue<br />

Toleranz gegenüber der Aspektsopposition, daß diese im Begriff ist, ihre<br />

Relevanz <strong>ein</strong>zubüßen? Leiss (2003a,b) ist nämlich der Auffassung, daß jede<br />

Sprache in der Lage ist, Epistemizität zu kodieren, sei dies nun vermittels<br />

(E)MV, vermittels Adverbien oder auch vermittels komplementärer<br />

Aspektsetzung. Ihrer M<strong>ein</strong>ung nach drückte das Ahd epistemische Modalität<br />

vor allem durch Setzung des markierten Aspekts aus. Durch den Abbau des<br />

Aspektsystem im Mhd bedingt übernahmen andere Sprachmittel diese<br />

Aufgabe: die heutigen MV.<br />

Da Aspekt im Parzival offenkundig nicht mehr im Stand ist, Epistemizität zu<br />

kodieren, müßten sich der Auffassung Leiss´ zufolge die Funktion der<br />

Epistemisierung zumindest ansatzweise auf die EMV übertragen haben.<br />

Sollten im Parzival tatsächlich schon EMV vorliegen, so wären folgende<br />

Belege brennende Anwärter für EMV ohne Negation, aber mit <strong>ein</strong>deutig<br />

perfektivem Infinitiv – <strong>ein</strong> Indiz dafür, daß die FutEMV sich gleichzeitig mit<br />

den anderen EMV auch herausbildete:<br />

106


(41) iedoch wil ich iu râten daz ,<br />

heizt entwâpen disen gevangen :<br />

in mac hie stêns erlangen . "<br />

(Parz. 218,28-30)<br />

(42) unkundem gaste<br />

mac hie wol grôzer schade geschehen .<br />

(Parz. 250,6-7)<br />

(43) dort sitzt <strong>ein</strong> wehselære ,<br />

des market muoz hie werden guot .<br />

(Parz. 353,26-27)<br />

Leiss (2003) Ansatz hätte große Schwierigkeiten, <strong>ein</strong> derartiges<br />

Vorkommen zu erklären. Womöglich hat die Aspektopposition im Ahd auch<br />

geringere Bedeutung für die Epistemisierung als in den slawischen<br />

Sprachen. Im Gegensatz zu slawischen Sprachen erfolgt die Setzung des<br />

Aspektpräfixes im Ahd nämlich optional und nicht obligatorisch. 69 Trotz all<br />

dem steht es außer Frage, daß die Kategorie Aspekt <strong>ein</strong>e Rolle in der<br />

Herausbildung der epistemischen Lesart bei den MV gespielt hat, die sich<br />

noch heute in der Präferenz der verschiedenen Modalitäten zu bestimmten<br />

Aktionsarten, wie bereits in 1.3.2 und 2.1.5 gezeigt.<br />

Zusammenfassung:<br />

Anhand des Parzivals haben für folgendes Bild der mhd (Prä-)MV<br />

entworfen: Erstens existieren zuhauf (Prä-)MV in nichtkohärenten<br />

Konstruktionen. Offensichtlich spielte die Opposition [+/-kohärent] in dieser<br />

frühen Phase auch k<strong>ein</strong>e Rolle (3.3.1). Da das für Wurmbrands (2001) FR<br />

essentielle Extrapositionsverbot folglich k<strong>ein</strong>e Gültigkeit behaupten kann,<br />

lassen sich die mhd (Prä-)MV auch nicht dieser Art von Restrukturierung (R)<br />

zuordnen. Es ist fraglich, ob sich überhaupt <strong>ein</strong>er von Wurmbrands Graden<br />

an R dafür eignet (3.3.3). Zweitens finden sich <strong>ein</strong>deutige Belege von<br />

deontischen Formen in Anhebungskonstruktionen, was aber k<strong>ein</strong>eswegs<br />

bedeutet, daß alle damaligen (Prä-)MV ausschließlich als Anhebungsverben<br />

107


konstruierten (3.3.2). Drittens gilt für das Mhd die Aspektsensitivität nicht<br />

(mehr?) in der Strenge, wie sie Leiss (2003a) für das Ahd postuliert (3.3.4.).<br />

Im Großen und Ganzen liefern die hier gewonnenen Erkenntisse Evidenz<br />

für die von Lehmann (1995) und auch Diewald (1999) entworfenen Theorien<br />

der GR-Kanäle für MV. Zur Zeit der Redaktion des Parzivals weisen die<br />

(Prä-)MV noch k<strong>ein</strong> kohärentes Verhalten auf, lassen sich auch (noch?) nicht<br />

den FR-Prädikaten zuordnen. Andererseits zeigte sich, daß wir mit der<br />

Annahme <strong>ein</strong>es <strong>ein</strong>zigen unverzweigten GR-Kanals nicht auskommen. Im<br />

Gegensatz zum Großteil der MV, für den der Anschluß <strong>ein</strong>es kohärenten<br />

Infinitivs Bedingung war, <strong>ein</strong>e epistemische Interpretation auszubilden,<br />

bildeten Verben wie sch<strong>ein</strong>en oder drohen unabhängig vom Infinitiv<br />

epistemischen Varianten aus.<br />

Offensichtlich führen mehrere GR-Kanäle zur Epistemizität, die mit<br />

wachsendem Ausmaß an GR nach und nach in <strong>ein</strong>ander münden.<br />

3.4 Herausbildung der EMV<br />

In Abschnitt 3.3 haben wir schon zahlreiche Vorkommen von (Prä-)MV im<br />

Parzival hinsichtlich verschiedener syntaktischer und semantischer Aspekte<br />

untersucht, aber noch nicht geklärt, inwieweit sich unter ihnen bereits<br />

epistemische Formen befinden. In den folgenden Abschnitten verfolgen wir<br />

die genaueren Umstände der Entstehung der EMV.<br />

3.4.1 Vorkommen von EMV im Parzival?<br />

Mit mugen und müezen haben wir in ihrer Bedeutung und Entwicklung recht<br />

unterschiedliche Lexeme herangezogen. Während im Falle von mugen<br />

deontische und etwaige epistemische Vorkommen semantisch nicht<br />

aus<strong>ein</strong>anderzuhalten sind, lassen sich die verschiedenen Modalitäten von<br />

müezen hinsichtlich ihrer Bedeutung relativ leicht unterscheiden.<br />

19 von 206 mugen-Belegen kommen für <strong>ein</strong>e epistemische Interpretation<br />

hinsichtlich des Kontexts der Erzählung in Frage, hier <strong>ein</strong>e Auswahl: 70<br />

69 Siehe Schrodt (2004).<br />

108


(44) etslîcher mac <strong>ein</strong> Anschevîn<br />

mit sîner sprâche iedoch wol sîn .<br />

(Parz. 62,5-6)<br />

(45) iedoch wil ich iu râten daz ,<br />

heizt entwâpen disen gevangen :<br />

in mac hie stêns erlangen . "<br />

(Parz. 218,28-30)<br />

(46) diu künegîn hât den schoensten man<br />

der schildes ambet ie gewan :<br />

er mac wol sîn von hôher art .<br />

(Parz. 219,11-13)<br />

(47) unkundem gaste<br />

mac hie wol grôzer schade geschehen .<br />

(Parz. 250,6-7)<br />

(48) Ob von Troies meister Kristjân<br />

disem mære hât unreht getân ,<br />

daz mac wol zürnen Kîôt .<br />

(Parz. 827,1-3)<br />

Ich behaupte nun zu k<strong>ein</strong>em dieser fünf Beispielsätze, daß er tatsächlich<br />

<strong>ein</strong> EMV enthalten muß, in vielen Fällen legt dies der Kontext der Erzählung<br />

aber nahe. So sind in (45) und vor allem in (47) deontische Lesarten in<br />

Anbetracht der geringen Frequenz der für EMV in Frage kommenden Belege<br />

viel wahrsch<strong>ein</strong>licher.<br />

Erhöhte Aufmerksamkeit verdient der Umstand, daß von den 19<br />

mutmaßlichen EMV Vorkommen von mugen ganze elf in Kombination mit<br />

dem Adverb wol und <strong>ein</strong>es mit dem Adverb mit vür wâr auftreten, die beide<br />

im Mhd auch als epistemische Satzadverbien gebräuchlich waren. Das heißt,<br />

in Fällen wie (44), (46) und (48), in denen zweifellos jeweils epistemische<br />

Bedeutung vorliegt, könnte diese viel mehr vom Adverb ausgehen als vom<br />

Verb. An dieser Stelle erschiene es mir interessant, <strong>ein</strong>e umfassendere<br />

70 Weitere Beispiele siehe Appendix.<br />

109


Studie durchzuführen, die sich mit der Rolle der epistemischen<br />

Satzadverbien für die Entstehung der EMV aus<strong>ein</strong>andersetzt.<br />

Die Deutung der Belege bleibt aber recht schwierig, da wol und vür wâr im<br />

Mhd auch in ihrer ursprünglichen, weniger grammatikalisierten Variante<br />

auftreten, das heißt im Sinne von ”gut” beziehungsweise ”wirklich”. Somit<br />

verbleiben nur 7 von 206 mugen-Belege, die ihrem Kontext im Werk nach zu<br />

urteilen, epistemisch zu interpretieren sind. Doch in allen Fällen ist die<br />

epistemische Interpretation nicht so zwingend, wie in den Belegen mit wol<br />

und darüber hinaus auch <strong>ein</strong>e deontische Deutung ohne Schwierigkeiten<br />

möglich.<br />

Von den 164 müezen-Belegen eignen sich nur noch acht aufgrund ihrer<br />

Semantik für <strong>ein</strong>e epistemische Interpretation, hier <strong>ein</strong>e Auswahl: 71<br />

(49) von tumpheit muoz verderben<br />

maneges tôren hôher vunt .<br />

(Parz. 292,24-25)<br />

(50) dort sitzt <strong>ein</strong> wehselære ,<br />

des market muoz hie werden guot .<br />

(Parz. 353,26-27)<br />

(51) daz muget ir âne vrâgen lân ,<br />

wande er muoz grôze koste hân .<br />

(Parz. 629,29-30)<br />

(52) " ouwê , liebiu niftel mîn ,<br />

daz dîn jugent sô hôher minne schîn<br />

tuot , daz muoz dir werden sûr .<br />

(Parz. 712,5-7)<br />

(53) hât dich vriundîn ûz gesant ,<br />

diu muoz sîn vil gehiure ,<br />

ob dû durch âventiure<br />

alsus verre bist gestrichen .<br />

(Parz. 767,20-23)<br />

71 Restliche Belege siehe Appendix.<br />

110


Für <strong>ein</strong>e epistemische Deutung in allen diesen Beispielen spricht, daß die<br />

Quelle, von der der Zwang ausgeht, k<strong>ein</strong>e belebte ist, sondern eher <strong>ein</strong>e<br />

abstrakte. Dennoch deutet das Verhalten <strong>ein</strong>iger dieser Belege ganz klar auf<br />

das Vorliegen nicht-epistemischer Lesart hin. So involvieren weder (49) noch<br />

(52) das für EMV konstitutive Element der Vermutung, <strong>ein</strong>e solche wäre in<br />

diesen Beispielen sogar mit dem Kontext der Erzählung nur schwer in<br />

Einklang. Viel eher liegt hier offensichtlich <strong>ein</strong> Gebrauch von müssen in<br />

Analogie zu (54) vor:<br />

(54) Wenn ihm nicht gleich jemand die Wunde verbindet, muß er<br />

verbluten.<br />

In (51) wiederum ersch<strong>ein</strong>t müezen in <strong>ein</strong>em Kausalsatz <strong>ein</strong>gebettet – <strong>ein</strong><br />

Kontext, der Öhlschläger (1989: 208) und Reis (2001: 297) zu Folge<br />

Epistemizität nur schwerlich duldet.<br />

(50) und (53) stellen die <strong>ein</strong>zigen Belege aus dem Korpus dar, die näher als<br />

Vorkommen von EMV in Frage kommen. Der Kontext spricht sogar sehr<br />

dafür, daß in diesen beiden Fällen tatsächlich <strong>ein</strong>e Vermutung involviert ist.<br />

In (50) kommentiert Obîe die Ankunft Gâwâns, den sie s<strong>ein</strong>em Äußeren zu<br />

urteilen nach, für <strong>ein</strong>en Händler hält, woraus sie weiter schließt (expliziert<br />

durch das Verb müezen), daß alsbald <strong>ein</strong> Markt s<strong>ein</strong>e Zelte aufschlagen<br />

wird. In (53) folgert Artûs aus dem Umstand, daß sich Feirefîz auf derart<br />

weite Reisen begibt, daß dieser im Dienst <strong>ein</strong>er sehr trefflichen Dame stehen<br />

muß – da er sonst k<strong>ein</strong>en Grund hätte, <strong>ein</strong> derartiges Wagnis auf sich zu<br />

nehmen. Angesichts des großen Umfangs der Belege ersch<strong>ein</strong>t es äußerst<br />

zweifelhaft, anhand der beiden epistemischen Belege schon von <strong>ein</strong>er<br />

systematisch herausgebildeten epistemischen Lesart von müezen zu<br />

sprechen. Darüber hinaus bleibt die Frage noch zu klären, welchen Einfluß<br />

die ursprüngliche Semantik von müezen, im Sinne von ”die Möglichkeit<br />

haben” und ”dürfen” für die Entwicklung der epistemischen Form <strong>ein</strong>e Rolle<br />

spielt. Geläufig war sie im Parzival auf alle Fälle noch:<br />

111


(55) er sprach : " ob ich erbeizen muoz<br />

mit iuwern hulden , vrouwe ,<br />

ob ich iuch des willens schouwe<br />

daz ir mich gerne bî iu hât ,<br />

grôz riuwe mich bî vreuden lât ,<br />

sô enwart nie ritter mêr sô vrô .<br />

(Parz. 509,2-7)<br />

Ergebnis unserer Untersuchung ist also, daß weder im Falle von müezen<br />

und noch im Falle von mugen von <strong>ein</strong>er systematisch herausgebildeten<br />

epistemischen Lesart die Rede s<strong>ein</strong> kann. Das bestätigt auch zum großen<br />

