Das Titelbild („Der Baum“) wurde auf einem ... - Afrikanet.info
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<strong>Das</strong> <strong>Titelbild</strong> (<strong>„Der</strong> <strong>Baum“</strong>) <strong>wurde</strong> <strong>auf</strong> <strong>einem</strong> Studientag der kamerunischen Jeunesse Étudiante<br />
Chrétienne über Jesus von Nazareth 1984 in Yaoundé angefertigt. Der Künstler, die Künstlerin<br />
ist jedoch nicht bekannt. Laut I.-M. Ewondo, dem Sekretär der JEC Camerounaise, stellt dieses<br />
Bild eine Zusammenfassung der theologischen Gedanken Jean-Marc Elas dar.
Theologische Fakultät der Universität Heidelberg<br />
Referent: Prof. Dr. Kristian Hungar<br />
THEOLOGIE UNTER DEM BAUM<br />
Jean-Marc Elas Ansatz einer kontextuellen afrikanischen<br />
Befreiungstheologie<br />
MAGISTERARBEIT<br />
vorgelegt vor der<br />
theologischen Fakultät der<br />
Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg<br />
von<br />
Rolf Köhler-Friedrichs<br />
E-Mail: rkfrie@web.de<br />
22. Januar 1996
Dieser europäische Reichtum ist buchstäblich skandalös, denn er ist <strong>auf</strong> dem Rücken der Sklaven<br />
errichtet worden, er hat sich vom Blut der Sklaven ernährt, er stammt in direkter Linie vom<br />
Boden und aus der Erde dieser unterentwickelten Welt. Der Wohlstand und der Fortschritt Europas<br />
sind mit dem Schweiß und den Leichen der Neger, der Araber, der Inder und der Gelben<br />
errichtet worden. Wir haben beschlossen, das nicht mehr zu vergessen. ...<br />
Die Massen Europas müssen sich darüber klar werden, daß sie sich in den kolonialen Fragen<br />
oft, allzuoft mit unseren gemeinsamen Herren verbündet haben. Heute müssen sie sich entscheiden,<br />
sie müssen <strong>auf</strong>wachen, zu <strong>einem</strong> neuen Bewußtsein kommen ...<br />
... Unabhängigkeit ist ... eine unentbehrliche Lebensbedingung der wirklich befreiten Männer<br />
und Frauen, das heißt der Herren über alle materiellen Mittel, die eine radikale Veränderung<br />
der Gesellschaft möglich machen. ...<br />
Verlassen wir dieses Europa, das nicht <strong>auf</strong>hört, vom Menschen zu reden, und ihn dabei niedermetzelt,<br />
wo es ihn trifft, an allen Ecken seiner eigenen Straßen, an allen Ecken der Welt.<br />
Ganze Jahrhunderte lang hat Europa nun schon den Fortschritt bei anderen Menschen <strong>auf</strong>gehalten<br />
und sie für seine Zwecke und zu s<strong>einem</strong> Ruhm unterjocht; ganze Jahrhunderte hat es im<br />
Namen eines angeblichen „geistigen Abenteuers“ fast die gesamte Menschheit erstickt. Seht, wie<br />
es heute zwischen der atomaren und der geistigen Auflösung hin und her schwankt.<br />
Und trotzdem kann man von ihm sagen, daß es alles erreicht hat.<br />
Mit Energie, Zynismus und Gewalt hat Europa die Führung der Welt übernommen. ... Jede<br />
Bewegung Europas hat die Grenzen des Raumes und des Denkens gesprengt. ...<br />
Dieses Europa, das niemals <strong>auf</strong>gehört hat, vom Menschen zu reden, niemals <strong>auf</strong>gehört hat, zu<br />
verkünden, es sei nur um den Menschen besorgt: wir wissen heute, mit welchen Leiden die<br />
Menschheit jeden der Siege des europäischen Geistes bezahlt hat.<br />
... Europa hat endgültig ausgespielt, es muß etwas anderes gefunden werden. ...<br />
... Die europäischen Errungenschaften, die europäische Technik, der europäische Stil dürfen uns<br />
nicht mehr in Versuchung führen und aus dem Gleichgewicht bringen.<br />
Wenn ich in der europäischen Technik und im europäischen Stil den Menschen suche, stoße ich<br />
