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Zusammenfassung – Schweizerisches Bundesstaatsrecht –

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<strong>Zusammenfassung</strong><br />

<strong>–</strong> <strong>Schweizerisches</strong> <strong>Bundesstaatsrecht</strong> <strong>–</strong><br />

Ulrich Häfelin<br />

Walter Haller<br />

Helen Keller<br />

3. Teil: Bund, Kantone und Gemeinden<br />

4. Teil: Schweizer Bürgerrecht und politische Rechte<br />

5. Teil: Bundesbehörden<br />

6. Teil: Rechtsetzung und Staatsverträge<br />

7. Teil: Verfassungsgerichtsbarkeit<br />

Geschrieben von:<br />

Raphael Wyss<br />

wyss.r@access.uzh.ch<br />

1


Inhalt<br />

3. Teil: Bund, Kantone und Gemeinden ....................................................................... 4<br />

1. Kapitel Rechtsstellung von Bund und Kantonen .................................................... 4<br />

§32 Rechtsstellung des Bundes ................................................................................... 4<br />

§33 Rechtsstellung der Kantone ................................................................................. 4<br />

§34 Gemeinden und Gemeindeautonomie ................................................................ 6<br />

2. Kapitel Bundesgarantien zu Gunsten der Kantone ................................................ 7<br />

§35 Bestandes- und Gebietsgarantie .......................................................................... 7<br />

§36 Gewährleistung der Kantonsverfassungen und der verfassungsmässigen<br />

Ordnung der Kantone ................................................................................................. 7<br />

3. Kapitel Kompetenzausscheidung zwischen Bund und Kantonen ........................ 10<br />

§37 Grundsätzliche Regelung der Kompetenzausscheidung .................................... 10<br />

§38 Überblick über die Kompetenzen des Bundes ................................................... 12<br />

§39 Delegation von Bundeskompetenzen an die Kantone ....................................... 14<br />

§40 Derogatorische Kraft des Bundesrechts ............................................................. 15<br />

§41 Bundesaufsicht und Bundesexekution ............................................................... 16<br />

4. Kapitel Zusammenwirken von Bund und Kantonen ............................................ 18<br />

§42 Kooperativer Föderalismus ................................................................................ 18<br />

§43 Verträge zwischen den Kantonen ...................................................................... 19<br />

4. Teil: Schweizer Bürgerrecht und politische Rechte ............................................. 21<br />

§44 Schweizer Bürgerrecht ....................................................................................... 21<br />

§45 Politische Rechte ................................................................................................ 23<br />

5. Teil: Bundesbehörden ............................................................................................... 25<br />

1. Kapitel Allgemeines .............................................................................................. 25<br />

§46 Grundsatz der Gewaltenteilung ......................................................................... 25<br />

§47 Bundesbehörden im Allgemeinen ...................................................................... 26<br />

2. Kapitel Bundesversammlung ................................................................................ 27<br />

§48 Zweikammersystem ........................................................................................... 27<br />

§49 Nationalrat ........................................................................................................ 28<br />

§50 Ständerat ............................................................................................................ 30<br />

§51 Vereinigte Bundesversammlung ........................................................................ 31<br />

§52 Kompetenzen der Bundesversammlung ............................................................ 32<br />

§53 Geschäftsverkehr der Bundesversammlung ...................................................... 35<br />

§54 Rechtliche Stellung der Mitglieder der Bundesversammlung ............................ 37<br />

3. Kapitel Bundesrat .................................................................................................. 38<br />

§55 Stellung, Wahl und Organisation des Bundesrates ............................................ 38<br />

§56 Kompetenzen des Bundesrates .......................................................................... 40<br />

§57 Bundesverwaltung ............................................................................................. 43<br />

4. Kapitel Bundesgericht ........................................................................................... 45<br />

2


§58 Stellung und Organisation des Bundesgerichts.................................................. 45<br />

§59 Kompetenzen des Bundesgerichts ..................................................................... 46<br />

6. Teil: Rechtsetzung und Staatsverträge .................................................................. 47<br />

§60 Verfassungsgebung ............................................................................................ 47<br />

§61 Bundesgesetze und Bundesbeschlüsse .............................................................. 51<br />

§62 Erlass von Verordnungen ................................................................................... 54<br />

§63 Staatsverträge .................................................................................................... 57<br />

7. Teil: Verfassungsgerichtsbarkeit ............................................................................. 60<br />

§64 Durchsetzung des Verfassungsrechts in Beschwerdeverfahren vor<br />

Bundesgericht ........................................................................................................... 60<br />

§65 Durchsetzung des Verfassungsrechts mit Klage ans Bundesgericht .................. 68<br />

§66 Akzessorisches Prüfungsrecht ............................................................................ 70<br />

3


3. Teil: Bund, Kantone und Gemeinden<br />

1. Kapitel Rechtsstellung von Bund und Kantonen<br />

§32 Rechtsstellung des Bundes<br />

I. STAATSCHARAKTER DES BUNDES<br />

Staat = mit höchster Herrschaftsgewalt ausgestatteter Verband eines Volkes auf einem<br />

bestimmten Gebiet.<br />

Art. 1 BV: Schweizervolk bildet mit den namentlich aufgeführten Kantonen die schweiz.<br />

Eidgenossenschaft. Grundsätzliche Gleichberechtigung der Kantone kommt darin zum Ausdruck.<br />

Territorium des Bundes ist die Gesamtheit aller Kantonsgebiete. Schweiz hat kein<br />

Bundesterritorium, das nicht gleichzeitig Kantonsterritorium ist.<br />

Bund hat höchste Staatsgewalt, ist also souverän. Bund hat Kompetenzhoheit (veralt.:<br />

Kompetenzkompetenz). Normativer Ausdruck der Souveränität des Bundes ist die<br />

Unableitbarkeit der BV.<br />

II. BUNDESSTAATLICHER CHARAKTER DER EIDGENOSSENSCHAFT<br />

Bundesstaat ist aus Gliedstaaten (föderalistisch) zusammengesetzter Staat.<br />

Bundesstaat. Element in der neuen BV: Kapitel zum Verhältnis Bund-Kantone (Art. 42-53 BV).<br />

Dreistufiger Staatsaufbau verdeutlicht, weil Gemeinden ausdrücklich erwähnt werden. Vor allem<br />

zwei Elemente, die bundesstaatl. Charakter der Schweiz ausmachen:<br />

1. Staatliche Kompetenzen werden zwischen Bund und Kantonen verteilt (vgl. N. 1049 ff.)<br />

2. Kantone sind an der Willensbildung des Bundes beteiligt (vgl. N. 949 ff.)<br />

Im Gegensatz dazu ist ein Staatenbund der vertragliche Zusammenschluss von souveränen<br />

Staaten. Er ist als Gesamtes aber kein Staat (keine Ausübung von Staatlichkeit gegenüber<br />

Bürgern, i.d.R. kein Erlass von unmittelbar verbindlichen Gesetzen etc.) und beruht auf einem<br />

Vertrag (Änderung setzt Einstimmigkeit aller Vertragspartner voraus).<br />

§33 Rechtsstellung der Kantone<br />

I. AUTONOMIE DER KANTONE<br />

Umschreibung der Stellung der Kantone unter starker Betonung des partnerschaftlichen<br />

Zusammenwirkens mit dem Bund (Art. 43-49 BV).<br />

Kantone sind, obwohl oft so bezeichnet, keine souveränen Staaten i.S. des Völkerrechts. Denn<br />

Souveränität nur soweit nicht durch BV beschränkt (Art. 3 BV).<br />

Kantone haben beschränkte Staatsqualität, da Kompetenzen im (durch Volk und Ständen<br />

jederzeit veränderbaren) von der BV vorgegebenen Rahmen.<br />

Als öffentl.-rechtl. Körperschaften haben Kantone eigene Rechtspersönlichkeit und ihre<br />

Autonomie ist in der BV selber begründet (im Gegensatz zu den Gemeinden, s. N. 975 ff.)<br />

Ein Wesensmerkmal bundesstaatlicher Verfassungsordnungen ist, dass den Gliedern in einem<br />

bestimmten Rahmen selbständige Entscheidungsbefugnisse garantiert werden. In Art. 47 BV wird<br />

der Bund verpflichtet, die Eigenständigkeit der Kantone zu wahren.<br />

4<br />

N. 930-933<br />

N. 934-940<br />

N. 941-948


N. 949-962<br />

N. 963-973<br />

Kantone haben:<br />

- Verfassungsautonomie (allerdings durch Art. 51 BV beschränkt)<br />

- Gesetzgebungsautonomie (viele Sachbereiche nicht durch Bund geregelt)<br />

II. MITWIRKUNGSRECHTE DER KANTONE IM BUND<br />

Die Mitwirkungsrechte machen Kantone zu Organen des Bundes, da die Kantone an der<br />

Willensbildung des Bundes beteiligt sind.<br />

1. Obligatorisches Verfassungsreferendum (Art. 140 Abs. 1 lit. a/c und. Art. 142 Abs. 2-4 BV)<br />

Für eine Verfassungsänderung ist die Zustimmung der Mehrheit der Kantone (d.h. 12)<br />

erforderlich. Blosse Stimmengleichheit genügt nicht.<br />

Analoge Regelung für verfassungsändernde dringliche Bundesgesetze gem. Art. 165 Abs. 3 i.V.m.<br />

Art. 140 Abs. 1 lit. c BV.<br />

2. Standesinitiative (Art. 160 Abs. 1 BV i.V.m. Art. 115 ParlG)<br />

Kann alle Regelungen, die in den Kompetenzbereich der BVers fallen zum Gegenstand haben.<br />

Muss schriftl. an die BVers gerichtet sein. Allerdings nicht gleiche Tragweite wie die<br />

Volksinitiative nach Art. 138/139 BV. Standesinitiative ist nur ein Antrag an die BVers.<br />

3. Obligatorisches Staatsvertragsreferendum (Art. 140 Abs. 1 lit. b BV)<br />

Beitritt zu Organisationen für kollektive Sicherheit oder zu supranationalen Gemeinschaften muss<br />

wie eine Verfassungsänderung von der Mehrheit des Volkes und der Kantone gutgeheissen<br />

werden.<br />

4. Fakultatives Referendum gegen Bundesgesetze und Bundesbeschlüsse (Art. 141 Abs. 1 lit.<br />

a/b/c BV)<br />

5. Fakultatives Staatsvertragsreferendum (Art. 141 Abs. 1 lit. d BV)<br />

6. Wahl der Ständeräte (Art. 150 BV)<br />

Obwohl der Ständerat eine Bundesbehörde ist, regelt kantonales Recht das Wahlverfahren. In<br />

allen Kantonen Volkswahl. Kein eigentl. Mitspracherecht der Kantone, da Ständeräte keine<br />

Vertreter d. Kantone (vgl. N. 1492)<br />

7. Anhörungs- und Mitwirkungsrechte der Kantone bei der Rechtsetzung des Bundes (Art. 45 und<br />

Art. 147 BV)<br />

8. Mitwirkung der Kantone bei der Umsetzung des Bundesrechts (Art. 46 BV)<br />

„Umsetzung“ bringt zum Ausdruck, dass es mehr als nur eine mechanische Rechtsanwendung<br />

geht.<br />

III. GLEICHHEIT DER KANTONE<br />

Nirgends ausdrücklich erwähnt, aber Bestimmungen über die Rechtsstellung der Kantone gehen<br />

eindeutig vom Grundsatz der Gleichstellung aus.<br />

Kantone mit halber Standesstimme sind durch „und“ einander zugeordnet. Diese haben an zwei<br />

Orten verminderte Rechtsstellung: Nur einen Ständerat (Art. 150 Abs. 2 BV), bei Abstimmungen<br />

zählt ihre Stimme nur halb (Art. 142 Abs. 4 i.V.m. Art. 140 Abs. 1 BV).<br />

5


Der Finanzausgleich unterscheidet zwischen Ressourcen- und Lastenausgleich. Der<br />

Ressourcenausgleich dient dem Ausgleich von Unterschieden in der Finanzkraft zwischen<br />

ärmeren und reichen Kantonen (Art. 135 Abs. 2 lit. a/b BV, Art. 3 ff. FiLaG). Die Mittel besitzen<br />

keine Zweckbindung.<br />

Der Lastenausgleich soll für Sonderlasten entschädigen, die gewisse Kantone zu tragen haben<br />

(Art. 135 Abs. 2 lit. c BV, Art. 7 ff. FiLaG). Durch gebirgige Landschaft haben gewisse Kantone<br />

höhere Infrastrukturkosten. Andererseits haben städtisch geprägte Kantone einen<br />

überdurchschnittlichen Anteil an Armen, Hochbetagten, Arbeitslosen oder sonst auf staatliche<br />

Unterstützung angewiesene.<br />

§34 Gemeinden und Gemeindeautonomie<br />

Art. 50 BV gewährleistet die Gemeindeautonomie nach Massgabe des kant. Rechts und nur<br />

innerhalb dieser kantonal bestimmten Umfang. Innerhalb der Kantone werde die Gemeinden als<br />

mit Autonomie ausgestattete Selbstverwaltungskörper anerkannt und sind kraft des kantonalen<br />

Rechts öffentlich-rechtliche Körperschaften. Zur Besorgung der lokalen öffentlichen Aufgaben<br />

sind sie mit einer grossen Autonomie ausgestattet. Die Gemeindeautonomie bedeutet vor allem<br />

das Recht der Gemeinde zum Erlass eigener Rechtsnormen und zur Selbstverwaltung.<br />

Eine Verletzung der vom kant. Recht gewährten Autonomie kann mit der sog.<br />

Gemeindeautonomiebeschwerde (Art. 189 Abs. 1 lit. e BV, Art. 82 ff. und Art. 89 Abs. 2 lit. c BGG)<br />

gerügt werden.<br />

6<br />

N. 974-979


N. 981-983<br />

N. 984-988<br />

N. 989-996<br />

N. 1009-1010<br />

N. 1011-1019<br />

2. Kapitel Bundesgarantien zu Gunsten der Kantone<br />

§35 Bestandes- und Gebietsgarantie<br />

I. RECHTSGRUNDLAGE (ART. 1 UND 53 BV)<br />

Art. 53 Abs. 1 BV gewährleistet direkt den Bestand und das Gebiet der in Art. 1 BV aufgezählten<br />

Kantone. Ausserdem sind in Abs. 2-4 das Verfahren der Bestandes- und Gebietsveränderung<br />

sowie der Grenzbereinigung geregelt.<br />

II. BESTANDESGARANTIE<br />

Die Kantone haben kein Sezessionsrecht, dürfen also nicht selbständig entscheiden, ob sie aus<br />

dem Bundesstaat austreten wollen.<br />

Ohne Verfassungsänderung können keine neuen Kantone geschaffen werden.<br />

Den Status der Halbkantone kann ohne Verfassungsänderung (betroffen wären Art. 1 und 150<br />

BV) nicht verändert werden.<br />

III. GEBIETSGARANTIE<br />

Das Territorium der Kantone wird von Art. 53 Abs. 1 BV verfassungsmässig fixiert. Die<br />

Bestimmung richtet sich an den Bund und die Kantone, aber in erster Linie muss der Bund für die<br />

Kantonsgrenzen einstehen, was auch gegen den Willen des Kantons oder dessen Bevölkerung<br />

geschieht. Die Kantone müssen ihre Grenzen auch gegenseitig respektieren.<br />

Die Gebietsgarantie bedeutet:<br />

- Unzulässigkeit von Gebietsabtretungen an das Ausland (trotz Art. 54 BV; Aussenpolitik)<br />

- Besonderes Verfahren für Gebietsveränderungen zwischen den Kantonen (Art. 53 Abs. 3 BV)<br />

- Zulässigkeit von blossen Grenzbereinigungen zwischen Kantonen (nur technisch für klarere,<br />

zweckmässigere Grenze, Art. 53 Abs. 4 BV; interkantonale Vereinbarungen -> Art. 48 Abs. 3 BV)<br />

§36 Gewährleistung der Kantonsverfassungen und der verfassungsmässigen<br />

Ordnung der Kantone<br />

I. FUNKTION DER GEWÄHRLEISTUNG DES BUNDES<br />

Die kantonale Verfassungsautonomie wird durch Art. 51 Abs. 1 BV beschränkt, indem an sie<br />

gewisse bundesrechtliche Anforderungen gestellt werden. Die Gewährleistung nach Art. 51 Abs.<br />

2 BV erfüllt einerseits, dass der Rahmen des Bundesrechts beachtet wird und andererseits dass<br />

eine gewisse Homogenität der Verfassungsstruktur der Kantone erreicht wird.<br />

II. INHALTLICHE ANFORDERUNGEN AN DIE KANTONSVERFASSUNGEN<br />

Nach Art. 51 Abs. 2 Satz 2 BV müssen die KV mit dem Bundesrecht übereinstimmen und dürfen<br />

nichts enthalten, was irgendeiner Norm des Bundesrechts widerspricht.<br />

Das Erfordernis der demokratischen Verfassung nach Art. 51 Abs. 1 BV ist erfüllt, wenn die<br />

Verfassung ein gewähltes Parlament vorsieht und den Grundsatz der Gewaltenteilung beachten.<br />

Ausserdem müssen alle Total- und Partialrevisionen der KV dem Volk des Kantons obligatorisch<br />

zur Abstimmung vorgelegt werden und die Mehrheit der Stimmberechtigten (absolutes Mehr,<br />

kein qualifiziertes oder doppeltes Mehr) muss die Möglichkeit haben, jederzeit die Revision der<br />

7


KV zu verlangen. Dies ist als Mindestanforderung zu verstehen, in den Kantonen sind viel<br />

niedrigere Quoren nötig.<br />

III. GEWÄHRLEISTUNGSVERFAHREN (ART. 51 ABS. 2 BV)<br />

Für jede Total- oder Partialrevision einer KV muss die Gewährleistung des Bundes eingeholt<br />

werden (Art. 51 Abs. 2 BV), wofür gemäss Art. 172 Abs. 2 BV die Bundesversammlung zuständig<br />

ist.<br />

Die BVers überprüft, ob die Anforderungen des Art. 51 BV eingehalten wurden, womit eine reine<br />

Rechtskontrolle stattfindet und politische Argumente keinen Platz finden.<br />

Es ist aber Sache des BGer zu prüfen, ob eine KV im richtigen Verfahren zustande gekommen ist.<br />

Der Gewährleistungsbeschluss als konkreter Rechtsanwendungsakt erfolgt in Form eines<br />

einfachen (nicht referendumsfähigen) Bundesbeschlusses (Art. 163 Abs. 2 BV).<br />

IV. RECHTSWIRKUNG DES GEWÄHRLEISTUNGSBESCHLUSSES<br />

Der Gewährleistungsbeschluss hat nur deklaratorische Wirkung. Sofern die Gewährleistung einer<br />

Verfassungsbestimmung verweigert wird, wird sie wegen ihrer Bundesrechtswidrigkeit von<br />

Anfang an als ungültig betrachtet.<br />

Die BVers kann auf den Gewährleistungsbeschluss zurückkommen, sollte sich später<br />

herausstellen, dass eine Bundesrechtswidrigkeit besteht. Ergibt sich eine solche Situation erst<br />

durch neu hinzutretendes Bundesrecht, geht man in der Praxis davon aus, dass aufgrund der<br />

derogatorischen Kraft des Bundesrechts eine ausdrückliche Aufhebung nicht nötig ist.<br />

Das Bundesgericht sieht sich an den Gewährleistungsbeschluss der BVers gebunden (Art. 190 BV),<br />

weshalb keine abstrakte Normenkontrolle möglich ist. Allerdings schliesst das die vorfrageweise<br />

Prüfung unter bestimmten Voraussetzungen nicht aus.<br />

In konkreten Anwendungsfällen kann gerügt werden, eine Bestimmung der KV verstosse gegen<br />

(un)geschriebenes Bundesverfassungsrecht, einschliesslich sich weiter entwickelter<br />

übergeordneter Verfassungsprinzipien, oder gegen eine Norm des übrigen Bundesrechts oder<br />

eines Staatsvertrages, falls das übergeordnete Recht erst nach der Gewährleistung der KV durch<br />

die BVers in Kraft getreten ist.<br />

Ansonsten kann eine kantonale Verfassungsnorm nur noch mit der subsidiären<br />

Verfassungsbeschwerde auf ihre Vereinbarkeit mit den verfassungsmässigen Rechten überprüft<br />

werden (Art. 116 BGG).<br />

V. SCHUTZ DER VERFASSUNGSMÄSSIGEN ORDNUNG DER KANTONE DURCH DEN BUND <strong>–</strong><br />

BUNDESINTERVENTION<br />

Bundesversammlung (Art. 172 Abs. 2 BV), Bundesrat (Art. 186 Abs. 4 BV) (und auch das<br />

Bundesgericht) haben über die Einhaltung der Kantonsverfassung zu wachen. Art. 52 Abs. 1 BV<br />

bildet die Grundlage, um die in Art. 51 BV aufgestellten Anforderungen durchzusetzen.<br />

Um die verfassungsmässige Ordnung in den Kantonen aufrecht zu erhalten, steht dem Bund das<br />

Institut der Bundesintervention zur Verfügung.<br />

Darunter werden Zwangsmassnahmen im Interesse der kantonalen Organe verstanden. Die<br />

Bundesintervention richtet sich also nicht gegen die Kantone.<br />

8<br />

N. 1020-1023<br />

N. 1024-1033<br />

N. 1034-1048


Vorausgesetzt wird, dass die verfassungsmässige Ordnung gestört wird, welche aber keine Folge<br />

einer Verfassungsverletzung einer kantonalen Behörde sein darf. Im Übrigen kommt eine<br />

Bundesintervention nur in Betracht, sollte sich der betroffene Kanton nicht selbst bzw. mit Hilfe<br />

anderer Kantone helfen können (Grundsatz der Subsidiarität).<br />

Art. 173 Abs. 1 lit. b und Art. 185 Abs. 2 BV begründen parallele Kompetenzen von BR und BVers.<br />

Allerdings dürfte eine Bundesintervention primär Sache des BR sein, da rasch gehandelt werden<br />

muss. Sollte der Bundesrat ein Truppeneinsatz mit mehr als 4‘000 Armeeangehörigen anordnen,<br />

muss die BVers einberufen werden (Art. 185 Abs. 4 i.V.m. Art. 173 Abs. 1 lit. d BV).<br />

Die zu treffenden Massnahmen liegen im Ermessen der zuständigen Bundesbehörde. Die<br />

Massnahmen müssen aber immer dem Verhältnismässigkeitsprinzip entsprechen. Ein allfällig<br />

nach Art. 187 Abs. 1 lit. c BV gewählter Kommissär ist mit sehr weitreichenden Befugnissen<br />

ausgestattet.<br />

Ultima ratio kann auch ein Truppeneinsatz angeordnet werden (bewaffnete Intervention).<br />

9


3. Kapitel Kompetenzausscheidung zwischen Bund und Kantonen<br />

§37 Grundsätzliche Regelung der Kompetenzausscheidung<br />

I. GRUNDSATZ VON ART. 3 BV<br />

Gem. Art. 3 BV besteht eine subsidiäre Generalklausel zu Gunsten der kantonalen Zuständigkeit.<br />

Das Prinzip der Aufgabenverteilung ist in Art. 42 und 43 BV geregelt. Die Kantone haben demnach<br />

eine originäre Zuständigkeit für nicht dem Bund übertragene Aufgaben. Dieses System weist<br />

deshalb keine Lücken auf.<br />

Das in Art. 3 und 42 BV verankerte System geht von der Aufzählung der Bundeskompetenzen aus.<br />

Der Bund ist zuständig, soweit von der Verfassung (Bundesgesetze/-beschlüsse können keine<br />

Kompetenzen begründen) ermächtigt. Die Bundeskompetenzen werden durch<br />

Einzelermächtigungen (keine generellen Ermächtigungen) umschrieben. Neue Staatsaufgaben<br />

fallen daher zuerst in die Kompetenz der Kantone.<br />

Werden in der BV dennoch kantonale Kompetenzen erwähnt, kann grundsätzlich gesagt werden,<br />

dass eine Bundeskompetenz in irgendeiner Form von den Kantonen eingeschränkt werden darf.<br />

(Buch N. 1055)<br />

Um neue Bundeskompetenzen zu begründen, ist eine Verfassungsrevision nötig.<br />

Gewohnheitsrecht zur Begründung von Bundeskompetenzen ist ebenso unzulässig wie die<br />

freiwillige Übertragung einer Kompetenz durch die Kantone.<br />

II. METHODE DER ERMITTLUNG DER BUNDESKOMPETENZEN<br />

Für die Ermittlung der verfassungsrechtlichen Kompetenzbestimmungen gelten die allgemeinen<br />

Grundsätze der Verfassungsauslegung. Ausgangspunkt ist der Wortlaut. Wo dieser unklar ist, gilt<br />

es, die Tragweite einer Kompetenznorm aus der Entstehungsgeschichte, aus Sinn und Zweck der<br />

Vorschrift und aus ihrem systematischen Zusammenhang abzuleiten.<br />

Der teleologischen Methode wird ein grösseres Gewicht gegeben, weshalb aus einer<br />

ausdrücklichen Bundeskompetenz jene Kompetenzen abgeleitet werden können, die der Bund<br />

zur Erreichung der genannten Aufgabe braucht. Dadurch sind auch stillschweigende<br />

Bundeskompetenzen möglich.<br />

Die Rechtsgrundlage findet sich oft in reinen Kompetenznormen (z.B. Art. 87 BV). Allerdings gibt<br />

es Kompetenznormen, die gewisse materielle Grundsätze festlegen (z.B. Art. 76 BV).<br />

Verhaltensnormen, welche die Rechte und Pflichten der Bürgerinnen und Bürger umschreiben,<br />

engen die Gestaltungsfreiheit der Kantone ein (z.B. Art. 62 Abs. 2/3 BV). Auch die Grundrechte<br />

begrenzen die kantonalen Kompetenzen.<br />

Aus solchen Zielen und Schranken können jedoch nach herrschender Lehre keine Kompetenzen<br />

des Bundes zur Regelung grundrechtsrelevanter Bereiche abgeleitet werden.<br />

Die Kompetenzen sind v.a. im 3. Titel der Bundesverfassung aufgelistet (Art. 54-135 BV). Die<br />

Artikelreihenfolge ist nicht als Rangfolge zu verstehen, sie hat lediglich informierende Bedeutung.<br />

Art. 2, 41 und 94 Abs. 2 BV sind keine Kompetenzartikel.<br />

10<br />

N. 1049-1063<br />

N. 1064-1077


N. 1078-1082<br />

N. 1083-1090<br />

N. 1091-1101<br />

III. MODUS DER UMSCHREIBUNG DER BUNDESKOMPETENZEN<br />

Für die Zuweisung von Bundeskompetenzen gibt es verschiedene Anknüpfungspunkte:<br />

- Zuweisung eines bestimmten Sach- oder Rechtsbereichs, die allgemein als Einheit<br />

(Sachbereiche) oder um geschlossene Komplexe rechtlicher Regelung (Rechtsbereiche)<br />

verstanden werden.<br />

- Zuweisung nach einem in verschiedenen Sachbereichen auftretenden Problem<br />

(„Querschnittprobleme“)<br />

- Zuweisung nach Staatsfunktionen. Beschränkung auf Rechtsetzung, Verwaltung oder<br />

Rechtsprechung. Gesetzgebungskompetenz schliesst Kompetenz ein, darüber zu<br />

entscheiden, wem die Verwaltungs- und Rechtsprechungsfunktion zusteht.<br />

IV. UMFANG DER RECHTSETZUNGSKOMPETENZEN DES BUNDES<br />

Nicht jede Kompetenz ermächtigt den Bund, eine Materie in allen Aspekten regeln zu dürfen. Der<br />

Umfang einer Kompetenz ergibt sich aus der Formulierung und Auslegung eines<br />

Verfassungsartikels. Es wird unterschieden zwischen:<br />

- Umfassende Rechtsetzungskompetenz des Bundes: Der Bund darf ein Gebiet<br />

vollständig und abschliessend regeln (z.B. „Sache des Bundes“, „Der Bund erlässt<br />

Vorschriften“, „Der Bund sorgt dafür“, „Der Bund stellt sicher“, „Der Bund trifft<br />

Massnahmen“)<br />

- Fragmentarische Rechtsetzungskompetenz des Bundes: Nur ein Teilbereich eines<br />

Sachgebiets ist dem Bund unterstellt. Nur in dieser Richtung darf der Bund tätig werden<br />

(z.B. „im Rahmen seiner Zuständigkeit“)<br />

- Grundsatzgesetzgebungskompetenz des Bundes: Der Bund ist befugt, eine Materie in<br />

ihren Grundzügen zu regeln. Damit wird eine gewisse gesamtschweizerische<br />

Vereinheitlichung erreicht, aber die Kantone haben Spielraum, um eigene, spezielle<br />

Verhältnisse zur berücksichtigen. (z.B. „Der Bund legt Grundsätze fest“, „Der Bund<br />

erlässt Mindestvorschriften“)<br />

- Förderungskompetenzen des Bundes: Der Bund kann als Grundlage für seine<br />

Unterstützungsmassnahmen gesetzliche Regelungen erlassen. Ergibt sich klar aus dem<br />

Wortlaut (z.B. „fördert“, „unterstützt“)<br />

V. VERHÄLTNIS DER BUNDESKOMPETENZEN ZU DEN KANTONALEN KOMPETENZEN<br />

Gemäss Art. 3 und 42 BV bedeutet eine Bundeskompetenz den Ausschluss der Kantone,<br />

allerdings fallen nicht immer bereits mit der Begründung der Bundeskompetenz alle kantonalen<br />