Teil die These von Fritz (1997), daß die EMV mit Ausnahme von magan um<br />

1500 in kurzer Zeit in Ersch<strong>ein</strong>ung traten. magan läßt sich s<strong>ein</strong>er M<strong>ein</strong>ung<br />

nach ja schon seit ahd Zeit epistemisch interpretieren. Diewald (1999), die<br />

grundsätzlich Fritz´ M<strong>ein</strong>ung vertritt, betont aber, daß die systematische<br />

Herausbildung der Epistemizität erst um 1500 anzusiedeln ist. Wir haben die<br />

Existenz von epistemischen mugen im Parzival in Frage gestellt. Tatsächlich<br />

dürfte dieses s<strong>ein</strong>e epistemische Variante erst gem<strong>ein</strong>sam mit den anderen<br />

MV-Lexemen erworben haben.<br />

3.4.2 Reanalyse und EMV.<br />

Im Parzival sch<strong>ein</strong>en noch k<strong>ein</strong>e systematisch grammatikalisierten<br />

epistemischen Vorkommen von MV auf. Das steht im Wesentlichen im<br />

Einklang mit Fritz (1997) und Diewald (1999: 365), die das weitläufige<br />

Ersch<strong>ein</strong>en von EMV für die frühe Neuzeit, zwischen 1500 und 1700<br />

ansiedeln.<br />

Das schlagartige Auftreten der EMV im 16. JH könnte Indiz dafür s<strong>ein</strong>, daß<br />

hier <strong>ein</strong>e Form von Reanalyse im Sinne Lightfoots (1979) stattgefunden hat.<br />

Lightfoot nimmt an, daß <strong>ein</strong>e Reihe von präteritopräsentischen Lexemen<br />

aufgrund von wuchernder Komplexität zu <strong>ein</strong>er eigenen Kategorie ”Modal” reanalysiert<br />

wurden. Lightfoot (1979:106) zufolge hatte diese katastrophale Re-<br />

Analyse aber k<strong>ein</strong>e Auswirkung auf die Polyfunktionalität der Lexeme:<br />

sowohl davor als danach, war diesen Verben jeweils <strong>ein</strong>e deontische als<br />

auch <strong>ein</strong>e epistemische Variante zu eigen.<br />

112


Die Sachlage im Deutschen ist nun aber <strong>ein</strong>e andere: <strong>ein</strong>erseits<br />

unterscheiden sich die deutschen MV bis ins Gwd hinauf nicht so drastisch<br />

von den Vollverben wie ihre englischen Gegenstücke (Abraham 2002). Und<br />

andererseits besteht ja der Hauptgrund unserer Annahme <strong>ein</strong>er Reanalyse<br />

darin, die Entstehung der Epistemizität der MV zu erklären. Insofern erfordert<br />

das Deutsche in diesem Punkt gesonderte Behandlung.<br />

Die Formulierung der Reanalyse müßte in etwa wie folgt lauten:<br />

Semantisch geeignete Verballexeme (Prä-MV) werden in bestimmten<br />

Kontexten als EMV reanalysiert, sodaß diese nach der Re-Analyse über zwei<br />

Formen verfügen. Eine wesentliche Voraussetzung für diese Re-Analyse<br />

besteht in der Herausbildung der Opposition [+/-kohärent] um 1500, auf<br />

deren Bedeutung im Zusammenhang mit der Entstehung der EMV schon<br />

Reis (2001: 309) hingewiesen hat. Eine weitere stellt höchstwahrsch<strong>ein</strong>lich<br />

die mit Beginn des Fnhd fast völlig verschwundene Aspektopposition dar, wie<br />

Leiss (2003a) vorgeschlagen hat. Im Gegensatz zum Englischen wurden<br />

aber sämtliche (Prä-)MV-Lexeme nicht zu <strong>ein</strong>er neuen Kategorie ”Modalverb”<br />

zusammengefaßt, zu heterogen erwiesen sich die hier behandelten Verben,<br />

um zu <strong>ein</strong>er homogenen Klasse zusammengefaßt zu werden.<br />

Möglicherweise erfolgte aber zu diesem Zeitpunkt <strong>ein</strong>e kategoriale<br />

Reanalyse dieser Verben zu FR-Prädikaten. Dafür spräche auch Diewalds<br />

(2001: 100) Feststellung, daß eben zu dieser Zeit epistemisches sch<strong>ein</strong>en<br />

erstmals mit (kohärentem) Infinitivanschluß auftritt und somit <strong>ein</strong> Wesensmerkmal<br />

von FR aufweist.<br />

Doch der Versuch, die Herausbildung von EMV durch Reanalyse zu<br />

erklären, bleibt nicht ohne Hindernisse. Erstens kann diese Reanalyse aus<br />

mehreren Gründen nicht alle klassischen MV-Lexeme (können, müssen,<br />

dürfen, sollen, wollen, mögen) umfassen. So hat nach neuestem<br />

Forschungsstand (Fritz 2000: 274f.) wollen s<strong>ein</strong>e quotativ-epistemische<br />

Lesart bereits im Ahd vollständig ausgebildet, die nicht nur mit dem r<strong>ein</strong>en<br />

Infinitiv realisiert wurde, sondern auch transitiv mit daß-Satz. 72 Ähnlich belegt<br />

72<br />

An dieser Stelle ist nun wirklich die Frage zu stellen, inwieweit der quotative Gebrauch von<br />

wollen noch als epistemisch gesehen werden kann. Nicht nur, daß er das <strong>ein</strong>zige Vorkommen<br />

von epistemischen Kontrollverb wäre, beziehungsweise <strong>ein</strong>e Reihe von Effekten zeigt, die die<br />

übrigen EMV nicht aufweisen (siehe Abschnitt 2.1), er müßte dann auch schon um <strong>ein</strong>ige<br />

Jahrhunderte vor der Entstehung der restlichen EMV entstanden s<strong>ein</strong>. Darüberhinaus spricht<br />

auch der Umstand, daß sich wollen mit daß-Satz quotativ interpretieren ließ, dafür,<br />

113


Fritz (1997: 11) sollen in s<strong>ein</strong>em quotativ epistemischen Gebrauch schon im<br />

Mhd des 13 Jahrhunderts. Diewald (1999: 421) hält dem entgegen, daß von<br />

<strong>ein</strong>er systematischen Grammatikalisierung erst ab 1600 die Rede s<strong>ein</strong> kann.<br />

Zweitens besteht die Frage, inwieweit die vorgeschlagene Reanalyse auch<br />

das Maß an Komplexität der Grammatik reduzieren würde. 73 In Lightfoots<br />

Paradebeispiel für das Englische ist dies offensichtlich: Elemente der<br />

Kategorie V beginnen sich zunehmend von den übrigen Elementen dieser<br />

Gruppe zu unterscheiden, bis die Kategorie V <strong>ein</strong> unerträgliches Maß an<br />

Komplexität angehäuft hat, sodaß <strong>ein</strong>e therapeutische Reanalyse nötig wird.<br />

Diese besteht darin, die unregelmäßigen Elemente zu <strong>ein</strong>er neuen Kategorie<br />

”Modal” mit eigener Distribution zusammenzufassen. Das Deutsche<br />

hingegen unterlag k<strong>ein</strong>er so starken kategorialen Umformung, was unter<br />

anderem darauf zurückzuführen ist, daß es im Gegensatz zum Englischen<br />

neben den MV-Vorläufern auch noch andere Präteritopräsentien in ihrer<br />

abweichenden Morphologie behielt. Möglicherweise bestünde die Reanalyse<br />

im Deutschen aber in der Herausbildung der FR-Prädikate.<br />

Drittens stellt sich dann die Frage, wie mit den jüngeren (quasi-)MV<br />

(brauchen, sch<strong>ein</strong>en, drohen, versprechen) verfahren werden soll. Denn<br />

wenn <strong>ein</strong> <strong>ein</strong>zelnes Verb in der Lage ist, <strong>ein</strong>e epistemische Form zu<br />

erwerben, bestünde ja die Möglichkeit, daß sich auch die jeweiligen<br />

epistemischen Varianten der klassischen MV individuell herauskristallisierten<br />

– womit die Annahme <strong>ein</strong>er derartigen Reanalyse hinfällig würde.<br />

Viertens bleibt noch die Schwierigkeit zu erklären, wie sich denn Reanalyse<br />

mit den neusten Erkenntnissen aus der L1-Erwerbsforschung ver<strong>ein</strong>baren<br />

läßt. Doitchinov (2001: 112&128) kommt zu folgendem Ergebnis: Während<br />

sich Kinder die Mittel zum Ausdruck deontischer Modalität schon innerhalb<br />

der ersten drei Jahren aneignen, sind sie in der Regel erst ab dem achtem<br />

Lebensjahr in der Lage, epistemische Modalität und EMV zu verwenden.<br />

Geht man davon aus, daß die Reanalyse zwischen zwei Generationen<br />

daß sich dieser Gebrauch von wollen syntaktisch ganz klar von den herkömmlichen<br />

epistemischen Formen unterscheidet. Folglich ist wollen wenn überhaupt auf <strong>ein</strong>e andere Art<br />

polyfunktional als die verbleibenden MV.<br />

Für <strong>ein</strong>en weiteren Beibehalt von wollen als MV spricht die Erkenntnis Fritz (2000), daß es in<br />

s<strong>ein</strong>er Zeit als Futurmarker analog zum gwd werden <strong>ein</strong>e tatsächlich epistemische Variante<br />

ausgebildet hatte.<br />

114


erfolgt, so bleibt zu klären, unter welchen Umständen es genau möglich ist,<br />

daß die jüngere Generation im Zuge dieser Reanalyse Mittel erwirbt, die <strong>ein</strong><br />

derart großes Maß an Komplexität involvieren, daß sie erst sehr spät gelernt<br />

werden können. Womöglich liegt der Grund darin nicht in der Theorie der<br />

Grammatik sondern vielmehr in außersprachlichen Faktoren.<br />

So gesehen ersch<strong>ein</strong>t der Versuch sehr fraglich, die Entstehung der EMV<br />

durch <strong>ein</strong>e Reanalyse erklären zu wollen. Zumal noch gar nicht geklärt ist, ob<br />

der Grad der Komplexität vor und nach der Herausbildung <strong>ein</strong>e solche<br />

überhaupt rechtfertigt.<br />

Wenn die Entstehung der EMV tatsächlich maßgeblich durch <strong>ein</strong>e Re-<br />

Analyse motiviert wurde, dann nur im Zusammenhang der Herausbildung<br />

<strong>ein</strong>er neuen Kategorie um 1500: den FR-Prädikaten, die zu Epistemizität<br />

fähig sind. 74 Diese Prädikate sind zwar nicht allesamt epistemische Verben,<br />

aber alle epistemischen Verben sind ihnen zuzurechnen.<br />

Zusammenfassung:<br />

In Wolfams Parzival lassen sich für die Indikativ Präsensformen von<br />

müezen und mugen jeweils nur <strong>ein</strong> bis zwei Belege finden, die wohl<br />

tatsächlich epistemisch zu interpretieren sind, sodaß von <strong>ein</strong>er<br />

systematischen EMV-Ausbildung nicht die Rede s<strong>ein</strong> kann. Die<br />

Herausbildung erfolgte offensichtlich erst um ca. 1500.<br />

Möglicherweise erfolgte die systematische Herausbildung der EMV durch<br />

<strong>ein</strong>e Reanalyse, die die Vorgänger der MV (nebst anderen Verben wie<br />

sch<strong>ein</strong>en) zu <strong>ein</strong>er neuen Kategorie, den FR-Prädikaten formte. Diese<br />

Annahme wirft aber <strong>ein</strong>e Reihe von Problemen auf und bedarf erst <strong>ein</strong>es<br />

Nachweises.<br />

3.5 Zusammenfassung.<br />

Kapitel 3 hatte sich <strong>ein</strong>gangs zum Ziel gesetzt, die Umstände der<br />

Entstehung der EMV genauer zu beleuchten. Der in den Kapiteln 1 und 2<br />

schon mehrfach sich offenbarende Zusammenhang zwischen Epistemizität<br />

73<br />

Sollten wir zu dem Schluß kommen, daß durch die vorgeschlagene Reanalyse nicht<br />

Komplexität ab- sondern aufbaut, würde sich unsere Annahme als kontraintuitiv erweisen. Denn<br />

<strong>ein</strong>e Re-Analyse erfolgt auschließlich zur Komplexitätsreduktion.<br />