<strong>auf</strong> eine Folge von Negationen des Menschen, <strong>auf</strong> eine Lawine von Morden. ...<br />
... Im Namen des Geistes, des europäischen Geistes ..., hat Europa seine Verbrechen gerechtfertigt<br />
und die Versklavung legitimiert, welcher es vier Fünftel der Menschheit unterworfen hatte.<br />
Ja, der europäische Geist hat merkwürdige Grundlagen. <strong>Das</strong> europäische Denken ist <strong>auf</strong> immer<br />
ödere und abschüssigere Bahnen geraten. So <strong>wurde</strong> es ihm zur Gewohnheit, immer weniger <strong>auf</strong><br />
den Menschen zu stoßen.<br />
Ein permanenter Dialog mit sich selbst, ein immer obszönerer Narzißmus haben einer Art Delirium<br />
das Bett bereitet, in dem die Arbeit des Gehirns zum Leiden wird, weil die Realitäten gar<br />
nicht mehr die des lebendigen, arbeitenden und sich schaffenden Menschen sind, nur noch Wörter,<br />
verschiedene Zusammenstellungen von Wörtern, die Spannungen der in den Wörtern enthaltenen<br />
Bedeutungen. Es haben sich dennoch Europäer gefunden, die die europäischen Arbeiter<br />
<strong>auf</strong>riefen, diesen Narzißmus zu zerstören und mit dieser Entwicklung zu brechen.<br />
Die europäischen Arbeiter sind diesen Appellen im Allgemeinen nicht gefolgt, denn auch sie<br />
glaubten sich von dem wunderbaren Abenteuer des europäischen Geistes betroffen.<br />
Alle Elemente einer Lösung der großen Probleme der Menschheit sind zu verschiedenen Zeiten<br />
im Denken Europas <strong>auf</strong>getaucht. Aber in s<strong>einem</strong> Handeln hat der europäische Mensch die ihm
zufallende Mission nicht erfüllt: mit aller Gewalt <strong>auf</strong> diese Elemente zu setzen, ihre Anordnung,<br />
ihr Sein zu modifizieren, sie zu verändern und schließlich das Problem des Menschen <strong>auf</strong> eine<br />
ungleich höhere Stufe zu heben.<br />
... Nehmen wir die Frage des Menschen wieder <strong>auf</strong>. ...<br />
... Nein, es handelt sich nicht um eine Rückkehr zur Natur. Es handelt sich ganz konkret darum,<br />
die Menschen nicht <strong>auf</strong> Wege zu zerren, <strong>auf</strong> denen sie verstümmelt werden, dem Gehirn keinen<br />
Rhythmus <strong>auf</strong>zuzwingen, der es rasch auslöscht und zerrüttet. ...<br />
Für die ... Welt geht es darum, eine Geschichte des Menschen zu beginnen, die den von Europa<br />
einst vertretenen großartigen Lehren, aber zugleich auch den Verbrechen Europas Rechnung<br />
trägt, von denen das verabscheuungswürdigste gewesen sein wird: beim Menschen die pathologische<br />
Zerstückelung seiner Funktionen und die Zerstörung seiner Einheit; beim Kollektiv der<br />
Bruch, die Spaltungen; und schließlich <strong>auf</strong> der unermeßlichen Ebene der Menschheit der<br />
Rassenhaß, die Versklavung, die Ausbeutung und vor allem der unblutige Völkermord, nämlich<br />
das Beiseiteschieben von anderthalb Milliarden Menschen. ...<br />
Wenn wir jedoch wollen, daß die Menschheit ein Stück vorwärts kommt, wenn wir sie <strong>auf</strong> eine<br />
andere Stufe heben wollen als die, die Europa innehat, dann müssen wir wirkliche Erfindungen<br />
machen.<br />
FRANTZ FANON, Die Verdammten der Erde<br />
Jean-Marc Ela (1994)
Inhaltsverzeichnis<br />
VORWORT 8<br />
EINLEITUNG 12<br />
Biographischer Zugang 12<br />
Hermeneutischer Zugang 18<br />
Der literarische Niederschlag der théologie sous l’arbre und die Quellen der<br />
vorliegenden Arbeit 23<br />
„Forschungsstand“ 25<br />
Die Bedeutung des Begriffes „théologie sous l’arbre“ 27<br />