Kompetenzen dahin. Es werden drei Fälle unterschieden:<br />

- (Regel) Bundeskompetenzen mit nachträglich derogatorische Kraft (auch<br />

„konkurrierende Kompetenzen“): Solange der Bund die Kompetenz nicht benutzt,<br />

bleiben die Kantone zuständig. Wird der Bund ganz oder teilweise tätig, fallen die<br />

Kantonalen Kompetenzen in entsprechendem Umfang dahin.<br />

- (Ausnahme) Bundeskompetenzen mit ursprünglich derogatorischer Kraft<br />

(ausschliessliche Bundeskompetenzen): Mit der Begründung der Bundeskompetenzen<br />

fallen alle kantonalen Kompetenzen im betreffenden Sachgebiet dahin, ungeachtet, ob<br />

der Bund die Kompetenz ausschöpft oder nicht. Ergibt sich aus Wortlaut und<br />

Auslegung (nicht einfach!)<br />

- Parallele Kompetenzen: Bund und Kantone können gleichzeitig und unabhängig<br />

voneinander tätig sein (z.B. Schaffung von Hochschulen durch Bund <strong>–</strong> Schaffung von<br />

Hochschulen durch Kantone)<br />

11


VI. VERTEILUNG VON GESETZGEBUNG UND VOLLZUG AUF BUND UND KANTONE<br />

In der Regel erfolgt die Umsetzung des Bundesrechts durch die Kantone (Art. 46 Abs. 1 BV, vgl. N<br />

962). In vielen Fällen überlässt die Verfassung die Zuweisung der Umsetzung dem<br />

Bundesgesetzgeber.<br />

VII. BUNDESTREUE<br />

Die staatlichen Kompetenzen sind nicht in einer absoluten Weise aufgeteilt, weshalb sie mit<br />

gegenseitiger Rücksichtnahme ausgeübt werden müssen. Der Bundesstaat ist auf die<br />

Kooperation zwischen Bund und Kantonen und der Kantone untereinander angewiesen (vgl. N.<br />

1242 ff.). Die Kompetenzen sollen so gebraucht werden, dass dadurch die kompetenzgemässe<br />

Regelung des Partners nicht unmöglich bzw. unwirksam gemacht wird.<br />

Der Rechtsgrundsatz der bundesstaatlichen Treuepflicht ist in Art. 44 BV in allgemeiner Weise<br />

verankert. Dies ist eine modifizierte Anwendung des allgemeinen Rechtsgrundsatzes von Treu<br />

und Glauben (Art. 5 Abs. 3 BV).<br />

Die Bundestreue ist aber kein verfassungsmässiges Recht des Bürgers, weshalb nur Bund und<br />

Kantone eine Verletzung grundsätzlich mittels Klage geltend machen können (Art. 120 Abs. 1 lit.<br />

b BGG, vgl. N. 2064 ff.). Für weitere, aus der Bundestreue abgeleitete Pflichten und Gebote siehe<br />

Buch N. 1112.<br />

§38 Überblick über die Kompetenzen des Bundes<br />

I. RECHTSETZUNGSKOMPETENZEN DES BUNDES<br />

In erster Linie werden die Bundeskompetenzen auf dem Weg der Rechtsetzung wahrgenommen.<br />

Alle wichtigen rechtsetzenden Bestimmungen sind in der Form des Bundesgesetzes zu erlassen<br />

(Art. 164 BV, vgl. N. 1821 ff.).<br />

Materielles Recht bedeutet inhaltliche Regelung eines Sachbereiches, formelles Recht bestimmt<br />

die Organisation der Behörden und das anwendbare Verfahren. Zahlreiche Gesetze enthalten<br />

Normen beider Arten.<br />

Prüfungsschema:<br />

1. Weist die BV dem Bund die betreffende Aufgabe zu? (vgl. Art. 42 und 43a Abs. 1 BV)<br />

2. Umfang der Bundeskompetenz ermitteln (umfassend, fragmentarisch,<br />

Grundsatzgesetzgebung, Förderungskompetenz)<br />

3. Auswirkung auf die Zuständigkeit der Kantone (nachträglich/ursprünglich derogatorisch,<br />

parallel)<br />

II. AUSSENPOLITIK UND ABSCHLUSS VON STAATSVERTRÄGEN<br />

Der Bund hat eine umfassende Zuständigkeit für auswärtige Angelegenheiten nach Art. 54 Abs. 1<br />

BV. Er muss aber Rücksicht auf die Zuständigkeit der Kantone nehmen und deren Interessen<br />

wahren (Art. 54 Abs. 3 BV). Zusätzlich haben die Kantone nach Art. 55 BV ein Mitspracherecht in<br />

aussenpolitischen Entscheiden.<br />

Staatsverträge können vom Bund abgeschlossen werden (Art. 54 Abs. 1 BV). Diese Kompetenz ist<br />

umfassend und gilt nach h.L. auch für Materien, die innerstaatliche in den Kompetenzbereich der<br />

Kantone fallen (aber Art. 54 Abs. 3 und Art. 55 BV beachten!)<br />

Verfahren: vgl. N 1897 ff.<br />

12<br />

N. 1102-1104<br />

N. 1105-1112<br />

N. 1113-1119<br />

N. 1120-1137


N. 1138-1147<br />

N. 1148-1149<br />

Unmittelbar anwendbare Staatsverträge („self-executing treaties“) bedürfen keiner weiteren<br />

innerstaatlichen Umsetzung/Konkretisierung.<br />

Betrifft jedoch ein nicht unmittelbar anwendbarer Staatsvertrag eine Materie aus dem<br />

Kompetenzbereich des Bundes bzw. der Kantone, bestimmt der Bund bzw. bestimmen die<br />

Kantone die Zuständigkeit des Vollzugs (interne Zuständigkeitsordnung wird gewahrt).<br />

Allerdings ist der Bund letztlich für die Durchführung von Staatsverträgen völkerrechtlich<br />

verantwortlich, weshalb der Bund die Kantone beaufsichtigen, diese zur Durchführung anhalten<br />

oder gar an ihrer statt erforderliche Massnahmen treffen darf.<br />

Staatsverträge können auch von den Kantonen abgeschlossen werden (Art. 56 BV), womit ihnen<br />

in einem gewissen Rahmen eine konkurrierende Staatsvertragskompetenz zukommt. Nach Art.<br />

56 Abs. 1 können sich solche Verträge nur aber auf sämtliche Materien des kantonalen<br />

Zuständigkeitsbereichs beziehen. Art. 56 Abs. 2 BV ist aber zu beachten.<br />

Allerdings ist die Staatsvertragskompetenz des Bundes eine umfassende mit nachträglich<br />

derogatorischer Wirkung. Allfällige kantonale Staatsvertragskompetenzen fallen daher mit<br />

Abschluss eines Staatsvertrages des Bundes dahin.<br />

Art. 56 Abs. 2/3 regeln das Verfahren. Nur wenn der Bundesrat oder ein anderer Kanton<br />

Einsprache erhebt, muss die BVers den Staatsvertrag genehmigen (Art. 172 Abs. 3 und 186 Abs. 3<br />

BV, Art. 61c und 62 RVOG).<br />

III. VERWALTUNGSKOMPETENZEN DES BUNDES<br />

Der schweizerischen Variante liegt der Vollzug der Gliedstaaten zugrunde (Art. 46 BV). Dadurch<br />

werden die Kantone selbst bei Bundeskompetenzen nicht völlig ausgeschlossen, können sie bei<br />

der Regelung des Vollzuges mitwirken und eine bundeseigene Verwaltung muss nicht aufgebaut<br />

werden.<br />

Art. 46 BV ist allerdings insofern subsidiär, als der Bund den Vollzug teilweise oder ganz an sich<br />

ziehen kann.<br />

Für einzelne Verwaltungskompetenzen des Bundes siehe Buch N. 1142<br />

Hat der Bund die Gesetzgebungskompetenz, kann er auch über den Vollzug entscheiden, wobei<br />

dieser meistens den Kantonen überlassen wird.<br />

Manchmal bestimmt die BV ausdrücklich, dass die Gesetzgebung dem Bund, der Vollzug aber den<br />

Kantonen zusteht (oft Voraussetzung, damit sich Kantone mit Abtretung einer Kompetenz<br />

anfreunden können).<br />

Der Bund kann den Vollzug aber beaufsichtigen (vgl. N. 1203 ff.).<br />

Die Verfassung kann anordnen, dass Bund und Kantone eine Aufgabe gemeinsam wahrnehmen<br />

(Art. 46 Abs. 2 BV).<br />

Kantonales Recht wird nur im Bereich der auswärtigen Beziehungen vom Bund vollzogen, da die<br />

Kantone in diesem Bereich nur beschränkt tätig sein dürfen.<br />

IV. RECHTSPRECHUNGSKOMPETENZEN DES BUNDES<br />

Der Bund erhält durch Art. 188 ff. BV eine Reihe von Rechtsprechungskompetenzen. Weitere<br />

können dem Bund nach Art. 189 Abs. 3 BV übertragen werden. Grundsätzlich stehen dem Bund<br />

nur bei der Anwendung von Bundesrecht Rechtsprechungskompetenzen zu (Ausnahme: Art. 189<br />

Abs. 1 lit. d/e/f BV).<br />

13


§39 Delegation von Bundeskompetenzen an die Kantone<br />

I. BEGRIFF UND ZULÄSSIGKEIT<br />

Eine Kompetenzdelegation (Inhaber tritt Teil seiner Kompetenz auf eine andere Instanz ab)<br />

erfolgt durch einen Erlass (Gesetz oder Verordnung) der delegierenden Instanz und kann auf<br />

gleichem Weg rückgängig gemacht werden. Sie ist nur gegenüber einer untergeordneten Instanz<br />

möglich und dient der vertikalen Dezentralisierung.<br />

Die Kompetenzordnung der BV ist grundsätzlich zwingender Natur, allerdings ist nach h.L. eine<br />

Kompetenzdelegation des Bundes zulässig, weil sie den Kantonen mehr Kompetenzen verschaffe.<br />

Bei ausschliesslichen Bundeskompetenzen und Grundsatzgesetzgebungskompetenzen fällt eine<br />

Delegation ausser Betracht.<br />

II. GESETZESDELEGATION AN DIE KANTONE<br />

Wird ein Kanton ermächtigt, die ihm überlassenen Fragen durch kantonale Rechtsnormen zu<br />

regeln, bestimmt grundsätzlich die Kantonsverfassung die Form, in der dies zu geschehen hat.<br />

Gelegentlich schreibt das Bundesrecht die Form der Rechtsetzung durch die Kantone vor<br />

(Zulässigkeit umstritten).<br />

Solche Delegationen finden sich dort, wo der Bund eine Rechtsvereinheitlichung nicht für<br />

notwendig hält oder wenn aus politischen Gründen eine Bundeslösung nicht gefunden werden<br />

kann.<br />

Eine Delegation an einen Kanton (betrifft föderalistischen Aufbau des Staates, auf<br />

unterschiedlichen Ebenen) ist zu unterscheiden von der Delegation der Legislative an Exekutive<br />

oder Judikative (betrifft Gewaltenteilungsprinzip, findet auf der gleichen Ebene statt).<br />

Überträgt der Bund eine Kompetenz an die Kantone, spricht man davon, dass das Bundesrecht<br />

einen „Vorbehalt des kantonalen Rechts“ vorsieht. Ein echter Vorbehalt bedeutet, dass die<br />

Kantone durch die Delegation eine neue Kompetenz erhalten, ein unechter Vorbehalt, der im<br />

Übrigen auch keine Kompetenzdelegation ist, erwähnt dagegen kantonales Recht, zu dessen<br />

Erlass die Kantone ohnehin (also ohne Ermächtigung des Bundes) befugt sind.<br />

Folgende Arten einer Gesetzesdelegation sind denkbar:<br />

- Ergänzendes kantonales Recht: Eine klare Ermächtigung durch den Bund wird<br />

vorausgesetzt, eine stillschweigende Delegation ist nicht zulässig. Der Vorbehalt kann<br />

fakultativ (Kantone dürfen regeln) oder obligatorisch (Kantone müssen regeln) sein.<br />

- Abweichendes kantonales Recht: Das Bundesrecht gilt nur subsidiär im Falle, dass die<br />

Kantone von ihrer Ermächtigung keinen Gebrauch machen. Muss ausdrücklich<br />

vorgesehen sein.<br />

- Kantonaler Entscheid über die Anwendbarkeit des Bundesrechts: Bundesrecht gilt nur,<br />

wenn die Kantone sie für anwendbar erklären.<br />

III. VERWALTUNGSDELEGATIONEN AN DIE KANTONE<br />

Der Bundesgesetzgeber entscheidet über den Vollzug eines Bundesgesetzes, sofern sich die<br />

Verfassung darüber nicht ausspricht.<br />

Eine Verwaltungsdelegation schliesst oft eine Ermächtigung der Kantone zum Erlass einer<br />

Vollziehungsverordnung mit ein. Auch ohne ausdrückliche Ermächtigung sind die Kantone zum<br />

Erlass der für den Vollzug notwendigen Bestimmungen befugt.<br />

14<br />

N. 1150-1154<br />

N. 1155-1164<br />

N. 1165-1168


N. 1169-1170<br />

N. 1171-1172<br />

N. 1173-1177<br />

N. 1778-1190a<br />

IV. RECHTSPRECHUNGSDELEGATIONEN AN DIE KANTONE<br />

Für eine solche Delegation besteht nur ein beschränkter Anwendungsbereich. Die<br />

Rechtsprechung im Zivil- und Strafrecht steht gemäss BV bereits den Kantonen zu (Art. 122 und<br />

123 BV).<br />

Die Kompetenzen des Bundesgerichts gemäss Art. 189 BV sind ausschliessliche<br />

Bundeskompetenzen und nicht delegationsfähig.<br />

§40 Derogatorische Kraft des Bundesrechts<br />

I. KOLLISION VON BUNDESRECHT UND KANTONALEM RECHT<br />

Trotz der grundsätzlich widerspruchslosen Trennung von Bundesrecht und kantonalem Recht<br />

kommt es vor allem dann zu Konflikten, wenn in einem Sachbereich der Bund und die Kantone<br />

zuständig sind und die Tragweite ihrer Regelungen nicht klar ersichtlich sind.<br />

Eine Normenkollision liegt vor, wenn sich Bundesrecht und kantonales Recht inhaltlich<br />

widersprechen. Dahinter liegt i.d.R. zugleich eine Kompetenzkollision, was bedeutet, dass sich<br />

der Bund oder ein Kanton zu Unrecht auf eine Kompetenz stützt, die nur einem von beiden<br />

zustehen kann.<br />

II. VORRANG DES BUNDESRECHTS<br />

Bundesrecht bricht kantonales Recht, hat also derogatorische Kraft (lex superior derogat legi<br />

inferiori). Dies bezieht sich auf alle Stufen von Bundesrecht und kantonalem Recht.<br />

Die ausdrückliche Rechtsgrundlage findet sich in Art. 49 Abs. 1 BV. Die Ungültigkeit des dem<br />

Bundesrecht widersprechenden kantonalen Rechts ergibt sich aber auch aus Art. 3 und 42 BV<br />

(Kompetenzausscheidung).<br />

Der Vorrang des Bundesrechts wird als verfassungsmässiges Recht des Bürgers aufgefasst, der<br />

sich gegen bundesrechtswidriges kantonales Recht mit der Einheitsbeschwerde bzw. subsidiären<br />

Verfassungsbeschwerde wehren kann.<br />

III. DIE VERSCHIEDENEN ARTEN VON KOLLISIONEN UND DEREN REGELUNG<br />

In den meisten Fällen widerspricht eine kantonale Regelung inhaltlich einer Bundesrechtsnorm,<br />

die der Bund erlassen durfte. Es liegt also eine Normen- und Kompetenzkollision vor. Die<br />

kantonale Bestimmung ist nichtig.<br />

Hat der Bund die Norm kompetenzwidrig erlassen, müsste eigentlich die kantonale Norm gelten,<br />

was aber durch die ausdrückliche Anordnung von Art. 190 BV zum Teil vereitelt wird. Im Ergebnis<br />

geht somit ein kompetenzwidriges Bundesgesetz dem kompetenzmässigen kantonalen Recht vor.<br />

Parlamentsverordnungen und Verordnungen des Bundesrats fallen nicht unter Art. 190 BV.<br />

Bestehen im Bundesrecht und im kantonalen Recht gleichlautende Regelungen, besteht keine<br />

Normenkollision und die kantonale Bestimmung ist nicht ungültig, ihr kommt aber keine<br />

selbständige Bedeutung zu.<br />

Hat der Bund eine umfassende und abschliessende Regelung aufgestellt, sind jegliche kantonale<br />

Bestimmungen ungültig, Bundesrechtskongruent oder <strong>–</strong>widrig. Ob der Bund eine Materie<br />

abschliessend geregelt hat, ist oft eine schwierige Auslegungsfrage.<br />

15


Gemäss Art. 6 ZGB ist das kantonale öffentliche Recht nicht durch das Bundeszivilrecht<br />

eingeschränkt. Allerdings dürfen kantonale öffentlich-rechtliche Vorschriften in einem vom<br />

Bundeszivilrecht geregelten Bereich nur unter drei kumulativ wirksamen Voraussetzungen<br />

erlassen werden:<br />

- Der Bundesgesetzgeber hat keine abschliessende Ordnung geschaffen<br />

- Die kantonalen Bestimmungen entsprechen einem schutzwürdigen öffentlichen<br />

Interesse<br />

- Sie verstossen nicht gegen Sinn und Geist des Bundeszivilrechts<br />

IV. NICHTIGKEIT DES BUNDESRECHTSWIDRIGEN KANTONALEN RECHTS<br />

Dem Bundesrecht widersprechendes kantonales Recht ist nichtig. Bestehen Zweifel, kann erst<br />

aufgrund einer Beschwerde bzw. subsidiären Verfassungsbeschwerde Klarheit geschaffen<br />

werden.<br />

Älteres kantonales Recht wird von neueren bundesrechtlichen Vorschriften endgültig vernichtet.<br />

Es kann nicht wieder aufleben.<br />

Späteres kantonales Recht ist überhaupt nie entstanden.<br />

Konkrete Anwendungsakte von nichtigem kantonalem Recht sind i.d.R. nur anfechtbar.<br />

V. RECHTSSCHUTZ<br />

Die Gerichte und Verwaltungsbehörden des Bundes und der Kantone müssen den Grundsatz der<br />

derogatorischen Kraft des Bundesrechts von Amtes wegen beachten. Falls sich Zweifel über die<br />

Gültigkeit erheben, sind Gerichte und Verwaltungsbehörden verpflichtet, vorfrageweise die<br />

Bundesrechtsmässigkeit zu überprüfen und allenfalls die Anwendung zu versagen.<br />

Der Vorrang des Bundesrechts kann auch mit einem Rechtsmittel geltend gemacht werden.<br />

Rechtsmittel sind formelle Begehren, mit denen ein Betroffener verlangen kann, dass eine<br />

rechtliche Streitfrage durch ein Rechtsprechungsorgan überprüft wird.<br />

Zur Verfügung stehen ordentliche Rechtsmittel (Beschwerde, Rekurs u.a. an eine höhere Instanz),<br />

Einheitsbeschwerde und subsidiäre Verfassungsbeschwerde. Bei Kompetenzkonflikten können<br />

Bund und Kantone nach Art. 120 Abs. 1 lit. a BGG ebenfalls klagen (aber keine Bürger).<br />

§41 Bundesaufsicht und Bundesexekution<br />

I. BUNDESAUFSICHT<br />

Die Rechtsgrundlage der Bundesaufsicht findet sich in Art. 49 Abs. 2 BV, wonach der Bund über<br />

die Einhaltung des Bundesrechts durch die Kantone wacht, was eine Pflicht darstellt. Dies dient<br />

dazu, dass die an die Kantone delegierten Staatsaufgaben richtig erfüllt werden sowie, dass bei<br />

Aufgaben im autonomen Wirkungsbereich keine Eingriffe in den Bundeskompetenzbereich<br />

stattfinden oder Bundesrecht verletzt wird.<br />

Die Aufsicht betrifft die Rechtsetzung und die Verwaltung, eine Kontrolle der Rechtsprechung<br />

kommt durch die Exekutivorgane des Bundes nicht in Betracht.<br />

Wo die Kantone autonom sind, findet lediglich eine Rechtskontrolle statt, in delegierten<br />

Wirkungsbereichen zudem auch eine Ermessenskontrolle.<br />

Grundsätzlich ist für die Bundesaufsicht der Bundesrat zuständig (Art. 182 Abs. 2 und Art. 186<br />

Abs. 4 BV). Eine Delegation an ein Bundesamt oder Departement ist möglich (Art. 177 Abs. 3 BV).<br />

In streitigen Fällen entscheidet der Bundesrat (Art. 61b Abs. 2 RVOG).<br />

16<br />

N. 1191-1194<br />

N. 1195-1202<br />

N. 1203-1225


N. 1226-1241<br />

Nur wenn der Bundesrat oder ein Kanton Einsprache erhebt, kommt das Geschäft vor die<br />

Bundesversammlung (Art. 186 Abs. 3 i.V.m. Art. 172 Abs. 3 BV). Die BVers genehmigt überdies die<br />

Kantonsverfassungen (Art. 172 Abs. 2 BV, vgl. N 1021 ff.).<br />

Als Aufsichtsmittel kommen folgende Massnahmen in Betracht:<br />

- Konkrete Beanstandung (mit verlangter Berichtigung)<br />

- Generelle Weisung (Kreisschreiben): Richtet sich an alle Kantone und schreibt vor, wie<br />

das Bundesgesetz zu vollziehen ist.<br />

- Berichterstattung: Die Kantone werden zu einer periodischen Berichterstattung über<br />

die Amtstätigkeit in einem bestimmten Verwaltungsgebiet verpflichtet.<br />

- Inspektion: Betrifft nur den Vollzug von Bundesgesetzen. Entsenden von<br />

Bundesbeamten zu einer Inspektion.<br />

- Genehmigungspflicht: Gewisse kantonale Erlasse bedürfen einer Genehmigung durch<br />

die Bundesbehörden (allg.: Art. 186 Abs. 2 BV).<br />

Grundsätzlich genehmigungspflichtig sind Kantonsverfassungen (Art. 51 Abs. 2 BV i.V.m.<br />

Art. 172 Abs. 2 BV), interkantonale Verträge, sofern Einsprache von Kanton oder<br />

Bundesrat (vgl. N. 1134 und 1297). Gesetze/Verordnungen nur, wenn vom<br />

Bundesgesetzgeber vorgesehen.<br />

Die Genehmigung kantonaler Verfassungsnormen und grundsätzlich interkantonaler<br />

Verträge hat lediglich deklaratorische, bei kantonalen Gesetzen/Verordnungen jedoch<br />

konstitutive Wirkung.<br />

- Aufhebung von kantonalen Anwendungsakten: Der Bund kann Verfügungen von<br />

kantonalen Verwaltungsbehörden (im Zusammenhang mit dem Vollzug von<br />

Bundesgesetzen) aufheben. Gerichtsurteile können nach Häfelin/Haller/Keller nicht<br />

durch den Bundesrat aufgehoben werden.<br />

- Bundesgerichtliche Entscheidung: Anordnungen des BGer auf Grund der<br />

Beschwerde/Klage einer Bundesbehörde (vgl. N. 2045 ff.)<br />

II. BUNDESEXEKUTION<br />

Kommt ein Kanton seinen Pflichten nicht nach, muss Bundesrecht mit Zwangsmassnahmen<br />

durchgesetzt werden können.<br />

Die rechtliche Grundlage findet sich in Art. 173 Abs. 1 lit. e BV für die BVers und in Art. 186 Abs. 4<br />

für den BR.<br />

Eine Bundesexekution kommt nur in Betracht, wenn ein Kanton Bundespflichten verletzt. Des<br />

Weiteren braucht es eine Zwangsandrohung durch den Bund (Mahnung, Frist, Androhung der<br />

Exekution).<br />

Die Mittel müssen stets dem Grundsatz der Verhältnismässigkeit entsprechen. Es kommen<br />

folgende Massnahmen in Betracht:<br />

- Ersatzvornahme: Der Bund erfüllt die Pflicht auf Kosten des säumigen Kantons. Dies<br />

darf er auch ohne ausdrückliche gesetzliche Ermächtigung.<br />

- Sistierung von Subventionen: Zulässig ist eine Sistierung von Subventionen nur dann,<br />

wenn eine Konnexität zwischen Subvention und Pflichtverletzung in dem Sinne besteht,<br />

dass der Kanton Pflichten verletzt, für deren Erfüllung der Bund Subventionen erteilt.<br />

- Militärisches Einschreiten: Dies stellt die ultima ratio dar. Zuständig ist die BVers (Art.<br />

173 Abs. 1 lit. d BV) oder bei Dringlichkeit der Bundesrat (Art. 185 Abs. 4 BV). (vgl. N.<br />

1550)<br />

17


4. Kapitel Zusammenwirken von Bund und Kantonen<br />

§42 Kooperativer Föderalismus<br />

I. DER GRUNDGEDANKE DER KOOPERATION<br />

Kooperativer Föderalismus bezeichnet alle Formen von Zusammenarbeit unter den Gliedstaaten<br />

oder zwischen Gliedstaaten und Bund. Die Idee dahinter ist, dass komplexe Aufgaben der<br />

Gemeinwesen und die starke Interdependenz in allen Bereichen eine weitgehende Koordination<br />

und Kooperation erfordern. Der kooperative Föderalismus wirkt sich in zwei Richtungen aus:<br />

Horizontal (Kantone <strong>–</strong> Kantone) und vertikal (Kantone <strong>–</strong> Bunde).<br />

II. DER HORIZONTALE KOOPERATIVE FÖDERALISMUS<br />

Interkantonale Verträge stellen den wichtigsten Aspekt des horizontalen kooperativen<br />

Föderalismus dar, siehe dazu §43.<br />

An zweiter Stelle sind interkantonale Konferenzen zu nennen (z.B. Direktorenkonferenzen,<br />

Konferenz der Kantonsregierungen etc.). Voraussetzung für jede Zusammenarbeit ist das<br />

Vorliegen einer kantonalen Kompetenz im betreffenden Sachgebiet.<br />

In einem weiteren Sinne gehören auch die Pflichten zur Zusammenarbeit der BV zum<br />

kooperativen Föderalismus. Dies wären:<br />

- Verbot der Selbsthilfe (Art. 44 Abs. 3 BV): Jede bewaffnete Selbsthilfe ist untersagt.<br />

Streitigkeiten zwischen Kantonen werden nach Möglichkeit durch Verhandlung oder<br />

Vermittlung beigelegt.<br />

- Pflicht zur Hilfeleistung (Art. 44 Abs. 2 BV): Die Kantone schulden einander Rücksicht<br />

und Beistand. Dies ist vor allem im Bereich der Hilfe mit Polizeikräften von Bedeutung.<br />

- Amts- und Rechtshilfepflichten (Art. 44 Abs. 2 BV)<br />

III. DER VERTIKALE KOOPERATIVE FÖDERALISMUS<br />

Formen des vertikalen kooperativen Föderalismus können sein:<br />

- Zusammenarbeit von Bund und Kantonen bei der Rechtsetzung (Art. 45 BV): Vgl. N. 949<br />

ff., 1155 ff.<br />

- Mitwirkung der Kantone bei der Umsetzung des Bundesrechts (Art. 46 BV)<br />

- Subventionen des Bundes an die Kantone: Vgl. N 948 und 970 ff.<br />

- Verbundaufgaben: Bei den Verbundaufgaben (Art. 46 Abs. 2 BV; N. 1146a) sind<br />

Verantwortung und Finanzierung zwischen Bund und Kantonen geteilt.<br />

- Verträge zwischen Bund und Kantonen: Vgl. N. 1277<br />

Eine Zusammenarbeit im Sinne des vertikalen kooperativen Föderalismus ist nur innerhalb der<br />

verfassungsmässigen Kompetenzen von Bund und Kantonen möglich.<br />

Horizontale und vertikale Zusammenarbeit können auch kombiniert auftreten.<br />

IV. BEDEUTUNG UND GRENZEN DES KOOPERATIVEN FÖDERALISMUS<br />

Der kooperative Föderalismus darf nicht zu einem unübersehbaren Gewirr von sich<br />

überlagernden föderalistischen Institutionen führen. Im Weiteren darf die verfassungsmässige<br />

Kompetenzenordnung nicht relativiert oder faktisch überspielt werden.<br />

18<br />

N. 1242-1244<br />

N. 1245-1253<br />

N. 1254-1263<br />

N. 1264-1265


N. 1266<br />

N. 1267-1273<br />

N. 1274-1277b<br />

N. 1278-1281<br />

N. 1282-1292<br />

V. GRENZÜBERSCHREITENDE KOOPERATION<br />

Siehe Buch<br />

§43 Verträge zwischen den Kantonen<br />

I. GRUNDLAGEN<br />

Verträge zwischen den Kantonen sind öffentlich-rechtliche Vereinbarungen, die zwei oder<br />

mehrere Kantone über einen in ihren Kompetenzbereich fallenden Gegenstand schliessen. Sie<br />

können alle Staatsfunktionen betreffen. Auf diese Weise können auch gemeinsame<br />

Organisationen und Einrichtungen geschaffen werden.<br />

Das Interkantonale Recht hat Vorrang vor dem kantonalen Recht (Art. 48 Abs. 5 BV), geht aber<br />

dem Bundesrecht nach.<br />

Rechtliche Grundlage bildet Art. 48 BV.<br />

II. AM VERTRAG BETEILIGTE PARTNER<br />

Je nach Zahl der Beteiligten Kantone, wird nach bi- oder multilateralen Verträgen unterscheiden.<br />