74<br />

Siehe dazu Reis´ (2001: 308) Ausführungen über Epistemizität bei ECM.<br />

115


und obligatorischer Kohärenz (FR) erweist sich auch in der diachronen<br />

Betrachtung als zentral. Offensichtlich setzt die Entstehung von EMV im<br />

engeren Sinne, das Vorhandens<strong>ein</strong> der Opposition [+/- kohärent] voraus.<br />

Diese gewann ihren distinktiven Charakter aber erst um 1500, sodaß EMV<br />

erst mit diesem Zeitpunkt in höherer Frequenz auftreten. Die Untersuchung<br />

legte nahe, den quotativen Gebrauch wollen nicht den EMV zuzurechnen,<br />

sondern als eigene Form von Polyfunktionalität zu betrachten, da dieser<br />

schon im Ahd geläufig war und sich nicht nur auf wollen + INFINITIV<br />

beschränkte, sondern auch mit wollen + daß-Satz möglich war.<br />

Das ziemlich abrupte Ersch<strong>ein</strong>en der EMV lädt zu dem Schluß <strong>ein</strong>, daß das<br />

Entstehen von syntaktisch und semantisch abgrenzbaren epistemischen<br />

Formen durch Reanalyse motiviert ist. Zahlreiche Hindernisse gilt es aber<br />

hier zu überwinden, um <strong>ein</strong>en Ansatz zu entwickeln, der sich als<br />

aufrechterhaltbar und adäquat erweist.<br />

Während sich noch die Frage stellt, inwieweit in den Entstehungsprozeß<br />

der EMV Reanalyse involviert war, läßt sich mit an Sicherheit grenzender<br />

Wahrsch<strong>ein</strong>lichkeit sagen, daß sich die MV entlang <strong>ein</strong>es GR-Kanals vom<br />

Vollverb zumindest bis zum epistemischen Verb entwickelt haben, wie<br />

Diewald (1999 ) und Lehmann (1995) vorgeschlagen haben. Diewald (1999:<br />

5&49ff.) zufolge ist diese Entwicklung entlang <strong>ein</strong>es GR-Kanals nicht so zu<br />

verstehen, daß während der Phase I das Verb ausschließlich als Vollverb<br />

gebraucht wird, während der Phase II nur als DMV und in Phase III nur noch<br />

als EMV, sondern vielmehr, daß zu <strong>ein</strong>em Zeitpunkt mehrere<br />

Entwicklungsstufen <strong>ein</strong>es Verbes in <strong>ein</strong>er Sprache präsent s<strong>ein</strong> können.<br />

Dementsprechend bezeichnet sie diese Verben als interkategorial.<br />

Die Vorkommen von mugen und müezen im Parzival passen genau in das<br />

Bild, das Lehmann (1995) und Diewald (1999) entwerfen: Sie weisen schon<br />

<strong>ein</strong> geringes Maß an Grammatikalisierung auf, sind aber durch die fehlende<br />

Opposition [+/- kohärent] gehindert, sich von den anderen Verben weiter<br />

wegzuentwickeln.<br />

Darüber hinaus sch<strong>ein</strong>t es mehr als <strong>ein</strong>en GR-Pfad zu geben, der zur<br />

epistemischen Klasse führt. Jedes Verb erwirbt die Epistemizität offensichtlich<br />

auf <strong>ein</strong>e andere Weise, was womöglich auf die individuelle Semantik<br />

zurückzuführen ist. Verben wie sch<strong>ein</strong>en, drohen und versprechen benötig-<br />

116


ten hiezu k<strong>ein</strong>en Infinitiv (zieht man mhd und ahd Belege hinzu gilt selbiges<br />

offensichtlich auch für quotatives wollen), die anderen betrachteten Verben<br />

aber schon. Kurz gesagt, für diese Verben besteht <strong>ein</strong> verzweigtes Netz von<br />

GR-Kanälen, die von verschiedenen Vollverben ausgehend nach und nach in<br />

<strong>ein</strong>ander münden und zumindest bis zur Erlangung der Epistemizität führen.<br />

Möglicherweise stellte das entscheidende Moment für <strong>ein</strong>e Reihe dieser<br />

Verben <strong>ein</strong>e Reanalyse dar.<br />

Abschließend noch <strong>ein</strong> Verweis auf <strong>ein</strong>e Reihe von Ansätzen zur<br />

Herausbildung der Epistemizität, die im Verlauf dieser Arbeit immer wieder<br />

Erwähnung fanden: Abraham (2003a,b) und Leiss (2003a) schreiben der<br />

Kategorie Aspekt die tragende Rolle im Entstehungsprozeß der EMV zu.<br />

Genauer gesagt, erwürben die Prä-MV die Epistemizität deswegen, weil das<br />

Aspektsystem im Niedergang ist und somit <strong>ein</strong> Mittel verloren geht,<br />

Epistemizität sprachlich-distributionell zu kodieren. Dieser Ansatz sch<strong>ein</strong>t mir<br />

in s<strong>ein</strong>er Richtung vielsprechend zu s<strong>ein</strong>, auch wenn er <strong>ein</strong>iger<br />

Modifikationen bedarf, wie schon in Abschnitt 3.3.4 gezeigt.<br />

Fritz (1997: 11) geht hingegen davon aus, daß Verben, die <strong>ein</strong>e abstrakte<br />

Möglichkeit zum Ausdruck bringen können und somit semantisch schwer von<br />

EMV zu unterscheiden sind, das Einfallstor für Epistemizität darstellen, wie<br />

ahd. magan. Als entscheidenden Mechanismus des Sprachwandels und<br />

somit auch der Herausbildung der EMV sieht er die konversationelle<br />

Implikatur an, die auch in Diewalds (1999) Analyse die tragende Rolle spielt.<br />

117


4. Vorteile <strong>ein</strong>es diachronen Ansatzes.<br />

Zu Beginn dieser Arbeit stand die Frage, worin das Wesen der gwd MV<br />

überhaupt besteht. Im Anschluß daran folgte der Versuch, die sechs<br />

klassischerweise als ”Modalverb” bezeichneten Lexeme hinsichtlich ihrer<br />

Gem<strong>ein</strong>samkeiten in der Gegenwartssprache von den übrigen Verben<br />

abzugrenzen.<br />

Dieser Versuch mißlang, denn <strong>ein</strong> synchroner Sprachzustand enthält immer<br />

Elemente verschiedenen Alters. So liegt uns das Verb können in der<br />

heutigen Zeit mindestens in drei verschieden alten Formen vor: in der alten<br />

Vollverb-Variante (Sie kann Schach), in der jüngeren DMV-Variante (Die<br />

Lampe kann umfallen) und in der noch jüngeren EMV-Variante (Er kann noch<br />

gar nicht da s<strong>ein</strong>). Und diese drei Formen lassen sich natürlich nicht gleich<br />

behandeln. In <strong>ein</strong>em strengen synchronen Standpunkt müßten eigentlich drei<br />

verschiedene Lexikon<strong>ein</strong>träge angenommen werden, um dem jeweils<br />

verschiedenen syntaktischen Status dieser Formen gerecht zu werden. Die<br />

Verschiedenheit im Gebrauch von können vermag aber k<strong>ein</strong> r<strong>ein</strong> synchroner<br />

Ansatz adäquat zu erfassen. Vielmehr ist <strong>ein</strong> solcher gezwungen, für dieses<br />

Lexem bestimmte Ausnahmeregelungen zu treffen, was die Theorie aber<br />

vieles an Effizienz und Ökonomie <strong>ein</strong>büßen läßt.<br />

Nun verhalten sich aber nicht alle MV wie können, vielmehr verhält sich<br />

jedes ganz unterschiedlich. So hat sollen hingegen s<strong>ein</strong>e älteste Form, den<br />

transitiven Gebrauch schon verloren. Ein synchroner Ansatz müßte somit für<br />

nahezu jedes (quasi-)MV mehrere Lexikon<strong>ein</strong>träge mit Ausnahmeregelungen<br />

postulieren, ohne die zu Tage tretenden Unregelmäßigkeiten erklären zu<br />

können, worunter natürlich die Erklärungskraft leidet.<br />

Da <strong>ein</strong> synchroner Zustand <strong>ein</strong>er Sprache gewissermaßen immer <strong>ein</strong> Abbild<br />

s<strong>ein</strong>er diachronen Entwicklung darstellt, immer auch noch Elemente aus<br />

früheren Sprachstufen enthält, empfiehlt es sich, selbst synchronen<br />

Phänomen mit dem Blick <strong>ein</strong>es Sprachhistorikers zu begegnen. Denn<br />

vermittels <strong>ein</strong>es diachronen Ansatzes lassen sich selbst die<br />

Unregelmäßigkeiten der MV zum großen Teil erklären. Über das Konzept der<br />

118


GR-Kanäle von Lehmann (1995) läßt sich die Formenvielfalt und<br />

Interkategorialität der MV besser verstehen (bis auf die Ausnahme der sich<br />

verselbstständigenden Formen möchte und dürfte, die aber anhand anderer<br />

diachrone Entwicklungen erklärt werden können, wie Diewald (1999) und<br />

Fritz (1997) zeigen). Während synchrone Theorien mit den verschiedenen<br />

Formen von können nur schwerlich wissen umzugehen, können diachrone<br />

Theorien diese in Zusammenhänge stellen, durch welche ihnen mehr<br />

Erklärungskraft zukommt. Auf diese Weise ist <strong>ein</strong>e Theorie nicht mehr auf<br />

unmotivierte umständliche Postulate von Ausnahmen angewiesen, und man<br />

kann somit <strong>ein</strong>facher Generalisierungen treffen. Auf diese Weise läßt sich <strong>ein</strong><br />

weitaus höheres Maß an explanativer Adäquatheit erreichen als mit dem<br />

losen Bündel an Merkmalen aus Abschnitt 1.1.<br />

119


5. Abschließende Betrachtungen.<br />

Der Begriff ”Modalverb” hat sich im Laufe der Untersuchung als ungenau<br />

erwiesen, sodaß s<strong>ein</strong>e wissenschaftliche Tauglichkeit in Frage gestellt<br />

werden muß.<br />

Den Ausgangspunkt der Arbeit stellte <strong>ein</strong>e Sammlung von Kriterien dar, die<br />

gem<strong>ein</strong>hin als Eigenschaften und Besonderheiten der MV betrachtet wird.<br />

Wir schlossen uns Öhlschlägers (1989) Kritik diesbezüglich an und weiteten<br />

diese sogar noch aus: <strong>ein</strong>e bloße An<strong>ein</strong>anderreihung von Eigenschaften<br />

besitzt k<strong>ein</strong>e große Erklärungskraft. Insofern bestand unsere Aufgabe darin,<br />

möglichst großen Zusammenhang zwischen den verschiedenen<br />

Eigenschaften herzustellen. Zwei von ihnen erwiesen sich als zentral:<br />

Polyfunktionalität und FR beziehungsweise obligatorische Kohärenz.<br />

Im Zuge der Analyse stellte sich aber heraus, daß <strong>ein</strong>e intensionale<br />

Definition <strong>ein</strong>er hinreichend homogenen MV-Klasse, die nur die traditionellen<br />

sechs Lexeme können, müssen, dürfen, sollen, wollen und mögen umfaßt,<br />

nicht möglich ist. Eine r<strong>ein</strong> extensionale Definition läßt sich aber<br />

wissenschaftlich nicht rechtfertigen. Somit waren wir genötigt, auch andere<br />

Lexeme mit<strong>ein</strong>zubeziehen, die sich ähnlich verhalten: vor allem (nicht)<br />

brauchen aber auch werden, drohen, versprechen und sch<strong>ein</strong>en.<br />

Ähnlich wie Reis (2001) waren wir folglich bestrebt, die MV als die <strong>ein</strong>zigen<br />

polyfunktionalen Lexeme zu definieren und zumindest obligatorische<br />

Kohärenz beziehungsweise FR als Bedingung für ihre Epistemizität<br />

anzusehen. Damit waren aber noch nicht alle Fragen geklärt. Wieso verfügen<br />

manche MV-Lexeme über <strong>ein</strong>en transitiven Gebrauch andere aber nicht?<br />

Warum konstruiert wollen als <strong>ein</strong>ziges MV in s<strong>ein</strong>er epistemischen Variante<br />

als Kontrollverb? Wieso haben möchte und dürfte ihre Konjunktivbedeutung<br />

weitgehend verloren? Wieso lassen sich sch<strong>ein</strong>en und drohen auch ohne<br />

Infinitiv epistemisch interpretieren? All diese Fragen lassen sich in der<br />

synchronen Sprachwissenschaft gar nicht oder nur mühsam beantworten.<br />

Mehr Durchblick verschafft hier <strong>ein</strong> diachroner Ansatz. Anhand Lehmanns<br />

(1995) Konzept des GR-Kanals läßt sich <strong>ein</strong>iges der Formenvielfalt der MV<br />

120


erklären: <strong>ein</strong> lexikalisches Element entwickelt sich im Laufe der Zeit langsam<br />

zu <strong>ein</strong>em funktionalem, wobei sich aber nicht all s<strong>ein</strong>e Vorkommen gleich<br />

schnell entwickeln: manche bleiben auf unterschiedlichen Stufen zurück und<br />

fossilisieren, andere verschwinden gar vollständig. Auf diese Weise entstand<br />

die Interkategorialität der MV (Diewald 1999), die sich in der Existenz von<br />