1 JEAN-MARC ELAS BIOGRAPHIE IN VERSCHRÄNKUNG MIT DER<br />
ENTWICKLUNG SEINER THEOLOGISCHEN REFLEXION 32<br />
1.1 Die Wurzeln 33<br />
1.2 "Unter dem Baum": der Geburtsort der théologie sous l’arbre (Tokombéré;<br />
1971-1985) 37<br />
Exkurs: Baba Simon - der „Barfuß-Apostel“ von Nordkamerun 37<br />
Exkurs: Die Geschichte der Fulbe in Kamerun 39<br />
1.3 Vom „Afrika der Dörfer“ in die Hauptstadt (Yaoundé; seit 1985) 49<br />
2 DER KONTEXT DER THÉOLOGIE SOUS L’ARBRE 53<br />
2.1 Überblick über die globale Situation Afrikas: „Eine Art geo-politische<br />
Apartheid“ 58<br />
Exkurs zur Dependenztheorie 68<br />
2.2 Jean-Marc Elas Analyse der afrikanischen Missionsgeschichte 70<br />
Exkurs: Die Theologie Ruben Um Nyobés 81<br />
2.3 Die sozio-kulturelle Bedeutung der traditionellen afrikanischen Religion 84<br />
2.4 Die Ahnenverehrung in Schwarzafrika 97<br />
2.5 Der afrikanische Symbolismus 103<br />
2.6 Jean-Marc Elas sozio-ökonomische Analyse des Gesundheitssystems in<br />
Afrika 109<br />
Exkurs: Ökologischer Kontext 117<br />
2.7 Widerstand 117
3 HERMENEUTIK UND METHODE DER THÉOLOGIE SOUS L’ARBRE -<br />
DER EPISTEMOLOGISCHE BRUCH 124<br />
3.1 Einleitung 124<br />
3.2 „Prämissen“ 126<br />
3.2.1 Biographischer Hintergrund: Erfahrung einer „persönlichen Befreiung“ 127<br />
3.2.2 <strong>„Der</strong> Einbruch der Armen in die Geschichte“ - der Aufbruch der Dritten<br />
Welt<br />
128<br />
3.3 „Theologische Praxis“ 130<br />
3.3.1 Ausgangspunkt: Befreiendes Engagement als Praxis des Glaubens - der<br />
„hermeneutische Ort“ der Theologie 130<br />
3.3.2 Sozio-analytische Vermittlung: Kontext-Analyse 133<br />
3.3.3 Hermeneutische Vermittlung: Biblische Orientierung und eine afrikanische<br />
Sprache des Glaubens 137<br />
3.3.4 Praktische Vermittlung: Revision und Strategie der Befreiung - ein<br />
relevanter Glaube 146<br />
3.4 „Konkretionen“ - Praxisebenen 152<br />
3.4.1 Jean-Marc Ela als Missionar 152<br />
3.4.2 Jean-Marc Ela als Pastoralarbeiter 153<br />
3.4.3 Jean-Marc Ela als Theologe bzw. als theologischer Schriftsteller 154<br />
3.5 Konsequenzen 154<br />
3.5.1 Ende des theologischen Monopols des Westens 155<br />
3.5.2 Hermeneutische Konflikte 155<br />
3.5.3 Dialog 155<br />
4 DIE BIBLISCH-THEOLOGISCHEN GRUNDLAGEN DER THÉOLOGIE<br />
SOUS L’ARBRE 156<br />
4.1 Schöpfung 156<br />
4.2 Exodus 164<br />
4.3 Kreuz 173<br />
4.4 Eucharistie - Feier des Heils in <strong>einem</strong> Kontext des Unheils 179<br />
4.5 Gemeinschaft 187<br />
4.6 Reich Gottes 197<br />
4.7 Die theologischen Grundlagen der théologie sous l’arbre in ihrem<br />
Zusammenhang - Versuch einer Systematisierung 208
5 DIE PRAXIS DER THÉOLOGIE SOUS L’ARBRE AM BEISPIEL VON<br />
JEAN-MARC ELAS ANALYSE UND KRITIK DES „KULTURELLEN<br />
ROMANTIZISMUS“ 211<br />
Exkurs: Aimé Césaires Kritik der „Bantu-Philosophie“ 228<br />
SCHLUß 232<br />
Fragen an die théologie sous l’arbre 232<br />
Die théologie sous l’arbre als Herausforderung für Theologie in der Ersten Welt<br />
233<br />
ANHANG<br />
I<br />
Jean-Marc Elas Biographie - ein tabellarischer Abriß<br />
I<br />
Bibliographie<br />
III<br />
Bücher von Jean-Marc Ela<br />
III<br />
In Zeitschriften, Sammelbänden und Konferenzakten publizierte Beiträge von<br />
Jean-Marc Ela<br />
III<br />
Interviews mit Jean-Marc Ela<br />
V<br />
Übersetzungen<br />
V<br />
Literatur über Jean-Marc Ela<br />
VI<br />
Sekundärliteratur<br />
VII<br />
Kamerun (Geschichte und Gegenwart)<br />
VII<br />
Afrika allgemein (inklusive Missions- und Kolonialgeschichte)<br />
VIII<br />
Erste Welt und Dritte Welt<br />