Gemäss Art. 48 Abs. 2 kann sich der Bund ebenfalls an interkantonalen Verträgen beteiligen,<br />

wobei zu beachten bleibt, dass dem Bund durch die Beteiligung keine neuen Kompetenzen<br />

zufallen dürfen.<br />

Nach Art. 48a können in neun abschliessend aufgezählten Aufgabenbereichen interkantonale<br />

Verträge für allgemeinverbindlich erklärt werden, womit Kantone beitreten müssen.<br />

III. VORAUSSETZUNGEN UND GRENZEN DER INTERKANTONALEN VERTRÄGE<br />

Die Kantone dürfen innerhalb der verfassungsmässigen Kompetenzenordnung alles regeln,<br />

solange die Kompetenzenordnung nicht verändert wird (vgl. N. 1062).<br />

Verträge mit Inhalt, die den Bundesfrieden bedrohen könnten, sind aufgrund von Art. 44 Abs. 2<br />

BV unzulässig.<br />

Es bleibt allgemein Art. 48 Abs. 3 BV zu beachten<br />

IV. ARTEN VON INTERKANTONALEN VERTRÄGEN<br />

Rechtsgeschäftliche Verträge begründen zwischen den Beteiligten ein konkretes<br />

Rechtsverhältnis, indem sie gegenseitige Rechte und Pflichten umschreiben.<br />

Rechtsetzende Verträge stellen eine inhaltlich übereinstimmende generell-abstrakte Regelung<br />

der Vertragsbeteiligten dar, die einen Sachbereich innerhalb der zustehenden Kompetenzen<br />

regelt.<br />

Unmittelbar rechtsetzend sind diese Verträge, wenn Private und rechtsanwendende Behörden<br />

der beteiligten Kantone direkt berechtigt und verpflichtet werden.<br />

Mittelbar rechtsetzend sind Verträge, die nur Bestimmungen aufstellen, wie die Kantone ihr<br />

internes Recht zu gestalten haben.<br />

Es kommen Mischformen zwischen rechtsgeschäftlichen und rechtsetzenden Verträgen vor.<br />

19


Durch solche Verträge können Materien gesamtschweizerisch vereinheitlicht werden, ohne dass<br />

die Kantone ihre Kompetenzen verlieren (Gewinn für föderalistisches Prinzip). Allerdings haben<br />

Kantonsparlamente nur beschränkt Einfluss auf die Ausgestaltung und die parlamentarische<br />

Kontrolle ist nur beschränkt realisierbar (Verlust demokratisches Prinzip).<br />

V. INTERKANTONALE ORGANE<br />

Durch interkantonale Verträge können interkantonale Organe aufgestellt werden (Art. 48 Abs. 4<br />

BV), die meistens mit Verwaltungsaufgaben betraut oft auch die Kompetenz zum Erlass von<br />

Vollzugbestimmungen besitzen.<br />

VI. ABSCHLUSS UND AUFLÖSUNG<br />

Massgeblich für das Beitrittsverfahren ist das kantonale Recht.<br />

Die Verträge sind dem Bund zur Kenntnis zu bringen (Art. 48 Abs. 3 BV), es sei denn, sie haben<br />

aufgrund einer Einsprache des Bundesrats oder eines anderen Kantons durch die BVers<br />

genehmigt zu werden (Art. 172 Abs. 3 und Art. 186 Abs. 3 BV).<br />

Sofern Bestimmungen über den Rücktritt fehlen, dürfen nach BGer Verträge, die eine generelle<br />

Regelung einer Materie zum Gegenstand haben, frei gekündigt werden. (Mehr Details Buch N.<br />

1300)<br />

VII. RECHTSSCHUTZ<br />

Bei Streitigkeiten steht den beteiligten Kantonen die Klage gegen andere Vertragskantone oder<br />

gegen interkantonale Organe offen (Art. 120 Abs. 1 lit. b BGG, vgl. N. 2065 f.).<br />

Soweit eine interkantonale Vereinbarung den Bürger direkt berechtigt oder verpflichtet, kann er<br />

bei einer Verletzung des Vertrages die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten<br />

ergreifen (Art. 95 lit. e BGG, vgl. N. 1987 ff). Wie Erlasse, können die Verträge (und auch<br />

Erlasse/Verfügungen von interkantonalen Organen) mit der Einheitsbeschwerde angefochten<br />

werden (Art. 82 lit. b i.V.m. Art. 95 BGG, vgl. N. 1953).<br />

20<br />

N. 1293-1295<br />

N. 1296-1300<br />

N. 1301-1305


N. 1306-1323<br />

4. Teil: Schweizer Bürgerrecht und politische Rechte<br />

§44 Schweizer Bürgerrecht<br />

I. ALLGEMEINES<br />

Nach heutiger Auffassung ist das Bürgerrecht als Persönlichkeitsrecht und nicht bloss als Status<br />

zu verstehen. Alle Schweizerinnen und Schweizer haben ein Gemeindebürgerrecht, ein<br />

Kantonsbürgerrecht und ein Schweizer Bürgerrecht, welche eine untrennbare Einheit darstellen<br />

(Art. 37 Abs. 1 BV).<br />

Zu den aus dem Schweizerischen Bürgerrecht erwachsenden Rechte und Pflichten siehe Buch N.<br />

1309 f.<br />

Ausländer haben auf Bundesebene keine politischen Rechte. Nur acht Kantone gewähren<br />

Ausländern gewisse politische Rechte.<br />

Grundrechte stehen ihnen dagegen zu, soweit sie nicht an das Schweizerische Bürgerrecht<br />

anknüpfen.<br />

Der Bund ist nach Art. 38 Abs. 1 BV ermächtigt, den Erwerb des Bürgerrechts zu regeln. Ebenso<br />

regelt er den Verlust des Bürgerrechts und die Wiedereinbürgerung.<br />

Für die ordentliche Einbürgerung sind primär die Kantone zuständig, wobei der Bund<br />

Mindestvorschriften erlässt (Art. 38 Abs. 2 BV).<br />

Zu den tragenden Prinzipien gehören:<br />

- Grundsatz des ius sanguinis: Der Erwerb des Bürgerrechts stellt auf die Abstammung ab<br />

(ius soli: Ort der Geburt ist massgebend)<br />

- Einheitliches Bürgerrecht für die Familie: Nach Möglichkeit soll die ganze Familie das<br />

gleiche Bürgerrecht haben. Innerstaatlich wird dies durch Art. 161 und Art. 271 Abs. 1<br />

ZGB geregelt. Obwohl diese Bestimmungen dem Verfassungsgrundsatz der<br />

Gleichbehandlung der Geschlechter widersprechen, sind sie aufgrund von Art. 190 BV<br />

dennoch massgebend.<br />

- Vermeidung von Staatenlosigkeit: Der Verlust des Schweizer Bürgerrechts kommt<br />

grundsätzlich nur bei Doppelbürgern in Frage.<br />

- Integration als Voraussetzung für die Einbürgerung: Art. 14 BüG<br />

Zum Erwerb und Verlust des Bürgerrechts siehe Art. 1-48 BüG.<br />

21


Anmerkung zum Einbürgerungsakt durch Kanton und Gemeinde (Art. 12 BüG): Das Bundesgericht<br />

hat in zwei Entscheiden die rechtsstaatlichen Leitplanken für die Einbürgerungsverfahren<br />

festgesetzt (BGE 129 I 217; BGE 129 I 232). Gemäss Art. 5 Abs. 1 BV ist das Recht Grundlage und<br />

Schranke staatlichen Handelns. Nimmt das Volk staatliche Aufgaben wahr, welche die<br />

Rechtsstellung Einzelner unmittelbar berühren, ist es an die Verfassung und an die Grundrechte<br />

gebunden (Art. 35 Abs. 2 BV). Der in Art. 29 Abs. 2 BV verankerte Anspruch auf rechtliches Gehör<br />

schliesst die Verpflichtung ein, ablehnende Entscheide, welche die Rechtsstellung eines Einzelnen<br />

berühren, zu begründen und eine solche Begründung ist bei Volksentscheiden, die an der Urne<br />

erfolgen, nicht möglich. Zudem steht der Schutz der Privatsphäre des Einbürgerungswilligen nach<br />

Art. 13 BV in problematischer Weise in Konflikt mit dem Anspruch der Stimmberechtigten auf<br />

zureichende Information, wenn Einbürgerungen mittels Volksentscheiden entschieden werden.<br />

IV. RECHTSSCHUTZ<br />

Art. 51 Abs. 1 BüG verweist auf die allgemeinen Bestimmungen der Bundesrechtspflege.<br />

Ordentliche Einbügerungsentscheide: Für die Anfechtung von Einbürgerungsverfügungen nach<br />

kantonalem oder kommunalem Recht, gelten die kantonalen Gesetze über die<br />

Verwaltungsrechtspflege. Die Kantone müssen als letzte Beschwerdeinstanz Gerichte<br />

einsetzen (Art. 114 i.V.m. Art. 86 Abs. 2 BGG).<br />

Entscheide des Bundesamtes für Migration (vgl. 1329) können vor dem<br />

Bundesverwaltungsgericht angefochten werden (Art. 33 lit. d VGG), welches letztinstanzlich<br />

entscheidet.<br />

Neben betroffenen Privaten (Art. 48 Abs. 1 VwVG) sind auch die betroffenen Kantone und<br />

Gemeinden berechtigt (Art. 51 Abs. 2 BüG).<br />

Gegen letztinstanzliche Entscheide steht nur die subsidiäre Verfassungsbeschwerde zur<br />

Verfügung (Art. 83 lit. b BGG, Art. 113 i.V.m. Art 116 BGG).<br />

Ausserordentliche Einbürgerungsentscheide: Gegen Verfügungen des Bundesamtes für Migration<br />

(i.S.v. Art. 32, 25, 41 Abs. 1, 48 BüG) ist die Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht<br />

möglich (Art. 31 VGG). Nach Art. 82 lit. a BGG können die Entscheide des BVerGer an das<br />

Bundesgericht weitergezogen werden.<br />

Gegen letztinstanzliche Verfügungen der Kantone über die Entlassung (Art. 42 Abs. 2 BüG)<br />

und die Feststellung, ob eine Person das Schweizer Bürgerrecht besitzt, ist die Beschwerde an<br />

das BVerGer ausgeschlossen (e contrario Art. 33 lit. i VGG). Diese Entscheide können direkt<br />

beim Bundesgericht angefochten werden (Art. 82 lit. a BGG). Die Kantone müssen Gerichte als<br />

letzte Beschwerdeinstanzen einsetzen (Art. 86 Abs. 2 BGG).<br />

Das Bürgerrecht wird als Status qualifiziert und kann nicht den verfassungsmässigen Rechten<br />

zugeordnet werden. Jedoch kann ein abgewiesener Bewerber die Verletzung des<br />

Diskriminierungsverbots (Art. 8 Abs. 2 BV) oder verfassungsmässiger Verfahrensrechte rügen.<br />

Sofern nach kantonalem Recht ein Anspruch auf Einbürgerung besteht, kann auch eine<br />

Verletzung des Gleichbehandlungsgebots (Art. 8 Abs. 1 BV) und des Willkürverbots (Art. 9 BV)<br />

geltend gemacht werden.<br />

22<br />

N. 1357-1362


N. 1363-1382<br />

§45 Politische Rechte<br />

I. BEGRIFF UND VORAUSSETZUNGEN DES STIMMRECHTS<br />

Das Stimmrecht ist der zusammenfassende Ausdruck für das Recht, an der staatlichen<br />

Willensbildung mitzuwirken. Neben den natürlichen Personen können sich auch juristische<br />

Personen auf Art. 34 BV berufen.<br />

Art. 136 BV regelt die Voraussetzungen bei eidgenössischen Abstimmungen und Wahlen sowie<br />

die Teilnahme an Volksinitiativen und Referenden in Bundesangelegenheiten. Stimm- und<br />

Wahlrecht sind grundsätzlich am Wohnsitz auszuüben (Art. 39 Abs. 2 BV).<br />

Nach Art. 136 Abs. 1 BV sind nur die schweizerischen Staatsangehörigen gemeint.<br />

Voraussetzungen sind:<br />

- Schweizer Bürgerrecht<br />

- Zurücklegung des 18. Altersjahres<br />

- Kein Ausschluss vom Stimmrecht (minimale polit. Urteilsfähigkeit muss gegeben sein)<br />

- Politischer Wohnsitz (Art. 3 Abs. 1 BPR, auch Anspruch auf Eintragung im<br />

Stimmrechtsregister nach Art. 4 Abs. 1 BPR)<br />

In kantonalen und kommunalen Angelegenheiten bleibt das kantonale Recht vorbehalten (Art.39<br />

Abs. 1 BV). Neben Art. 51 Abs. 1 BV (Minimalanforderungen der demokratischen Rechte der KV)<br />

gelten von Bundesrechts wegen folgende vier Vorschriften:<br />

- Wohnsitzprinzip/Einheit des polit. Wohnsitzes: Art. 39 Abs. 2/3 BV gilt auch für<br />

kantonale und kommunale Angelegenheiten. Allerdings steht es den Kantonen frei,<br />

Auslandschweizern das Stimmrecht in kantonalen oder kommunalen Angelegenheiten<br />

zu geben oder nicht.<br />

- Karenzfrist: Art. 39 Abs. 4 BV<br />

- Gleichbehandlungsgebot und Willkürverbot: Quotenregelungen sind zulässig, sofern sie<br />

auf vernünftigen Gründen beruhen, massvoll sind und die Wahlmöglichkeiten unter den<br />

Kandidaten nicht unverhältnismässig einschränken.<br />

- Erfolgswertgleichheit beim Proporzwahlverfahren: Auch kleinere Parteien sollen<br />

Mandate erreichen können. Problematisch sind deshalb Sperrklauseln („direktes<br />

Quorum“) oder die Festlegung von zu kleinen Wahlkreisen („natürliches Quorum“).<br />

Grundsätzlich sollten nicht mehr als 10% der Stimmen für das Erreichen eines Mandates<br />

nötig sein.<br />

Den Kantonen steht es nach Art. 39 Abs. 1 BV frei, auch den im Kanton wohnhaften Ausländern<br />

politische Rechte zu gewähren.<br />

Das Stimmrecht ist einerseits ein Recht (Beschwerde ans Bundesgericht mit<br />

„Stimmrechtsbeschwerde“ -> Art. 189 Abs. 1 lit. f BV, Art. 82 lit. c und Art. 88 Abs. 1 BGG) und<br />

andererseits eine staatliche Funktion, denn als Träger von Mitwirkungsrechten stellt der<br />

Stimmberechtigte ein Teilorgan des Staates dar. Deshalb ist er grundsätzlich verantwortlich, seine<br />

Organfunktion zu erfüllen. Stimmrechtszwang ist so rechtlich begründbar.<br />

II. DIE EINZELNEN POLITISCHEN RECHTE IM BUND: ÜBERBLICK<br />

Siehe Buch N. 1383<br />

23


III. ZUSÄTZLICHE POLITISCHE RECHTE IN DEN KANTONEN<br />

Volkswahl der Exekutive, Finanzreferendum und Gesetzesinitiative sind nur in den Kantonen und<br />

Gemeinden gewährleistet.<br />

IV. WAHL- UND ABSTIMMUNGSFREIHEIT<br />

Die in Art. 34 Abs. 2 geschützte freie Willensbildung und unverfälschte Stimmabgabe hat zur<br />

Bildung folgender Grundsätze geführt:<br />

Grundsatz der Einheit der Materie: Für Teilrevisionen der Verfassung in Art. 194 Abs. 2 BV<br />

ausdrücklich festgehalten. In kantonalen Angelegenheiten aus dem Anspruch auf<br />

unverfälschte Willensbildung abgeleitet.<br />

Dieser Grundsatz verbietet, dass in einer einzigen Abstimmung über mehrere Fragen ohne<br />

inneren Zusammenhang abgestimmt wird, damit zu (Un)gunsten einzelner<br />

Abstimmungspunkte die ganze Vorlage angenommen/abgelehnt werden muss. Er ist relativer<br />

Natur und vor dem Hintergrund der konkreten Verhältnisse zu betrachten, weshalb keine<br />

überspannten Anforderungen zu stellen sind.<br />

Information der Stimmberechtigten: Die Stimmberechtigten müssen rechtzeitig in den Besitz der<br />

Stimm- und Wahlunterlagen kommen, damit genügend Zeit zur Willensbildung und<br />

öffentlichen Diskussion bleibt.<br />

Die Informationen in behördlichen Erläuterungen müssen objektiv sein. Des Weiteren müssen<br />

Abstimmungsfragen klar und korrekt (weder irreführend noch suggestiv) formuliert sein.<br />

Durch Eingreifen der Behörden in einem Wahl- oder Abstimmungskampf kann eine<br />

unzulässige Beeinflussung der Stimmbürger stattfinden. Solange sachlich informiert wird, der<br />

Einsatz der Mittel verhältnismässig und transparent ist, sollte sich nach Häfelin/Haller/Keller<br />

auch die staatliche Seite am Abstimmungskampf beteiligen dürfen.<br />

Gemeinden dürfen in einem kantonalen Abstimmungskampf intervenieren, wenn sie ein<br />

unmittelbares und besonderes Interesse am Ausgang haben, das jenes der übrigen<br />

Gemeinden des Kantons bei Weitem übersteigt.<br />

Ähnlich werden öffentliche oder gemischtwirtschaftliche Unternehmen behandelt. Sie dürfen<br />

in objektiver Weise und mit verhältnismässigen finanziellen Mitteln auf Volksabstimmungen<br />

einzuwirken versuchen.<br />

Die Neutralitätspflicht bei Wahlen ist grundsätzlich absolut, da den Behörden keine<br />

Beratungsfunktion zukommt.<br />

Grundsatz der geheimen Stimmabgabe: Freie Wahlen und Abstimmungen setzen die geheime<br />

Stimmabgabe voraus.<br />

Korrekte Ermittlung des Wahl- oder Abstimmungsergebnisses: Kein Wahl- oder<br />

Abstimmungsergebnis soll anerkannt werden, das nicht den freien Willen der<br />

Stimmberechtigten zuverlässig und unverfälscht zum Ausdruck bringt.<br />

Grundsätze über die Aufhebung von Volksabstimmungen und <strong>–</strong>wahlen: Die gerügten<br />

Unregelmässigkeiten müssen erheblich und eine Beeinflussung des Ergebnisses möglich sein.<br />

Kein Anspruch auf Ungültigkeitserklärung einer allenfalls bundesrechtswidrigen kantonalen<br />

Initiative: Eine inhaltlich bundesrechtswidrige kantonale Initiative muss der Volksabstimmung<br />

unterbreitet werden, sofern nicht das kantonale Verfassungs- oder Gesetzesrecht einen<br />

Anspruch auf eine solche Ungültigkeitserklärung vorsieht.<br />

Förderung und finanzielle Unterstützung von politischen Parteien: Das indirekte Eingreifen in<br />

Form von Unterstützungen und Hilfeleistungen an politische Parteien der Gemeinwesen muss<br />

neutral sein, es dürfen nicht einzelne Kandidaten/Parteien/Gruppierungen bevorzugt oder<br />

benachteiligt werden.<br />

Die Intervention Dritter bei Abstimmungen und Wahlen ist zulässig.<br />

24<br />

N. 1384-1386<br />

N. 1387-1404


N. 1405-1409<br />

N. 1410-1419<br />

5. Teil: Bundesbehörden<br />

1. Kapitel Allgemeines<br />

§46 Grundsatz der Gewaltenteilung<br />

I. DIE GEWALTENTEILUNGSLEHRE<br />

Die Staatstätigkeit lässt sich unterteilen in Rechtsetzung, Verwaltung (einschliesslich<br />

Regierungstätigkeit) und Justiz. Diese Unterscheidung liegt der Lehre der Gewaltenteilung<br />

zugrunde: Sie ordnet jedem Staatsorgan (Parlament, Regierung, Gerichte) eine ihm<br />

entsprechende Staatsfunktion zu.<br />

Das Prinzip der organisatorischen Gewaltenteilung verlangt, dass die drei Staatsfunktionen auf<br />

drei verschiedene, voneinander unabhängige Organe übertragen werden.<br />

Das Prinzip der personellen Gewaltenteilung verlangt, dass die drei Staatsorgane personell streng<br />

getrennt sind.<br />

Das Prinzip der gegenseitigen Gewaltenhemmung verlangt, dass zwischen den drei Organen<br />

gewisse Kontrollmechanismen bestehen („checks and balances“), die u.U. ein Eingriff einer<br />

Gewalt in den Tätigkeitsbereich einer anderen zulassen.<br />

Allerdings wird kritisiert, dass nicht alle staatlichen Tätigkeiten in die „klassische“ Funktionentrias<br />

eingeordnet werden können oder dass das kooperative Element zwischen Exekutive und<br />

Legislative vernachlässigt wird.<br />

II. VERWIRKLICHUNG DER GEWALTENTEILUNG IN DER BUNDESVERFASSUNG<br />

Der Grundsatz der Gewaltenteilung wird nicht ausdrücklich erwähnt, stellt jedoch ein<br />

organisatorisches Grundprinzip der schweizerischen Demokratie dar. Die BVers wird als oberste<br />

Gewalt im Bund bezeichnet (Art. 148 Abs. 1 BV). Die Verfassungsgerichtsbarkeit Bundesgesetzen<br />

gegenüber ist ausgeschlossen (Art. 190 BV). Trotz der formalen Überordnung der BVers liegt dem<br />

5. Titel der BV über die Bundesbehörden die Begrenzung der staatlichen Macht durch Verteilung<br />

der Staatsfunktionen zugrunde. Art. 144 BV legt besonderes Gewicht auf die personelle<br />

Gewaltenteilung. Der Gedanke der Zusammenarbeit zwischen Exekutive und Legislative in der<br />

Staatsleitung kommt ebenfalls zum Ausdruck (z.B. Art. 166 Abs. 1 BV, Art. 173 Abs. 1 lit. g BV)<br />

Der Grundsatz der organisatorischen Gewaltentrennung als ungeschriebene Verfassungsnorm<br />

kommt darin zum Ausdruck, dass grundsätzlich die BVers für die Rechtsetzung zuständig ist (Art.<br />

138 ff. BV), die Verwaltungsfunktion vom Bundesrat ausgeübt wird (Art. 174 BV), die oberste<br />

rechtsprechende Behörde das Bundesgericht ist (Art. 188 Abs. 1 BV).<br />

Die personelle Gewaltenteilung wird in Art. 144 BV streng geregelt.<br />

Der Grundgedanke des Gleichgewichts der Gewalten ist im schweizerischen Verfassungsrecht<br />

nicht verwirklicht. Die BVers besitzt als Volksvertretung bedeutende Kontrollrechte gegenüber<br />

Bundesrat und Bundesverwaltung und z.T. auch eine gewisse Überordnung gegenüber dem<br />

Bundesgericht. Die BVers kann aber weder durch den Bundesrat noch durch das Bundesgericht in<br />

ihrer Tätigkeit gehemmt werden. Für einzelne gewaltenhemmende Elemente siehe Buch N. 1417<br />

ff.<br />

25


III. ABWEICHUNG VON DER ORGANISATORISCHEN GEWALTENTEILUNG IN DER BV<br />

Die Gewaltenteilung ist <strong>–</strong> wie in keinem Staat <strong>–</strong> in der Schweiz nicht ausnahmslos verwirklicht.<br />

Denn gewisse Staatsaufgaben lassen sich nicht eindeutig einer klassischen Funktion zuordnen<br />

oder aus praktischen oder politischen Gründen werden Aufgaben übertragen. Demnach erhält<br />

jedes der drei Organe gewisse Modifikationen des Prinzips der organisatorischen<br />

Gewaltentrennung.<br />

Der BVers sind einige wenige Rechtsprechungsbefugnisse und eine relativ grosse Zahl von<br />

Verwaltungsaufgaben übertragen.<br />

Dem Bundesrat obliegen wichtige Rechtsetzungsbefugnisse (Mitwirkung am Verfassungs- und<br />

Gesetzgebungsverfahren, vgl. N. 1675 ff.; Erlass von Verordnungen, vgl. N. 1680 ff.).<br />

Das Bundesgericht hat in einem geringen Ausmass gewisse Rechtsetzungskompetenzen (vgl. N.<br />

1752 und 1884) sowie die Kompetenz, seine eigene Verwaltung und die Justizverwaltung<br />

erledigen zu dürfen (Art. 188 Abs. 3 BV, Art. 13 ff. BGG).<br />

§47 Bundesbehörden im Allgemeinen<br />

Als Bundesbehörden sind alle Bundesorgane zu verstehen, die neben der Gesamtheit der<br />

Stimmberechtigten kraft Bundesrechts staatliche Funktionen ausüben. In einem engeren Sinne<br />

bezeichnet die BV im 5. Titel als Bundesbehörden: die Bundesversammlung, den Bundesrat und<br />

die Bundesverwaltung sowie das Bundesgericht.<br />

I. SITZ DER BUNDESBEHÖRDEN<br />

Der Sitz der Bundesbehörden wird von der Bundesgesetzgebung geregelt (Art. 164 Abs. 1 lit. g<br />

BV). Die Stadt Bern ist der Sitz der Bundesversammlung (Art. 32 Abs. 1 ParlG) sowie der Amtssitz<br />

des Bundesrats, seiner Departemente und der Bundeskanzlei (Art. 58 RVOG). Der Sitz des<br />

Bundesgerichts ist in Art. 4 BGG geregelt.<br />

II. VERANTWORTLICHKEIT<br />

Art. 146 BV stellt die Grundlage der Staatshaftung dar. Mit „Organe“ sind alle Personen gemeint,<br />

denen die Ausübung eines öffentlichen Amtes des Bundes übertragen ist.<br />

Die Behördenmitglieder haften für vermögensrechtliche Schäden, die sie dem Bund durch<br />

vorsätzliche oder grobfahrlässige Verletzung ihrer Dienstpflicht unmittelbar zufügen (Art. 8 VG).<br />

Für Schäden gegenüber Dritten haftet ausschliesslich der Bund (Art. 146 BV und Art. 3 VG), wobei<br />

der Bund Regress nehmen kann.<br />

Aus strafrechtlicher Sicht unterstehen die Bundesbehörden einer strafrechtlichen<br />

Verantwortlichkeit (Art. 13 VG). Zu beachten bleiben Verfolgungsprivilegien und die Immunität<br />

(vgl. N. 1609 ff. und 1648 f.)<br />

Auch sind die Behördenmitglieder für ihre Pflichtverletzungen einer disziplinarischen<br />

Verantwortlichkeit unterworfen (Art. 17 f. VG).<br />

III. ORDENSVERBOT (Buch N. 1434)<br />

IV. AMTSSPRACHEN<br />

Art. 70 BV<br />

26<br />

N. 1420-1423<br />

N. 1425-1428<br />

N. 1429-1433<br />

N. 1435-1437


N. 1438-1441<br />

N. 1442-1454<br />

2. Kapitel Bundesversammlung<br />

§48 Zweikammersystem<br />

I. HERKOMMEN UND FUNKTION DES ZWEIKAMMERSYSTEMS<br />

Herkommen siehe Buch N. 1438<br />

Im Vordergrund steht die bundesstaatliche Funktion: Im Parlament, der einen Kammer, vertritt<br />

der Nationalrat die Gesamtbevölkerung und der Ständerat, die andere Kammer, vertritt die<br />

Kantone, womit diese an der Willensbildung des Bundes beteiligt sind.<br />

Eine ursprünglich nicht beabsichtigte Funktion liegt in der Verbesserung der parlamentarischen<br />

Beratung: Zwei verschieden zusammengesetzte Kammern müssen eine gemeinsame Lösung<br />

finden, was oft zu einer gründlicheren Behandlung der Geschäfte führt.<br />

II. ELEMENTE DES ZWEIKAMMERSYSTEMS DER SCHWEIZ<br />

Das Zweikammersystem ist nur sinnvoll, wenn die beiden Kammern eine unterschiedliche<br />

Struktur und Zusammensetzung haben. Die Zusammensetzung regelt das Bundesrecht, während<br />

das Wahlrecht nur für den Nationalrat vom Bundesrecht geregelt wird.<br />

Mit der Repräsentation der Gesamtbevölkerung der Schweiz (Art. 149 Abs. 1/4 BV) verwirklicht<br />

der Nationalrat mit einer Verteilung der Sitze nach Bevölkerungszahl das demokratische Prinzip<br />

während der Ständerat die Kantone repräsentiert (Art. 150 Abs. 1 BV) und mit der gleichmässigen<br />

Verteilung der Sitze auf die Kantone das föderalistische Prinzip zum Ausdruck bringt.<br />

Das Zweikammersystem ist dann voll verwirklicht, wenn beide Kammern einander gleichgestellt<br />

sind, was in der Schweiz der Fall ist (Art. 148 Abs. 2 BV). Denn die in Art. 163 ff. BV aufgeführten<br />

Sachkompetenzen kommen beiden Räten zu.<br />

Im Weiteren sind National- und Ständerat in dem von der BVers zu befolgenden Verfahren<br />

gleichberechtigt (Einberufung: Art. 151 Abs. 2 BV; Antragsrecht: Art 160 Abs. 1 BV; keine<br />

Prioritäten bei der Zuweisung von Geschäften zur Erstbehandlung).<br />

Zuletzt kommt ein Parlamentsbeschluss nur bei Zustimmung beider Räte zustande (Art. 156 Abs.<br />

2 BV, Art. 83 Abs. 1 ParlG). Werden unterschiedliche Beschlüsse gefasst, kommt das<br />

Differenzbereinigungsverfahren zum Zug (Art. 89 ff. ParlG; vgl. N. 1604).<br />

Gemäss Art. 156 Abs. 1 BV verhandeln die beiden Räte in getrennten Verhandlungen,<br />

vorbehalten den Geschäften der vereinigten Bundesversammlung (Art. 157 BV; vgl. N. 1506 ff.).<br />