älteren DMV und jüngeren EMV offenbart und in manchen Fällen sogar noch<br />

im Vorkommen ihrer transitiven Urform.<br />

Da manche Verben aber im Stande sind, ohne Infinitiv Epistemizität<br />

auszudrücken, während dies für die meisten anderen aber nicht zutrifft,<br />

kommen wir mit der Annahme <strong>ein</strong>es <strong>ein</strong>zigen GR-Kanal für (Quasi-)MV nicht<br />

aus. Offensichtlich existiert für diese Verben vielmehr <strong>ein</strong> verzweigtes<br />

Netzwerk an GR-Kanälen, die von verschiedenen Vollverben mit geeigneter<br />

Semantik ausgehen und auf dem Weg zur Epistemizität nach und nach in<br />

<strong>ein</strong>ander münden. Ausschlaggebend dafür, ob sich nun <strong>ein</strong> Verb zu <strong>ein</strong>em<br />

(quasi-)EMV entwickeln kann, dürfte folglich vor allem s<strong>ein</strong>e Semantik s<strong>ein</strong>.<br />

Daß die GR von epistemischen Verben aber k<strong>ein</strong> r<strong>ein</strong> semantischer Prozeß<br />

ist, zeigt der Umstand, daß sie allesamt Wurmbrands (2001) FR<br />

zuzurechnen sind – mit der Ausnahme von dem Kontrollverb wollen, das aus<br />

vielerlei Gründen sich von den (übrigen?) epistemischen Verben deutlich<br />

unterscheidet. Tatsächlich sch<strong>ein</strong>t wollen gar k<strong>ein</strong>e epistemische<br />

Interpretation zu besitzen, was uns hier aber weiter nicht stören soll.<br />

Der <strong>ein</strong>zige Punkt, der für <strong>ein</strong>e gleichberechtigte epistemische Lesart von<br />

wollen spricht, ist in der Reflextheorie zu suchen. Diese besagt, daß die EMV<br />

jeweils die Bedeutung ihrer deontischen Entsprechungen in verblaßter Form<br />

widerspiegeln. Das trifft aber wahrsch<strong>ein</strong>lich auf alle<br />

Grammatikalisierungsprozesse zu, und nicht nur auf die Herausbildung der<br />

EMV. Somit ist die Reflextheorie als nichts anderes anzusehen als <strong>ein</strong>e<br />

Instantierung von Lightfoots (1979) Restriktion, daß Sprachwandel die<br />

Kommunikation zwischen zwei Generationen nicht b<strong>ein</strong>trächtigen darf.<br />

Im Gegensatz zu Fritz (1997), Krause (1997), Diewald (1999), Abraham<br />

(2003b) und Leiss (2003a,b) kam diese Studie zu dem Schluß, daß vor dem<br />

Fnhd k<strong>ein</strong> <strong>ein</strong>ziges MV systematisch zur Kodierung von Epistemizität<br />

Verwendung fand. Der große Schub erfolgte Reis (2001) zufolge erst um<br />

1500 und steht womöglich im Zusammenhang mit <strong>ein</strong>er Re-Analyse, die <strong>ein</strong>e<br />

121


neue Kategorie, die FR-Prädikate, zum Ergebnis hatte. Eine solche<br />

Hypothese bedarf aber erst vielfältiger empirischer Verifikation.<br />

Angesichts der diachronen Betrachtung der MV erweist sich<br />

Polyfunktionalität jedoch als fragwürdiges Kriterium zur Definition <strong>ein</strong>er MV-<br />

Klasse. Denn Polyfunktionalität ist offensichtlich nichts anderes als <strong>ein</strong><br />

Zwischenstadium <strong>ein</strong>er Entwicklung. Die MV des amerikanischen Englisch<br />

weisen zum Beispiel in den meisten Fällen gar k<strong>ein</strong>e deontischen Formen<br />

mehr auf. Möglicherweise schlagen auch die deutschen MV diesen Weg <strong>ein</strong>.<br />

Mit dem Verlust ihrer nicht-epistemischen Formen verlören diese dann aber<br />

auch ihre Polyfunktionalität, sodaß sie der Intension des von Reis (2001)<br />

vorgeschlagenen MV-Begriff nicht mehr entsprächen.<br />

Eine wissenschaftlich brauchbare Definition <strong>ein</strong>er exakten MV-Klasse<br />

sch<strong>ein</strong>t mit an Sicherheit grenzender Wahrsch<strong>ein</strong>lichkeit gar nicht möglich zu<br />

s<strong>ein</strong>, weswegen jeglicher Versuch, <strong>ein</strong>e solche ohne rhetorische Akrobatik zu<br />

formulieren, letztendlich zum Scheitern verurteilt ist – so muß auch die<br />

vorliegende Arbeit daran scheitern.<br />

Doch diese Fragen der Definition und der Klassifikation stehen nur im<br />

Hintergrund. Wesentlich sind vielmehr die Zusammenhänge zwischen den<br />

verschiedenen Eigenschaften der beobachteten Verben sowie zwischen<br />

diesen selbst, hier die wichtigsten:<br />

• Alle epistemischen Verben sind obligatorisch kohärente<br />

Anhebungsverben, mit anderen Worten FR-Prädikate.<br />

• Zwischen der epistemischen und nicht-epistemischen<br />

Lesart bestehen Präferenzen hinsichtlich syntaktischer<br />

Distribution, Subjektwahl und Aspekt des <strong>ein</strong>gebetteten<br />

Infinitivs.<br />

• Epistemizität läßt sich hinsichtlich ihrer temporalen<br />

Spezifikation in futurische Epistemizität (FutE) und<br />

präsentische Epistemizität (PräE) unterscheiden. Während<br />

die meisten epistemischen Verben mit beiden Arten<br />

verträglich sind, dulden drohen und versprechen aufgrund<br />

ihrer Semantik nur FutE-Komplemente.<br />

122


In Anbetracht dessen erweist es sich als zielführender, von <strong>ein</strong>er MV-<br />

Klasse im Deutschen überhaupt Abstand zu nehmen und anstelle davon den<br />

Blick auf <strong>ein</strong> offenes Feld von epistemischen Verben zu richten. Auf diese<br />

Weise läßt sich mit sehr simplen Mitteln <strong>ein</strong>e ganze Reihe von<br />

grammatikalisierten Verben in s<strong>ein</strong>em Wesen adäquat erfassen. Eine Klasse<br />

von MV, die sich durch <strong>ein</strong> binäres Merkmal [+/- Modalverb] von anderen<br />

Lexemen abgrenzt, entspricht <strong>ein</strong>fach nicht der Empirie.<br />

123


6. Appendix.<br />

Im Anschluß folgen die Daten zu den Hypothesen in Abschnitt 3.3 und 3.4. In<br />

Klammer jeweils die Vorkommen der <strong>ein</strong>zelnen Klassifizierten Verben.<br />