Afrikanische Theologie<br />
Theologie allgemein (inklusive Philosophie)<br />
Belletristik<br />
Hilfsmittel<br />
Abkürzungsverzeichnis<br />
IX<br />
IX<br />
XI<br />
XIII<br />
XIV<br />
XIV
Vorwort<br />
Ein Theologieprofessor, dem ich von dem Vorhaben erzählte, meine Magisterarbeit<br />
über einen afrikanischen Theologen zu schreiben, meinte, daß dieses ein „sehr exotisches<br />
Thema“ sei. Soweit ich dies übersehen kann, steht er mit dieser Einschätzung<br />
nicht allein. Dritte-Welt-Theologien sind noch lange kein fester, selbstverständlicher<br />
Bestandteil des theologischen Wissenschaftsbetriebes, das Interesse daran scheint<br />
ziemlich gering zu sein. Der theologische Buchmarkt ist hierfür wohl ein guter Indikator,<br />
ganz zu schweigen davon, daß es so etwas wie eine „Einsicht in die Notwendigkeit“<br />
der Auseinandersetzung mit theologischen Entwürfen und Ansätzen aus der Dritten<br />
Welt gäbe - und dies zu einer Zeit, da die Mehrheit der ChristInnen nicht mehr im<br />
Westen, sondern in der Dritten Welt anzutreffen sind!<br />
Auf der anderen Seite sind ökumenisch <strong>auf</strong>geschlossene TheologInnen - vorrangig aus<br />
dem Bereich der Missionswissenschaft - inzwischen zu der Erkenntnis gelangt, daß<br />
nordatlantische Theologie nicht die „Theologie an sich“ ist, sondern eine unter vielen -<br />
sofern es einmal gestattet sei, die in diesem mehr oder weniger homogenen kulturellen<br />
Kontext entstandenen Theologien ‚unter einen Hut zu stecken‘. Wie könnte es denn im<br />
Grunde auch anders sein? Jeder kulturelle Kontext hat ihm eigene Lebensweisen,<br />
Denkstrukturen, Wertvorstellungen, Symbole ..., was notwendigerweise ein je spezifisches<br />
Verständnis von Kirche, Bibel, Glaube und Theologie bedingt - es sei denn, die<br />
ChristInnen und TheologInnen aus nicht-europäischen Kontexten sind inzwischen ,bis<br />
ins Mark‘ europäisiert.<br />
Wem es tatsächlich noch um „Wahrheit“ geht, dem kann es nicht gleichgültig sein, wie<br />
ChristInnen in anderen Kontexten ihren Glauben verstehen. „Die Wahrheit hat viele<br />
Farben.“ Es mag zwar eine „absolute Wahrheit“ geben, doch als solche ist sie k<strong>einem</strong><br />
und niemanden verfügbar. Es gibt immer nur einen relativen Zugang zur Wahrheit,<br />
vielleicht auch nur relative Wahrheiten. Wer meint und proklamiert, er sei im Besitz<br />
der absoluten Wahrheit, der verabsolutiert nur sich selbst und versucht letztlich nichts<br />
anderes, als seine Herrschaft über andere zu legitimieren, ja sogar zu sakralisieren -<br />
wenn er sich denn dabei auch noch <strong>auf</strong> „göttliche Autorität“ beruft. Einen solchen<br />
Menschen ließe sich nur schwerlich überzeugen - auch durch die besten Argumente<br />
nicht. Hier wäre eine Umkehr, eine „Bekehrung“, vonnöten - was in der Tat ein wahres<br />
Wunder wäre. Lassen sich für ein solches günstige(re) Voraussetzungen schaffen? ...<br />
Einen solchen Anspruch maße ich mir mit der vorliegenden Arbeit freilich nicht an. Sie<br />
soll in erster Linie einen Theologen und eine Theologie aus <strong>einem</strong> anderen Kontext<br />
vorstellen: Die „théologie sous l’arbre“ („Theologie unter dem <strong>Baum“</strong>) von Jean-Marc<br />
Ela: katholischer Priester, Theologe und Soziologe aus Kamerun. Wenn diese Studie<br />
gleichzeitig das Interesse weckt, sich selbst weiter mit diesem Theologen, mit dieser<br />
Theologie zu beschäftigen - oder auch ganz allgemein mit Theologie aus der Dritten<br />
Welt - und vielleicht dazu anregt, sich Gedanken darüber zu machen, was dies alles für<br />