27


§49 Nationalrat<br />

I. ZUSAMMENSETZUNG DES NATIONALRATS<br />

In Art. 149 Abs. 1 BV ist die feste Anzahl von 200 Sitzen festgelegt, welche nach Art. 149 Abs. 4<br />

nach der Bevölkerungszahl auf die Kantone verteilt werden. Es wird auf die Wohnbevölkerung<br />

(einschliesslich Ausländern) abgestellt, wobei jeder Kanton Anspruch auf mindestens einen Sitz<br />

hat.<br />

II. WAHLBERECHTIGUNG (ART. 136 BV)<br />

Vgl. N. 1364 ff.<br />

III. WÄHLBARKEIT (ART. 143 i.V.m. ART. 136 ABS. 1 BV)<br />

Es gelten die Anforderungen von Art. 136 Abs. 1 BV. Nicht erforderlich ist der Wohnsitz in der<br />

Schweiz und die Eintragung im Stimmregister. Die Regelung von Art. 143 i.V.m. Art. 136 Abs. 1 BV<br />

ist abschliessend, es dürfen keine zusätzlichen Wählbarkeitsvoraussetzungen aufgestellt werden.<br />

IV. UNVEREINBARKEIT<br />

Im Unterschied zum Fehlen der Wählbarkeit bedeutet die Unvereinbarkeit eine zwar gültige<br />

Wahl, aber der Gewählte muss den Unvereinbarkeitsgrund beseitigen, um das Mandat ausüben<br />

zu können (Art. 18 BPR).<br />

Die Unvereinbarkeiten sind in Art. 144 Abs. 1 und 2 BV geregelt, wobei nach Abs. 3 weitere<br />

Unvereinbarkeiten festgelegt werden können (vgl. N. 1414), wobei Abs. 1 abschliessend ist.<br />

Kantonale Unvereinbarkeitsbestimmungen, die eine Unvereinbarkeit von kantonalen Ämtern mit<br />

dem Nationalratsmandat statuieren, zeitigen nur auf kantonaler Ebene Rechtswirkungen.<br />

V. WAHLVERFAHREN<br />

Das Volk wählt die Mitglieder des Nationalrates in direkter Wahl nach dem<br />

Verhältniswahlverfahren gewählt (Art. 149 Abs. 2 BV).<br />

Die Sitze des Parlaments werden auf die verschiedenen Parteien im Verhältnis der Stimmen<br />

verteilt, welche für die Parteien oder ihre Kandidaten abgegeben worden sind. Der Wähler gibt<br />

seine Stimme der Liste einer Partei, auf der die Namen mehrere Kandidaten stehen.<br />

Da Art. 149 Abs. 3 BV jeden Kanton zu einem Wahlkreis macht, wird der Proporzgedanke<br />

verfälscht, da nur in sieben Kantonen 10% (oder weniger) der Stimmen für ein Mandat reichen,<br />

womit kein bundesweiter Proporz besteht, sondern faktisch ein Mischwahlsystem.<br />

Die gesetzlichen Grundlagen der Wahlvorschläge finden sich in Art. 21-33 BPR.<br />

Das bei den Nationalratswahlen (Wahlakt: Art. 34-38 BPR) angewendete System der Listenwahl<br />

bedeutet, dass der Wähler so vielen Kandidaten seine Stimme geben kann, als in einem<br />

Wahlkreis Sitze zu vergeben sind. Er kann aber nur für Kandidaten stimmen, deren Name auf<br />

einer der Listen seines Wahlkreises steht (Art. 37 Abs. 3 BPR). Nichtamtliche Wahlzettel sind<br />

ungültig (Art. 38 Abs. 1 lit. b BPR).<br />

Die Liste kann durch panaschieren (Namen streichen und an deren Stelle Namen aus anderen<br />

Listen eintragen, Art. 35 Abs. 2 BPR) und kumulieren (Name eines Kandidaten zweimal auf einer<br />

Liste aufführen, Art. 35 Abs. 3 BPR) verändert werden. Es werden auch amtliche Wahlzettel ohne<br />

Vordruck zur Verfügung gestellt, die nach freier Wahl ausgefüllt werden können (Art. 35 Abs. 1<br />

28<br />

N. 1455-1457<br />

N. 1458-1459<br />

N. 1460<br />

N. 1463-1485a


BPR). Abänderungen oder ausfüllen von Wahlzetteln ohne Vordruck müssen handschriftlich sein<br />

(Art. 38 Abs. 1 lit. c BPR).<br />

Für die Ermittlung der Ergebnisse wird folgendermassen vorgegangen:<br />

Ermittlung der Partei- oder Listenstimmen: Es gilt das System der Einzelstimmenkonkurrenz, bei<br />

dem eine Partei oder Liste so viele Stimmen erhält, als Kandidaten von ihr Stimmen erhalten<br />

haben. Gezählt werden auch Kandidatenstimmen auf „fremden“ Listen. Leere Linien werden<br />

als Zusatzstimmen für diejenige Liste dazu gezählt, deren Bezeichnung am Kopf des<br />

Wahlzettels angegeben ist (Art. 37 Abs. 1 BPR).<br />

Verteilung der Mandate auf die Parteien oder Listen (Art. 40-42 BPR): Jede Partei hat Anspruch<br />

auf so viele der im betreffenden Wahlkreis zu verteilenden Mandate, als dem Verhältnis ihrer<br />

Parteistimmenzahl zur Gesamtzahl der gültigen Stimmen entspricht. Art. 40 f. BPR bestimmen<br />

das mathematische Verfahren für die Sitzverteilung (Methode Hagenbach-Bischoff).<br />

Sperrklauseln gibt es nicht, vgl. aber N. 1467<br />

Ermittlung der Gewählten und der Ersatzleute (Art. 43 BPR)<br />

Stille Wahl: Art. 45 BPR<br />

Nachrücken: Art. 55 BPR<br />

Ergänzungswahl: Art. 56 BPR<br />

Wahl in Kantonen mit nur einem Mandat: Art. 47-51 BPR; Rechtsmittel: Art. 77 Abs. 1 lit. c BPR<br />

bzw. Art. 88 Abs. 1 lit. b BGG.<br />

Nach Art. 145 und 149 Abs. 2 Satz 2 BV werden die Mitglieder das Nationalrates auf eine<br />

Amtsdauer von vier Jahren gewählt, nach deren Ablauf jeweils eine Gesamterneuerung<br />

stattfindet. Das System der festen Legislaturperiode kennt keine Möglichkeit der Auflösung des<br />

Nationalrates (einzige Ausnahme: Totalrevision der BV, dann Art. 193 Abs. 3 BV; vgl. N. 1774).<br />

VII. KONSTITUIERUNG UND BESTELLUNG DES RATSBÜROS<br />

Siehe Buch N. 1489-1490<br />

29


§50 Ständerat<br />

I. STÄNDERAT ALS „REPRÄSENTATION DER KANTONE“<br />

Der Ständerat ist keine Vertretung der Kantone im juristischen Sinn, da das Instruktionsverbot<br />

von Art. 161 Abs. 1 BV auch für Ständeräte gilt.<br />

II. ZUSAMMENSETZUNG DES STÄNDERATES (ART. 150 ABS. 1 UND 2 BV)<br />

Seit der Gründung des Kantons Jura besteht der Ständerat aus 46 Mitgliedern.<br />

III. WAHL DER STÄNDERÄTE<br />

Die Wahl der Ständeräte richtet sich nach kantonalem Recht (Art. 150 Abs. 3 BV). Ebenso die<br />

Wählbarkeit und die Wahlberechtigung. Selbstverständlich dürfen keine verfassungswidrigen<br />

Bestimmungen aufgestellt werden.<br />

Im Falle von Anfechtungen liegt der Gültigkeitsentscheid bei kantonalen Instanzen. Eine<br />

Stimmrechtsbeschwerde wegen Verletzung des kantonalen Stimmrechts ist möglich (Art. 95 lit. d<br />

BGG).<br />

IV. UNVEREINBARKEIT<br />

Die Unvereinbarkeitsbestimmungen von Art. 144 Abs. 1 BV und Art. 14 ParlG gelten wie für<br />

Nationalratsmitglieder.<br />

Allerdings haben die bundesrechtlichen Vorschriften nicht abschliessenden Charakter, da das<br />

kantonale Recht weitere Unvereinbarkeiten vorsehen darf.<br />

V. AMTSDAUER<br />

Die Amtsdauer wird vom kantonalen Recht bestimmt. Aufgrund unterschiedlicher Amtsdauern<br />

gibt es keine Gesamterneuerung des Ständerates (Ausnahme: Totalrevision der<br />

Bundesverfassung nach Art. 193 Abs. 3 BV; vgl. N. 1774).<br />

VI. BESTELLUNG DES RATSBÜROS<br />

Siehe Buch N. 1503-1504<br />

30<br />

N. 1491-1493<br />

N. 1494<br />

N. 1495-1496<br />

N. 1499-1500<br />

N. 1501-1502


N. 1506-1507<br />

N. 1508-1513<br />

§51 Vereinigte Bundesversammlung<br />

I. ORGANISATION UND VERFAHREN<br />

Als Ausnahme ist nach Art. 157 BV für bestimmte Geschäfte die Vereinigte Bundesversammlung<br />

zuständig. Die Mitglieder von National- und Ständerat treten zu einem Verhandlungsgremium<br />

zusammen.<br />

II. KOMPETENZEN DER VEREINIGTEN BUNDESVERSAMMLUNG<br />

Die in Art. 157 Abs. 1 BV aufgeführten Kompetenzen stellen eine abschliessende Aufzählung dar.<br />

Die VerBVers nimmt Wahlen gemäss Art. 168 BV vor.<br />

Bei den Zuständigkeitskonflikten zwischen Bundesbehörden gem. Art. 157 Abs. 1 lit. b BV stehen<br />

Streitigkeiten zwischen dem Bundesrat und dem Bundesgericht im Vordergrund.<br />

Um eine Begnadigung nach Art. 157 Abs. 1 lit. c BV aussprechen zu können, muss die<br />

rechtsgültige Strafe in Anwendung von Bundesrecht durch Bundesbehörden ausgefällt worden<br />

sein.<br />

31


§52 Kompetenzen der Bundesversammlung<br />

I. ALLGEMEINE STELLUNG DER BUNDESVERSAMMLUNG<br />

Die Bundesversammlung hat sehr umfangreiche Kompetenzen. Dies kann als Ausdruck der<br />

Betonung des demokratischen Elements verstanden werden, da die Bundesversammlung von<br />

allen Bundesbehörden die breiteste demokratische Basis hat.<br />

Gemäss Art. 148 Abs. 1 BV übt die Bundesversammlung unter Vorbehalt der Rechte von Volk und<br />

Ständen die oberste Gewalt im Bund aus. Sie ist nach Art. 173 Abs. 2 BV für die Behandlung von<br />

Geschäften zuständig, die in die Zuständigkeit des Bundes fallen und keiner anderen Behörde<br />

zugewiesen sind. Dies stellt keine generelle Vermutung zu Gunsten der Zuständigkeit der<br />

Bundesversammlung dar, vielmehr muss im Zweifelsfall die zuständige Bundesbehörde durch<br />

Auslegung unter Heranziehung des Grundsatzes der Gewaltenteilung als Interpretationshilfe<br />

ermittelt werden.<br />

Die Zuständigkeiten der Bundesversammlung sind in Art. 163-173 BV systematisch gegliedert und<br />

aufgelistet. Weitere Kompetenzen können gemäss Art. 173 Abs. 3 BV zugewiesen werden.<br />

II. RECHTSETZUNGSKOMPETENZEN<br />

Die Bundesversammlung ist in Verbindung mit dem Volk (Initiative, Referendum) das<br />

Legislativorgan des Bundes. Der Erlass von generell-abstrakten Normen (Rechtsetzung) ist ihre<br />

Stammfunktion.<br />

Die BVers ist zur Gesetzgebung in allen Bereichen befugt, in denen der Bund zuständig ist (Art.<br />

163 ff. BV; vgl. N. 1113 ff.). Zum Gesetzgebungsverfahren vgl. N. 1805 ff.<br />

Eine wesentliche Aufgabe der BVers ist die Vorbereitung der Revision der Bundesverfassung (Art.<br />

192 BV). Zum Verfahren der Verfassungsrevision vgl. 1769 ff. und 1779 ff.<br />

III. AUSSENPOLITISCHE KOMPETENZEN<br />

Beteiligung an der Gestaltung der Aussenpolitik (Art. 166 Abs. 1 BV): Diese Kompetenz fällt in den<br />

Bereich von BR und BVers, weshalb die Verpflichtung zur Koordination und Kooperation<br />

besteht. Eine zentrale Rolle spielen die aussenpolitischen Kommissionen der beiden Räte (vgl.<br />

Art. 152 ParlG).<br />

Genehmigung von Staatsverträgen (Art. 166 Abs. 2 BV): Die BVers kann einen Vertrag nur als<br />

Ganzes genehmigen oder ablehnen. Allenfalls kann der BR verpflichtet werden, einen<br />

Vorbehalt anzubringen. Nicht alle völkerrechtlichen Verträge unterstehen der<br />

Genehmigungspflicht (vgl. N. 1901).<br />

Wahrung der äusseren Sicherheit (Art. 173 Abs. 1 lit. a/d BV): Diese Kompetenz konkurriert mit<br />

derjenigen des BR nach Art. 185 Abs. 1 BV. Der Bundesrat kann nur entsprechende<br />

Massnahmen treffen, wenn die BVers nicht handelt. Bei dringlichen Massnahmen hat der BR<br />

aber eine grössere Bedeutung.<br />

IV. REGIERUNGS- UND VERWALTUNGSKOMPETENZEN<br />

Finanzkompetenzen (Art. 167 BV): Die BVers hat die wichtigsten Entscheide im Bereich des<br />

Finanzhaushaltes zu fällen, was weitgehend eine Regierungsfunktion darstellt.<br />

Voranschlag (Art. 167 BV; Art. 29 ff. FHG): Unter dem Voranschlag ist die für das<br />

kommende Jahr gemachte Zusammenstellung der bewilligten Gesamtausgaben und der<br />

geschätzten Gesamteinnahmen zu verstehen. Der Beschluss erfolgt in Form des<br />

einfachen Bundesbeschlusses (Art. 29 FHG; Art. 25 Abs. 2 ParlG).<br />

32<br />

N. 1515-1517<br />

N. 1518-1520<br />

N. 1521-1524<br />

N. 1525-1554


Besondere Ausgabenbeschlüsse:<br />

- Selbständige Ausgabenbeschlüsse (Art. 23 Abs. 2 FHG)<br />

- Nachtragskredite (Art. 33 f. FHG)<br />

- Verpflichtungskredite (Art. 21 ff. FHG)<br />

- Zahlungsrahmen (Art. 20 FHG)<br />

Abnahme der Staatsrechnung (Art. 167 BV; Art. 4 ff. FHG): Unter Staatsrechnung ist die<br />

vom BR (Art. 183 Abs. 1 BV) vorgelegte, detaillierte Zusammenstellung der Einnahmen<br />

und Ausgaben im vergangenen Jahr zu verstehen. Mit der Abnahme wird der BR von<br />

seiner Verantwortlichkeit für die offengelegten Vorgänge entbunden. Die Behandlung in<br />

der BVers erfolgt durch die Finanzkommissionen. Die nähere Prüfung obliegt der<br />

Finanzdelegation (Art. 51 Abs. 1 ParlG; vgl. N 1573).<br />

Wahl der anderen Bundesorgane (Art. 168 BV)<br />

Oberaufsicht (Art. 169 BV): Die BVers ist aber nicht befugt, kraft ihrer Aufsichtskompetenz<br />

Einzelakte des BR aufzuheben oder bindende Weisungen für die Rechtsanwendung zu geben<br />

(vgl. Art 26 Abs. 4 ParlG).<br />

Prüfung der Geschäftsberichte<br />

Parlamentarische Vorstösse: Interpellationen, Anfragen, Motionen und Postulate (vgl. N.<br />

1589 ff.)<br />

Parlamentarische Untersuchungskommission (Art. 163 ff. ParlG): Die Parlamentarische<br />

Untersuchungskommission ist eine gemeinsame Kommission beider Räte und wird nach<br />

Anhörung des BR mittels einfachem Bundesbeschluss eingesetzt, um Vorkommnisse von<br />

grosser Tragweite abzuklären. Sie hat weitreichende Kontrollrechte, ist aber in ihrer<br />

Untersuchung auf die Abklärung einer bestimmten Sachfrage beschränkt.<br />

Genehmigung von Verordnungen des Bundesrates: Nur, sofern bei einer delegierten<br />

Rechtsetzungskompetenz an den BR ein Genehmigungsvorbehalt angebracht wurde.<br />

Legislaturplanung (Art. 146 f. ParlG)<br />

Oberaufsicht über die Justiz im Besonderen: Aufgrund der richterlichen Unabhängigkeit<br />

(Art. 191c BV) ist Zurückhaltung gefordert (vgl. Art. 26 Abs. 4 ParlG). Auf dem Weg der<br />

Gesetzgebung kann die zukünftige Rechtsentwicklung und damit auch Rechtsprechung<br />

beeinflusst werden.<br />

Wirksamkeitsprüfung (Art. 170 BV; Art. 27 ParlG)<br />

Genehmigungskompetenzen gegenüber den Kantonen (Art. 172 Abs. 2/3 BV): Vgl. N. 1021 ff.,<br />

1134 und 1297<br />

Weitere Aufgaben und Befugnisse (Art. 173 BV):<br />

- Massnahmen zur Wahrung der inneren Sicherheit (Art. 173 Abs. 1 lit. b/c BV): Vgl. N.<br />

1881 ff. zu den Verordnungen und N. 1041 zur Bundesintervention<br />

- Durchsetzung des Bundesrechts (Art. 173 Abs. 1 lit. e BV): Vgl. N. 1226 ff. zur<br />

Bundesexekution<br />

- Entscheid über die Gültigkeit von Volksinitiativen (Art. 173 Abs. 1 lit. f BV)<br />

- Mitwirkung bei der Planung der Staatstätigkeit (Art. 173 Abs. 1 lit. g BV; Art. 28 ParlG)<br />

- Einzelakte (Art. 173 Abs. 1 lit. h und Abs. 3 BV): Meistens Verwaltungsakte von grosser<br />

politischer Bedeutung.<br />

- Begnadigungen und Amnestie (Art. 173 Abs. 1 lit. k BV)<br />

33


V. RECHTSPRECHUNGSKOMPETENZEN<br />

Das Parlament ist nicht das geeignete Gremium, um Rechtsprechungsfunktionen wahrzunehmen.<br />

Die entsprechenden Kompetenzen der BVers erfassen heute lediglich noch Einzelpunkte<br />

(Zuständigkeitskonflikte nach Art. 173 Abs. 1 lit. i BV; Ermächtigung zur Strafverfolgung nach Art.<br />

17 ParlG, Beschwerdeinstanz bei einer Verweigerung nach Art. 61a Abs. 5 RVOG, Art. 11 Abs. 5<br />

BGG)<br />

34<br />

N. 1555-1558


N. 1559-1565<br />

N. 1566-1582<br />

N. 1583-1586<br />

§53 Geschäftsverkehr der Bundesversammlung<br />

I. SITZUNGEN VON NATIONAL- UND STÄNDERAT<br />

Mit Ausnahme der Geschäfte der Vereinigten Bundesversammlung beraten und beschliessen die<br />

beiden Räte immer getrennt (Art. 156 BV). Jeder Rat hat in der Regel seine eigenen<br />

Kommissionen (vgl. aber N. 1573; Art. 49 Abs. 2 ParlG). Die Tagungen der Räte finden jedoch<br />

immer gleichzeitig statt (Art. 151 Abs. 1 BV).<br />

Die Räte versammeln sich regelmässig zu Sessionen (Art. 151 Abs. 1 BV; Art. 2 Abs. 1 ParlG),<br />

deren genaue Dauer von den Räten bestimmt wird.<br />

Ausserordentliche Sessionen sind möglich (Art. 151 Abs. 2 BV; Art. 2 Abs. 3 ParlG).<br />

Die Verhandlungen der beiden Räte sind in der Regel öffentlich, wobei das Gesetz Ausnahmen<br />

vorsehen kann (Art. 158 BV; Art. 4 ParlG).<br />

Für die gültige Verhandlung muss die absolute Mehrheit der Mitglieder des betreffenden Rates<br />

anwesend sein (Art. 159 Abs. 1 BV).<br />

II. ORGANE VON NATIONAL- UND STÄNDERAT<br />

- Vorsitz: Art. 152 BV; Art. 34 ParlG; Art. 6 ff. GRN; Art. 3 ff. GRS<br />

- Büro, Koordinationskonferenz und Verwaltungsdelegation: Art. 35, Art. 37 f. ParlG; Art. 8 f.<br />

GRN; Art. 5 f. GRS<br />

Die Koordinationskonferenz stimmt die Sessionsplanung der beiden Räte aufeinander ab.<br />

- Parlamentarische Kommissionen: Art. 153 BV; Art. 40, 40a, 42 ff., 150 ff. ParlG; Art. 10 ff. GRN;<br />

Art. 7 ff. GRS<br />

Die Aufgabe der Kommissionen ist es, die einzelnen Ratsgeschäfte vorzuberaten, dem Rat<br />

Bericht zu erstatten und einen Antrag zu stellen. Die Kommissionen können auch zu<br />

Gegenständen ihres Aufgabenkreises parlamentarische Initiativen und Vorstösse einreichen.<br />

Ausserdem unterstützen sie das Parlament z.B. bei seiner Kontrolltätigkeit oder bei der<br />

Wahrnehmung aussenpolitischer Kompetenzen. Die Kommissionen üben einen grossen<br />

Einfluss auf die Entscheide des Plenums aus, da oft nur in den Kommissionen eine intensive<br />

Diskussion und das Finden eines tragfähigen Kompromisses möglich sind. Dazu erhalten sie<br />

umfangreiche Informationsrechte (Art. 153 Abs. 4 BV; Art. 150 ff. ParlG). Die<br />

parlamentarischen Kommissionen dürfen nicht verwechselt werden mit den<br />

Expertenkommissionen, die der BR für die Ausarbeitung eines Vorentwurfes für ein Gesetz<br />

bildet. Ebenso sind sie von den vom BR eingesetzten Fachkommissionen zu unterscheiden, die<br />

den BR vor allem in einem bestimmten Fachbereich beraten.<br />

- Fraktionen: Art. 154 BV; Art. 61 f. ParlG<br />

Die Aufgabe der Fraktionen besteht vor allem in der Vorbereitung von Sitzungen. Zudem ist<br />

die Wahl in eine Kommission meistens von der Zugehörigkeit zu einer Fraktion abhängig.<br />

- Parlamentsdienste: Art. 155 BV; Art. 64 ff. ParlG<br />

III. ABSTIMMUNGEN<br />

Grundsätzlich ist in beiden Räten und der VerBVers das absolute Mehr der Stimmenden<br />

massgebend (Art. 159 Abs. 2 BV), vorbehalten Art. 159 Abs. 3 BV. Es besteht kein Stimmzwang<br />

(Art. 56 Abs. 2 GRN; Art. 43 Abs. 1 GRS).<br />

Zur Abstimmungsform: Buch N. 1584<br />

35


Bei der Beratung und Verabschiedung von rechtsetzenden Erlassen kommt es zu folgenden<br />

Abstimmungen:<br />

- Abstimmung über das Eintreten (Art. 74 Abs. 1 ParlG)<br />

- Abstimmung über jeden einzelnen Artikel oder Abschnitt (Art. 78 f. ParlG)<br />

- Gesamtabstimmung über die ganze Vorlage am Ende der Beratung in jedem Rat (Art. 74 Abs. 4<br />

ParlG)<br />

- Schlussabstimmung in jedem Rat nach Bereinigung der Differenzen zwischen den Räten und der<br />

Redaktion des Textes (Art. 81 ParlG)<br />

Bei dringlichen Bundesgesetzen siehe Art. 77 ParlG und N. 1830<br />

Über unbestrittene Anträge wird nicht abgestimmt (Art. 78 Abs. 4 ParlG)<br />

IV. WAHLEN (ART. 130 ff. ParlG)<br />

Siehe Buch N. 1587-1588<br />

V. EINBRINGEN VON VERHANDLUNGSGEGENSTÄNDEN<br />

Handlungsinstrumente der Parlamentarier:<br />

Motion und Postulat: Art. 120 ff. ParlG; Art. 25 ff. GRN; Art. 21 ff. GRS<br />

Die Motion beauftragt den BR verbindlich, einen Gesetzes- oder Beschlussesentwurf<br />

vorzulegen oder eine Massnahme zu treffen.<br />

Das Postulat beauftragt den BR zu prüfen, ob ein Gesetzes- oder Beschlussesentwurf<br />

vorzulegen oder eine Massnahme zu treffen ist, und darüber einen Bericht vorzulegen.<br />

Auch Kommissionen können Vorstösse und Anträge einreichen (Art. 46 Abs. 1 lit. a ParlG).<br />

Interpellation und Anfrage: Art. 125 ParlG; Art. 25 ff. GRN; Art. 21 ff. GRS<br />

Interpellationen und Anfragen, dienen dazu, vom Bundesrat Auskunft über<br />

Angelegenheiten des Bundes zu verlangen.<br />

Parlamentarische Initiative: Art. 160 Abs. 1 BV; Art. 107 ff. ParlG<br />

Mit der parlamentarischen Initiative kann der grossen Bedeutung des BR bei der<br />

Ausarbeitung der Gesetzes- und Beschlussesvorlagen Einhalt geboten werden.<br />

Jedes Ratsmitglied, jede Fraktion und jede parlamentarische Kommission kann einen<br />

ausgearbeiteten Entwurf zu einem Erlass der BVers oder Grundzüge eines solchen Erlasses<br />

vorschlagen.<br />

Empfehlung: Art. 158 ParlG<br />

Aufträge an den Bundesrat: Art. 171 BV<br />

Einbringen von Verhandlungsgegenständen von Instanzen ausserhalb der BVers:<br />

Verhandlungsgegenstände können auch vom Volk (Volksinitiative nach Art. 138 und 139 BV;<br />

Petition nach Art. 33 BV), von den Kantonen (Standesinitiative nach Art. 160 Abs. 1 BV) und<br />

Bundesrat (Initiativrecht nach Art. 181 BV; Abgeben von Erklärungen in den Räten nach Art.<br />

157 Abs. 2 BV; Art. 33 GRN; Art. 28 GRS) eingebracht werden.<br />

VI. ZUSAMMENWIRKEN DER BEIDEN KAMMERN<br />

Ein Beschluss kommt nur zustande, wenn National- und Ständerat einen übereinstimmenden<br />

Beschluss fassen (Art. 156 Abs. 2 BV). Welcher Rat ein Geschäft zuerst behandelt, entscheiden<br />

die Ratspräsidenten (vgl. N. 1450). Um zu einer Übereinstimmung zu gelangen, muss jeder Rat<br />

die von ihm gefassten Entschlüsse dem anderen Rat mitteilen (Art. 86 Abs. 1 ParlG). Im Falle<br />

abweichender Beschlüsse steht ein Differenzbereinigungsverfahren zur Verfügung (Art. 89 ff.<br />

ParlG). Vorbehalten bleibt Art. 95 ParlG.<br />

36


N. 1607<br />

N. 1609-1611<br />

N. 1612-1615<br />

§54 Rechtliche Stellung der Mitglieder der Bundesversammlung<br />

I. FREIES MANDAT<br />

Die Mitglieder von National- und Ständerat stimmen ohne Weisungen (Art. 161 Abs. 1 BV).<br />

Obwohl von der BV als Abgeordnete des Volkes bzw. der Kantone bezeichnet, liegt keine<br />

Vertretung im juristischen Sinne vor. Die Parlamentarier sind juristisch einzig an Verfassung und<br />

Gesetz gebunden (Art. 3 Abs. 4/5 ParlG).<br />

II. FINANZIELLE ANSPRÜCHE DER PARLAMENTARIER<br />

Vgl. Buch N. 1608<br />

III. IMMUNITÄT FÜR PARLAMENTSVOTEN (ART. 162 ABS. 1 BV)<br />

Die parlamentarische Immunität bedeutet, dass die Rats- und Bundesratsmitglieder für die in der<br />

Bundesversammlung und deren „Organen“ abgegebenen Voten nicht zur Rechenschaft gezogen<br />

werden können (vgl. Art. 16 i.V.m. Art. 31 ParlG). Eine strafrechtliche Verfolgung ist unzulässig.<br />

Zudem werden die Mitglieder der Räte auch vor Schadenersatz- und Genugtuungsansprüchen<br />

geschützt (die Haftung des Bundes bleibt aber bestehen).<br />

IV. STRAFPROZESSUALE VERFOLGUNGSPRIVILEGIEN<br />

Sessionsteilnahmegarantie: Art. 20 ParlG<br />

Relative Immunität: Art. 17 ParlG<br />

Delikte gegen Ratsmitglieder: Art. 340 Abs. 1 StGB<br />

V. WEHRPRIVILEG<br />

Siehe Buch N. 1616<br />

37


3. Kapitel Bundesrat<br />

§55 Stellung, Wahl und Organisation des Bundesrates<br />

I. VERFASSUNGSRECHTLICHE STELLUNG UND ZUSAMMENSETZUNG DES BUNDESRATES<br />

Der Bundesrat ist die oberste leitende und vollziehende Behörde des Bundes (Art. 174 BV; Art. 1<br />