6.1 mugen (206)<br />

6.1.1 FÜR EINE EPISTEMISCHE INTERPRETATION IN FRAGE KOMMEND<br />

(19) :<br />

a) mugen in V1 und V2 (14)<br />

aa) mit Extraposition von Komplementen oder Adjunkten (8)<br />

ez mac wol sîn <strong>ein</strong>s werden man ,<br />

der niht mit armüete kan .<br />

(Parz. 62,23-24)<br />

diu künegîn hât den schoensten man<br />

der schildes ambet ie gewan :<br />

er mac wol sîn von hôher art .<br />

(Parz. 219,11-13)<br />

herre , sît ir anders kluoc ,<br />

sô mac es dunken iuch genuoc .<br />

(Parz. 406,1-2)<br />

iu mac durch rüemen wesen liep<br />

der schilt dürkel als <strong>ein</strong> sip,<br />

den iu sô manec phîl zebrach.<br />

(Parz. 599,3-5)<br />

mîn gotinne Jûnô<br />

dises prîses mac wol wesen vrô .<br />

(Parz. 748,17-18)<br />

Ob von Troies meister Kristjân<br />

disem mære hât unreht getân ,<br />

daz mac wol zürnen Kîôt .<br />

(Parz. 827,1-3)<br />

ir muget wol sîn von ritters art .<br />

(Parz. 123,11)<br />

ir muget wol anders sîn <strong>ein</strong> helt :<br />

dirre kamph ist iu doch niht erwelt .<br />

(Parz. 693,19-20)<br />

124


ab) ohne Extraposition (6).<br />

etslîcher mac <strong>ein</strong> Anschevîn<br />

mit sîner sprâche iedoch wol sîn .<br />

(Parz. 62,5-6)<br />

b) mugen in VL (5):<br />

er sprach : mîn vrouwe mac wænen , daz dû tobes ,<br />

sît dû mich alsô verlobes .<br />

(Parz. 86,5-6)<br />

iedoch wil ich iu râten daz ,<br />

heizt entwâpen disen gevangen :<br />

in mac hie stêns erlangen . "<br />

(Parz. 218,28-30)<br />

unkundem gaste<br />

mac hie wol grôzer schade geschehen .<br />

(Parz. 250,6-7)<br />

Condwîrâmûrs , sich mac vür wâr<br />

disiu varwe dir gelîchen .<br />

(Parz. 282, 28-29)<br />

ir traget geschickede unde schîn ,<br />

ir muget wol volkes herre sîn .<br />

(Parz. 170,21-22)<br />

ba) mit Extraposition von Komplementen oder Adjunkten (1)<br />

baa) in für Inkohärenz typischer Verbabfolge(0)<br />

bab) in für Kohärenz typischer Verbabfolge (1)<br />

diu vier wazzer ûz dem pardîs ,<br />

sô nâhe hin zuo ir süezer smac<br />

dennoch niht sîn verrochen mac ,<br />

ob deh<strong>ein</strong> wurz dinne quæme ,<br />

diu unser trûren næme .<br />

(Parz. 481, 22-26)<br />

bb) ohne Extraposition (4)<br />

bba) in für kohärenz untypischer Verbabfolge (1)<br />

sô denke , daz uns beiden<br />

diu minne mac wol lônen .<br />

(Parz. 715,26-27)<br />

bab) in für kohärenz typischer Verbabfolge (3)<br />

mîn manheit ist doch sô quec ,<br />

daz iuwer bruoder êrec ,<br />

mîn swâger , fil li roi Lac ,<br />

iuch wol dar umbe hazzen mac .<br />

(Parz. 134, 5-8)<br />

125


sîn swester was diu muoter mîn ,<br />

iuwers wirtes . sîner tohter schîn<br />

sich ouch vor jâmer krenken mac .<br />

wir haben manegen sûren tac<br />

mit nazzen ougen verklaget ,<br />

ich und Lîâze diu maget .<br />

(Parz. 189,27-190,2)<br />

von hiute über den ahten tac<br />

mit grôzer schoie er komen mac .<br />

(Parz. 610,19-20)<br />

6.1.2 FÜR EINE EPISTEMISCHE INTERPRETATION NICHT IN FRAGE<br />

KOMMEND (187):<br />

a) mugen in V1 und V2 (148)<br />

aa) mit Extraposition von Komplementen oder Adjunkten (63)<br />

der mac dennoch wesen geil ,<br />

(Parz. 1,7)<br />

doch mac mit stæte niht gesîn<br />

dirre trüebe lîhte schîn :<br />

(Parz. 1,23-24)<br />

vor den wirt nimmer niht gespart<br />

des ie bejagen mac mîn hant .<br />

(Parz. 8,6-7)<br />

iu enmac nie man von mir gesagen<br />

deh<strong>ein</strong>iu klagelîchiu leit .<br />

(Parz. 11,4-5)<br />

von dem mac ich wol sprechen mêr ,<br />

(Parz. 32,8)<br />

ist er verladen mit strîtes last ,<br />

sô enmac ich nimmer werden wert .<br />

(Parz. 42,20-21)<br />

hiest manec ritter durch diu wîp,<br />

des niht erkennen mac mîn lîp.<br />

(Parz. 67,5-6)<br />

ez mac mir geschaden niht .<br />

(Parz. 77,12)<br />

Môrolt , der mînen neven stal ,<br />

von dem sol er ledec sîn ,<br />

mac mîn her Brandelidelîn<br />

ledec sîn von dîner hant .<br />

(Parz. 86,14-17)<br />

ob ich guotes wîbes minne ger ,<br />

mac ich mit schilde und ouch mit sper<br />

verdienen niht ir minne solt ,<br />

al dar nâch sî si mir holt .<br />

(Parz. 115,15-18)<br />

126


sô mac belîben dir daz golt .<br />

(Parz. 143,10)<br />

mac mir des harnas werden niht ,<br />

ich enruoche wer küneges gâbe giht .<br />

(Parz. 149,29-30)<br />

im ist minne und gruoz bereit ,<br />

mac er geniezen werdekeit .<br />

(Parz. 169,1-2)<br />

nû wirt mîn herre jâmers vrî :<br />

sich mac nû jungen wol sîn leben ,<br />

er sol im ze wîbe geben<br />

sîne tohter , unser vrouwen .<br />

(Parz. 175,10-13)<br />

der sigehafte sprach : " mîn wîp<br />

mac nû belîben vor dir vrî .<br />

(Parz. 212,30-213,1)<br />

mac ich iu gedienen vil ,<br />

daz gildet iuwer minne wert . "<br />

(Parz. 223,24-25)<br />

Swer ruochet hoeren war nû kumt<br />

den âventiur hât ûz gevrumt ,<br />

der mac grôziu wunder<br />

merken al besunder .<br />

(Parz. 224,1-4)<br />

ich macz wol sprechen âne guft ,<br />

er was noch wîzer dan der tuft .<br />

(Parz. 240,29-30)<br />

der mac gerîten noch gegên<br />

noch geligen noch gestên .<br />

(Parz. 251,17-18)<br />

diu riet ir vrouwen : " lât genesen<br />

disen man , der den iuwern sluoc :<br />

er mac ergetzen iuch genuoc . "<br />

(Parz. 253,12-14)<br />

g<strong>ein</strong> der gunêrten herzogîn<br />

mac ich suone gephlegen niht ,<br />

swaz halt anders mir geschiht . "<br />

(Parz. 267,6-8)<br />

sprach : " liute , lant noch varnde guot ,<br />

der deh<strong>ein</strong>ez mac gehelfen dir ,<br />

(Parz. 267,10-11)<br />

jâ mac mit êren nû mîn lîp<br />

ergetzen diz werde wîp ,<br />

(Parz. 279,29-30)<br />

starc , küene , wol gevar ,<br />

getriuwe unde rîche ,<br />

hât er diu volleclîche ,<br />

er mac borgen deste baz .<br />

(Parz. 324,6-9)<br />

127


sol ich durch mîner zuht gebot<br />

hoeren nû der werlde spot ,<br />

sô mac sîn râten niht sîn ganz :<br />

mir riet der werde Gurnemanz<br />

(Parz. 330,1-4)<br />

ich mac vor vlüste baz genesen<br />

dort in der stat dan hie bî in .<br />

(Parz. 351,18-19)<br />

waz mac ich nû sprechen mêr ?<br />

(Parz. 379,3)<br />

nû kêret allen iuwern vlîz ,<br />

ob er ledec müge sîn ,<br />

mac er sô vil geniezen mîn "<br />

(Parz. 388,20-22)<br />

man mac doch dicke schouwen<br />

vroun Lûneten rîten zuo<br />

etslîchem râte gar ze vruo .<br />

(Parz. 436,8-10)<br />

oder mac schilt unde swert<br />

sîner helfe sîn sô wert<br />

(Parz. 451,17-18)<br />

wie mac der tiuvel solhen spot<br />

gevüegen an sô wîser diet ,<br />

(Parz. 454,4-5)<br />

( oder mac ez dâ von wesen ganz ,<br />

daz diu riuwe ir scharphen kranz<br />

mir setzet ûf werdekeit ,<br />

die schiltes ammet mir erstreit<br />

g<strong>ein</strong> werlîchen handen ? ) ,<br />

(Parz. 461,17-21)<br />

werdet ir ervunden an rehter ê ,<br />

iu mac zer helle werden wê ,<br />

(Parz. 468,5-6)<br />

swelhes tages ez den st<strong>ein</strong> gesiht ,<br />

die wochen mac ez sterben niht ,<br />

diu aller schierst dar nâch gestêt .<br />

(Parz. 469,15-17)<br />

mac ritterschaft des lîbes prîs<br />

und doch der sêle pardîs<br />

bejagen mir schilte und ouch mit sper ,<br />

sô was ie ritterschaft mîn ger .<br />

(Parz. 472,1-4)<br />

sô twinct si ir vriunt sô sêre ,<br />

man mac es ir jehen zunêre .<br />

(Parz. 478,11-12)<br />

dô dâhte er : wer mac sîn diz wîp ,<br />

diu alsus werlîchen lîp<br />

hât , daz si schiltes phliget ?<br />

(Parz 504,15-17)<br />

128


dar engêt niht kinde reise ,<br />

ez mac wol heizen vreise . "<br />

(Parz. 507,19-20)<br />

iuwer unversichert hant<br />

mac grîfen wol an smæher phant . "<br />

(Parz. 515,25-26)<br />

wederz mac daz wæger sîn ,<br />

ze vuoz oder ûf dem pherdelîn ?<br />

(Parz. 536,19-20)<br />

sît man iu tjost verzinsen sol ,<br />

er mac iu zins geleisten wol .<br />

(Parz. 545,11-12)<br />

swer ie solher noete phlac ,<br />

der mac erkennen phîle .<br />

(Parz. 569,8-9)<br />

sîn sun ist des unverzaget ,<br />

in sol des niht verdriezen ,<br />

mac er niht geniezen<br />

sîner swester wol gevar ,<br />

ze phande er gît sich selben dar .<br />

(Parz. 609,16-20)<br />

ich enmac niemêr verliesen<br />

vreuden , denne ich hân verlorn<br />

an Zidegaste dem ûz erkorn .<br />

(Parz. 612,28-309<br />

mac diu harphe wesen mîn ,<br />

ledec ist duc de Gôwerzîn . "<br />

(Parz. 623,23-24)<br />

waz mac ich sprechen mêre ,<br />

(Parz. 624,20)<br />

swer solhe helfe ertwinge<br />

mit sîner ellenthaften hant ,<br />

den mac man hân vür prîs erkant<br />

(Parz. 676,20-22) .<br />

ich mac wol dîner güete jehen<br />

stæte âne wenken sus :<br />

(Parz. 715,14-15)<br />

ir art mac ich benennen niht .<br />

(Parz. 735,30)<br />

ich mac nû wol duzen dich :<br />

(Parz 814,19)<br />

sô mac ich iu belîben bî .<br />

(Parz. 825,20)<br />

ir sît getriuwe unde wîs<br />

und ouch wol sô gewaldec mîn ,<br />

ir muget mir geben hôhen pîn .<br />

(Parz. 136,12-14)<br />

129


( ir muget mir dannoch vüegen nôt )<br />

(Parz. 136,17)<br />

ir mugetz wol vüeren alle wege :<br />

(Parz. 239,30)<br />

ir muget mit vreuden herre sîn<br />

über manegen liehten schîn ,<br />

vrouwen von manegen landen .<br />

(Parz. 558,25-27)<br />

" ir muget si beide schouwen<br />

ledec , ê daz uns kom diu naht . "<br />

(Parz. 624,8-9)<br />

ir mugets im jehen ze heile ,<br />

daz im diu sælde ie geschach .<br />

(Parz. 624,26-27)<br />

ir muget wol an dem brieve sehen<br />

mêr , denne ichs iu künne jehen .<br />

(Parz. 645,19-20)<br />

wil er wenken als <strong>ein</strong> eichorn ,<br />

ir muget in schiere hân verlorn .<br />

(Parz. 651,13-14)<br />

ir muget uns vreude machen hel ,<br />

daz wir vreude vüeren in manegiu lant ,<br />

dâ nâch uns sorge wart erkant .<br />

(Parz. 660,8-10)<br />

ir muget mir schaden hân getân ,<br />

den ich doch ungedienet hân ,<br />

sît ir mich gesuochet hât .<br />

(Parz. 673,29-674,1)<br />

von dem selben werden manne<br />

muget ir wol ê hân vernomen :<br />

an den rehten stam diz mære ist komen .<br />

(Parz. 678,28-20)<br />

ir enmuget sis niht bescheiden baz ,<br />

ez was Feirefîz Anschevîn .<br />

(Parz. 77,6-7)<br />

ab) ohne Extraposition (86)<br />

mîn bruoder der mac sich mêre<br />

der stæten helfe an mich versehen ,<br />

(Parz. 6,30-7,1)<br />

vrouwe , ich enmac dich niht verheln ,<br />

wære dîn orden in mîner ê ,<br />

sô wære mir immer nâch dir wê :<br />

(Parz. 55,24)<br />

wer solde ouch vinsterlingen spiln ?<br />

es mac die müeden doch beviln .<br />

(Parz. 82,19-20)<br />

130


ich mac iuch wol ergetzen sîn :<br />

(Parz. 99,10)<br />

ich enmac es niht abe gezwicken .<br />

(Parz. 124,4)<br />

ob ich in mac errîten ,<br />

ich wil gerne mit im strîten .<br />

(Parz. 139,7-8)<br />

swenne ich daz mac gerechen ,<br />

daz wil ich gerne zechen .<br />

(Parz. 141,27-28)<br />

got hüete dîn ! ich wil von dir varn<br />

der mac uns beide wol bewarn .<br />

(Parz. 159,3-4)<br />

mac ich iu jâmer denne entsagen ,<br />

des lâze ich iuch sô vil niht tragen .<br />

(Parz. 179,5-6)<br />

er enmacz vor jâmer niht enthaben ,<br />

ez welle springen oder draben .<br />

(Parz. 180,1-2)<br />

Condwîrâmûrs mac wol jehen<br />

