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FILM<br />

wir basteln uns eine komödie<br />

Von Sarah Stähli (Bild: zVg.)<br />

■ Lars von Trier hat es wieder einmal geschafft.<br />

Er hat die Erw<strong>art</strong>ungen der Cinéphilen, der Kritiker<br />

und der von-Trier-Gelehrten dieser Welt mit<br />

seinem neuen Film gezielt nicht erfüllt.<br />

«The Boss of it All» beginnt mit der Stimme des<br />

Regisseurs aus dem Off. In ironischem Tonfall teilt<br />

er uns schulmeisterlich mit, es handle sich im Folgenden<br />

um eine harmlose Komödie, über die der<br />

Zuschauer nicht weiter zu refl ektieren brauche. So<br />

bricht er gleich in der ersten Einstellung mit der<br />

Illusion Film, indem er uns mitteilt, was wir von<br />

seinem Werk halten sollen und wir uns so automatisch<br />

von der Geschichte distanzieren.<br />

Dies sei der erste Film, den er vollständig in einem<br />

Genre-Kontext – dem der Komödie – gedreht<br />

habe, meinte der Däne in einem Interview. Dass<br />

ihm die Arbeit Spass gemacht hat, ist offensichtlich.<br />

Entstanden ist ein politisch unkorrekter Befreiungsschlag,<br />

der überdies grandios unterhält.<br />

Selbstverliebte Schauspieler Die Geschichte<br />

ist denkbar einfach und ausgeklügelt zugleich. Sie<br />

spielt in der unendlich öden Bürowelt, die bereits<br />

die britische Komödie «The Offi ce» inspiriert hat.<br />

Ravn (Peter Gantzler) ist der von allen Mitarbeitern<br />

geschätzte Boss einer Informatikfi rma. Um<br />

sich aus schwierigen Situationen herauszuziehen,<br />

hat er einen «Über-Boss» erfunden, der für alles<br />

verantwortlich und an allem Schuld ist: «The Boss<br />

of it All». Dieser hält sich immer, wenn nach ihm<br />

verlangt wird, gerade in den USA auf. Als ein isländischer<br />

Geschäftsmann sich nicht abwimmeln<br />

lässt, heuert Ravn einen Schauspieler an, der<br />

den imaginären Boss spielen soll. Der Schauspieler<br />

Kristoffer (Jens Albinus) stellt sich als selbstverliebter<br />

Egomane heraus, der dauernd seine<br />

«Figur» konsultieren muss, «meine Figur stört<br />

es», sagt er dann jeweils, zum Ärger Ravns. Weder<br />

die Ausdrücke «Transaktionshierarchie» noch<br />

«Human Resources» sind dem verklärten Theatermann<br />

ein Begriff und der Unterschied zwischen<br />

«outsourcing» und «offshoring» schon gar nicht.<br />

Trotzdem muss er Sitzungen leiten, Personalpolitik<br />

betreiben und sich auch mal um sechs Jahre alte<br />

Kundenbeschwerden kümmern. Dies geht so lange<br />

gut, bis ihm jemand ein Glaubwürdigkeitsproblem<br />

unterstellt – was gibt es Schlimmeres für einen<br />

Schauspieler? – oder ihm «Improvisationstheater»<br />

vorwirft. Und er kann sich nicht einmal mit den<br />

schlecht geschriebenen Dialogen entschuldigen.<br />

Einmal meint er zu einem Versöhnungsakt Ravns,<br />

man könne doch nicht einfach direkt von der Hölle<br />

zum Happy End übergehen und kritisiert damit<br />

eigentlich von Triers Drehbuch. Um sein Ansehen<br />

unter den Mitarbeitern zu retten, die alles andere<br />

als umgänglich sind, erfi ndet Kristoffer kurzerhand<br />

«The Boss of the Boss of it All».<br />

Publikumsbeschimpfungen Eine technische<br />

Spielerei konnte sich von Trier, Dogma-Bruder und<br />

Meister der Reduktion fi lmischer Mittel, natürlich<br />

auch hier nicht verkneifen. Der Film ist mit «Automavision»<br />

gedreht. Diese computergesteuerte Kamera<br />

wählt nach dem Zufallsprinzip Einstellungen<br />

aus, die sich innerhalb eines vorprogrammierten<br />

Umfelds befi nden. Von Trier stellte zusätzlich das<br />

Gebot auf, dass die Aufnahmen nicht nachträglich<br />

bearbeitet werden dürfen, etwa wenn Licht oder<br />

Ton nicht ideal waren oder nachträglich Farbkorrekturen<br />

gemacht werden mussten. Merkwürdige<br />

Bildausschnitte und ein unstimmiger Schnitt sind<br />

das Resultat. Das aussergewöhnliche Aufnahmekonzept<br />

erzeugt eine aufregende Filmsprache, die<br />