RVOG) und besteht aus sieben Mitgliedern (Art. 175 Abs. 1 BV).<br />

II. WAHL DES BUNDESRATES<br />

Zum Mitglied des Bundesrates sind alle Schweizerinnen und Schweizer wählbar, die als Mitglieder<br />

des Nationalrates gewählt werden können (Art. 175 Abs. 3 BV). Die<br />

Wählbarkeitsvoraussetzungen richten sich somit nach Art. 143 i.V.m. Art. 136 Abs. 1 BV.<br />

Neben den Unvereinbarkeitsgründen von Art. 144 BV (vgl. N. 1413) sind die Fälle des<br />

Verwandtenausschlusses in Art. 61 RVOG zu beachten.<br />

Das Wahlorgan ist die Vereinigte Bundesversammlung (Art. 168 Abs. 1 i.V.m. Art. 157 Abs. 1 lit. a<br />

BV).<br />

Das Verfahren der Bundesratswahlen wird durch die Art. 130-134 ParlG geregelt.<br />

III. AMTSDAUER<br />

Die Mitglieder des Bundesrates werden auf eine feste Amtsdauer von vier Jahren gewählt (Art.<br />

145 BV). Die Wahl erfolgt jeweils nach der Gesamterneuerung des Nationalrates.<br />

Eine vorzeitige Abberufung ist nicht möglich (einzige Ausnahme: Totalrevision der BV).<br />

IV. ORGANISATION DES BUNDESRATES<br />

Art. 177 BV statuiert die zwei grundlegenden, miteinander verknüpften Organisationsprinzipien<br />

des Bundesrates, das Kollegial- und das Departementalprinzip.<br />

Das Kollegialsystem bedeutet, dass Regierungsentscheide grundsätzlich als Beschlüsse des<br />

Kollegiums (die Bundesräte sind völlig gleichberechtigte Kollegiumsmitglieder) ergehen (Art. 177<br />

Abs. 1 BV; Art. 12 RVOG).<br />

Den Departementen können Geschäfte zur selbständigen Erledigung übertragen werden (Art.<br />

177 Abs. 3; vgl. N. 1694), wobei der Rechtsschutz sichergestellt sein muss (Details Buch N. 1633).<br />

Der Bundespräsident gilt als „primus inter pares“ und ist nur formeller Vorsitzender des<br />

Bundesrates. Siehe Art. 176 BV und Art. 25 ff. RVOG.<br />

Den sieben Departementen werden die Aufgaben übertragen, die nicht durch das Kollegium, den<br />

Bundespräsidenten und die Bundeskanzlei besorgt werden (Art. 177 Abs. 2 BV; Art. 35, 37, 43<br />

RVOG; vgl. N. 1687 ff.).<br />

Jedes Bundesratsmitglied leitet ein Departement (Art. 37 Abs. 1 RVOG).<br />

Die Bundeskanzlei ist die allgemeine Stabsstelle des Bundesrates. (Art. 179 BV; Art. 30 ff. RVOG;<br />

Art. 60 RVOG).<br />

38<br />

N. 1617<br />

N. 1618-1625a<br />

N. 1626-1628<br />

N. 1629-1639


N. 1640-1646<br />

N. 1647-1651<br />

V. VERHANDLUNGEN DES BUNDESRATES<br />

Siehe Art. 16 ff. RVOG<br />

VI. RECHTLICHE STELLUNG DER MITGLIEDER DES BUNDESRATES<br />

Der Wohnsitz der Bundesratsmitglieder richtet sich nach Art. 23 Abs. 1 ZGB. Der Wohnort ist frei<br />

wählbar, solang in kurzer Zeit den Amtssitz erreicht werden kann (Art. 59 RVOG).<br />

Die Mitglieder des Bundesrates stehen im Genuss der gleichen Immunität wie die Mitglieder von<br />

National- und Ständerat (vgl. N. 1609 ff.). Für die in der Bundesversammlung oder ihren<br />

Kommissionen abgegebenen Voten können sie nicht zur Rechenschaft gezogen werden (Art. 2<br />

Abs. 2 VG).<br />

In strafrechtlicher Hinsicht werden zwei Fälle unterschieden: Bei Delikten, die sich auf die<br />

amtliche Tätigkeit beziehen bedarf es einer Ermächtigung der Bundesversammlung (Art. 14 VG).<br />

Bei nichtamtlichen Delikten ist die Zustimmung des betroffenen Bundesrates oder des<br />

Gesamtbundesrates voraus (Art. 61a RVOG).<br />

Für die vermögensrechtliche Verantwortlichkeit siehe Art. 7 f. VG.<br />

Besoldung: Buch N. 1651<br />

VII. REGIERUNGSREFORM<br />

Siehe Buch N. 1652-1654<br />

39


§56 Kompetenzen des Bundesrates<br />

I. ALLGEMEINE STELLUNG DES BUNDESRATES<br />

Gemäss Art. 174 BV ist der Bundesrat die oberste leitende und vollziehende Behörde des Bundes<br />

und steht als Vollzugsorgan der Bundesversammlung als Gesetzgebungsbehörde gegenüber.<br />

Obwohl die Exekutive ursprünglich nur eine untergeordnete Stellung einnehmen sollte, ist es<br />

aufgrund der Zunahme von Staatsaufgaben, was ein Anwachsen der Regierungskompetenzen zur<br />

Folge hatte, dazu gekommen, dass einerseits die eigentliche Regierungstätigkeit (Planen, Ziele<br />

setzen etc.) stark zunahm. Im Weiteren ist das Milizparlament aufgrund der besonderen<br />

Sachkenntnisse der Verwaltungsbehörden immer mehr darauf angewiesen, die Regierung mit der<br />

Vorbereitung der Rechtsetzung zu betrauen.<br />

Die Regierungs- und Verwaltungstätigkeit ist die Stammfunktion des Bundesrates. Weshalb ihm<br />

alle Regierungs- und Verwaltungskompetenzen zustehen, die nicht kraft besonderer Vorschrift<br />

der Bundesversammlung oder dem Bundesgericht zugewiesen sind. Die Zuständigkeiten des<br />

Bundesrates werden in Art. 180-187 BV aufgeführt.<br />

II. REGIERUNGSKOMPETENZEN<br />

Aussenpolitische Regierungskompetenzen<br />

Beziehungen zum Ausland: (Art. 184 BV) In diesen Bereich fallen z.B. der diplomatische<br />

Verkehr oder internationale Zusammenarbeit. Die Mitwirkungsrechte der BVers sind zu<br />

wahren (vgl. N. 1521).<br />

Staatsverträge: (Art. 184 Abs. 2 BV) Der BR handelt die völkerrechtlichen Verträge aus,<br />

unterzeichnet sie, unterbreitet sie der BVers zur Genehmigung (vgl. N. 1900 ff.) und ratifiziert<br />

sie.<br />

Sorge für äussere Sicherheit, Unabhängigkeit und Neutralität: (Art. 185 Abs. 1/3/4 BV) Der BR<br />

arbeitet in diesen Bereichen mit der BVers zusammen (vgl. N. 1523).<br />

Innenpolitische Regierungskompetenzen<br />

Sorge für die innere Sicherheit: (Art. 185 Abs. 2-4 BV) Der Bundesrat trifft Massnahmen zur<br />

Wahrung der inneren Sicherheit. In dringenden Fällen kann der BR Truppen aufbieten (Art.<br />

185 Abs. 4 BV und ihm steht ein Polizeinotverordnungsrecht zu (Art. 185 Abs. 3 BV; vgl. N.<br />

1862 ff.). Dies stellt jedoch nicht ein eigentliches Notrecht dar, auf dessen Grundlage im<br />

Notstand die Verfassung durchbrochen werden könnte. Ein solches Notrecht wird dem BR<br />

aber nach h.L. zuerkannt.<br />

Leitung und Beaufsichtigung der Bundesverwaltung: (Art. 178 Abs. 1, 187 Abs. 1 lit. a BV)<br />

Finanzpolitische Aufgaben und Bericht über die Geschäftsführung: (Art. 183, 187 Abs. 1 lit. b<br />

BV)<br />

Wahlen: (Art. 187 Abs. 1 lit. c BV)<br />

Öffentlichkeitsarbeit als Regierungsobliegenheit<br />

Art. 180 Abs. 2 BV verlangt vom Bundesrat eine aktive Informationspolitik. Präzisiert wird dies<br />

in Art. 10 Abs. 2 RVOG. Besondere Anforderungen ergeben sich aus der Wahl- und<br />

Abstimmungsfreiheit hinsichtlich der Information im Vorfeld von Volksabstimmungen (vgl. N.<br />

1392a).<br />

40<br />

N. 1655-1656<br />

N. 1657-1667


N. 1668-1673<br />

N. 1674-1682<br />

III. VERWALTUNGSKOMPETENZEN<br />

Vollzug des Bundesrechts: (Art. 182 Abs. 2 BV)<br />

Der Bundesrat sorgt für den Vollzug der Gesetzgebung, der Beschlüsse der BVers und der<br />

Urteile richterlicher Behörden des Bundes. Er leitet den Vollzug in allen Bereichen der<br />

Bundesverwaltung. Er hat aber nur die Leitung der Bundesverwaltung zur Aufgabe (Art. 178<br />

Abs. 1 BV).<br />

Der Vollzug der Bundesgesetzgebung erfolgt durch die Verwaltungsbehörden des Bundes (vgl.<br />

N. 1700 ff.), durch damit betraute Kantone (vgl. N. 1165 ff.; unter Aufsicht des Bundes: vgl. N.<br />

1203 ff.) und wo gerechtfertigt auch private Organisationen.<br />

Als Rechtsform der Aktivitäten des Bundesrates im Bereich des Vollzuges und der<br />

Vollzugsleitung stehen Vollzugsverordnungen und Verfügen im Vordergrund.<br />

Aufsicht über die Kantone: (Art. 182 Abs. 2, 186 BV)<br />

Die Bundesaufsicht umfasst einerseits die Aufsicht im übertragenen Wirkungsbereich der<br />

Kantone (insbes. Vollzug der Bundesgesetzgebung, vgl. N. 1204), andererseits die Aufsicht im<br />

autonomen Wirkungsbereich der Kantone.<br />

Die Bundesaufsicht gegenüber den Kantonen wird zur Hauptsache vom Bundesrat ausgeübt.<br />

Für Verträge der Kantone mit dem Ausland: N. 1134, 1297<br />

IV. RECHTSETZUNGSKOMPETENZEN<br />

Ein grosser Teil der Gesetzgebung wäre ohne Vor- und Mitarbeit der Exekutive gar nicht denkbar.<br />

Deshalb ist die Regierung trotz des Gewaltentrennungsprinzips wesentlich an der Rechtsetzung<br />

beteiligt.<br />

Mitwirkung bei Verfassungsgebung und einfacher Gesetzgebung<br />

Ausarbeiten von Entwürfen: (Art. 181 BV; Art. 7 RVOG) In Art. 181 BV ist das Initiativrecht des<br />

Bundesrates verankert. Die erarbeiteten Entwürfe beziehen sich sowohl auf neue bzw.<br />

abgeänderte Artikel der BV wie auch auf Bundesgesetze und Parlamentsverordnungen. Der<br />

Anstoss zur Entwurfsausarbeitung kann auf eigene Initiative oder einen parlamentarischen<br />

Vorstoss zum Ursprung haben (insbes. die erheblich erklärte Motion).<br />

Leitung des Vorverfahrens der Gesetzgebung: (Art. 7 RVOG) Dieses umfasst insbesondere die<br />

Einsetzung von Expertenkommissionen und die Durchführung des<br />

Vernehmlassungsverfahrens bei Kantonen und Verbänden. Vgl. N. 1812<br />

Veröffentlichung und Inkraftsetzung der Rechtsetzungserlasse: Die Veröffentlichung der<br />

Rechtsetzungserlasse des Bundes erfolgt nach Art. 14 Abs. 1 PublG.<br />

Der Bundesrat kann, sofern vorgesehen, auch den Zeitpunkt des Inkrafttretens von<br />

Rechtsetzungserlassen der BVers festsetzen.<br />

Verordnungsrecht des Bundesrates<br />

Der Bundesrat erlässt Rechtsnormen in der Form der Verordnung, soweit er durch Verfassung<br />

(selbständige Verordnungen) oder Gesetz (unselbständige Verordnungen) dazu ermächtigt ist<br />

(Art. 182 Abs. 1 BV; vgl. N. 1856)<br />

Selbständige Verordnungen des Bundesrates: (vgl. N. 1859 ff.) Es sind folgende Verordnungen<br />

zulässig:<br />

- Vollziehungsverordnungen (Art. 182 Abs. 2 BV)<br />

- Polizeinotverordnungen (Art. 185 Abs. 3 BV)<br />

- Verordnungen zur Wahrung der äusseren Interessen der Schweiz (Art. 184 Abs. 3 BV)<br />

- Verordnungen gemäss Spezialermächtigung durch die BVers (vgl. N. 1868)<br />

41


Unselbständige Verordnungen des Bundesrates: (vgl. N. 1869 ff.) Diese basieren auf einer<br />

Delegation von Rechtsetzungsbefugnissen an die Exekutive durch ein Bundesgesetz (Art. 164<br />

Abs. 2 und 182 Abs. 1 BV)<br />

V. RECHTSPRECHUNGSKOMPETENZEN<br />

Die einzige Rechtsprechungskompetenz ist der Entscheid über Verwaltungsbeschwerden (Art.<br />

187 Abs. 1 lit. d BV). Diese kommt nur in wenigen Bereichen (innere und äussere Sicherheit,<br />

Neutralität, diplomatischer Schutz) zum Zug (vgl. Art. 72 VwVG).<br />

42<br />

N. 1683-1684


N. 1685<br />

N. 1687-1699<br />

§57 Bundesverwaltung<br />

I. TRÄGER DER VERWALTUNGSAUFGABEN DES BUNDES<br />

Soweit die Umsetzung nicht den Kantonen zugewiesen ist, stehen dem Bund folgende<br />

Möglichkeiten zur Organisation des Gesetzesvollzuges offen:<br />

- Vollzug durch den Bundesrat selbst<br />

- Vollzug durch die Bundesverwaltung<br />

- Vollzug durch ausgegliederte Verwaltungseinheiten des Bundes<br />

- Vollzug durch gemischtwirtschaftliche und privatrechtliche Organisationen<br />

Die Verantwortung trägt dabei immer der Bundesrat (vgl. N. 1668).<br />

II. BUNDESVERWALTUNG<br />

An der Spitze der Bundesverwaltung steht der Gesamtbundesrat (Art. 178 Abs. 1 BV) und ist<br />

aufgegliedert in die Bundeskanzlei und sieben Departemente (Art. 178 Abs. 2, 179 BV; Art. 35<br />

Abs. 1/2 RVOG), an deren Spitze je ein Mitglied des Bundesrates steht (Art. 177 Abs. 2/3 BV; Art.<br />

35 Abs. 1 RVOG). Sie weist eine streng hierarchische Ordnung auf, d.h. alle Verwaltungsstellen<br />

unterstehen der Befehlsgewalt der vorgesetzten Stelle.<br />

Die Bundeskanzlei besorgt die Kanzleigeschäfte des Bundesrates und ist die allgemeine<br />

Stabsstelle des Bundesrates (Art. 179 BV; Art. 30 Abs. 1 RVOG; vgl. N. 1637 ff.).<br />

Die Ämter sind die tragenden Verwaltungseinheiten (Art. 43 Abs. 1 RVOG).<br />

Überdies können Bundesrat und Departemente weitere Stabs-, Planungs- und<br />

Koordinationsorgane einsetzen (Art. 55 RVOG).<br />

Diese Struktur wird ergänzt durch eine Vielzahl von Kommissionen auf verschiedener Stufe und<br />

mit verschiedenster Zusammensetzung (Art. 57 Abs. 2 RVOG). Die Kommissionen üben in erster<br />

Linie Beratungsfunktion aus, haben teilweise aber auch Entscheidungskompetenzen. Derartige<br />

Gremien werden zwecks besserer Unterscheidung zu den Kommissionen des National- und<br />

Ständerates (vgl. N. 1570 ff.) als ausserparlamentarische Kommissionen bezeichnet.<br />

Die Geschäfte der Bundesverwaltung sind zu einem grossen Teil den Departementen und ihren<br />

untergeordneten Amtsstellen zur selbständigen Erledigung übertragen (Grundlage: Art. 177 Abs.<br />

3 BV). Die Zuweisung liegt gemäss Art. 47 Abs. 2 RVOG in der Kompetenz des Bundesrates.<br />

Um trotz der selbständigen Geschäftserledigung einen möglichst einheitlichen Gesetzesvollzug<br />

gewährleisten zu können, sind als Korrektive vor allem das umfassende Weisungs- und<br />

Aufsichtsrecht des Bundesrates (Art. 178 Abs. 1 und 187 Abs. 1 lit. a BV) und das<br />

Beschwerderecht gegen Entscheide der Departemente und Amtsstellen (Art. 177 Abs. 3 und 187<br />

Abs. 1 lit. d BV), wobei vor allem die Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht (Art. 31 VGG)<br />

und die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten an das Bundesgericht (Art. 82<br />

BGG) zu nennen sind.<br />

Neben den Vollzugsaufgaben hat die Bundesverwaltung einen bedeutenden Anteil an den<br />

übrigen Aufgabenbereichen des Bundes (z.B. Vorbereitung der Geschäfte des BR, Vorbereitung<br />

der Verfassungs-, Gesetz- und Verordnungsgebung). In beschränktem Umfang sind<br />

Departemente und Amtsstellen auch befugt, Verordnungen zu erlassen (Art. 48 RVOG; vgl. auch<br />

N. 1875 f.).<br />

Durch die Zunahme der Staatsaufgaben und der gestiegenen Komplexität der zu regelnden<br />

Probleme, kann die Bundesverwaltung als einziges Organ das nötige Wissen systematisch und<br />

kontinuierlich sammeln und verarbeiten. Dadurch entsteht ein Abhängigkeitsverhältnis von BR<br />

und BVers gegenüber der BVerw („BVerw als 4. Staatsgewalt“).<br />

43


III. ÜBERTRAGUNG VON VERWALTUNGSAUFGABEN DES BUNDES AUF ANDERE<br />

ORGANISATIONEN<br />

Gemäss Art. 178 Abs. 3 BV können Verwaltungsaufgaben auf Organisationen des öffentlichen<br />

oder des privaten Rechts übertragen werden. Eine solche Delegation ist nur gestützt auf ein<br />

Bundesgesetz möglich. Das schweizerische Bundesverwaltungsrecht kennt eine Vielfalt von<br />

organisatorisch ausgegliederten Verwaltungseinheiten (Art. 8 Abs. 4 RVOG). Dazu gehören vor<br />

allem die öffentlich-rechtlichen Anstalten des Bundes (z.B. SUVA).<br />

Organisation und Umfang der Autonomie wird durch besondere Erlasse geregelt.<br />

Hinreichender Grund für eine Ausgliederung besteht dort, wo ein in sich geschlossener<br />

Aufgabenbereich mit einer gewissen Autonomie und einer gegenüber der Zentralverwaltung<br />

erhöhten Flexibilität betreut werden soll.<br />

Gewisse Aufgaben erfüllt der Bund mittels privatrechtlicher Organisationsformen. Er kann dies<br />

durch Schaffung einer gemischtwirtschaftlichen Unternehmung (Staat und Private schliessen sich<br />

zur Erfüllung einer öffentlichen Aufgabe zusammen) oder durch die Übertragung an private<br />

Gesellschaften und Organisationen (der Bund ist weder als Mitglied noch kapitalmässig beteiligt)<br />

tun.<br />

44<br />

N. 1700-1702


N. 1703-1706<br />

N. 1707-1708<br />

N. 1712<br />

N. 1713-1717<br />

N. 1719-1725<br />

4. Kapitel Bundesgericht<br />

§58 Stellung und Organisation des Bundesgerichts<br />

I. VERFASSUNGSRECHTLICHE STELLUNG DES BUNDESGERICHTS<br />

Das BGer ist die oberste Recht sprechende Behörde des Bundes (Art. 188 Abs. 1 BV). Das<br />

Bundesstrafgericht und das Bundesverwaltungsgericht sind dem Bundesgericht im Instanzenzug<br />

untergeordnet. Die Militärjustiz bildet einen eigenständigen Gerichtszweig.<br />

Das BGer ist mit richterlicher Unabhängigkeit ausgestattet (Art. 191c BV; Art. 2 BGG). Verstärkt<br />

wird die Unabhängigkeit durch das Selbstverwaltungsrecht (Art. 188 Abs. 3 BV). Das BGer regelt<br />

seine Organisation und Verwaltung (Art. 13 BGG). Die parlamentarische Oberaufsicht (Art. 169<br />

Abs. 1 BV) beschränkt sich weitgehend auf den äusseren Geschäftsgang (vgl. N. 1545).<br />

Im Sinne der organisatorischen Gewaltenteilung ist die letztinstanzliche Rechtsprechung<br />

weitgehend beim Bundesgericht konzentriert (Ausnahme: BR in wenigen Fällen, vgl. N. 1684;<br />

BVers nach Art. 173 Abs. 1 lit. i BV).<br />

Die personelle Gewaltenteilung richtet sich nach Art. 144 BV (vgl. N. 1413).<br />

II. WAHL DER MITGLIEDER DES BUNDESGERICHTS<br />

In das BGer sind alle Stimmberechtigten wählbar (Art. 143 i.V.m. Art. 136 BV; Art. 5 Abs. 2 BGG).<br />

Wohnsitz in der Schweiz ist zum Zeitpunkt der Wahl nicht erforderlich, ebenso ist eine juristische<br />

Ausbildung keine Voraussetzung.<br />

Neben Art. 144 BV werden Unvereinbarkeitsgründe auch in Art. 6 Abs. 4 und Art. 8 BGG<br />

aufgezählt.<br />

Die Mitglieder des BGer werden von der VerBVers gewählt (Art. 168 Abs. 1 BV; Art. 5 Abs. 1 BGG).<br />

III. AMTSDAUER<br />

Die Amtsdauer beträgt sechs Jahre (Art. 145 BV; Art. 9 Abs. 1 BGG). Wiederwahl ist zulässig (und<br />

irgendwie auch notwendig, da die richterliche Unabhängigkeit dadurch besser gewahrt wird). Die<br />

Möglichkeit einer vorzeitigen Amtsenthebung gibt es nicht.<br />

IV. ORGANISATION DES BUNDESGERICHTS<br />

Anzahl der Mitglieder und nebenamtlichen Richter: (Art. 1 BGG)<br />

Das BGer besteht aus 35-45 ordentlichen Richtern (Art. 1 Abs. 3 BGG). Die maximale Anzahl<br />

der nebenamtlichen Richter darf höchstens 2/3 der Zahl der ordentlichen Richter betragen<br />

(Art. 1 Abs. 4 BGG). Die Gerichtsschreiber spielen eine wichtige Rolle, weshalb Art. 24 BGG<br />

ihrer Funktion Rechnung trägt.<br />

Gesamtgericht: (Art. 15 BGG)<br />

Präsidium: (Art. 14 BGG)<br />

Abteilungen des Bundesgerichts: (Art. 18 BGG)<br />

V. VERHANDLUNGEN DES BUNDESGERICHTS<br />

Die Abteilungen entscheiden in der Regel in einer Besetzung mit drei Richtern (Art. 20 BGG).<br />

Bei einer Praxisänderung ist Art. 23 BGG zu beachten.<br />

Abstimmungen: Art. 21 BGG<br />

45


In Bezug auf das Verfahren und die Öffentlichkeit (Art. 57 ff. BGG) ist festzuhalten, dass nur<br />

mündlich verhandelt wird, wenn dies vom Abteilungsvorsitzenden angeordnet oder von einem<br />

Richter verlangt wird oder wenn sich keine Einstimmigkeit ergibt. In den übrigen Fällen wird auf<br />

dem Weg der Aktenzirkulation entschieden (Art. 58 BGG).<br />

Um Art. 30 Abs. 3 BV gerecht zu werden, liegt das Urteilsdispositiv nach der Eröffnung während<br />

30 Tagen öffentlich auf.<br />

In Zivil- und Strafsachen können nur patentierte Anwälte als Parteivertreter vor BGer auftreten<br />

(Art. 40 BGG).<br />

Prozesssprache und Sprache der Entscheidungen (Art. 54 BGG).<br />

VI. RECHTLICHE STELLUNG DER MITGLIEDER DES BUNDESGERICHTS<br />

Es gelten für Wohnort Art. 12 BGG sowie für die strafrechtliche und vermögensrechtliche<br />

Verantwortlichkeit die gleiche Regelung wie für den Bundesrat (vgl. N. 1647 ff.).<br />

§59 Kompetenzen des Bundesgerichts<br />

I. RECHTSPRECHUNGSKOMPETENZEN<br />

Seit Einführung des BGG gibt es nur noch die sog. „Einheitsbeschwerde“ in Zivilsachen, in<br />

Strafsachen und in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten. Die Beschwerdegründe sind bei allen<br />

drei Spielarten dieselben, die Unterscheidung ergibt sich grundsätzlich aus dem vom<br />

angefochtenen Entscheid betroffenen Rechtsgebiet. Ergänzt werden diese drei ordentlichen<br />

Beschwerdearten durch die subsidiäre Verfassungsbeschwerde (N. 1747).<br />

Rechtsprechung in Zivilsachen: Siehe Buch N. 1734-1737<br />

Rechtsprechung in Strafsachen: Siehe Buch N. 1740-1743<br />

Rechtsprechung in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten: (Art. 82 ff. BGG) Die Beschwerde in<br />

öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann sich gegen Entscheide und gegen Erlasse richten.<br />

Auch kommen Akte betreffend politische Stimmberechtigung sowie Volkswahlen bzw.<br />

Volksabstimmungen in Frage.<br />

Weiterziehbar sind vor allem Entscheide des BVerwGer und letzter kantonaler Instanzen. Für<br />

Entscheide mit vorwiegend politischem Charakter sowie in Stimmrechtssachen ergeben sich<br />

Einschränkungen (Art. 86 und 88 BGG).<br />

Gegen kantonale Erlasse ist die Beschwerde unmittelbar zulässig, wenn keine kantonalen<br />

Rechtsmittel ergriffen werden können (Art. 87 Abs. 1 BGG). Erlasse des Bundes sind nicht<br />

direkt anfechtbar.<br />

Die Beschwerdegründe sind für alle drei Beschwerden in Art. 95 BGG umschrieben.<br />

Steht die Durchsetzung verfassungsmässiger Rechte (des Bundes, der Kantone und nach<br />

Völkerrecht) gegen Entscheide letzter kantonaler Instanzen in Frage und keine ordentliche<br />

Beschwerde an das BGer ist zulässig, kann die subsidiäre Verfassungsbeschwerde (Art. 113 ff.<br />

BGG) ergriffen werden. Die Voraussetzungen sind eng umschrieben (vgl. N. 2023 ff.).<br />

II. RECHTSETZUNGSKOMPETENZEN<br />

Siehe Buch N. 1752<br />

III. VERWALTUNGSKOMPETENZEN<br />

Siehe Buch N. 1753<br />

46<br />

N. 1727<br />

N. 1733-1748


N. 1754-1762<br />

6. Teil: Rechtsetzung und Staatsverträge<br />

§60 Verfassungsgebung<br />

I. ABÄNDERBARKEIT DER BUNDESVERFASSUNG UND IHRE GRENZEN<br />

Unter Einhaltung der Revisionsvorschriften kann die BV jederzeit ganz oder teilweise revidiert<br />

werden (Art. 192 Abs. 1 BV).<br />

Voraussetzungen und Schranken der Verfassungsrevision<br />

- Durch die Verfassung festgelegte Voraussetzungen<br />

Die Revisionsvorschriften (vgl. N. 1769 ff. und 1779 ff.) müssen bei<br />

Verfassungsänderungen eingehalten werden. Die Schranken des zwingenden Völkerrechts<br />

sind zu beachten (vgl. N. 1756(a)). Bei Teilrevisionen muss die Einheit der Form und die<br />

Einheit der Materie (N. 1786, 1787) beachtet werden.<br />

- Bindung an zwingende Bestimmungen des Völkerrechts<br />

Für Teil- und Totalrevisionen müssen gemäss Art. 139 Abs. 3, Art. 193 Abs. 4 und Art. 194<br />

Abs. 2 als Schranke der Verfassungsrevision das zwingende Völkerrecht (sog. ius cogens)<br />

beachten. Darunter werden völkerrechtliche Regeln verstanden, die wegen ihrer<br />

Bedeutung für die internationale Rechtsordnung unbedingte Geltung beanspruchen (z.B.<br />

Verbot der Folter, Verbot der Sklaverei, notstandsfeste Garantien in Art. 15 Ziff. 2 EMRK).<br />

Ob die Verfassung mit zwingendem Völkerrecht nur die bereits von der<br />

Völkerrechtsgemeinschaft als ius cogens anerkannte Normen meint oder ob die<br />

zwingenden Bestimmungen einen eigenen schweizerischen Rechtsbegriff darstellen, ist<br />

umstritten.<br />

Wird der Verfassung nämlich den internationalen Rechtsbegriff zugrunde gelegt, bleibt die<br />

Schweiz an den zwingenden Charakter einer Norm gebunden, wenn diese von der<br />