daz ich der unsælege bin<br />

und dîn gelücke hât gewin :<br />

(Parz. 213,8-10)<br />

" mac niemen dâ vür niht gegeben ,<br />

sô leiste ichz , wande ich wil noch leben . "<br />

(Parz. 268,5-6)<br />

doch sint diu lant wol sô wît ,<br />

ich mac dâ prîs und arbeit holn<br />

und beidiu vreude und angest doln .<br />

(Parz. 302,28-30)<br />

ir sît manlîcher êren schiech ,<br />

und an der werdekeit sô siech ,<br />

neh<strong>ein</strong> arzet mac iuch des ernern .<br />

(Parz. 316,13-15)<br />

ez mac mit rede niht ergên ,<br />

daz hôher prîs geneiget sî ,<br />

der Gâwâne ist ledeclîche bî .<br />

(Parz. 323,10-12)<br />

ist her Gâwân lobes snel ,<br />

der mac sich anders niht entsagen ,<br />

er enmüeze kamph dâ g<strong>ein</strong> mir tragen .<br />

(Parz. 324,22-24)<br />

ich enmac es sô niht geleiden<br />

als ez mir leide kündet ,<br />

sich nû maneger sündet<br />

an mir , der niht weiz mîner klage ,<br />

und ich dâ bî sîn spotten trage .<br />

(Parz. 329,20-24)<br />

131


vor den mac Lippaôt wol genesen ,<br />

wande er si mit triuwe hât erzogen ,<br />

(Parz. 348,10-11)<br />

" waz gezoges mac ditze sîn ? "<br />

(Parz. 352,14)<br />

sîn dienest mac hie lônes gern :<br />

(Parz. 352,20)<br />

diu sprach : er mac sichs wol erholn :<br />

ich gibe im noch g<strong>ein</strong> ellen trôst ,<br />

daz er dîns spottes wirt erlôst .<br />

(Parz. 358,8-10)<br />

" dâ mac niht arges ûz geschehen . "<br />

(Parz. 364,24)<br />

dô sprach er : herre , iuwer komen<br />

daz mac mit sælden uns gevromen .<br />

(Parz. 366,7-8)<br />

man mac mich dâ in strîte sehen :<br />

der muoz mînhalp von iu geschehen .<br />

(Parz. 370,29-30)<br />

des mac ich niht <strong>ein</strong> ende hân .<br />

(Parz. 397,11)<br />

mac ez mit iuwern hulden sîn ,<br />

ich briche iu nû gesellekeit .<br />

(Parz. 402,10-11)<br />

ich mac des von vrouwen jehen<br />

als mir diu ougen kunnen spehen :<br />

(Parz. 404,7-8)<br />

ich enwolde iuch denne triegen ,<br />

sô enmac ich in niht beschoenen ,<br />

er enwelle sich selben hoenen<br />

an sînem werden gaste .<br />

(Parz. 410,16-19)<br />

ir habet gedrenge oder wît ,<br />

man mac sich iuwer lîhte erwern .<br />

(Parz. 417,14-15)<br />

jâ enmac den grâl niemen bejagen ,<br />

wan der ze himele ist sô bekant<br />

daz er zem grâle sî benant .<br />

(Parz. 468,12-14)<br />

iuwer warnen mac ze schaden komen .<br />

(Parz. 483,30)<br />

ich mac uns selben niht gespîsen ,<br />

es enwelle uns got bewîsen .<br />

(Parz. 485,5-6)<br />

er mac gerîten noch gegên ,<br />

der künec , noch geligen noch gestên :<br />

(Parz. 491,1-2)<br />

132


wil si die lenge ringen ,<br />

si mac mich nider bringen ,<br />

ich erwerbes haz oder gruoz .<br />

(Parz. 504,21-23)<br />

liget Lôgrois sô nâhen ,<br />

mac ich in dâ vor ergâhen ,<br />

sô muoz er antwurten mir :<br />

(Parz. 507,13-15)<br />

wer mac minne ungedienet hân ?<br />

(Parz. 511,12)<br />

er mac sich harte wol bejagen ,<br />

gelernt er bühsen veile tragen .<br />

(Parz. 517,1-2)<br />

mac ich der niht erwerben ,<br />

sô muoz <strong>ein</strong> sûrez sterben<br />

sich schiere an mir erzeigen .<br />

(Parz. 523,23-25)<br />

doch mac mîn her Gâwân<br />

der minne des niht entwenken ,<br />

(Parz. 534,2-3)<br />

iuch enmac anders niht ernern .<br />

(Parz. 535,18)<br />

si sprach : iu mac der prîs geschehen ,<br />

ich state iu sehens noch an mich .<br />

(Parz. 536,6-7)<br />

wes mac sîn ors dâ bîten ,<br />

ez enstrûche ouch über daz runzît ?<br />

(Parz. 536,24-25)<br />

des enmac er niht erwenden ,<br />

sol mirz gelücke senden .<br />

(Parz. 543,19-20)<br />

mit vreuden liep âne leit<br />

mac iuwer prîs hie erwerben ,<br />

sult ir niht ersterben .<br />

(Parz. 560,10-12)<br />

swaz von erzenîe mac geschehen ,<br />

des tuot si mich gewaldec wol .<br />

(Parz. 579,26-27)<br />

saget mir, wer mac diu vrouwe sîn?<br />

(Parz. 593,29)<br />

sprach si , wil er , mit sîner hant<br />

mac geben und behalden ,<br />

der hie sitzet : lâts in walden .<br />

(Parz. 623,26-28)<br />

kunnen si zwei nû minne steln ,<br />

daz mac ich unsanfte heln .<br />

(Parz. 643,1-2)<br />

133


dâ enmac niht anders an ergên ,<br />

wan daz ich den kanph leisten wil .<br />

(Parz. 684,22-23)<br />

ich mac wol w<strong>ein</strong>en<br />

und immer klage ersch<strong>ein</strong>en ,<br />

wan sweder iuwer dâ beliget ,<br />

nâch dem mîn vrouwe jâmers phliget .<br />

(Parz. 697,1-4)<br />

mir ist mîn reht hie wider gegeben :<br />

ich mac geselleclîche leben ,<br />

lieber neve , nû g<strong>ein</strong> dir .<br />

(Parz. 701,15-17)<br />

herre , macz mit hulden sîn ,<br />

der künec hât diz vingerlîn<br />

dâ her gesant und disen brief :<br />

(Parz. 714,11-13)<br />

dâ enmac niht anders an ergên ,<br />

wan daz si <strong>ein</strong> ander minnen<br />

mit herzenlîchen sinnen .<br />

(Parz. 726,28-30)<br />

dennoch mac ichs iu mêr wol sagen ,<br />

wil ich sîner rîcheit niht gedagen .<br />

(Parz. 735,13-14)<br />

nû enmac ich disen heiden<br />

von dem getouften niht gescheiden ,<br />

(Parz. 738,11-12)<br />

er enwelle an minne denken ,<br />

sô enmac er niht entwenken ,<br />

dirre strît müeze im erwerben<br />

von sheidens hant <strong>ein</strong> sterben .<br />

(Parz. 740,15-18)<br />

man mac wol jehen , sus striten sie ,<br />

der si beide nennen wil ze zw<strong>ein</strong> .<br />

(Parz 740,26-27)<br />

al dîn werlîcher list<br />

mac dich vor tôde niht bewarn ,<br />

ich enwelle dich anders gerne sparn .<br />

(Parz. 747,6-8)<br />

sprach der heiden . ist mîn vater tôt ?<br />

ich mac wol vreuden vlüste jehen<br />

und vreuden vunt mit wârheit spehen .<br />

(Parz. 752,2-4)<br />

swâ vriundîn rede wirt vernomen ,<br />

diu vriunde mac ze staten komen .<br />

(Parz. 766,17-18)<br />

got ist vater unde sun ,<br />

sîn geist mac grôze helfe tuon .<br />

(Parz. 797,29-30)<br />

134


dâ enmac niht mêr geslâfen sîn .<br />

(Parz. 802,21)<br />

der mac iu dâ wol helfe tuon .<br />

(Parz. 811,30)<br />

vünf stiche mac turnieren hân ,<br />

die sint mit mîner hant getân :<br />

(Parz. 812,09-109)<br />

nû enmac irz herze niht versteln .<br />

(Parz. 814,10)<br />

diz vliegende bîspel<br />

ist tumben liuten gar ze snel<br />

si enmugens niht erdenken ,<br />

(Parz. 1,15-17)<br />

mîne kocken sint sô snel ,<br />

si enmugen uns niht genâhen .<br />

(Parz. 55,6-7)<br />

hie muget ir grôz wunder losen ,<br />

daz im der kocke widervuor .<br />

(Parz. 58,14-15)<br />

welt ir in gerne liegen ,<br />

ir muget ir vil betriegen :<br />

(Parz. 172,13-14)<br />

ir muget Lîâzen niht genemen .<br />

(Parz. 176,1)<br />

wir mugen an der lîten<br />

wol zorse zuo zin rîten ,<br />

(Parz. 205,5-6)<br />

hüetet iuch : dâ gênt unkunde wege .<br />

ir muget an der lîten<br />

vil wol misserîten ,<br />

(Parz. 226,6-8)<br />

si enmugen niht langer hie gestên :<br />

(Parz. 331,1)<br />

si jâhen : wir mugen sô strîten ,<br />

ê daz wir uns von zinnen wern<br />

Meljanzes beiden hern .<br />

(Parz. 355,30-356,2)<br />

ir muget wol laster hie bejagen ,<br />

muoz ich iu die wârheit sagen .<br />

(Parz. 510,13-14)<br />

werdet ir niht geletzet ,<br />

ir muget daz ors gerne hân .<br />

(Parz 561,10-11)<br />

Gâwân sus mit kummer ranc:<br />

ir muget wol hoeren, waz in twanc.<br />

(Parz. 595,1-2)<br />

135


) mugen in VL (33):<br />

an disen zîten ungemach<br />

muget ir gerne vliehen.<br />

(Parz. 599,6-7)<br />

iuwer tat: welt ir michs wern,<br />

sô muget ir mîner minne gern.<br />

(Parz. 600,23-249<br />

" ir enmuget niht ander brücken hân . "<br />

(Parz. 610,27)<br />

daz muget ir âne vrâgen lân ,<br />

wande er muoz grôze koste hân .<br />

(Parz. 629,29-30)<br />

sîn getriuwe manlîch sinne<br />

mugen hie niht mêr erwerben .<br />

(Parz. 698,10-11)<br />

alhie . muget ir versuochen ,<br />

welt ir mîns lebens ruochen ,<br />

ob mich der künec welle sehen ,<br />

dem ich muoz mîner vreuden jehen ?<br />

(Parz. 716,27-30)<br />

Jofreit sprach : erst sô kurtois ,<br />

ir muget in alle gerne sehen ,<br />

wan ir sult wunder an im spehen :<br />

(Parz. 761,20-22)<br />

sô diu vrâge wirt g<strong>ein</strong> im getân ,<br />

sô mugen sis niht langer hân .<br />

(Parz. 819,1-2)<br />

ba) mit Extraposition von Komplementen oder Adjunkten (5)<br />

bba) in für Inkohärenz typischer Verbabfolge (3)<br />

hiest ouch Gâwân, des sun,<br />

sô kranc daz er niht mac getuon<br />

ritterschaft enk<strong>ein</strong>e.<br />

(Parz. 66,15-17)<br />

liget Artûs dâ , sô muoz ich klagen<br />

daz ich in niht mit êren mîn<br />

mac gesehen noch die künegîn .<br />

(Parz. 304,10-12)<br />

dâ von er mac ersterben niht .<br />

(Parz. 501,30)<br />

bba) in für Kohärenz typischer Verbabfolge (2)<br />

swaz er aldâ gevâhen mac<br />

bî sô smerzlîchem sêre ,<br />

er bedarf dâ heime mêre .<br />

(Parz. 491,10-12)<br />

136


ê er scheide von mînem lande ,<br />

des er jehen mac vür schande .<br />

(Parz. 529,5-6)<br />

bb) ohne Extraposition (33)<br />

bba) in für Inkohärenz typischer Verbabfolge (10)<br />

swaz uns der nû mac getuon ,<br />

daz muoz ie dirre gelten .<br />

(Parz. 31,24-25)<br />

bezal aber ich immer ritters prîs ,<br />

sô daz ich wol mac minne gern ,<br />

ir sult mich Lîâzen wern ,<br />

iuwer tohter , der schoenen maget .<br />

(Parz. 178,30-179,03)<br />

swaz mac an den gebærden sîn .<br />

(Parz. 201,29)<br />

ich hilfe iu swâs niht rât mac sîn .<br />

(Parz. 281,7)<br />

swaz mir dâ von nû mac geschehen<br />

( ir hât michz merre teil gesehen ) ,<br />

des sol doch guot rât werden .<br />

(Parz. 340,11-13)<br />

er sprach : ist gotes kraft sô fier ,<br />

daz is beidiu ors und tier<br />

und die liute mac wîsen ,<br />

(Parz. 452,1-3)<br />

ich m<strong>ein</strong>e , swaz diu erde mac gebern .<br />

(Parz. 470,15)<br />

dô sprach er: "vrouwe, swâ daz rîs<br />

stêt, daz sô hôhen prîs<br />

mir ze sælden mac bejagen,<br />

(Parz 600,25-27)<br />

der besneit in an dem lîbe ,<br />

daz er deh<strong>ein</strong>em wîbe<br />

mac ze schimphe niht gevromen .<br />

(Parz. 657,23-25)<br />

ir strît was sô gerâten ,<br />

daz ich die rede mac niht verdagen ,<br />

(Parz. 739,30-740,01)<br />

bbb) in für Kohärenz typischer Verbabfolge (18)<br />

dâ von der helt wol rîten mac<br />

her ûf ze mir oder sol ich dar ?<br />

(Parz. 22,6-7)<br />

mich erkennet iedoch der wîse<br />

an sô bewandem prîse ,<br />

der ninder mac entêret sîn ,<br />

wan daz er mich vor Prûrîn<br />

mit sîner tjoste valte .<br />

(Parz. 134,9-13)<br />

137


man und wîp diu sint al <strong>ein</strong><br />

als diu sunne diu hiute sch<strong>ein</strong> ,<br />

und ouch der name der heizet tac .<br />

der enwederz sich gescheiden mac :<br />

si blüent ûz <strong>ein</strong>em kerne gar .<br />

(Parz. 173,1-5)<br />

mit mîner hant ir sît gewert<br />

alz ez mîn lîp volbringen mac . "<br />

(Parz. 195,30-196,01)<br />

ir habet mir mangel vor gezilt<br />

und mîner ougen ecke alsô verspilt ,<br />

daz ich iu niht getrûwen mac .<br />

(Parz. 292,11)<br />

al âventiure ist <strong>ein</strong> wint ,<br />

wan die man dâ bezaln mac ,<br />

hôher minne wert bejac .<br />