jedoch nie über die Geschichte dominiert.<br />

Der Film trägt eindeutig von Triers Handschrift.<br />

Die Welt, die er mit «The Boss of it All» kreiert,<br />

erinnert an seine früheren Ausfl üge ins Komödienfach,<br />

an seinen Dogma-Film «Idioterne» und die<br />

grandiose Krankenhaus-Serie «The Kingdom».<br />

Von Triers Filme sind immer in erster Linie Experimente<br />

und ein ewiges Spiel mit dem Publikum.<br />

Die charmant widerspenstige Komödie endet mit<br />

den verschmitzten Worten des Regisseurs: «Bei all<br />

denen, die mehr und denen, die weniger erw<strong>art</strong>et<br />

haben, möchte ich mich entschuldigen. Die, die bekommen<br />

haben, was sie wollten, haben den Film<br />

auch verdient.»<br />

«The Boss of it All» von Lars von Trier st<strong>art</strong>et am<br />

29. März in den Kinos.<br />

cinéma<br />

«SIND FILME WICHTIGER<br />

ALS DAS LEBEN?»<br />

Von Sarah Stähli<br />

■ Die Türkin vermisst ihren Wodka mit Zitrone,<br />

der Ire kann Gratis-Drinks niemals widerstehen.<br />

Der schüchterne Singapurer, dessen Namen immer<br />

noch niemand von uns aussprechen kann,<br />

hat sich in ein Notizbuch seitenweise Informationen<br />

aufgeschrieben und führt uns durchs Gewühl,<br />

als sei Berlin seine Heimatstadt, dabei ist er zum<br />

ersten Mal in Europa. Wir sind die «chosen ones»<br />

der «Berlinale Talent Press», einer Masterclass für<br />

junge Filmjournalisten und Teil des «Talent Campus»,<br />

eines Forums für junge Filmemacher. Eine<br />

gross<strong>art</strong>ige Gelegenheit, um Berufserfahrungen<br />

zu sammeln und Kontakte zu knüpfen.<br />

Es gibt da einen peinlichen Lieblingssport unter<br />

Filmfreaks und der geht so: Es gewinnt der, dessen<br />

Land die besten Regisseure vorzuweisen hat.<br />

Schweizer Filme kennt jeweils niemand. Manchmal<br />

kommt noch jemand mit Godard. Obwohl, ist der<br />

wirklich Schweizer? Punkte sammeln kann auch,<br />

wer bizarre Lieblingsregisseure hat. Apichatpong<br />

Weerasethakul aus Thailand zum Beispiel. À propos<br />

unbekannte Regisseure: Es kann vorkommen,<br />

dass du als «Press-Talent» innerhalb von fünf<br />

Minuten zu einem Interview mit einem indischen<br />

Dokumentarfi lmer geschickt wirst, von dem du<br />

noch nie zuvor gehört hat. Dieser stellt sich als<br />

Extrem-Filmer heraus, der für seine Arbeit sein<br />

Leben riskiert. Seine DVDs verschenkt er, wenn<br />

man verspricht, sie fünf Mal zu kopieren und zu<br />

verschenken. Mir verkauft er sie dann doch lieber<br />

für zwanzig Euro.<br />

Auf diesen Tag haben alle weiblichen «Talents»<br />

gew<strong>art</strong>et: Gael García Bernal, der mexikanische<br />

Frauenschwarm aus «Motorcycle Diaries», besucht<br />

den Campus. Um elf Uhr morgens begrüsst er uns<br />

charmant mit: «Good evening» und auf die Frage,<br />

wo seine Heimat sei, antwortet er verlegen, Heimat<br />

sei für ihn kein Ort, sondern eine Person; dazu<br />

zeichnet er die Rundungen einer Frau in die Luft.<br />

Fünf inspirierende Tage Berlinale und der Festivalkoller<br />

macht sich langsam bemerkbar. Das<br />

erste Anzeichen dafür ist ein seltsames Zucken in<br />

den Augenwinkeln. Ein anderes, dass sogar Kurzfi<br />

lme unendlich lange dauern. Sich den 14-stündigen<br />

Fassbinder-Marathon «Berlin Alexanderplatz»<br />

anzutun, erübrigt sich. Wie überleben also? Der<br />

Brasilianer setzt sich selber die strengste Deadline<br />

und mutiert plötzlich zum Turbo-Schreiber: Bis<br />

zur nächsten P<strong>art</strong>y müssen die Texte geschrieben<br />

sein. Die Polin meint mit todernster Miene: «Einfach<br />

nicht mehr schlafen!» Langsam wird es Zeit,<br />

sich über das Lieblings-Truffaut-Zitat der Türkin<br />

Gedanken zu machen: «Sind Filme wichtiger als<br />

das Leben?»<br />

www.berlinale-talentcampus.de<br />

www.talentpress.org<br />

ensuite - kulturmagazin Nr. 51 | März 07 23

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