Staatengemeinschaft als ius cogens anerkannt wurde und kann ihn nicht unilateral<br />

abändern.<br />

Volk und Ständen müssen jedenfalls Initiativen zur Abstimmung unterbreitet werden, die<br />

das zwingende Völkerrecht nicht verletzen. Bei einer Annahme ergeben sich Probleme bei<br />

der Umsetzung auf Gesetzesebene. Der Gesetzgeber kann dann nämlich die<br />

internationalen Vorgaben nur einhalten, wenn er die ursprüngliche Absicht der Initianten<br />

nicht vollumfänglich umsetzt.<br />

Zudem sind zahlreiche internationale Verträge (z.B. EMRK, UNO-Pakt I/II) für die Schweiz<br />

rechtlich oder faktisch unkündbar, weshalb die Schweiz keine reale Entscheidungsfreiheit<br />

besitzt. Deshalb ist fraglich, ob in einem Konfliktfall völkerrechtswidrige Volksinitiativen<br />

überhaupt zur Abstimmung gelangen sollen.<br />

- Faktische Durchführbarkeit<br />

Diese ungeschriebene Schranke verlangt, dass eine faktisch undurchführbare Vorlage nicht<br />

zur Abstimmung gebracht werden sollte, sofern die Unmöglichkeit des Inhaltes<br />

offensichtlich ist. Praktische Schwierigkeiten bei der Verwirklichung reichen nicht.<br />

- Weitere Schranken<br />

Teilweise werden die Kernbereiche von Fundamentalnormen als verbindlich angesehen<br />

(v.a. Grundrechte, Föderalismus, Demokratie, Rechtsstaat).<br />

Dass nur generell-abstrakte Normen mit verfassungswesentlichem Inhalt Gegenstand<br />

einer Volksinitiative sein können, hat die BVers noch nie angenommen (gerade weil auf<br />

Bundesebene keine Gesetzesinitiative oder ein Finanzreferendum besteht).<br />

Da kein Verbot rückwirkender Volksinitiativen in der Verfassung selber vorgesehen ist,<br />

darf das Rückwirkungsverbot nicht oder nur sehr bedingt auf verfassungsrechtliche<br />

Rückwirkungsklauseln übertragen werden.<br />

47


II. UNTERSCHEIDUNG VON TOTAL- UND TEILREVISION<br />

Totalrevision: Art. 138, 140 Abs. 1 lit. a, 140 Abs. 2 lit. a/c, 156 Abs. 3 lit. a, 156 Abs. 3 lit. c, 193<br />

Teilrevision: Art. 139, 139a, 139b Abs. 1, 139b Abs. 2/3, 140 Abs. 2 lit. b, 156 Abs. 3 lit. a, 156 Abs.<br />

3 lit. b, 189 Abs. 1 bis , 194<br />

Gemeinsame Bestimmungen: Art. 140 Abs. 1 lit. a, 142, 192, 195<br />

Formelle Unterscheidung<br />

Eine formelle Totalrevision liegt vor, wenn sämtliche Artikel der alten Verfassung durch eine<br />

neue Verfassung ersetzt werden, wobei unwesentlich ist, ob die neuen Artikel inhaltlich zum<br />

Teil mit den alten identisch sind.<br />

Eine formelle Teilrevision liegt vor, wenn ein einzelner oder mehrere zusammenhängende<br />

Artikel erlassen, geändert oder aufgehoben werden, wobei die neu erlassenen oder<br />

geänderten Artikel in die bestehende Verfassung integriert werden.<br />

Materielle Unterscheidung<br />

Eine materielle Totalrevision liegt vor, wenn ein Grundprinzip oder mehrere Grundprinzipien<br />

der BV geändert werden.<br />

Eine materielle Teilrevision liegt vor, wenn Einzelheiten geändert, jedoch unter Beibehaltung<br />

der grundsätzlichen Entscheidungen der Verfassung (überwiegende Zahl der Teilrevisionen).<br />

Für die Bundesverfassung massgebendes Kriterium<br />

Die Frage ist insofern von Bedeutung, als unterschiedliche Verfahren vorgesehen sind. Praxis<br />

und Lehre stellen auf das Kriterium der Einheit der Materie ab. Demgemäss sei das Verfahren<br />

der Totalrevision zu wählen, wenn eine Verfassungsänderung die Grenzen einer bestimmten<br />

Materie überteige oder übersteigen soll.<br />

III. TOTALREVISION DER BUNDESVERFASSUNG (Schema: Buch N. 1778)<br />

Eine Revision erfolgt auf dem Weg der Gesetzgebung (Art. 192 Abs. 2), womit die für die<br />

Bundesgesetzgebung massgeblichen Bestimmungen gelten. Ein Verfassungsrat kommt also nicht<br />

zum Zug.<br />

1. Initiativberechtigte<br />

- Bundesbehörden: (Art. 193 Abs. 1, 160 Abs. 1, 181 BV) Eine Initiative der<br />

Bundesversammlung kommt nur zustande, wenn beide Räte gleichlautende<br />

Bestimmungen fassen. Nur der Anstoss kann nur von einem Rat ausgehen.<br />

- Kanton: (Art. 160 Abs. 1 BV)<br />

- Volk: (Art. 193 Abs. 1, 138 BV) -> Art. 68 ff. BPR, Art. 97 ff. ParlG, vgl. N. 1781 ff.<br />

2. Vorabstimmung (Art. 138 Abs. 2, 140 Abs. 2 lit. a/c, 193 Abs. 2)<br />

Für das Ergebnis dieser Abstimmung ist nur das Volksmehr massgebend (vgl. Art. 142 Abs.<br />

1).<br />

3. Auflösung und Neuwahl der Bundesversammlung (Art. 193 Abs. 3 BV)<br />

Damit soll dem Volk Gelegenheit gegeben werden, ein reformfreundliches Parlament zu<br />

wählen. Auch der Bundesrat muss neu gewählt werden (Art. 175 Abs. 2 BV).<br />

4. Ausarbeitung des Verfassungsentwurfs durch die Bundesversammlung<br />

Die Ausarbeitung des Verfassungsentwurfs erfolgt im gleichen Verfahren wie die<br />

Ausarbeitung von Gesetzen (Art. 192 Abs. 2 BV; vgl. N. 1812 ff.).<br />

5. Obligatorisches Volks- und Ständereferendum (Art. 140 Abs. 1 lit. a, 142, 195 BV)<br />

Der verabschiedete Entwurf muss von der Mehrheit des Volks und der Stände in einer<br />

Abstimmung angenommen werden. Das Ergebnis der Volksabstimmung im Kanton gilt als<br />

dessen Standesstimme (Art. 142 Abs. 3 BV).<br />

48<br />

N. 1763-1768<br />

N. 1769-1778


N. 1779-1800<br />

IV. TEILREVISION DER BUNDESVERFASSUNG (Schema: Buch N. 1800)<br />

1. Initiativberechtigte<br />

- Bundesversammlung: (Art. 194 Abs. 1, 160 Abs. 1, 181, 139 Abs. 1 BV) Die Initiative kann<br />

nicht von einer Kammer der BVers ohne Zustimmung der anderen ausgehen.<br />

- Volk: (Art. 139 Abs. 1 BV)<br />

2. Formulierte Volksinitiative auf Teilrevision und allgemeine Volksinitiative<br />

- Inhalt: Beide Initiativformen können den Erlass, die Änderung oder die Aufhebung eines<br />

einzelnen oder mehrerer sachlich zusammenhängender Artikel zum Gegenstand<br />

haben.<br />

- Verfahrensvorschriften: (Art. 68 ff. BPR) Die Unterschriftenliste muss gewisse<br />

Minimalangaben enthalten. Die Bundeskanzlei nimmt eine Vorprüfung der Liste vor.<br />

Die Initiative wird danach im Bundesblatt publiziert. Spätestens 18 Monate nach dieser<br />

Publikation müssen die Unterschriftenlisten bei der Bundeskanzlei eingereicht werden.<br />

Diese stellt das Zustandekommen (100‘000 gültige Unterschriften) fest.<br />

Verfügungen der Bundeskanzlei (Art. 88 Abs. 1 lit. b BGG) über das Zustandekommen,<br />

die formelle Gültigkeit der Unterschriftenliste und den Titel einer Initiative können mit<br />

der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beim BGer angefochten<br />

werden (Art. 80 Abs. 2 und 3 BPR).<br />

- Rückzug der Initiative: (Art. 73 BPR) Dies ist vor allem dann aktuell, wenn die BVers einen<br />

Gegenvorschlag beschliesst.<br />

- Form der Initiative: Art. 139 Abs. 2 sieht die Form der allgemeinen Anregung und den<br />

ausgearbeiteten Entwurf vor. Ist die Einheit der Form nicht gewahrt (beide Formen<br />

wurden vermischt), wird die Initiative durch die BVers ganz oder teilweise ungültig<br />

erklärt (Art. 139 Abs. 3, 194 Abs. 3 BV, Art. 75 Abs. 1 BPR).<br />

- Prinzip der Einheit der Materie: (vgl. N. 1388 f.)<br />

Der in Art. 139 Abs. 3 und 194 Abs. 2 BV verankerte Grundsatz wird in Art. 75 BPR<br />

konkretisiert: „Die Einheit der Materie ist gewahrt, wenn zwischen den einzelnen<br />

Teilen einer Initiative ein sachlicher Zusammenhang besteht.“<br />

Zweck dieser Bestimmung ist, dass die Stimmenden ihren wirklichen Willen zum<br />

Ausdruck bringen können, da nur zum Ganzen ja oder nein gesagt werden kann. Bei<br />

der Beurteilung der Zulässigkeit von Initiativen ist also darauf abzustellen, ob der<br />

Anspruch der Bürger auf unverfälschte Willenskundgabe verletzt ist.<br />

Die BVers pflegt diesbezüglich eine eher large Praxis, die sich aber in jüngerer Zeit<br />

etwas verschärft hat.<br />

Das Erfordernis der Einheit der Materie gilt für Volksinitiativen wie für<br />

Behördenvorlagen gleich (Art. 194 Abs. 2).<br />

Verletzt eine Volksinitiative zwingende Bestimmungen des Völkerrechts, wahrt sie die<br />

Einheit der Form oder die Einheit der Materie nicht, kann sie die BVers ganz oder<br />

teilweise für ungültig erklären (Art. 139 Abs. 3, Art. 194 Abs. 2/3 BV, Art. 98 ParlG, Art.<br />

75 Abs. 1 BPR).<br />

Das Begehren darf nicht getrennt werden, weil nicht feststellbar ist, für welche Teile<br />

welche Unterschriftenzahl erreicht wurde. Aus demselben Grund soll die<br />

Teilungültigkeit zurückhaltend genutzt werden, weil nicht klar ist, ob auch 100‘000<br />

Unterschriften hätten gesammelt werden können ohne den ungültig erklärten Teil.<br />

Deshalb muss der ungültig erklärte Teil einen untergeordneten Punkt darstellen, sonst<br />

ist die ganze Initiative für ungültig zu erklären.<br />

49


Über die Zulässigkeit entscheidet die BVers endgültig (Art. 173 Abs. 1 lit. f BV; Art. 189<br />

Abs. 4 BV). Es besteht keine Möglichkeit, diese Beschlüsse an das BGer weiterzuziehen.<br />

3. Ausarbeitung eines Gegenentwurfs durch die Bundesversammlung: (Art. 139 Abs. 5 BV) Eine<br />

formulierte Volksinitiative darf von der BVers nicht abgeändert werden. Sie darf aber eine<br />

Abstimmungsempfehlung abgeben und der Initiative einen Gegenentwurf gegenüberstellen<br />

(Art. 139 Abs. 5 BV; Art 101 Abs. 1 ParlG). Es wird zwischen direktem (auf<br />

Verfassungsebene) und indirektem (auf Gesetzesebene) Gegenentwurf unterschieden.<br />

4. Obligatorisches Volks- und Ständereferendum: (Art. 140 Abs. 1 lit. a, 142 Abs. 2-4, 195 BV) In<br />

einer letzten Phase müssen Teilrevisionen von einer Mehrheit der Stimmenden und der<br />

Stände angenommen werden (Art. 195 BV).<br />

5. Verfahren bei der Abstimmung über Initiative und Gegenvorschlag: (Art. 139b Abs. 2/3 BV)<br />

Wenn die BVers einen Gegenentwurf beschliesst, wird gleichzeitig über Initiative und<br />

Gegenvorschlag abgestimmt.<br />

Die Zulässigkeit des doppelten Ja wird dabei ausdrücklich erwähnt. Detailbestimmungen<br />

finden sich in Art. 76 BPR.<br />

6. Voraussichtliches Scheitern der allgemeinen Volksinitiative: Siehe Buch N. 1798<br />

V. NOTSTANDSRECHT<br />

Kann in gewissen ausserordentlichen Situationen die verfassungsmässige Ordnung<br />

vorübergehend materiell geändert oder durchbrochen werden, ohne dass das Verfahren der<br />

Verfassungsrevision beachtet wird?<br />

Da die Verfassung im Wesentlichen eine Friedensordnung ist, finden sich nur wenige Normen<br />

über Notsituationen (z.B. Bundesintervention). Diese Instrumente stellen konstitutionelles<br />

Notstandsrecht dar, welche aber für ausserordentliche Notstände nicht taugen. Die<br />

schweizerische Bundesverfassung enthält keine umfassende Notstandsregelung, weshalb die<br />

Frage besteht, ob ein extrakonstitutionelles Notstandsrecht anzuerkennen sei, was zum Teil<br />

kontrovers beantwortet wird.<br />

In der Praxis wurde die Frage bejaht. So hat insbesondere in der Zeit der beiden Weltkriege die<br />

BVers den BR durch sog. „Vollmachtsbeschlüsse“, die nicht dem Referendum unterstanden und<br />

verfassungsmässig überhaupt nicht einzuordnen sind, mit unbeschränkten Vollmachten<br />

ausgestattet, die Einschränkungen der verfassungsmässigen Ordnung erlaubten (vgl. N. 1879).<br />

Der BR vertrat verschiedentlich die These, das Notstandsrecht sei in der Schweiz als<br />

ungeschriebenes Verfassungsrecht des Bundes anerkannt.<br />

Heute wird in der Lehre das extrakonstitutionelle Notstandsrecht mehrheitlich anerkannt. Seine<br />

Begründung findet es im Staatsnotstand: Wenn der Bestand des freiheitlichen Staates, die<br />

Unabhängigkeit des Landes oder das Überleben der Bevölkerung in Frage gestellt sind, müssen<br />

Einschränkungen der Verfassungsordnung als legitime Massnahmen hingenommen werden.<br />

50<br />

N. 1801-1803


N. 1805-1818<br />

N. 1819-1840<br />

§61 Bundesgesetze und Bundesbeschlüsse<br />

I. VERFAHREN DER GESETZGEBUNG<br />

Gegenstand der Bundesgesetzgebung sind generell-abstrakte Normen über Sachgebiete, die<br />

gemäss der Kompetenzverteilung der Bundesverfassung in die Zuständigkeit des Bundes fallen.<br />

1. Initiative: Das Initiativrecht (Art. 160 Abs. 1, 181 BV; Art. 6, 45, 62 ParlG) hat den Erlass, die<br />

Änderung oder die Aufhebung von Rechtsnormen der Gesetzesstufe zum Gegenstand<br />

(Initiativberechtigte: Art 160 Abs. 1 und 181 BV).<br />

Das in Art. 160 Abs. 2 und Art. 6 Abs. 2 ParlG festgehaltene Antragsrecht bezieht sich lediglich<br />

auf die Intervention in bereits hängige Geschäfte.<br />

2. Ausarbeitung eines Gesetzesentwurfs:<br />

- Mitwirkung des Bundesrates bei der Gesetzgebung: (Art. 7 RVOG) An der Gestaltung der<br />

Gesetze hat die Exekutive im Vorverfahren massgeblichen Anteil. Die Ausarbeitung erfolgt<br />

meistens entweder durch Fachbeamte oder Expertenkommissionen, die vom zuständigen<br />

Departementschef eingesetzt werden. Zu den Entwürfen wird eine Vernehmlassung<br />

durchgeführt (Art. 147 BV), um einen möglichst breiten Konsens zu finden. Das<br />

Vorverfahren wird durch die Botschaft und den Antrag des BR an die BVers (Art. 141<br />

ParlG), die im Bundesblatt publiziert werden (Art. 13 Abs. 1 lit. a PublG), abgeschlossen.<br />

- Ausarbeitung durch Kommissionen des Parlaments: Die vom Bundesrat unterbreiteten<br />

Gesetzesvorlagen werden durch parlamentarische Kommissionen vorberaten (vgl. N. 1570<br />

ff.). Bei parlamentarischen Initiativen erfolgt auch die eigentliche Ausarbeitung des<br />

Gesetzesentwurfs durch eine parlamentarische Kommission (Art. 107-114 ParlG). Die<br />

Kommissionstätigkeit wird durch Bericht und Antrag an die BVers abgeschlossen.<br />

3. Beratung und Verabschiedung in beiden Räten: (Art. 71 ff. ParlG) Vgl. N. 1602 ff.<br />

4. Fakultatives Referendum: (Art. 141 BV; Art 59 ff. BPR) Gegen einfache Bundesbeschlüsse (Art.<br />

163 Abs. 2 BV) und Parlamentsverordnungen (vgl. N. 1834 f.) besteht kein Referendum.<br />

5. Veröffentlichung in der Amtlichen Sammlung und in der Systematischen Sammlung des<br />

Bundesrechts: (Art. 2-12 PublG) Die Publikation in der AS ist Gültigkeitserfordernis (Art. 8<br />

PublG).<br />

6. Inkrafttreten: Das Datum des Inkrafttretens wird entweder von den Räten festgesetzt<br />

(Schlussbestimmung oder Erlass) oder vom Bundesrat bestimmt.<br />

II. FORM DER BESCHLÜSSE DER BUNDESVERSAMMLUNG (Art. 140 und 141, 163-165 BV)<br />

Schema: Buch N. 1820<br />

Das Hauptkriterium zur Zuordnung zu einer Erlassform ist die Referendumspflicht. Des Weiteren<br />

ist entscheidend, ob ein Erlass rechtsetzenden Bestimmungen enthält.<br />

Bundesgesetz: (Art. 163-165 BV, Art. 22 ParlG) Alle wichtigen Rechtssätze sind in der Form des<br />

Bundesgesetzes zu erlassen. Art. 164 Abs. 1 lit. a-g BV macht mit einer nicht abschliessenden<br />

Aufzählung ersichtlich, welche Materien wegen ihrer Bedeutung für die rechtsstaatliche<br />

Demokratie in den Grundzügen auf Gesetzesstufe zu regeln sind. Damit kennt die BV einen<br />

materiellen Gesetzesvorbehalt. Dieser ist insofern materiell, als er inhaltlich und substanziell<br />

bedeutsame Rechtsetzungsakte eben dem Gesetz vorbehält. Dies soll sicher stellen, dass<br />

durch die Regelung in einem formellen Gesetz kein wichtiger Regelungsbereich den direktdemokratischen<br />

Einwirkungsmöglichkeiten entzogen wird.<br />

Das Parlament kann aber auch Regelungen untergeordneter Bedeutung in die Form des<br />

Gesetzes kleiden.<br />

51


Verfahren: Es sind gleichlautende Beschlüsse beider Räte erforderlich und es steht das<br />

fakultative Referendum zur Verfügung (Art. 141 Abs. 1 lit. a BV).<br />

Dringliches Bundesgesetz: (Art. 165, 140 Abs. 1 lit. c, 141 Abs. 1 lit. b BV) Das dringliche<br />

Bundesgesetz tritt sofort in Kraft, um zu verhindern, dass der verfolgte Zweck durch<br />

Verzögerung vereitelt wird.<br />

Voraussetzung ist eine zeitliche und sachliche Dringlichkeit (Beratung darüber: Art. 77 ParlG),<br />

was jeweils genau zu prüfen ist. Das dringliche Bundesgesetz ist stets zu befristen. Das<br />

Referendum kommt erst nachträglich zum Zug und nicht angenommene dringliche<br />

Bundesgesetze, dürfen nicht erneuert werden (Art. 165 Abs. 4 BV).<br />

Ein dringliches Bundesgesetz kann verfassungskonformer oder verfassungsändernder Natur<br />

sein (Art. 165 Abs. 2/3 BV).<br />

- Dringliches Bundesgesetz mit Verfassungsgrundlage: (Art. 165 Abs. 1/2 BV) Es ist ein<br />

nachträgliches fakultatives Referendum vorgesehen (Art. 141 Abs. 1 lit. b BV). Wird das<br />

Referendum nicht ergriffen, bleibt das Bundesgesetz weiterhin in Kraft. Wird das<br />

Referendum ergriffen, tritt das Gesetz ein Jahr nach seiner Annahme durch die BVers<br />

ausser Kraft, wenn es nicht vorher vom Volk angenommen worden ist. Es ist zulässig,<br />

solche Gesetze höchstens für die Dauer eines Jahres ohne Zustimmung des Volkes zu<br />

erlassen.<br />

- Dringliches Bundesgesetz ohne Verfassungsgrundlage: (Art. 165 Abs. 1/3 BV) Innert<br />

Jahresfrist muss ein obligatorisches nachträgliches Referendum durchgeführt werden (Art.<br />

140 Abs. 1 lit. c BV). Falls der Beschluss nicht angenommen wird, tritt er nach Ablauf eines<br />

Jahres ausser Kraft und darf nicht erneuert werden.<br />

Verordnung: (Art. 163 Abs. 1 BV, Art. 22 Abs. 2 ParlG) Die Verordnungen der BVers enthalten<br />

rechtsetzende Normen, die gestützt auf eine besondere Ermächtigung durch die BV oder ein<br />

Bundesgesetz unter Ausschluss des Referendums beschlossen werden. Solche Erlasse, die<br />

meistens auf einer Delegation von Rechtsetzungsbefugnissen vom Gesetzgeber (d.h. von<br />

Parlament und Volk) an das Parlament allein beruhen, bezeichnet man als<br />

Parlamentsverordnungen (vgl. auch N. 1881 ff.). Sie dienen vor allem zur Regelung ihrer<br />

eigenen Organisation und des Verfahrens oder eignen sich, wenn ausserordentliche<br />

Umstände den Erlass von Rechtsnormen durch das Parlament erfordern (vgl. Art. 173 Abs. 1<br />

lit. c BV).<br />

Bundesbeschluss: (Art. 163 Abs. 2 BV, Art. 29 ParlG)<br />

- Einfacher Bundesbeschluss: Diese Form ist für Beschlüsse der BVers vorgesehen, für die<br />

keine andere Form vorgeschrieben ist. Es handelt sich um Einzelakte nicht rechtsetzender<br />

Natur (Verfügungen und Rechtsprechungsakte des Parlaments), die nicht dem<br />

Referendum unterstehen (Art. 29 Abs. 1 ParlG). Dabei kann man selbständige und<br />

unselbständige Bundesbeschlüsse unterscheiden, je nachdem, ob sie von der BV oder von<br />

einer Ermächtigung durch den Bundesgesetzgeber vorgesehen sind.<br />

Es werden gleichlautende Beschlüsse beider Räte oder Beschluss der VerBVers gefordert.<br />

- Referendumspflichtiger Bundesbeschluss: Er ist vorgesehen für Beschlüsse, die nicht<br />

rechtsetzender Natur sind und die kraft Verfassung (vgl. N. 1819) oder Gesetz dem<br />

Referendum unterstehen. Auch hier können selbständige und unselbständige<br />

referendumspflichtige Bundesbeschlüsse unterschieden werden.<br />

Art. 29 Abs. 2 ParlG unterstellt Einzelakte, für welche sich die notwendige gesetzliche<br />

Grundlage weder in der BV noch in einem Bundesgesetz findet, dem Referendum.<br />

Dadurch werden sog. Einzelfallgesetze aufgefangen, was sich dort aufdrängt, wo ein<br />

Einzelakt erlassen wird, der nach dem Legalitätsprinzip eigentlich auf einer gesetzlichen<br />

Grundlage beruhen müsste, für den man aber keine generell-abstrakte (und damit für<br />

weitere Fälle anwendbare) Regelung schaffen will.<br />

52


III. FORM DER BESCHLÜSSE DER BUNDESVERSAMMLUNG GEMÄSS DER BUNDESVERFASSUNG<br />

VON 1874<br />

IV. FAZIT<br />

Siehe Buch N. 1841-1848<br />

53


§62 Erlass von Verordnungen<br />

I. BEGRIFF, ELEMENTE UND ARTEN VON VERORDNUNGEN<br />

Verordnungen sind der Erlass von generell-abstrakten Rechtsnormen in einer anderen Form als<br />

derjenigen der Verfassung oder des Gesetzes.<br />

Verordnungen erfüllen, bei Vorliegen einer gültigen Gesetzesdelegation (Art. 1872 ff.) oder<br />

Ermächtigung durch die BV, die Voraussetzungen für leichtere Grundrechtsbeschränkungen (vgl.<br />

N 310 f.).<br />

Allerdings besteht für den Erlass von Verordnungen eine vereinfachte Erlassform; es fehlt<br />

insbesondere die Unterstellung unter das Referendum, was eine rasche Abänderbarkeit und<br />

Anpassung ermöglicht.<br />

Welche Behörde eine Verordnung erlässt, ist für den Begriff nicht von Bedeutung.<br />

Verordnungen werden oft sehr unterschiedlich benannt. Z.B. „Verordnung“, „Reglement“,<br />

„Ordnung“<br />

Arten von Verordnungen<br />

- Rechtsverordnungen und Verwaltungsverordnungen: Die Unterscheidung erfolgt vor allem<br />

anhand der Adressaten.<br />

Rechtsverordnungen enthalten Rechtsnormen, welche Rechte und Pflichten der<br />

Bürger begründen oder Organisation und Verfahren von Behörden regeln. Sie<br />

enthalten nach genereller Ansicht Rechtsätze und müssen in die AS aufgenommen<br />

werden.<br />

Verwaltungsverordnungen sind generelle Dienstanweisungen, die eine übergeordnete<br />

Behörde mit bindender Wirkung für die ihr unterstellten Behörden erlässt (Benennung<br />

z.B. Direktive, Weisung, Dienstreglement, Kreisschreiben). Als Verwaltungsinterne<br />

Weisungen schaffen sie grundsätzlich nicht Rechte und Pflichten der Bürger. Eine<br />

Ausnahme davon ist gegeben, wenn solche Verordnungen indirekt die Rechtsstellung<br />

der Bürger genauer umschreiben und dessen Interessen faktisch gleich stark getroffen<br />

werden wie durch Rechtsverordnungen. Solche Verordnungen können u.U. wie ein<br />

Rechtsatz beim Bundesgericht angefochten werden, sofern nicht schon in der<br />

Verwaltungsverordnung (zumutbare) Anfechtungsmöglichkeiten vorgesehen sind.<br />

- Selbständige und unselbständige Verordnungen: Die Unterscheidung erfolgt anhand der<br />

Rechtsgrundlage: Ermächtigung direkt durch die Verfassung (selbständige Verordnung)<br />

oder durch einen nicht der Verfassungsstufe angehörenden Erlass, insbesondere<br />

Gesetz (unselbständige Verordnung).<br />

- Vollziehungsverordnungen und gesetzesvertretende Verordnungen: Die Unterscheidung<br />

erfolgt anhand des inhaltlichen Verhältnisses, in dem die Verordnungsregelung zum<br />

zugehörigen Gesetz und dessen Vollzug steht. Die Übergänge sind jedoch fliessend.<br />

Vollziehungsverordnungen führen die Regelung des Gesetzes durch Detailvorschriften<br />

näher aus. Sie beruhen auf der allgemeinen, von der Verfassung eingeräumten<br />

Vollzugskompetenz.<br />

Gesetzesvertretende Verordnungen ergänzen und vervollständigen die gesetzliche<br />

Regelung. Sie beruhen auf einer Ermächtigung durch das Gesetz. In gewissen Fällen<br />

kann sich die Befugnis auch unmittelbar aus der Verfassung ergeben (vgl. N. 1862 ff.).<br />

54<br />

N. 1849-1857


N. 1858-1880<br />

II. VERORDNUNGEN DES BUNDESRATES UND ANDERER EXEKUTIVBEHÖRDEN<br />

Selbständige Verordnungen des Bundesrates<br />

- Vollziehungsverordnungen: In Art. 182 Abs. 2 BV ist die Kompetenz des Bundesrates zum<br />

Erlass von Vollzugsverordnungen in der allgemeinen Vollzugskompetenz enthalten. Der<br />

Bundesgesetzgeber muss im Einzelfall entscheiden, ob eine Gesetzesdelegation i.S.v. Art.<br />

164 Abs. 2 BV notwendig ist, oder ob die allgemeine Vollzugskompetenz ausreicht. Beim<br />

Erlass sind dem Bundesrat enge Grenzen gesetzt (Nur Bezug auf Materie des zu<br />

vollziehenden Gesetzes, keine Abänderung/Aufhebung des Gesetzes, Verfolgung der<br />

Zielsetzung des Gesetzes, grundsätzlich keine neue Pflichten für Bürger).<br />

- Polizeinotverordnungen: Der Bundesrat kann gestützt auf Art. 185 Abs. 3 Verordnungen<br />

und Verfügungen erlassen, um eingetretenen oder unmittelbar drohenden schweren<br />

Störungen der öffentlichen Ordnung oder der inneren oder äusseren Sicherheit zu<br />

begegnen. Dabei müssen die allgemeinen Schranken staatlichen Handelns beachtet<br />

werden (öffentliches Interesse, Verhältnismässigkeit) und zusätzlich muss die öffentliche<br />

Ordnung in bedeutendem Mass gestört oder direkt und unmittelbar durch eine<br />

ernsthafte Gefahr bedroht sein sowie muss eine zeitliche Dringlichkeit vorliegen<br />

(ordentliches Gesetzgebungsverfahren dadurch nicht möglich).<br />

- Verordnungen zur Wahrung der äusseren Interessen der Schweiz: Erfordert die<br />

aussenpolitische Situation rasches Handeln, hat der Bundesrat gemäss Art. 184 Abs. 3 BV<br />

die Kompetenz zum Erlass von befristeten Verordnungen zur Wahrung der äusseren<br />