(Parz. 318,20-22)<br />

swaz hazzes er geleisten mac ,<br />

mîn haz im biutet hazzes slac .<br />

(Parz. 320,29-30)<br />

zuo dirre ungeschihte<br />

sol iuwer künfteclîcher tac<br />

uns troesten , wande er troesten mac .<br />

(Parz. 366,12-14)<br />

ez ist hiute der karvrîtac ,<br />

des al diu werlt sich vreun mac<br />

und â bî mit angest siufzec sîn .<br />

(Parz. 448,7-9)<br />

sô helfe er , ob er helfen mac .<br />

(Parz, 451,22)<br />

ez ist hiute der karvrîtac ,<br />

daz man vür wâr dâ warten mac ,<br />

<strong>ein</strong> tûbe von himele swinget ,<br />

ûf den st<strong>ein</strong> diu bringet<br />

<strong>ein</strong>e kl<strong>ein</strong>e wîze oblât ,<br />

(Parz. 470,1-5)<br />

swaz ich dâ von gesprechen mac ,<br />

wert man sol sich niht minne wern ,<br />

wan den muoz minne helfen nern .<br />

(Parz. 534,6-8)<br />

bî manheit sælde helfen mac .<br />

(Parz. 548,12)<br />

und hât Gâwân erworben<br />

solhen prîs vor ûz besunder ,<br />

daz ob der tavelrunder<br />

im prîses niemen gelîchen mac .<br />

(Parz. 608,26-29)<br />

vrouwe , ob ich sô sprechen mac ,<br />

(Parz. 612,10)<br />

138


c) mugen in Ellipsen (6):<br />

unz sich erhebe hôch der tac ,<br />

daz daz volc ze hove wesen mac ,<br />

(Parz. 646,27-28)<br />

swaz er den vreuden mac genemen ,<br />

des kan von herzen in gezemen .<br />

(Parz. 658,7-8)<br />

smorgens , ob ich so sprechen mac .<br />

(Parz 774,29)<br />

ich solz versuochen, ob ich mac .<br />

(Parz. 9,27)<br />

lât mich belîben swâ ich mac . "<br />

(Parz. 193,18)<br />

g<strong>ein</strong> mir ziehen : ich wil in wern ,<br />

vor unrehten strîten nern ,<br />

swâ ich , herre , vor iuwern hulden mac .<br />

(Parz. 364,9-11)<br />

er sol ouch slâfen , ob er mac .<br />

(Parz. 552,29)<br />

mac ich , sô vüege ich im und dir ,<br />

daz iuwer wille dran gestêt<br />

und iuwer beider vreude ergêt . "<br />

(Parz. 716,22-24)<br />

nû solde ich zürnen : ich enmac .<br />

(Parz. 801,9)<br />

139


6.2 müezen (164)<br />

6.2.1 FÜR EINE EPISTEMISCHE INTERPRETATION IN FRAGE KOMMEND<br />

(8) :<br />

a) müezen in V1 und V2 (8)<br />

aa) mit Extraposition von Komplementen oder Adjunkten (7)<br />

mich müent ir jæmerlîchen wort ,<br />

diu enrüerent mir deh<strong>ein</strong> herzen ort :<br />

jâ muoz enmitten drinne sîn<br />

der vrouwen ungedienter pîn .<br />

(Parz. 158,27-30)<br />

von tumpheit muoz verderben<br />

maneges tôren hôher vunt .<br />

(Parz. 292,24-25)<br />

swem ir ze solhen werken gâch ,<br />

dâ missewende hoeret nâch ,<br />

phliht werder lîp an den gewin ,<br />

daz muoz in lêren kranker sin .<br />

(Parz. 338,25-28)<br />

dort sitzt <strong>ein</strong> wehselære ,<br />

des market muoz hie werden guot .<br />

(Parz. 353,26-27)<br />

ouwê , liebiu niftel mîn ,<br />

daz dîn jugent sô hôher minne schîn<br />

tuot , daz muoz dir werden sûr .<br />

(Parz. 712,5-7)<br />

wan swem sîn dienst verswindet ,<br />

daz er niht lônes vindet ,<br />

dem muoz g<strong>ein</strong> sorgen wesen gâch ,<br />

dâ enreiche wîbe helfe nâch .<br />

(Parz. 731,27-30)<br />

hât dich vriundîn ûz gesant ,<br />

diu muoz sîn vil gehiure ,<br />

ob dû durch âventiure<br />

alsus verre bist gestrichen .<br />

(Parz. 767,20-23)<br />

ab) ohne Extraposition (1)<br />

daz muget ir âne vrâgen lân ,<br />

wande er muoz grôze koste hân .<br />

(Parz. 629,29-30)<br />

140


) müezen in VL (0)<br />

ba) mit Extraposition von Komplementen oder Adjunkten (0)<br />

baa) in für Inkohärenz typischer Verbabfolge(0)<br />

bab) in für Kohärenz typischer Verbabfolge (0)<br />

ba) mit Extraposition von Komplementen oder Adjunkten (0)<br />

baa) in für Inkohärenz typischer Verbabfolge(0)<br />

bab) in für Kohärenz typischer Verbabfolge (0)<br />

6.1.2 FÜR EINE EPISTEMISCHE INTERPRETATION NICHT IN FRAGE<br />

KOMMEND (156 Vorkommen):<br />

a) müezen in V1 und V2 (121)<br />

aa) mit Extraposition von Komplementen oder Adjunkten (31)<br />

Ist zwîvel herzen nâchgebûr ,<br />

daz muoz der sêle werden sûr ,<br />

(Parz. 1,1-2)<br />

vür die sîne muoz ich an mich legen<br />

und vür den schuz und vür den stich<br />

muoz ich alsus wâpen mich . "<br />

(Parz. 124,8-10)<br />

iuwer zoum muoz sîn <strong>ein</strong> bestîn seil ,<br />

iuwer phert bejaget wol hungers teil ,<br />

iuwer satel wol gezieret<br />

der wirt enschumphieret . "<br />

(Parz. 137,1-4)<br />

ich muoz doch sus mit kumber leben<br />

âne alle mîne schulde ,<br />

sît ich darbe sîner hulde .<br />

(Parz. 150,6-8)<br />

nû muoz ich alze vruo begraben<br />

<strong>ein</strong> slôz ob dem prîse .<br />

(Parz. 160,16-17)<br />

ich muoz doch laster erben<br />

ûf alle mîne nâchkomen .<br />

(Parz. 213,18-19)<br />

lieber neve , geloube mir ,<br />

sô muoz gar dienen dîner hant<br />

swaz dîn lîp dâ wunders vant .<br />

(Parz. 254,20-22)<br />

141


wæret ir bî dem grâle ,<br />

sô muoz ich sprechen âne spot ,<br />

in heidenschaft Tribalibot ,<br />

(Parz. 326,20)<br />

dar umme muoz ze rehte stên<br />

iuwer prîs vor iuwer selbes zuht ,<br />

sît mîn magetuonlîchiu vluht<br />

iuwer genâde suochet .<br />

(Parz. 369,24-27)<br />

herre , muoz ich iuch biten des ,<br />

sô ruochet mînen herren sehen .<br />

(Parz. 393,8-9).<br />

mit dürkelen triuwen<br />

hânt si alle ir sælekeit verlorn :<br />

des muoz ir sêle lîden zorn .<br />

(Parz. 404,14-16)<br />

mich muoz der künec slahen tôt<br />

oder ich behalde dir dîn leben .<br />

(Parz. 411,22-23)<br />

mich muoz her Gâwân slahen tôt<br />

oder ich gelêre in râche nôt . "<br />

(Parz. 421,11-12)<br />

solde ich nû drum ersterben ,<br />

sô muoz ich leisten sicherheit<br />

die sîn hant an mir erstreit .<br />

(Parz. 424,24-26)<br />

er hât hie erliten grôze nôt<br />

und er muoz nû kêren in den tôt .<br />

(Parz. 426,1-2)<br />

nû muoz dîn vreude sîn verzaget<br />

und al dîn hôher muot erlemt .<br />

(Parz. 441,26-27)<br />

sît muoz sîn phlegen getouftiu vruht<br />

mit alsô kiuschlîcher zuht :<br />

(Parz. 454,27-28)<br />

dâ muoz der ritter und der kneht<br />

bewart sîn vor lôsheit .<br />

(Parz. 473,2-3)<br />

swer schiltes ammet üeben wil ,<br />

der muoz durchstrîchen lande vil .<br />

(Parz. 499,9-10)<br />

liget Lôgrois sô nâhen ,<br />

mac ich in dâ vor ergâhen ,<br />

sô muoz er antwurten mir :<br />

(Parz.507,13-15)<br />

mîn lîp muoz ersterben sô ,<br />

daz mir nimmer wîp gevellet baz .<br />

(Parz. 509,8-9)<br />

142


er muoz dar um emphâhen strît ,<br />

durch die vrouwen <strong>ein</strong>e<br />

und durch iuch harte kl<strong>ein</strong>e .<br />

(Parz. 529,12-14)<br />

wâ sol ich nû troesten holn ,<br />

muoz ich âne helfe doln<br />

nâch minne alsolhe riuwe ?<br />

(Parz. 547,25-27)<br />

si sprach : herre , ich muoz iu klagen<br />

von dem , der mir hât erslagen<br />

den werden Zidegasten .<br />

(Parz. 615,27-29)<br />

wan dar um muoz ersterben<br />

mîn armer lîp , den ich hie trage ,<br />

nâch im mit herzenlîcher klage . "<br />

(Parz. 698,12-14)<br />

sô muoz mich immer twingen<br />

ir kiuschlîcher ummevanc ,<br />

von der ich schiet , des ist ze lanc .<br />

(Parz. 732,20)<br />

er jach : wir müezen rîten<br />

in manec lant , daz ritters tât<br />

uns wol ze gegenstrîte hât :<br />

ûf gerihtiu sper wir müezen sehen .<br />

(Parz. 280,28-281,1)<br />

wir müezen iuch bî kreften lân<br />

mit rehter wârheit sunder wân .<br />

(Parz. 291,13-14)<br />

sô müezet ir von den blîden<br />

kêren g<strong>ein</strong> der riuwe .<br />

(Parz. 530,12-13)<br />

ellenthaftez sprengen<br />

müezet ir zorse tuon alsus<br />

über Li Gweiz Preljus .<br />

(Parz. 602,4-6)<br />

welt ir iu selben rehtes gern ,<br />

sô müezet ir gelten mich vor gote .<br />

(Parz. 787,12-13)<br />

ab) ohne Extraposition (90)<br />

daz ez im nâch vreuden niht ergienc ,<br />

des muoz ich immer jâmer tragen .<br />

(Parz. 26,28-29)<br />

si enmohten mir niht mêr getuon<br />

schaden , denne mir was geschehen<br />

an îsenharte , ich muoz es jehen .<br />

(Parz. 28,24-26)<br />

swaz uns der nû mac getuon ,<br />

daz muoz ie dirre gelten .<br />

(Parz. 31,24-25)<br />

143


des muoz ich im vür ellen jehen :<br />

(Parz. 41,5)<br />

ich muoz iu von ir spîse sagen :<br />

(Parz. 32,29)<br />

ich muoz des <strong>ein</strong>em tiuvel jehen ,<br />

des vuore ich nimmer wirde vrô :<br />

(Parz. 50,12-13)<br />

nû muoz ich iu von scheiden sagen :<br />

(Parz. 50,10)<br />

sol mir dîn minne verren ,<br />

sô muoz mir minne werren .<br />

(Parz. 76,29-30)<br />

n<strong>ein</strong> , ich muoz bî riuwen sîn :<br />

ich sene mich nâch der künegîn .<br />

(Parz. 90,17-18)<br />

<strong>ein</strong>z undz ander muoz ich klagen :<br />

(Parz. 91,9)<br />

ich muoz nû lebelîche<br />

gebâren : ich bin rîche .<br />

(Parz. 99,17-18)<br />

<strong>ein</strong> prîs den wir Beier tragen ,<br />

muoz ich von Wâleisen sagen :<br />

(Parz. 121,7-8)<br />

vür die sîne muoz ich an mich legen<br />

und vür den schuz und vür den stich<br />

muoz ich alsus wâpen mich .<br />

(Parz. 124,8-10)<br />

si dâhte : " ich enwil im niht versagen ,<br />

ez muoz aber vil boese sîn . "<br />

(Parz. 126,22-23)<br />

ez muoz noch dicke bâgen<br />

und solhe schanze wâgen .<br />

(Parz. 150,19-20)<br />

des muoz ich unsælec man<br />

ir lîp , ir lant dir ledec lân .<br />

(Parz. 213,27-28)<br />

ez muoz unwizzende geschehen ,<br />

swer immer sol die burc gesehen .<br />

(Parz. 250,29-30)<br />

der rôte ritter twanc mich sus ,<br />

daz ich dir sicherheit muoz geben :<br />

dâ mite erkoufte ich dô mîn leben .<br />

(Parz. 276,4-6)<br />

ich sol und muoz durch triuwe klagen .<br />

ouwê wer hât dich geslagen ?<br />

(Parz. 276,13-14)<br />

144


dez muoz her Walther singen :<br />

(Parz. 297,24)<br />

doch muoz ich iuwer spotten tragen :<br />

ir bietet mirz lîhte her nâch baz .<br />

(Parz. 302,24-25)<br />

liget Artûs dâ , sô muoz ich klagen<br />

daz ich in niht mit êren mîn<br />

mac gesehen noch die künegîn .<br />

(Parz. 304,10-12)<br />

ez muoz nû an <strong>ein</strong> scheiden gên .<br />

(Parz. 331,2)<br />

der turkoite mich dâ stach<br />

hinderz ors : ich muoz mich schamen .<br />

(Parz. 334,14-15)<br />

vil sper muoz man dâ brechen ,<br />

beidiu hurten unde stechen .<br />

(Parz. 349,5-6)<br />

sol lûter herze sich niht schemen ,<br />

daz muoz der tôt dâ von ê nemen .<br />

(Parz. 358,19-20)<br />

nû muoz ichz durch daz mîden ,<br />

herre , unz <strong>ein</strong> mîn kamph ergêt ,<br />

dâ mîn triuwe sô hôhe phandes stêt ,<br />

(Parz. 366,26-28)<br />

durch aller werden liute gruoz<br />

ich si mit kamphe loesen muoz<br />

( sus bin ich ûf der strâzen )<br />

oder ich muoz den lîp dâ lâzen .<br />

(Parz. 366,29-367,2)<br />

der muoz mînhalp von iu geschehen .<br />

(Parz. 370,30)<br />

dô sprach si : herre , nû lât mich varn<br />

ich muoz ouch mich dar an bewarn :<br />

(Parz. 371,23-24)<br />

sît er mir dienest hât geboten ,<br />

sô muoz ich schemelîche roten ,<br />

ob ich im niht ze gebene hân .<br />

(Parz. 373,23-25)<br />

welt irz iu prüeven vür <strong>ein</strong> heil ,<br />

deiswâr sô muoz si sich bewegen<br />

daz si iuwer unz an mich sol phlegen :<br />

