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32<br />
1992 FUHREN 12O JUGENDLICHE DURCH E UROPA<br />
B OTSCHAFTER FÜR EIN OFFENES<br />
UND SOZIALES E UROPA<br />
Ein internationales Fest<br />
an ungewöhnlichem Ort:<br />
Im Juni 1992 treffen sich<br />
<strong>Jugend</strong>liche aus allen Teilen<br />
Europas in Frankfurt an der<br />
Oder. An der deutsch-polnischen<br />
Grenze sind für<br />
zwei Tage alle Kontrollen<br />
außer Kraft gesetzt. Der Anlass:<br />
Drei Wochen lang fuhren<br />
120 <strong>Jugend</strong>liche mit<br />
Foto: Petra Schulz<br />
dem Zug durch die Länder<br />
der EU und ihrer östlichen Nachbarländer. Die <strong>Jugend</strong>lichen aus<br />
den Gewerkschaften der EU-Länder wollten für ein grenzenloses<br />
Europa werben.<br />
Glanzvolle Städtenamen beherrschen die Etappenziele des europäischen<br />
<strong>Jugend</strong>zuges: Kopenhagen, Amsterdam, Brüssel, Paris,<br />
Barcelona, Mailand, Wien, Prag, Göteborg und wieder Kopenhagen.<br />
Einzige Ausnahme: Mit der Auswahl der deutsch-polnischen<br />
Grenzstadt Frankfurt an der Oder/Slubice soll den jungen Europäer-<br />
Innen die Lage in der Bundesrepublik Deutschland nach der Wiedervereinigung<br />
gezeigt werden. Doch zuvor haben die „Züglinge“<br />
einiges zu erleben.<br />
Dunkle politische Wolken brauen sich beim Start des Zuges im<br />
dänischen Kopenhagen zusammen. Die Auseinandersetzungen<br />
über die Beteiligung Dänemarks an der Europäischen Union gehen<br />
so weit, dass extreme politische Flügel von rechts und links mit einer<br />
Störung der Auftaktveranstaltung drohen. Nicht einmal vor<br />
Morddrohungen gegen den dänischen Ministerpräsidenten<br />
schrecken sie zurück. So wird die öffentliche Veranstaltung in Kopenhagen<br />
kurzfristig abgesagt; die zuvor zwischen den Organisationen<br />
im Europäischen Gewerkschaftsbund ausgehandelte<br />
Europäische <strong>Jugend</strong>charta tritt über Amsterdam und Brüssel den<br />
Weg nach Paris an.<br />
K OPENHAGEN ➣ A MSTERDAM ➣ B RÜSSEL ➣ B ARCELONA ➣ M AILAND ➣ W IEN ➣<br />
Unter Ausschluss der Öffentlichkeit<br />
Schon während dieses ersten Teilstücks der rund drei Wochen<br />
dauernden Reise gibt es endlose Diskussionen. Die TeilnehmerInnen<br />
aus Belgien, der CSFR, aus Dänemark, Deutschland, Frankreich,<br />
Großbritannien, aus Irland, Italien, Malta und den Niederlanden,<br />
aus Österreich, Polen, Schweden und Spanien diskutieren schnell,<br />
dass die politische Botschaft der ZugteilnehmerInnen an die europäischen<br />
Völker auch in die Öffentlichkeit getragen werden muss.<br />
Die Zugleitung des Europäischen Gewerkschaftsbundes hatte das<br />
ganz anders geplant. Weitgehend unter Ausschluss der Öffentlichkeit<br />
sollte die Charta in den jeweiligen Gastgeberländern lediglich<br />
von den Gewerkschaftsspitzen unterzeichnet werden, die Fahrt<br />
dann weitergehen zum nächsten Ort. Kurz vor Erreichen der französischen<br />
Hauptstadt aber führen die schwierigen Diskussionen<br />
schließlich zum Erfolg. Am Place Boubou, gleich neben dem weltberühmten<br />
Centre Pompidou, werden kurze Zeit später die politischen<br />
Forderungen und die Workshopergebnisse der Pariser Öffentlichkeit<br />
vorgestellt.<br />
Am Abend eine innereuropäische Grenze, die sich für einige<br />
Teilnehmer beinahe als unüberwindlich erweist: Die drei Solidarnosc-Mitglieder<br />
Elizabeth, Christina und Bogdan dürfen die spanische<br />
Grenze nicht passieren, zwischen Spanien und Polen existiert<br />
kein Reiseabkommen. Erst nach langen Verhandlungen und persönlichen<br />
Bürgschaften von Gewerkschaftsfunktionären der spanischen<br />
CC.OO und UGT kann die Reise weiter gehen. Mitten hinein in den<br />
Generalstreik der beiden Gewerkschaften. Mitten hinein? Mitnichten.<br />
Statt ins Zentrum Barcelonas werden die „Züglinge“ mit Bussen<br />
in ein Kloster gefahren. In der rund zwanzig Kilometer ausserhalb<br />
liegenden Abtei informieren spanische Kollegen über die Hintergründe<br />
des Generalstreiks, unten in der Stadt wird währenddessen<br />
ein lokaler Streikführer brutal festgenommen.<br />
Mailand, Wien, Prag, keine be<strong>sonder</strong>en Vorkommnisse. Doch<br />
halt: Während die Zugbesatzung in Prag ihre Delegationspflichten<br />
erledigt, rauben offensichtlich gut organisierte und vorbereitete Diebesbanden<br />
den Zug aus. Auch das ist ein Teil europäischer Realität.<br />
Einige besitzen am Abend nur noch, was sie am Leibe tragen.<br />
Unterschiedliche Erfahrungen mit Grenzen stehen kaum 24<br />
Stunden später im Mittelpunkt der Diskussion, die in Frankfurt/Oder<br />
stattfindet. Während die einen gerade erfahren haben, dass man EU-<br />
Staaten teilweise ohne Pass und Personalausweis durchqueren kann,<br />
haben die anderen noch im Sinn, welche Schwierigkeiten sie an der<br />
spanischen Grenze hatten. Manche erinnern sich an die Rechtsextremisten,<br />
die die in Frankfurt/Oder ankommenden polnischen Busse<br />
mit Steinen bewarfen.<br />
Die Idee einer multikulturellen Gesellschaft, eines Europa ohne<br />
Grenzen – im Zug der europäischen Gewerkschaften durch Europa<br />
war all das Realität. Die Idee zog sich wie ein roter Faden auch durch<br />
P RAG<br />
Foto: Petra Schulz