Interessen des Landes.<br />

- Weitere: In einzelnen Sachgebieten wird der Bundesrat durch die BV ausdrücklich zum<br />

Erlass von Verordnungen ermächtigt.<br />

Unselbständige Verordnungen des Bundesrates:<br />

- Voraussetzungen der Zulässigkeit: Es ist nicht ganz klar, ob die in Art. 164 Abs. 1 dem<br />

Gesetzgeber vorbehaltenen Bereiche überhaupt nicht delegierbar sind. Das BGer hat<br />

diese Frage bisher offengelassen. Im Übrigen können Rechtsetzungsbefugnisse gem. Art.<br />

164 Abs. 2 BV durch Bundesgesetz übertragen werden, soweit die Verfassung dies nicht<br />

ausschliesst. Das BGer hat Voraussetzungen entwickelt, unter deren kumulativem<br />

Vorliegen auf Kantonsebene Rechtsetzungskompetenzen delegiert werden dürfen. Diese<br />

gelten auch auf Bundesebene: Die Gesetzesdelegation darf nicht durch die BV<br />

ausgeschlossen sein; die Delegationsnorm muss in einem Bundesgesetz enthalten sein;<br />

die Delegation muss sich auf ein bestimmtes, genau umschriebenes Sachgebiet<br />

beschränken; die Grundzüge der delegierten Materie müssen im Gesetz selbst enthalten<br />

sein.<br />

- Subdelegation: Diese liegt vor, wenn eine dem Bundesrat delegierte<br />

Rechtsetzungsbefugnis von diesem an ein Departement oder eine diesem<br />

untergeordnete Amtsstelle weiterdelegiert wird. Im Bund ist die Subdelegation<br />

gesetzlich in Art. 48 RVOG geregelt<br />

- Genehmigungsbedürftige Verordnungen: Bei der Delegation kann vorgesehen werden,<br />

dass die bundesrätlichen Verordnungen basierend auf dieser Delegation der BVers zur<br />

Genehmigung unterbreitet werden. Die Genehmigung erfolgt mittels einfachem<br />

Bundesbeschluss.<br />

- Verordnungen gestützt auf die sog. Vollmachtenbeschlüsse: Sie gehören dem Bereich des<br />

extrakonstitutionellen Notstandsrechts an (vgl. N. 1801 ff.).<br />

- Allgemeinverbindlicherklärung von GAV: Siehe Buch N. 1880<br />

55


III. VERORDNUNGEN DER BUNDESVERSAMMLUNG<br />

Parlamentsverordnungen (vgl. N. 1834) haben ihre verfassungsrechtliche Grundlage in Art. 163<br />

Abs. 1 BV (vgl. auch Art. 22 Abs. 2 ParlG). Selbständige Verordnungen sind rar. Meistens sind sie<br />

daher unselbständige Verordnungen (Delegation der BVers und des Volkes als Legislative an die<br />

BVers als Teilorgan der Legislative). Das Verfahren ist dasselbe wie beim Erlass eines<br />

Bundesgesetzes mit Ausnahme des Referendums.<br />

IV. VERORDNUNGEN DES BUNDESGERICHTS<br />

Gemäss Art. 13 BGG regelt das BGer seine Organisation und Verwaltung.<br />

V. SCHEMA ZU DEN VERORDNUNGEN: Buch N. 1885<br />

VI. RECHTSETZUNG DURCH PRIVATE?<br />

Siehe Buch N. 1886-1891<br />

56<br />

N. 1881-1883<br />

N. 1884


N. 1892-1895<br />

N. 1896<br />

N. 1897-1916<br />

§63 Staatsverträge<br />

I. BEGRIFF UND ARTEN DES STAATSVERTRAGES<br />

Der Staatsvertrag ist eine internationale, dem Völkerrecht unterstehende Vereinbarung zwischen<br />

zwei oder mehreren Staaten, die durch übereinstimmende Willenserklärung zustande kommt<br />

und zwischen den betreffenden Staaten Rechte und Pflichten begründet. Zutreffender ist der<br />

Begriff „völkerrechtlicher Vertrag“<br />

Arten<br />

- Rechtsgeschäftliche Staatsverträge: Regeln ein konkretes Rechtsverhältnis zwischen den<br />

beteiligten Staaten und begründen Rechte und Pflichten, ohne direkt die Staatsbürger zu<br />

betreffen.<br />

- Rechtsetzende Staatsverträge: Setzen generell-abstrakte Normen, die das Verhalten der<br />

Bürger regeln.<br />

- Unmittelbar anwendbare SV: „self-executing treaties“ enthalten Rechtsätze, die hinreichend<br />

bestimmt und klar sind, um als Grundlage eines Rechtsanwendungsaktes zu dienen.<br />

- Nicht unmittelbar anwendbare SV: „non-self-executing treaties“ setzen nicht direkt<br />

anwendbare Normen, sondern enthalten lediglich die Verpflichtung für den<br />

innerstaatlichen Gesetzgeber, landesrechtliche Vorschriften gemäss den im Staatsvertrag<br />

enthaltenen Grundsätzen zu erlassen.<br />

Es ist möglich, dass ein SV unmittelbar und nicht unmittelbar anwendbare Rechtsnormen<br />

enthält. Die Qualifizierung ergibt sich oft erst durch Auslegung.<br />

- Bilaterale SV: Zwei Staaten als Vertragspartner<br />

- Multilaterale SV: Auch Kollektivverträge, weisen drei oder mehr Staaten als Vertragspartner<br />

auf.<br />

II. ZUSTÄNDIGKEIT DES BUNDES ZUM ABSCHLUSS VON STAATSVERTRÄGEN<br />

Der Bund hat eine umfassende Staatsvertragskompetenz (Art. 54), die auch Materien im<br />

Kompetenzbereich der Kantone umfasst (vgl. N. 1123 f.). Diese haben aber ein Mitspracherecht<br />

(Art. 55 BV).<br />

III. VERFAHREN BEIM ABSCHLUSS VON STAATSVERTRÄGEN<br />

Der Staatsvertrag untersteht primär dem Völkerrecht, welches aber nur bestimmt, in welcher<br />

Weise ein Staatsvertrag für den Staat gegenüber anderen Staaten verbindlich wird.<br />

Das innerstaatliche Rech regelt, wie der staatliche Wille zu bilden ist und in welcher Form die<br />

Normen des Staatsvertrages innerstaatliche Geltung haben.<br />

1. Verhandlung und materieller Abschluss durch den Bundesrat: Gemäss Art. 184 Abs. 1/2 BV ist<br />

die Vertretung im völkerrechtlichen Verkehr Sache des Bundesrates (Mitwirkungsrechte der<br />

BVers aber beachten: Art. 184 Abs. 1 und 166 Abs. 1 BV). Er leitet die Vertragsverhandlungen<br />

ein, ernennt/instruiert die schweizerische Delegation und erteilt die Vollmacht zur<br />

Unterzeichnung (unter Vorbehalt der Genehmigung durch die BVers).<br />

2. Genehmigung durch die Bundesversammlung: Grundsätzlich sind völkerrechtliche Verträge<br />

von der BVers zu genehmigen (Art. 166 Abs. 2, 184 Abs. 2 Satz 2 BV, Art. 24 Abs. 2/3 ParlG).<br />

Ausnahmen bestehen dort, wo Art. 166 Abs. 2 Satz 2 sowie Art. 24 Abs. 2 ParlG greifen. Die<br />

Voraussetzungen sind in Art. 7a Abs. 2 lit. a-d RVOG geregelt.<br />

57


Die BVers kann keine Abänderungsvorschläge vorbringen, sondern nur den Vertrag<br />

gutheissen oder verwerfen. Die Genehmigung, soweit genehmigungsbedürftig, ist<br />

notwendige Voraussetzung der Ratifikation (vgl. N. 1912), stellt aber nur eine Ermächtigung<br />

zur Ratifikation dar.<br />

Die Genehmigung erfolgt durch einfachen Bundesbeschluss (vgl. N. 1836), im Fall<br />

referendumspflichtiger Staatsverträge durch referendumspflichtigen Bundesbeschluss (vgl. N.<br />

1838).<br />

3. Staatsvertragsreferendum:<br />

- Fakultatives Staatsvertragsreferendum: (Art. 141 Abs. 1 lit. d Ziff. 1-3 BV)<br />

- Obligatorisches Staatsvertragsreferendum: (Art. 140 Abs. 1 lit. b BV) Organisationen für<br />

kollektive Sicherheit: Haben zum Ziel, einem friedensbrechenden oder<br />

friedensbedrohenden Angreiferstaat entgegenzutreten oder organisierten Widerstand zu<br />

leisten (z.B. UNO).<br />

Supranationale Gemeinschaften: Organe sind von den Mitgliedstaaten unabhängig,<br />

Entscheide beruhen auf Mehrheitsbeschlüssen und nicht auf Einstimmigkeit, ihr<br />

Wirkungsbereich ist umfassend (z.B. europäische Gemeinschaften)<br />

4. Ratifikation: Streng zu unterscheiden vom innerstaatlichen Akt der Genehmigung. Die<br />

Ratifikation ist ein völkerrechtlicher Akt, durch den ein Staat in verbindlicher Weise erklärt,<br />

durch einen Staatsvertrag gebunden zu sein. Zuständig ist der BR (Art. 184 Abs. 2 BV).<br />

5. Innerstaatliche Geltung und Publikation in der Gesetzessammlung: Das monoistische Modell,<br />

zu dem sich die Schweiz bekennt, bedeutet, dass Völkerrecht und Landesrecht Teile eines<br />

einheitlichen Regelungssystems sind. Daher bedürfen die Staatsverträge keiner<br />

Transformation ins innerstaatliche Recht. Mit der völkerrechtlichen Verbindlichkeit erlangen<br />

sie automatisch auch landesrechtliche Gültigkeit.<br />

Publikation: Art. 3 PublG, Art. 8 PublG<br />

Schema zum Verfahren beim Abschluss von Staatsverträgen: Buch N. 1916<br />

IV. VERHÄLTNIS ZWISCHEN STAATSVERTRAG UND INNERSTAATLICHEM RECHT<br />

Das Völkerrecht überlässt es den einzelnen Staaten, wie sie den vertraglichen Pflichten<br />

innerstaatlich nachkommen. Jedenfalls gilt „pacta sunt servanda“, ein ratifizierter Vertrag ist also<br />

zu erfüllen. Insbesondere entscheidet das Landesrecht über den Rang völkerrechtlicher<br />

Regelungen in der innerstaatlichen Normenhierarchie. Es gibt keine Regel „Völkerrecht bricht<br />

Landesrecht“.<br />

Es besteht weitgehende Einigkeit, dass Staatsverträge mindestens auf der Stufe der<br />

Bundesgesetze stehen, soweit es sich nicht um blosse Vollziehungsabkommen handelt.<br />

Art. 190 BV sagt nichts über die Rangordnung der Verfassung bzw. der Bundesgesetze und dem<br />

internationalen recht aus.<br />

Deshalb sind allfällige Konflikte schwierig zu lösen. Aber wenn immer möglich, sollte ein Konflikt<br />

durch eine völkerrechtskonforme Auslegung des Landesrechts vermieden werden. Ansonsten ist<br />

eine differenzierte Antwort zu finden.<br />

Das Völkerrecht ist hierarchisch gegliedert, weshalb gewissen internationalen Bestimmungen<br />

oder Verträgen eine grössere Bedeutung zukommt als anderen. Im Weiteren sind die<br />

allgemeinen Kollisionsregeln „lex posterior derogat legi priori“ und „lex specialis derogat legi<br />

generali“ anzuwenden.<br />

Staatsvertrag und Bundesverfassung: Die Normen des zwingenden Völkerrechts gehen der BV vor<br />

und bilden auch eine Schranke der Verfassungsrevision (Art. 193 Abs. 4, 194 Abs. 2 BV; vgl. N.<br />

1756). Ungeklärt ist die Frage, wie ein Widerspruch zwischen dem Verfassungsrecht und dem<br />

dispositiven Völkerrecht gelöst werden soll.<br />

58<br />

N. 1917-1928


Staatsvertrag und Bundesgesetz: Der spätere Staatsvertrag geht dem zeitlich früheren<br />

Bundesgesetz vor. Auch wenn das Gesetzesrecht jünger ist, anerkennt das BGer in seiner<br />

neueren Rechtsprechung generell den Vorrang des Staatsvertragsrechts. 1 Die EMRK nimmt in<br />

der Rangfrage eine spezielle Stellung ein, da sich das BGer eindeutig zu Gunsten des<br />

Vorranges der EMRK ausgesprochen hat, auch gegenüber widersprechenden Bundesgesetzen.<br />

Ein Konflikt zwischen den Garantien der BV und denen der EMRK wurde bisher weitgehend<br />

vermieden. Wie die jüngeren Bestimmungen der BV, die klar der EMRK widersprechen, in<br />

rangmässiger Hinsicht qualifiziert werden, bleibt offen.<br />

Staatsvertrag und übrige Bundeserlasse: Der höherstufige Staatsvertrag geht Bundesbeschlüssen<br />

und Verordnungen des Bundes vor.<br />

Staatsvertrag und kantonales Recht: Die vom Bund abgeschlossenen Staatsverträge sind<br />

Bundesrecht und haben deshalb Vorrang gegenüber dem kantonalen Recht aller Stufen (vgl.<br />

N. 1173 ff.).<br />

1<br />

Allerdings hat das BGer in einem stark kritisierten Entscheid („Schubert-Entscheid“: BGE 99 Ib<br />

39, 43 ff.) den Vorrang eines Bundesgesetzes gegenüber dem Völkerrecht dann bejaht, wenn der<br />

Bundesgesetzgeber bewusst von einem Staatsvertrag abgewichen war. Es ist unklar, ob dies<br />

weiterhin gilt.<br />

Eine analoge Anwendung dieser Praxis bei Volksinitiativen macht keinen Sinn, weil nicht<br />

zuverlässig festgestellt werden kann, ob ein Abweichen bewusst geschieht (bei Bundesgesetzen<br />

kann dies z.B. anhand der Protokolle der Ratsdebatten festgestellt werden).<br />

59


7. Teil: Verfassungsgerichtsbarkeit<br />

§64 Durchsetzung des Verfassungsrechts in Beschwerdeverfahren vor<br />

Bundesgericht<br />

I. ALLGEMEINES<br />

Die Schweiz kennt kein spezielles Verfassungsgericht, dessen Aufgabe die Einhaltung der<br />

Verfassung zu überwachen wäre. Das Bundesgericht übt jedoch in gewissem Umfang auch<br />

Verfassungsgerichtsbarkeit aus 2<br />

Jedoch können aufgrund des Art. 190 BV nur kantonale Erlasse beim Bundesgericht angefochten<br />

werden und selbst der vorfrageweisen Überprüfung von Rechtsetzungsakten des Bundes werden<br />

enge Grenzen gesetzt (vgl. N. 2086 ff.).<br />

Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten (Art. 82 ff. BGG) können im<br />

Wesentlichen Entscheide des BVerwGer und letzter kantonaler Instanzen in Angelegenheiten des<br />

öffentlichen Rechts sowie kantonale Erlasse beim Bundesgericht angefochten werden.<br />

Stimmrechtssachen sind ebenfalls anfechtbar.<br />

Ist gegen den Entscheid einer letzten kantonalen Instanz kein ordentliches Rechtsmittel zulässig,<br />

steht die subsidiäre Verfassungsbeschwerde ans BGer (Art. 113 ff. BGG) zur Verfügung, mit der<br />

aber nur die Verletzung verfassungsmässiger Rechte gerügt werden kann (Art. 116 BGG).<br />

Verfassungsgerichtsbarkeit übt das BGer auch aus, wenn es über bundesstaatliche Streitigkeiten<br />

entscheidet (sog. Einheitsklage, Art. 120 BGG).<br />

II. VORAUSSETZUNGEN DER BESCHWERDEVERFAHREN IM ÜBERBLICK<br />

In jedem Einzelfall muss das Vorliegen der Zulässigkeitsvoraussetzungen nach dem BGG geprüft<br />

werden.<br />

1. Anfechtungsobjekt: Kann der staatliche Akt, der angefochten werden soll, überhaupt<br />

Gegenstand einer Beschwerde an das BGer sein?<br />

2. Vorinstanzen bzw. Subsidiarität: Wurde der Instanzenzug ausgeschöpft (bei der<br />

Einheitsbeschwerde) bzw. ist keine ordentliche Beschwerde zulässig (bei der subsidiären<br />

Verfassungsbeschwerde)?<br />

3. Beschwerdegrund: Wird eine Rechtsverletzung oder eine unrichtige Feststellung des<br />

Sachverhalts gerügt, die in den Schutzbereich der betreffenden Beschwerde fällt?<br />

4. Parteifähigkeit, Prozessfähigkeit, Teilnahme am vorinstanzlichen Verfahren,<br />

Beschwerdelegitimation: Ist der Beschwerdeführer im konkreten Fall befugt, mit seinem<br />

Anliegen an das BGer zu gelangen?<br />

5. Beschwerdefrist: Eingehalten?<br />

6. Beschwerdeschrift: Genügt sie den formalen Anforderungen?<br />

Sind alle diese Voraussetzungen kumulativ erfüllt, tritt das BGer auf die Beschwerde ein.<br />

2<br />

zu beachten bleibt aber, dass die Bundesversammlung kontrolliert, ob Kantonsverfassungen mit<br />

dem Bundesrecht übereinstimmen. Im Weiteren befindet sie über die Gültigkeit von<br />

Volksinitiativen und bei Organstreitigkeiten zwischen obersten Bundesbehörden entscheidet die<br />

BVers endgültig.<br />

60<br />

N. 1929-1934<br />

N. 1935


N. 1936-1966<br />

III. DIE EINZELNEN VORAUSSETZUNGEN DER BESCHWERDE IN ÖFFENTLICH-RECHTLICHEN<br />

ANGELEGENHEITEN<br />

1. Anfechtungsobjekt<br />

a) Art. 82 lit. a BGG (Entscheide in Angelegenheiten des öffentlichen Rechts)<br />

Entscheide sind individuell-konkrete Rechtsanwendungsakte, wobei Verfügungen (an einen<br />

bestimmten Adressaten(kreis) gerichtete Hoheitsakte, durch welche eine konkrete<br />

Rechtsbeziehung rechtsgestaltend oder feststellend in verbindlicher Weise geregelt wird) oder<br />

Rechtsmittelentscheide im Vordergrund stehen. Ebenfalls unter Art. 82 lit. a fallen<br />

Rechtsanwendungsakte einer Landsgemeinde oder eines kantonalen Parlaments.<br />

Ob der Entscheid in Anwendung von kantonalem oder eidgenössischem Recht ergangen ist, spielt<br />

keine Rolle.<br />

Der Entscheid betrifft eine öffentlich-rechtliche Angelegenheit, wenn das auf den konkreten Fall<br />

anwendbare bzw. von der Vorinstanz angewandte materielle Recht gemäss den Kriterien der<br />

Rechtsprechung und Lehre dem öffentlichen Recht zuzuordnen ist.<br />

Bei der Anfechtung eines Entscheids kann gleichzeitig auch geltend gemacht werden, der<br />

generell-abstrakte Erlass, auf den sich der angefochtene Anwendungsakt stützt, sei<br />

verfassungswidrig. Dann prüft das BGer zuerst vorfrageweise die Verfassungsmässigkeit der<br />

zugrunde liegenden Normen und versagt ihnen im Fall der Verfassungswidrigkeit die Anwendung,<br />

es sei denn, der Erlass wird vom Anwendungsgebot des Art. 190 BV erfasst (vgl. N. 2086 ff.).<br />

Dieser Vorgang nennt man akzessorisches 3 Prüfungsrecht oder konkrete Normenkontrolle.<br />

Anfechtungsobjekte:<br />

Realakte: Realakte sind nicht unmittelbar auf Rechtswirkungen, sondern auf einen tatsächlichen<br />

Erfolg gerichtet (z.B. das Behindern eines Journalisten, sein Ziel erreichen zu können).<br />

Werden durch solche Handlungen Rechte der EMRK berührt, hat der Betroffene gem. Art.<br />

13 EMRK das Recht auf eine wirksame Beschwerde. Liegt den Realakten öffentliches Recht<br />

zugrunde, kann der Betroffene nach den in Art. 25 VwVG genannten Voraussetzungen<br />

eine Verfügung verlangen.<br />

Vollzugs- und Bestätigungsakte: Akte, die frühere Entscheide bloss vollziehen oder bestätigen,<br />

sind grundsätzlich nicht anfechtbar. Eine wichtige Ausnahme besteht jedoch: Die<br />

Verfassungswidrigkeit von Entscheiden, die unter besonders schwerwiegender Verletzung<br />

von Grundrechten zustande gekommen sind, kann auch noch im Vollzugsstadium geltend<br />

gemacht werden.<br />

Teilentscheide; Vor- und Zwischenentscheide: Grundsätzlich kann nur gegen Endentscheide<br />

Beschwerde erhoben werden (Art. 90 BGG). Zu beachten bleibt die Regelung über<br />

Teilentscheide in Art. 91 BGG. Vor- und Zwischenentscheide werden in Art. 92 und 93 BGG<br />

behandelt.<br />

Raumpläne: Siehe Buch N. 1950<br />

Ausnahmen: Art. 83 BGG zählt Sachgebiete auf, in denen die Beschwerde unzulässig ist. Die<br />

Verantwortung über die letztinstanzliche Einhaltung des Bundesrechts liegt in diesen<br />

Gebieten beim BVerwGer oder bei den oberen kantonalen Gerichten.<br />

Gemäss Art. 191 Abs. 2 BV und Art. 83 lit. f und Art. 85 BGG gibt es Streitwertgrenzen.<br />

b) Art. 82 lit. b BGG (kantonale Erlasse)<br />

Kantonale Erlasse können unmittelbar mit Beschwerde beim Bundesgericht angefochten werden.<br />

Der Ausnahmekatalog des Art. 83 BGG kommt hier nicht zur Anwendung, weil er sich nur auf<br />

Entscheide i.S.v. Art. 82 lit. a BGG bezieht.<br />

3 lat. accedere: „hinzutreten"<br />

61


Die Anfechtung kantonaler Erlasse hat ungeachtet des betroffenen Rechtsgebietes immer mittels<br />

der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten zu erfolgen.<br />

Erlasse des Bundes können nur im Rahmen des Anwendungsgebotes von Art. 190 BV<br />

vorfrageweise überprüft werden.<br />

Erlasse i.S.v. Art. 82 lit. b BGG sind Akte der Rechtsetzung, d.h. generell-abstrakte Anordnungen,<br />

die sich an eine unbestimmte Zahl von Personen richten und eine unbestimmte Anzahl von<br />

Tatbeständen regeln. Es geht vor allem um kantonale Gesetze und Verordnungen, aber auch um<br />

Rechtsetzungsakte der Gemeinden sowie interkantonale Rechtsetzungsakte.<br />

Überprüft das Bundesgericht einen Rechtsetzungsakt als solchen (ohne Abwarten eines<br />

Anwendungsakts), spricht man von abstrakter Normenkontrolle.<br />

Anfechtungsobjekte:<br />

Kantonale Verfassungsnormen: Grundsätzlich ist die BVers für die Gewährleistung von<br />

Kantonsverfassungen zuständig. Deshalb überprüft das BGer keine Änderungen von<br />

Kantonsverfassungen im abstrakten Normenkontrollverfahren. Jedoch kann im Falle einer<br />

konkreten Anwendung gerügt werden, eine Bestimmung der KV verstosse gegen<br />

Bundesrecht oder Völkerrecht, sofern das übergeordnete Recht im Zeitpunkt der<br />

Gewährleistung durch die BVers noch nicht in Kraft getreten war bzw. noch nicht als<br />

ungeschriebenes Recht anerkannt war. (vgl. N. 1029 ff.)<br />

Genehmigungsbedürftige kantonale Erlasse: Kantonale Gesetze und Verordnungen, die einer<br />

Genehmigung bedürfen, können ebenfalls angefochten werden. Allerdings nur, wenn der<br />

Bundesrat (vgl. Art. 61b RVOG) die Genehmigung nicht verweigert hat.<br />

Verwaltungsverordnungen: Verwaltungsverordnungen, d.h. generelle Dienstanweisungen einer<br />

Behörde an die ihr untergeordneten Amtsstellen, sind grundsätzlich nicht anfechtbar.<br />

Ausnahmen bestehen dort, wo solche Verwaltungsverordnungen zugleich geschützte<br />

Rechte des Bürgers berühren und damit „Aussenwirkung“ entfalten. Zudem dürfen<br />

gestützt auf die Verwaltungsverordnung keine Verfügungen getroffen worden sein, deren<br />

Anfechtung möglich und zumutbar wäre.<br />

c) Art. 82 lit. c BGG (Stimmrechtssachen)<br />

Das BGer beurteilt Beschwerden betreffend die politische Stimmberechtigung der Bürger sowie<br />

betreffend Volkswahlen und -abstimmungen (jedoch keine behördeninternen Wahlen und<br />

Abstimmungen). Als Anfechtungsobjekte kommen nicht nur Entscheide und Erlasse in Frage,<br />

sondern auch Realakte der kantonalen Parlamente und Regierungen.<br />

Der Wortlaut von Art. 82 lit. c ist zu eng, denn mit der Stimmrechtsbeschwerde können alle<br />

Verletzungen der politischen Rechte i.S.v. Art. 34 BV geltend gemacht werden, neben<br />

Beeinträchtigungen des Stimm- und Wahlrechts auch Verletzungen der Wahl- und<br />

Abstimmungsfreiheit sowie des Referendums- und Initiativrechts.<br />

Die Stimmrechtsbeschwerde kann sich auch auf eidgenössische Wahlen und Abstimmungen<br />

beziehen und kann sich neben Akten letzter kantonaler Instanzen auch gegen Verfügungen der<br />

Bundeskanzlei (in eidgenössischen Angelegenheiten) richten (Art. 88 Abs. 1 lit. b BGG).<br />

Die politischen Rechte betreffenden Akte der BVers und des BR dürfen nicht gerichtlich<br />

angefochten werden.<br />

2. Vorinstanzen (Art. 86-88 BGG)<br />

Im Buch steht nicht viel mehr als aus dem Gesetz hervorgeht.<br />

62<br />

N. 1967-1968


N. 1969-1986<br />

N. 1987-2014<br />

3. Beschwerdegründe (Art. 95-98 BGG)<br />

Der Katalog der Beschwerdegründe lehnt sich nicht ganz nahtlos an Art. 189 Abs. 1 BV an.<br />

Bundesrecht (Art. 95 lit. a BGG): Unter diesen Begriff fallen die BV, Bundesgesetze sowie<br />

Verordnungen der BVers, des BR, der Bundesverwaltung und des BGer.<br />

Verwaltungsverordnungen stellen als blosse Dienstanweisung kein Bundesrecht dar.<br />

Völkerrecht (Art. 95 lit. b BGG): Darunter fallen das Völkervertragsrecht und das<br />

Völkergewohnheitsrecht, ergänzt durch die von den Kulturvölkern anerkannten<br />

allgemeinen Rechtsgrundsätze.<br />

Der Einzelne kann nur dann die Verletzung von Völkerrecht geltend machen, wenn dieses<br />

direkt anwendbar ist. Unmittelbar anwendbar und von grosser Bedeutung sind die<br />

Grundrechte der EMRK und des UNO-Pakts II.<br />

Verfassungsmässige Rechte im Besonderen (Art. 95 lit. c BGG): Die Verletzung<br />

verfassungsmässiger Rechte ist für Bundes- und Völkerrecht in Art. 95 lit. a/b mit<br />

enthalten. Da aber das BGer grundsätzlich nicht die Rechtsprechung zum kantonalen<br />

Recht zur Aufgabe hat, bedurfte es des lit. c. Im Zentrum der Verfassungsgerichtsbarkeit<br />

des BGer steht der Schutz verfassungsmässiger Rechte der Bürgerinnen und Bürger auf<br />

Grund von Individualbeschwerden. Jedoch enthalten weder Verfassung noch das BGG eine<br />

Definition der verfassungsmässigen Rechte. Das BGer versteht unter diesem Begriff<br />

„justiziable Rechtsansprüche, die nicht ausschliesslich öffentliche Interessen, sondern<br />

auch Interessen und Schutzbedürfnisse des Einzelnen betreffen und deren Gewicht so<br />

gross ist, dass sie nach dem Willen des demokratischen Verfassungsgebers<br />

verfassungsrechtlichen Schutzes bedürfen“.<br />

Die Bestimmung, auf die sich der Beschwerdeführer beruft, muss also (auch) den Schutz<br />

des Einzelnen bezwecken. Zudem muss sie unmittelbar gerichtlich durchsetzbar sein, was<br />

nur zutrifft, wenn sie mit hinreichender Bestimmtheit dem Einzelnen einen Anspruch<br />

gewährt.<br />

Gemeindeautonomie und andere Garantien der Kantone zu Gunsten von öffentlich-rechtlichen<br />

Körperschaften (Art. 189 Abs. 1 lit. e BV): Die Autonomiebeschwerde ist in der BV separat<br />

aufgeführt und findet bei den Beschwerdegründen im BGG keine Erwähnung. Als andere<br />

Garantie, wie sie in vorher genanntem Artikel ebenfalls aufgeführt werden, kommt vor<br />

allem die Bestandesgarantie in Betracht.<br />

Kantonale Bestimmungen über die politische Stimmberechtigung und über Volkswahlen und<br />