(Parz. 402,24-26)<br />

wirt iu kurzwîle gemêret ,<br />

daz muoz an iuwerm gebote sîn .<br />

(Parz. 405,8-9)<br />

145


sol man iuch bî zühten sehen ,<br />

sô muoz des iuwer zuht verjehen<br />

daz sippe reicht abe iu an mich .<br />

(Parz. 415,23-25)<br />

und sol mir got den lîp bewarn ,<br />

sô muoz ich dienestlîchez varn<br />

(Parz. 431,7-8)<br />

ir tummer man , daz muoz ich klagen .<br />

(Parz. 468,11)<br />

des muoz ich von dem grâle jehen :<br />

(Parz. 468,15)<br />

sîn varwe im nimmer ouch zegêt :<br />

man muoz im solher varwe jehen ,<br />

dâ mite ez hât den st<strong>ein</strong> gesehen ,<br />

(Parz. 469,18-20)<br />

doch muoz er sünde engelten ,<br />

daz er niht vrâcte swirtes schaden .<br />

(Parz. 473,18-19)<br />

der selben sünde muoz ich jehen :<br />

(Parz. 475,8)<br />

dise zît diech hie benennet hân ,<br />

sô muoz der künec ruowe lân :<br />

sô tuot im grôzer vrost sô wê ,<br />

sîn vleisch wirt kelter dan der snê .<br />

(Parz. 490,9-12)<br />

er muoz nû strîte nâhen .<br />

(Parz. 504,6)<br />

ir muget wol laster hie bejagen ,<br />

muoz ich iu die wârheit sagen . "<br />

(Parz. 510,13-14)<br />

muoz ich iu daz künden ,<br />

der treget si hin mit sünden .<br />

(Parz. 511,13-14)<br />

mac ich der niht erwerben ,<br />

sô muoz <strong>ein</strong> sûrez sterben<br />

sich schiere an mir erzeigen .<br />

(Parz. 523,23-25)<br />

sol ich der wâren minne jehen ,<br />

diu muoz durch triuwe mir geschehen .<br />

(Parz. 532,17-18)<br />

wert man sol sich niht minne wern ,<br />

wan den muoz minne helfen nern .<br />

(Parz. 534.7-8)<br />

swen got den sic dan læzet tragen :<br />

der muoz vil prîses ê bejagen .<br />

(Parz. 537,23-24)<br />

146


daz bin ich : ez muoz mich hinnen tragen ,<br />

soldet halt ir niemêr ors bejagen .<br />

(Parz. 545,17-18)<br />

" sô muoz ich doch ir kummer klagen "<br />

(Parz. 556,17)<br />

herre , sô muoz mich riuwen<br />

daz iuch svrâgens niht bevilt .<br />

(Parz. 557,2)<br />

den estrîch muoz ich iu loben :<br />

(Parz. 566,20)<br />

Orgelûse diu herzoginne<br />

muoz genâde an mir begên ,<br />

ob ich bî vreuden sol bestên . "<br />

(Parz. 587,20-22)<br />

iuwer helfe alsô gegeben ,<br />

daz ich gediene , muoz ich leben . "<br />

(Parz. 590,29-30)<br />

diu künegîn sprach : " muoz ich sô spehen ,<br />

daz ir mir , herre , habet verjehen ,<br />

daz ich iuwer meisterinne sî ,<br />

(Parz. 591,1-3)<br />

ich muoz iu herzenlîche klagen :<br />

(Parz. 606,14)<br />

swer mich dâ bî hât gesehen ,<br />

der muoz mir ritterschefte jehen .<br />

(Parz. 612,11-12)<br />

" vrouwe , g<strong>ein</strong> dem herren mîn<br />

muoz ich balde kêren :<br />

(Parz. 651,16-17)<br />

vrouwe . ich entars iu niht gesagen ,<br />

ich muoz ez durch mînen eit verdagen .<br />

(Parz. 653,5-6)<br />

muoz ich iu sîniu tougen sagen ,<br />

des sol ich iuwern urloup tragen<br />

(Parz. 657,3-4) :<br />

" vrouwe , muoz ich mîn leben hân ,<br />

sô wirt noch vreude an iu vernomen . "<br />

(Parz. 661,4-59)<br />

ez ist et nû alsô gedigen ,<br />

ir herren muoz ich iu nennen ,<br />

daz ir den müget erkennen .<br />

(Parz. 667,16-18)<br />

war hebet ir iuch durch minne ergeben ?<br />

diu muoz doch sîner genâden leben .<br />

(Parz. 693,25-26)<br />

" ez muoz doch sîn " sprach Gâwân .<br />

(Parz. 696,5)<br />

147


mîne vrouwen und mich muoz ich wol klagen .<br />

(Parz. 697,6)<br />

er sprach : " sol nû hie strît ergên ,<br />

dâ muoz gelîchiu schanze stên . "<br />

(Parz. 747,17-18)<br />

giht man vreude iht urbor ,<br />

den zins muoz wâriu minne geben .<br />

(Parz. 766,12-13)<br />

Feirefîz der vêch gevar<br />

muoz mir willekomen sîn<br />

(Parz. 781,6-7)<br />

dîn riuwe muoz verderben .<br />

(Parz. 782,22)<br />

swer sînes lônes iht wil tragen ,<br />

der muoz den selben widersagen :<br />

(Parz. 798,19-20)<br />

und swaz ich ie durch wîp gestreit<br />

und ob mîn hant iht hât vergeben ,<br />

muoz ich sus pîneclîche leben ?<br />

(Parz. 810,24-26)<br />

" mîn sun ist gordent ûf den grâl :<br />

dar muoz er dienstlîch herze tragen ,<br />

læt in got rehten sin bejagen . "<br />

(Parz. 820,14-16)<br />

ist daz durch <strong>ein</strong> wîp geschehen ,<br />

diu muoz mir süezer worte jehen .<br />

(Parz. 827,29-30)<br />

liute , die bî ir dâ sint ,<br />

müezen bûwen unde riuten .<br />

(Parz. 117,16-17)<br />

hebet iuch enwec : wan kumt mîn man ,<br />

ir müezet zürnen lîden ,<br />

daz ir gerner möhtet mîden .<br />

(Parz. 132,12-14)<br />

" sît ir durch râtes schulde<br />

her komen , iuwer hulde<br />

müezet ir mir durch râten lân ,<br />

und welt ir râtes volge hân . "<br />

(Parz. 163,3-6)<br />

ir müezet dicke wâpen tragen :<br />

(Parz. 172,1)<br />

swenne ir bejaget ir ungunst ,<br />

sô müezet ir gunêret sîn<br />

und immer dulden schemeden pîn .<br />

(Parz. 172,26-28)<br />

wir müezen strengen zadel tragen . "<br />

(Parz. 190,8)<br />

148


) müezen in VL (33):<br />

mîn lant undz volc ze Brandigân<br />

müezens immer jâmer hân .<br />

(Parz. 220,7-8)<br />

sô ir ûf hin komet an den graben<br />

( ich wæne dâ müezet ir stille haben ) ,<br />

bitet iu die brücken nider lâzen<br />

und offen iu die stâzen . "<br />

(Parz. 225,27-30)<br />

( sol ich des iemen triegen ,<br />

sô müezet ir mit mir liegen ) ,<br />

(Parz. 238,11-12)<br />

swie unhôhe iuch daz wiget ,<br />

ir müezet im drumbe wandel geben<br />

oder ich verliuse mîn leben .<br />

(Parz. 287,24-26)<br />

ê daz ir minne meget gegeben<br />

ir müezet vünf jâr ê leben :<br />

(Parz. 370,15-16)<br />

des müezen ouch si mit zühten phlegen :<br />

sîn hüetet aldâ der gotes segen .<br />

(Parz. 494,11-12)<br />

si sprach : welt ir mir dienest geben ,<br />

sô müezet ir werlîche leben<br />

und meget doch laster wol bejagen .<br />

(Parz. 511,17-19)<br />

welt aber ir und diu vrouwe mîn<br />

mir smæhe rede bieten ,<br />

ir müezet iuch <strong>ein</strong>e nieten<br />

daz ir wol meget vür zürnen hân .<br />

(Parz. 521,2-5)<br />

nû müezet ir <strong>ein</strong> garzûn wesen .<br />

(Parz. 523,9)<br />

" ir enkomt niht zuo mir dâ her în :<br />

ir müezet phant dort ûze sîn . "<br />

(Parz. 536,1-2)<br />

wir müezen iuch bî vreuden lân,<br />

(Parz. 598,24)<br />

ba) mit Extraposition von Komplementen oder Adjunkten (4)<br />

baa) in für Inkohärenz typischer Verbabfolge(2)<br />

daz beide küenge wellent komen<br />

vür Bêârosche , dâ man muoz<br />

gedienen mit arbeit wîbe gruoz .<br />

(Parz. 349,2-4)<br />

durch nôt ichs muoz verswîgen vil .<br />

(Parz. 772,28)<br />

149


ab) in für Kohärenz typischer Verbabfolge (2)<br />

Schoisiânen tôt mich smerzen<br />

muoz enmitten in dem herzen :<br />

(Parz. 477,9-10)<br />

er sprach : ob ich erbeizen muoz<br />

mit iuwern hulden , vrouwe ,<br />

ob ich iuch des willens schouwe<br />

daz ir mich gerne bî iu hât ,<br />

grôz riuwe mich bî vreuden lât ,<br />

sô enwart nie ritter mêr sô vrô .<br />

(Parz. 509,2-7)<br />

bb) mit Extraposition von Komplementen oder Adjunkten (29)<br />

baa) in für Inkohärenz typischer Verbabfolge (16)<br />

die wünschen im heiles , wan ez muoz sîn<br />

daz er nû lîdet hôhen pîn ,<br />

etswenne ouch vreude und êre .<br />

(Parz. 224,7-9)<br />

swer den bogen gespannen siht ,<br />

der senewen er der slehte giht ,<br />

man welle si zer biuge erdenen<br />

sô si den schuz muoz menen .<br />

(Parz. 241,17-20)<br />

" waz ob diu minne disen man<br />

twinget als si mich dô twanc ,<br />

und sîn getriulîch gedanc<br />

der minne muoz ir siges jehen ? "<br />

(Parz. 301,22-23)<br />

mîn zuht mit wârheit missevuor ,<br />

daz ich sus muoz von vrouwen sagen :<br />

(Parz. 313,26-27)<br />

daz senftet mir mîn gemüete ,<br />

ob ich ir sicherheit muoz geben ,<br />

daz ich ir vrides hie sol leben .<br />

(Parz. 394,14-16)<br />

ez erleit nie maget sô hôhen pîn :<br />

durch klage si muoz al <strong>ein</strong>e sîn .<br />

(Parz. 435,29-30)<br />

swer sich dienstes g<strong>ein</strong> grâle hât bewegen ,<br />

g<strong>ein</strong> wîben minne er muoz verphlegen :<br />

(Parz. 495,7-8)<br />

daz ich mit wârheit des muoz jehen<br />

daz ich iuwer gevangen bin .<br />

(Parz. 510,18-19)<br />

sît iuwer minne mir gebôt<br />

daz ich muoz ziuwerm gebote stên ,<br />

ich mege rîten oder gên .<br />

(Parz. 530,18-20)<br />

150


alhie . muget ir versuochen ,<br />

welt ir mîns lebens ruochen ,<br />

ob mich der künec welle sehen ,<br />

dem ich muoz mîner vreuden jehen ?<br />

(Parz. 716,27-30)<br />

der habe mit ritterlîcher kraft<br />

minne und prîs behalden ,<br />

daz er muoz beider walden :<br />

(Parz. 746,16-18)<br />

swenne ich daz mære an mich nû nim ,<br />

daz si sich müezen scheiden ,<br />

dâ wehset schade in beiden .<br />

(Parz. 223,8-9)<br />

er jach : wir müezen rîten<br />

in manec lant , daz ritters tât<br />

uns wol ze gegenstrîte hât :<br />

ûf gerihtiu sper wir müezen sehen .<br />

(Parz. 280,28-281,1)<br />

ander wer wir müezen kiesen .<br />

(Parz. 358,6)<br />

und daz diu sippe ist sünden wagen ,<br />

sô daz wir sünde müezen tragen .<br />

(Parz. 465,5-6)<br />

Parzivâl sprach : ir sult noch sehen<br />

liute , den ir prîses müezet jehen ,<br />

bî Artûs dem houbetman ,<br />

manegen ritter manlîch getân .<br />

(Parz. 763,21-24)<br />

bbb) in für Kohärenz typischer Verbabfolge (13)<br />

ob ich ir dar nâch dienen muoz<br />

und ob ich des wirdec bin ,<br />

sô rætet nir mîn bester sin<br />

daz ichs mit rehten triuwen phlege .<br />

(Parz. 8,12-15)<br />

dâ nie getrat vilânes vuoz ,<br />

ob ichz iu rehte sagen muoz ,<br />

noch lîhte nimmer dâ geschiht .<br />

(Parz. 74,13-15)<br />

iuwer reht ist g<strong>ein</strong> mir laz ,<br />

niwan iuwer gem<strong>ein</strong>er gruoz ,<br />

ob ich den von iu haben muoz .<br />

(Parz. 95, 24-25)<br />

juncherre , got vergelde iu gruoz ,<br />

den ich gerne dienen muoz<br />

mit dem lîbe und mit dem guote .<br />

(Parz. 149,7-9)<br />

daz emphienc ich ûf dem palas ,<br />

dar inne ich ritter werden muoz .<br />

(Parz. 154,6-7)<br />

151


herre , <strong>ein</strong> wirtîn reden muoz .<br />

<strong>ein</strong> kus erwarp mir iuwern gruoz ,<br />

ouch butet ir dienest dâ her în<br />

( sus sagete <strong>ein</strong> juncvrouwe mîn ) :<br />

(Parz. 189,7-10)<br />

durch aller werden liute gruoz<br />

ich si mit kamphe loesen muoz<br />

( sus bin ich ûf der strâzen )<br />

oder ich muoz den lîp dâ lâzen .<br />

(Parz. 366,29-367,2)<br />

Segramors enbin ich niht ,<br />

den man durch vehten binden muoz :<br />

(Parz. 421,20-21)<br />

ez diu âventiure bræhte<br />

mit worten an der mære gruoz ,<br />

daz man dâ von doch sprechen muoz .<br />

(Parz. 453,8-9)<br />

ruocht erbeizen , ob ichs biten muoz<br />

(Parz. 456,22)<br />

swâ werc verwürkent sînen gruoz ,<br />

daz gotheit sich schamen muoz ,<br />

wem lât den menneschlîchiu zuht ?<br />

(Parz. 467,1-3)<br />

dîns oeheims strît man prîsen<br />

muoz : des spers îsen<br />

vuorte er in sînem lîbe dan .<br />

(Parz. 479,25-27)<br />

durch daz des starken lewen vuoz<br />

in iuwerm schilte iu volgen muoz.<br />

(Parz. 598,19)<br />

152


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