Volksabstimmungen (Art. 95 lit. d BGG): Eidgenössische Bestimmungen über das<br />

Stimmrecht fallen unter Art. 95 lit. a BGG, weshalb nur die kantonalen Bestimmungen in<br />

lit. d erwähnt werden. Im Falle der Anfechtung eines kantonalen Entscheids im Bereich der<br />

politischen Rechte kann die Verletzung irgend einer kantonalen Verfassungs-, Gesetzes-,<br />

oder Verordnungsbestimmung geltend gemacht werden, sofern diese Verletzung einen<br />

engen Bezug zum Stimmrecht oder zur Ausübung der politischen Rechte aufweist. Die<br />

Stimmrechtsbeschwerde dient dem Schutz aller politischen Rechte i.S.v. Art. 34 BV (vgl.<br />

1962a).<br />

Interkantonales Recht (Art. 95 lit. e BGG): Nur, wenn der Beschwerdeführer besonders berührt<br />

i.S.v. Art. 89 Abs. 1 BGG ist und ein schutzwürdiges Interesse hat.<br />

Weitere Beschwerdegründe: Siehe Buch N. 1984-1986<br />

4. Beschwerderecht (Art. 89 BGG)<br />

Vom Beschwerderecht hängt ab, wer einen Akt anfechten darf.<br />

a) Parteifähigkeit: Alle natürlichen Personen sind parteifähig (ungeachtet des Wohnsitzes und der<br />

Mündigkeit). Ebenso sind alle juristischen Personen des Privatrechts parteifähig. Auch<br />

63


verschiedene Personenverbindungen ohne eigene Rechtspersönlichkeit (z.B.<br />

Kollektivgesellschaften). Juristische Personen des öffentlichen Rechts sind auch<br />

rechtsfähig.<br />

b) Prozessfähigkeit: Die Prozessfähigkeit ist die Verfahrensrechtliche Parallele zur<br />

Handlungsfähigkeit. Sie bedeutet die Fähigkeit, eine Beschwerde selbst einzureichen<br />

und den Prozess selbst zu führen oder durch einen gewählten Vertreter führen zu<br />

lassen. Prozessfähig ist, wer urteilsfähig und mündig ist (i.S. der<br />

Grundrechtsmündigkeit, vgl. N. 293). Urteilsfähige Unmündige können jene Rechte<br />

selbständig geltend machen, die ihnen um ihrer Persönlichkeit willen zustehen (z.B.<br />

persönliche Freiheit).<br />

c) Teilnahme am vorinstanzlichen Verfahren: Art. 89 Abs. 1 lit. a BGG, ausser Art. 87 Abs. 1 BGG<br />

greift.<br />

d) Beschwerdelegitimation: Die Beschwerdelegitimation ist die Befugnis, in einem ganz<br />

bestimmten Rechtsstreit eine Beschwerde erheben zu können.<br />

aa) Beschwerde von Privaten: Gemäss Art. 89 Abs. 1 lit. b/c BGG muss der<br />

Beschwerdeführer eine spezifische Beziehungsnähe zur Streitsache verfügen (lit.<br />

b) und einen praktischen Nutzen aus der Aufhebung oder Änderung des<br />

angefochtenen Entscheids ziehen (lit. c), was zutrifft, wenn seine tatsächliche<br />

oder rechtliche Situation durch den Ausgang des Verfahrens beeinflusst werden<br />

kann. Die erste Voraussetzung trifft zu, wenn der Beschwerdeführer stärker als<br />

jedermann betroffen ist und in einer besonderen, beachtenswerten, nahen<br />

Beziehung zur Streitsache stehen muss.<br />

- Legitimation zur Anfechtung von Entscheiden: In erster Linie ist der Adressat<br />

legitimiert. Aber auch Dritte, sofern sie ein schutzwürdiges Interesse<br />

vorweisen können, sind legitimiert. Stets wird vorausgesetzt, dass der<br />

Beschwerdeführer ein aktuelles praktisches Interesse an der Feststellung der<br />

Rechtswidrigkeit des angefochtenen Aktes hat. Darauf kann verzichtet<br />

werden, wenn sich die aufgeworfene Frage jederzeit und unter ähnlichen<br />

Umständen wieder stellen könnte.<br />

- Legitimation zur Anfechtung kantonaler Erlasse: Es genügt ein virtuelles<br />

Betroffensein. Legitimiert sind also alle, auf welche die verfassungswidrig<br />

erachtete Vorschrift künftig einmal angewendet werden könnte. Eine<br />

minimale Wahrscheinlichkeit reicht aus.<br />

- Legitimation in Stimmrechtssachen: Das Beschwerderecht steht jeder Person zu, die<br />

in der betreffenden Angelegenheit stimmberechtigt ist (Art. 89 Abs. 3 BGG),<br />

d.h. an der in Frage stehenden Wahl oder Abstimmung teilnehmen kann (auch<br />

passiv als Kandidat).<br />

bb) Beschwerdelegitimation von Gemeinden und anderen öffentlich-rechtlichen<br />

Körperschaften: Der in Art. 89 Abs. 2 lit. c genannte Beschwerdegrund zielt vor<br />

allem auf die Gemeindeautonomie. Für die Legitimation erforderlich ist einzig,<br />

dass die Gemeinde hoheitlich auftritt und eine Verletzung der Autonomie geltend<br />

macht. Eine Gemeinde kann im Rahmen der Autonomiebeschwerde auch andere<br />

ihr zustehende Rechte rügen (z.B. Verfahrensgarantien nach Art. 29 BV), sofern<br />

deren Verletzung mit dem streitigen Eingriff in die Autonomie in engem<br />

Zusammenhang steht.<br />

cc) Beschwerden von Behörden: Die sog. Behördenbeschwerde nach Art. 89 Abs. 2 lit. a<br />

BGG dient insbesondere dazu, die einheitliche Anwendung von<br />

Bundesverwaltungsrecht sicherzustellen. Vorausgesetzt wird, dass der<br />

64


N. 2015-2019<br />

N. 2020-2022<br />

angefochtene Akt die Bundesgesetzgebung in ihrem Aufgabenbereich verletzen<br />

kann.<br />

dd) Beschwerden von juristischen Personen, insbesondere Verbandsbeschwerden: Es sind<br />

drei Fälle zu unterscheiden, in denen eine juristische Person als Partei<br />

Beschwerde erhebt:<br />

- Beschwerde in eigenem Namen und zur Wahrung eigener Interessen: Ist eine<br />

juristische Person als Adressatin einer Verfügung besonders betroffen, kann<br />

sie sich gestützt auf Art. 89 Abs. 1 BGG auf dem Beschwerdeweg dagegen<br />

wehren. Es gelten die im Zusammenhang mit Beschwerden von Privaten (N.<br />

1999 ff.) angestellten Überlegungen.<br />

- Beschwerde in eigenem Namen zur Wahrung der Interessen ihrer Mitglieder (sog.<br />

„egoistische“ Verbandsbeschwerde): Für die Beschwerdelegitimation müssen<br />

kumulativ folgende Voraussetzungen erfüllt sein:<br />

1. Die Vereinigung muss selber partei- und prozessfähig sein.<br />

2. Sie muss statutarisch zur Wahrung der Betroffenen Interessen ihrer<br />

Mitglieder berufen sein.<br />

3. Eine grosse Zahl der Mitglieder muss persönlich oder virtuell in<br />

schutzwürdigen Interessen betroffen sein (so dass die betroffenen Mitglieder<br />

selbst zur Beschwerdeführung legitimiert wären.<br />

Das Beschwerderecht stützt sich auf Art. 89 Abs. 1 BGG<br />

- Beschwerde in eigenem Namen zur Wahrung ideeller Interessen (sog. „ideelle“<br />

Verbandsbeschwerde): Zur Wahrung öffentlicher Interessen sind bestimmte<br />

Verbände zur Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten<br />

legitimiert. Dies setzt aber eine ausdrückliche Ermächtigung in der<br />

Spezialgesetzgebung voraus (Art. 89 Abs. 2 lit. d BGG).<br />

Bei Beschwerden in Stimmrechtssachen sind grundsätzlich politische Parteien sowie<br />

sonstige politische Vereinigungen legitimiert. Details Buch N. 2014.<br />

5. Beschwerdefrist (Art. 100 f. BGG)<br />

Alles Notwendige steht im Gesetz.<br />

6. Form und Inhalt der Beschwerdeschrift (Art. 42 und 106 BGG)<br />

Alles Notwendige steht im Gesetz.<br />

65


IV. DIE EINZELNEN VORAUSSETZUNGEN DER SUBSIDIÄREN VERFASSUNGSBESCHWERDE<br />

Die subsidiäre Verfassungsbeschwerde dient nur dazu sicherzustellen, dass die Verletzung<br />

verfassungsmässiger Rechte durch kantonale Entscheide in allen Fällen vor Bundesgericht gerügt<br />

werden kann. Die subsidiäre Verfassungsbeschwerde hat daher einen viel engeren<br />

Anwendungsbereich als die staatsrechtlichen Beschwerden.<br />

1. Anfechtungsobjekt (Art. 113 Halbsatz 1 BGG)<br />

Anfechtbar sind nur Entscheide, keine Erlasse. Und als solche nur Entscheide letzter kantonaler<br />

Instanzen. Der kantonale Instanzenzug muss also ausgeschöpft worden sein. Entscheide eines<br />

eidg. Gerichts, des Bundesrates oder der Bundesverwaltung können also in keinem Fall<br />

Anfechtungsobjekt der subsidiären Verfassungsbeschwerde sein.<br />

2. Subsidiarität (Art. 113 Halbsatz 2 BGG)<br />

Die subsidiäre Verfassungsbeschwerde gelangt nur zur Anwendung, wenn keine ordentliche<br />

Beschwerde ans Bundesgericht möglich ist. Dies ist der Fall, wenn ein Entscheid vom<br />

Ausnahmekatalog des Art. 83 BGG erfasst wird oder unter der Streitwertgrenze liegt. Erweist sich<br />

eine ordentliche Beschwerde aus einem anderen Grund als unzulässig, steht auch die subsidiäre<br />

Verfassungsbeschwerde nicht zur Verfügung.<br />

3. Beschwerdegründe (Art. 116 BGG)<br />

Die genannten verfassungsmässigen Rechte können sich aus der BV, dem Völkerrecht oder dem<br />

kantonalen Verfassungsrecht ergeben. Auch die Gemeindeautonomie stellt ein<br />

verfassungsmässiges Recht dar.<br />

4. Beschwerderecht (Art. 115 BGG)<br />

Der Beschwerdeführer muss ebenfalls parteifähig und prozessfähig sein, am vorinstanzlichen<br />

Verfahren teilgenommen haben und muss grundsätzlich ein aktuelles Interesse an der<br />

Feststellung der Rechtswidrigkeit des angefochtenen Entscheids haben.<br />

Restriktiver wird die Beschwerdelegitimation geregelt. Gemäss Art. 115 lit. b BGG muss der<br />

Beschwerdeführer ein rechtlich geschütztes Interesse an der Aufhebung/Änderung des<br />

angefochtenen Entscheids haben. Ein faktisches Interesse genügt nicht.<br />

Der Beschwerdeführer muss Träger des angerufenen verfassungsmässigen Rechts sein und die<br />

vom Beschwerdeführer behauptete Rechtsverletzung muss zudem im Schutzbereich des<br />

angerufenen verfassungsmässigen Rechts liegen.<br />

Dritte sind nur ausnahmsweise betroffen, ein Adressat des angefochtenen Entscheids jedoch<br />

sicher.<br />

Wird eine willkürliche Rechtsanwendung geltend gemacht, ist zur Legitimation erforderlich, dass<br />

Vorschriften rechtsungleich angewendet wurden, die einen Anspruch des Betroffenen begründen<br />

oder zumindest auch seinem Schutz dienen. Willkürliches Handeln kann demnach nur dann mit<br />

subsidiärer Verfassungsbeschwerde gerügt werden, wenn dem Beschwerdeführer ein<br />

Rechtsanspruch auf eine Bewilligung zusteht oder wenn er sich auf eine andere durch das Gesetz<br />

oder ein spezifisches Grundrecht geschützte Stellung berufen kann.<br />

Behörden und ideellen Verbänden steht kein Beschwerderecht zu. Gemeinden und andere<br />

öffentlich-rechtlichen Körperschaften hingegen können ihnen zustehende verfassungsmässige<br />

Recht auch mit der subsidiären Verfassungsbeschwerde geltend machen.<br />

5. Beschwerdefrist (Art. 100 BGG)<br />

6. Form und Inhalt der Beschwerdeschrift (Art. 42 und 106 BGG)<br />

66<br />

N. 2023-2037


N. 2038-2041<br />

N. 2042-2044b<br />

V. VERFAHREN<br />

1. Eintreten<br />

Das BGer prüft seine Zuständigkeit von Amtes wegen. Bestehen Zweifel zur Zuständigkeit des<br />

BGer oder einer anderen Behörde führt das Gericht mit der Behörde einen Meinungsaustausch<br />

(Art. 29 BGG).<br />

Fehlt eine der Beschwerdevoraussetzungen ergeht ein Nichteintretensbeschluss.<br />

2. Einschränkungen der richterlichen Rechtsanwendung von Amtes wegen durch das<br />

Rügeprinzip<br />

Es gilt der Grundsatz, dass das BGer das Recht von Amtes wegen anwendet, ohne an die<br />

Begründung des Beschwerdeführers gebunden zu sein. Dieser Grundsatz wird bei der<br />

Durchsetzung von Grundrechten durch das Rügeprinzip eingeschränkt: Die Verletzung von<br />

Grundrechten und von kantonalem und interkantonalem Recht prüft das BGer nur insofern, als<br />

eine solche Rüge in der Beschwerdeschrift vorgebracht und begründet worden ist (Art. 106 Abs. 2<br />

BGG). Die Substantiierung der Beschwerde ist also Sache des Beschwerdeführers.<br />

3. Verfahrensleitung<br />

Art. 32 BGG<br />

Art. 103 f. BGG<br />

4. Kognition<br />

Mit dem Begriff „Kognition“ werden Umfang und Intensität der Überprüfung einer Beschwerde<br />

durch das BGer bezeichnet. Das BGer unterscheidet zwischen freier und beschränkter Kognition<br />

(auch „Willkürprüfung“).<br />

Bei der freien Kognition prüft es ohne Einschränkung, ob die Vorinstanz die massgebenden<br />

Rechtsnormen richtig ausgelegt und angewendet hat.<br />

Bei der beschränkten Kognition werden nur qualifizierte Unrichtigkeiten beanstandet. Der<br />

angefochtene Akt muss also schlechthin unhaltbar sein.<br />

VI. ENTSCHEIDUNGEN<br />

Ist eine Beschwerde zulässig und materiell begründet, wird sie gutgeheissen. Möglich ist auch<br />

eine teilweise Gutheissung. Heisst das BGer eine Beschwerde in öffentlich-rechtlichen<br />

Angelegenheiten gegen einen Entscheid gut, ist es frei, selber einen neuen Entscheid zu treffen<br />

oder den angefochtenen Entscheid aufzuheben und zur Neubeurteilung an die Vorinstanz oder<br />

an die erste Instanz zurückzuweisen (Art. 107 Abs. 2 BGG). Der Entscheid hat also<br />

reformatorische oder kassatorische Wirkung.<br />

Bei einer Beschwerde gegen einen kantonalen Entscheid kommt i.d.R. nur eine Kassation<br />

(Aufhebung) des verfassungswidrigen Rechtssatzes in Frage.<br />

Die Aufhebung einer kantonalen Rechtsnorm wirkt für alle potentiellen Normadressaten, also wie<br />

wenn das Rechtsetzungsorgan des betreffenden Kantons die Norm aufgehoben hätte.<br />

Bei der Gutheissung der Beschwerde gegen einen Entscheid wird nur der Anwendungsakt<br />

aufgehoben, auch wenn das Urteil faktisch wie eine Aufhebung der Norm selber wirkt.<br />

Bei Stimmrechtsbeschwerden muss die Möglichkeit, dass eine Abstimmung oder Wahl ohne den<br />

Mangel anders ausgefallen wäre, unter den gesamten Umständen eine gewisse Grösse besitzen.<br />

67


§65 Durchsetzung des Verfassungsrechts mit Klage ans Bundesgericht<br />

I. ALLGEMEINES<br />

Das BGer entscheidet auch über staatsrechtliche Streitigkeiten, die mit dem Rechtsmittel der<br />

Klage bei ihm anhängig gemacht werden (Art. 120 BGG).<br />

Die Klage dient nicht dem Schutz von Individualrechten und Interessen von Einzelnen, sondern<br />

dem Schutz von Regelungen, die im öffentlichen Interesse aufgestellt worden sind.<br />

Als Parteien kommen nur Gemeinwesen in Betracht.<br />

II. KOMPETENZKONFLIKTE ZWISCHEN BUND UND KANTONEN (ART. 120 ABS. 1 LIT. A BGG)<br />

Kompetenzstreitigkeiten sind Streitigkeiten darüber, ob ein Gegenstand in den<br />

Kompetenzbereich des Bundes oder in den der Kantone gehört. Die Klage nach Art. 120 BGG<br />

stellt das verfahrensrechtliche Instrument zum Schutz der föderalistischen Kompetenzordnung<br />

dar.<br />

Streitigkeiten zwischen den obersten Bundesbehörden werden von der BVers entschieden (Art.<br />

173 Abs. 1 lit. i BV).<br />

Es gibt verschiedene Arten von Kompetenzstreitigkeiten:<br />

a) Kompetenzkonflikte in der Rechtsetzung und in der Rechtsanwendung: Ein Konflikt betrifft<br />

die Rechtsetzung, wenn der Bund und mind. ein Kanton dieselbe<br />

Rechtsetzungskompetenz beanspruchen.<br />

Bei einem Konflikt in der Rechtsanwendung beanspruchen der Bund und mind. ein Kanton<br />

die gleiche Rechtsprechungs- oder Verwaltungskompetenz.<br />

b) Positive und negative Kompetenzkonflikte: Beim positiven Zuständigkeitskonflikt wird eine<br />

bestimmte Kompetenz gleichzeitig vom Bund und von mind. einem Kanton beansprucht.<br />

Beim negativen Konflikt wird eine Kompetenz gleichzeitig vom Bund und von mind. einem<br />

Kanton abgelehnt.<br />

c) Kompetenzkonflikte über ergangene und in Vorbereitung stehende Akte: Es muss ein<br />

aktueller Kompetenzkonflikt vorliegen, um klagen zu können.<br />

Der Bund kann gegen alle Rechtsetzungs-, Gerichts- und Verwaltungsakte der Kantone klagen.<br />

Die Kantone hingegen können aufgrund von Art. 190 BV lediglich Bundesbeschlüsse,<br />

Verordnungen der BVers, des BR und anderer Exekutivbehörden des Bundes sowie alle Gerichts-<br />

und Verwaltungsakte des Bundes anfechten.<br />

Für verfahrensrechtliche Besonderheiten siehe Buch N. 2059-2063<br />

III. ÖFFENTLICH-RECHTLICHE STREITIGKEITEN ZWISCHEN KANTONEN (ART. 120 ABS. 1 LIT. B<br />

BGG)<br />

Der dem Art. 120 Abs. 1 lit. b BGG zugrunde liegender Begriff der öffentlich-rechtlichen<br />

Streitigkeit meint diesbezüglich alle Arten. Auch verwaltungsrechtliche Streitigkeiten gehören<br />

dazu. Beispiele im Buch N. 2065.<br />

Für die Beurteilung von öffentlich-rechtlichen Streitigkeiten zwischen Kantonen stellt da BGer auf<br />

bundesrechtliche Vorschriften über die Beziehungen zwischen den Kantonen, auf Bestimmungen<br />

der interkantonalen Verträge sowie subsidiär auf (für den Bundesstaat modifizierte) Normen des<br />

Völkerrechts ab.<br />

68<br />

N. 2045-2048<br />

N. 2049-2063<br />

N. 2064-2069


N. 2069a<br />

Als Parteien treten die Kantone oder interkantonale Organe auf. Die Kantone werden durch die<br />

Kantonsregierungen vertreten. Bei Streitigkeiten aus interkantonalen Verträgen können nur die<br />

dem betreffenden Vertrag zugehörigen Kantone Parteien sein.<br />

IV. ÖFFENTLICH-RECHTLICHE STREITIGKEITEN ZWISCHEN BUND UND KANTONEN (ART. 120 ABS.<br />

1 LIT. B BGG)<br />

Unter diese Art von Streitigkeiten fallen alle Arten von öffentlich-rechtlichen Streitigkeiten, die<br />

nicht zu den Kompetenzkonflikten im Sinne von Art. 120 Abs. 1 lit. a BGG gehören.<br />

Bei der Beurteilung solcher Streitigkeiten kommen die bundesrechtlichen Bestimmungen über<br />

das Verhältnis von Bund und Kantonen zur Anwendung.<br />

Als Parteien stehen sich Bund und Kantone gegenüber, welche durch den BR bzw. die<br />

Kantonsregierungen vertreten werden.<br />

69


§66 Akzessorisches Prüfungsrecht<br />

I. BEGRIFF UND ALLGEMEINES<br />

Das akzessorische Prüfungsrecht bedeutet das Recht von Gerichten und Verwaltungsbehörden,<br />

die von ihnen anzuwendenden generellen Rechtssätze im Zusammenhang mit einem konkreten<br />

Rechtsanwendungsakt vorfrageweise auf ihre Rechtmässigkeit (einschliesslich<br />

Verfassungsmässigkeit) hin zu überprüfen und im Fall der Rechtswidrigkeit nicht anzuwenden.<br />

Wenn Gerichte oder Verwaltungsbehörden einen Rechtssatz auf einen konkreten Tatbestand<br />

anwenden, haben sie nicht nur zu untersuchen, wie die Rechtsnorm im konkreten Fall richtig<br />

anzuwenden ist, sondern sie können <strong>–</strong> soweit ein akzessorisches Prüfungsrecht besteht <strong>–</strong> auch<br />

prüfen, ob der anzuwendende Rechtssatz seinerseits rechtmässig ist. Die Überprüfung der<br />

Rechtmässigkeit ist allerdings nicht die Haupt- sondern nur die Vorfrage. Akzessorisch bedeutet,<br />

dass das Prüfungsrecht zu einem auf einen Rechtsanwendungsakt ausgerichteten Verfahren<br />

hinzutritt (lat. accedere: „hinzutreten“). Das akzessorische Prüfungsrecht wird auch konkrete<br />

Normenkontrolle genannt.<br />

Das akzessorische Prüfungsrecht ist weder in der BV noch in einem Bundesgesetz ausdrücklich<br />

vorgesehen. Es wird mit der Begründung anerkannt, dass Normen, die zu einer übergeordneten<br />

Norm im Widerspruch stehen, keine Geltung beanspruchen können („lex superior derogat legi<br />

inferiori“). Auch auf Art. 5 Abs. 1 BV (Recht ist Grundlage und Schranke staatlichen Handelns)<br />

wird das akzessorische Prüfungsrecht gestützt.<br />

Die akzessorische Überprüfung kann einerseits auf Begehren einer Partei erfolgen, andererseits<br />

haben Gerichte und Verwaltungsbehörden sie von Amtes wegen auszuüben, wenn sich Zweifel<br />

an der Rechtmässigkeit einer Norm ergeben. Dort wo das Rügeprinzip (vgl. N. 2039) gilt,<br />

überprüft das BGer die Norm nur auf Rüge des Beschwerdeführers hin.<br />

Grundsätzlich können Gerichts- und Verwaltungsbehörden in jedem<br />

Rechtsanwendungsverfahren das akzessorische Prüfungsrecht ausüben, weshalb dieses Recht<br />

einer grossen Zahl von Gerichts- und Verwaltungsbehörden verschiedener Stufe zusteht.<br />

Das akzessorische Prüfungsrecht führt nicht zur formellen Aufhebung von Rechtsnormen (dies ist<br />

ausschliesslich Sache der zuständigen Rechtsetzungsorgane), sondern dient lediglich dazu, den<br />

betreffenden Rechtssatz als rechtswidrig zu erklären und ihm in dem konkreten Fall die<br />

Anwendung zu versagen.<br />

II. PRÜFUNGSRECHT GEGENÜBER NORMEN DES KANTONALEN RECHTS<br />

Kantonale Normen sind sowohl auf ihre Übereinstimmung mit höherrangigem kantonalem Recht<br />

als auch auf ihre Übereinstimmung mit Bundesrecht zu prüfen.<br />

1. Prüfung der Übereinstimmung mit kantonalem Recht<br />

Die Zulässigkeit der akzessorischen Prüfung bestimmt sich in erster Linie nach kantonalem Recht.<br />

Einige Kantonsverfassungen weisen die kantonalen Gerichte ausdrücklich an, Erlassen die<br />

Anwendung zu versagen, die Bundesrecht oder kantonalem Verfassungs- oder Gesetzesrecht<br />

widersprechen.<br />

Auch Verwaltungsbehörden können u.U. befugt sein, eine akzessorische Prüfung vorzunehmen.<br />

Widersprechen Verordnungen dem Gesetz oder der Kantonsverfassung, sind sie weder von den<br />

Gerichten noch von den Verwaltungsbehörden anzuwenden. Jedoch darf eine<br />

70<br />

N. 2070-2079<br />

N. 2080-2085


N. 2086-2099<br />

Verwaltungsbehörde eine Verordnung der ihr vorgesetzten Behörde nicht überprüfen (ausser bei<br />

offensichtlicher Rechtswidrigkeit).<br />

2. Prüfung der Übereinstimmung mit dem Bundesrecht<br />

Kantonale Rechtsnormen, die dem Bundesrecht widersprechen, sind ungültig (Art. 49 Abs. 1 BV;<br />

vgl. N. 1191 ff.). Grundsätzlich sind alle Gerichte und Verwaltungsbehörden des Bundes und der<br />

Kantone berechtigt und verpflichtet, kantonale Rechtsnormen auf ihre Übereinstimmung mit<br />

dem Bundesrecht zu überprüfen. Diese Überprüfung erfolgt von Amtes wegen. Eine Ausnahme<br />

besteht bei der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten ans BGer, weil dieses sich<br />

streng auf die Rügen des Beschwerdeführers beschränkt.<br />

Gemäss BGer können aber die Normen der Kantonsverfassungen nur dann auf ihre<br />

Übereinstimmung mit dem Bundesrecht hin überprüft werden, wenn das übergeordnete<br />

Bundesrecht erst nach deren Gewährleistung durch die BVers in Kraft getreten ist (vgl. N. 1029<br />

ff.).<br />

III. PRÜFUNGSRECHT GEGENÜBER NORMEN DES BUNDESRECHTS<br />

1. Einschränkung des Prüfungsrechts durch Art. 190 BV<br />

Gemäss Art. 190 BV müssen Bundesgesetze und Völkerrecht unabhängig von einer allfälligen<br />

Verfassungswidrigkeit angewendet werden. Dem BGer ist es aber nicht verwehrt, im Rahmen der<br />

Urteilsbegründung Kritik an den von ihm anzuwendenden gesetzlichen Regelungen zu üben.<br />

Da Völkerrecht nach Art. 190 BV ebenso massgebend ist wie Bundesgesetze, darf der Richter im<br />

Konfliktfall einem Bundesgesetz wegen Verstosses gegen Völkerrecht die Anwendung versagen<br />

(vgl. N. 1926, 1926a).<br />

2. Überprüfbare Normen des Bundesrechts<br />

Alle Bundeserlasse, die in Art. 190 BV nicht erwähnt werden, dürfen vom BGer, anderen<br />

Gerichten des Bundes, den kantonalen Gerichten sowie grundsätzlich auch den mit<br />

Rechtsprechung betrauten Verwaltungsinstanzen überprüft werden.<br />

- Bundesbeschlüsse: Allerdings für Akte nicht rechtsetzender Natur vorgesehen, weshalb eine<br />

akzessorische Prüfung wohl kaum zum Zug kommen kann.<br />

- Verordnungen der BVers: I.S.v. Art. 163 Abs. 1 BV. Ist der Inhalt der Verordnung jedoch durch<br />

ein Bundesgesetz gedeckt, hat das BGer dem Willen des Gesetzgebers zu folgen.<br />

- Verordnungen des BR und der Bundesverwaltung: Gilt auch für den Fall, dass die Verordnung<br />

des BR von der BVers genehmigt worden ist. Allerdings kann eine Verordnung des BR oder<br />

einer anderen Bundesbehörde nicht direkt und selbständig vor dem BGer angefochten<br />

werden (Ausnahme: Klage eines Kantons nach Art. 120 Abs. 1 lit. a oder b BGG). Soweit der<br />

Inhalt einer Verordnung durch ein Bundesgesetz gedeckt ist, gilt Art. 190 BV.<br />

Selbständige Verordnungen des BR: Beruht die Ermächtigung auf der BV, gilt das<br />

akzessorische Prüfungsrecht grundsätzlich unbeschränkt. Der politische<br />

Entscheidungsspielraum darf allerdings nicht durch die Ordnungsvorstellungen des<br />

BGer eingeschränkt werden.<br />

Bei Vollziehungsverordnungen gilt Art. 190 BV, soweit diese die Regelung des Gesetzes<br />

übernehmen und konkretisieren. Sonst würde gegen Art. 190 BV indirekt verstossen.<br />

Unselbständige Verordnungen des BR: Diese unterstehen in beschränktem Ausmass dem<br />

Anwendungsgebot. Es ist abzuklären, ob sich der BR an die Grenzen der ihm im Gesetz<br />

eingeräumten Befugnisse gehalten hat. Was nicht durch das Gesetz gedeckt wird, kann<br />

überprüft werden. Weite Ermessensspielräume gilt es jedoch zu beachten.<br />

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