uns bedeutet, dann wäre die Arbeit nicht umsonst gewesen ... - Ganz umsonst ist sie<br />
jedenfalls schon von daher nicht gewesen, daß mir das Thema diesen Aufwand wert
9<br />
war: In Jean-Marc Ela begegnet uns ein brillanter Denker, was allein schon die Lektüre<br />
zu <strong>einem</strong> gewissen intellektuellen Vergnügen macht, auch wenn - oder vielleicht gerade<br />
weil - er selbst keinen wissenschaftlichen Anspruch nach europäischen Standards an<br />
seine theologischen Reflexionen stellt, und trotz dessen, daß die Themen, die er reflektiert<br />
und die zentral um die schwarzafrikanische Lebenswirklichkeit kreisen, nicht<br />
gerade amüsant sind.<br />
Der Aufbau dieser Arbeit gestaltet und erklärt sich folgendermaßen:<br />
In der Einleitung gebe ich eine Antwort <strong>auf</strong> die Frage, wer das denn eigentlich ist, der<br />
da eine Arbeit über einen afrikanischen Theologen schreibt und wie er zu s<strong>einem</strong> Thema<br />
gekommen ist (biographischer Zugang). Weiterhin geht es mir um die Frage, ob<br />
ein unvoreingenommener Zugang zu Dritte-Welt-Theologie für Menschen aus der<br />
Ersten Welt überhaupt möglich ist und wie im Kontext des internationalen Herrschaftsgefälles<br />
von „Nord“ nach „Süd“ ein zumindest ansatzweise herrschaftsfreier<br />
Diskurs möglich sein könnte (hermeneutischer Zugang). Es folgen einige Bemerkungen<br />
zu den Publikationen und zur Publikationspraxis von Jean-Marc Ela, zu der dieser<br />
Arbeit zugrunde liegenden Literatur und zur - dürftigen - Sekundärliteratur. Abgeschlossen<br />
wird die Einleitung mit einer Erläuterung der Bedeutung des Begriffs der<br />
„théologie sous l’arbre“.<br />
<strong>Das</strong> erste Kapitel ist Jean-Marc Elas Biographie gewidmet, insbesondere im Zusammenhang<br />
mit der Entstehung der théologie sous l’arbre und <strong>auf</strong> dem Hintergrund einiger<br />
in dieser Hinsicht wichtigen Daten aus der kamerunischen Geschichte.<br />
Im zweiten Kapitel skizziere ich den Kontext der théologie sous l’arbre aus der Perspektive<br />
von Jean-Marc Ela. Dies geschieht durch die Darstellung exemplarischer<br />
Analysen von Jean-Marc Ela, wodurch nicht nur ein Eindruck vom afrikanischen Kontext<br />
im allgemeinen vermittelt wird, sondern auch über die Themen, an denen sich<br />
Jean-Marc Elas theologischen Reflexionen entzünden.<br />
Danach folgt der eigentliche Hauptteil dieser Arbeit, der dreigeteilt ist in je ein Kapitel<br />
über die theologische Methode, die theologischen Inhalte und die Praxis der théologie<br />
sous l’arbre:<br />
<strong>Das</strong> dritte Kapitel ist eines der zentralen Kapitel dieser Arbeit. Es ist der Versuch einer<br />
Rekonstruktion von Jean-Marc Elas Hermeneutik bzw. der Methode der théologie<br />
sous l’arbre. Kennzeichnend ist hier der epistemologische Bruch mit der nordatlantischen<br />
Theologie und die Kontextualität dieser Theologie. Auf der theoretischen Ebene<br />
beruht diese <strong>auf</strong> einer sozio-ökonomischen Analyse auch religiös-kultureller Phänomene,<br />
<strong>auf</strong> der praktischen Ebene <strong>auf</strong> <strong>einem</strong> solidarischen Engagement an der Seite der<br />
„Verdammten der Erde“. Im Zusammenhang mit der „Option für die Armen“ ist hier<br />
insbesondere die erkenntnistheoretische Bedeutung der Armen und Unterdrückten von<br />
Bedeutung.<br />
<strong>Das</strong> vierte Kapitel über die zentralen theologischen Themen der théologie sous l’arbre<br />
ist eine Darstellung derjenigen spezifisch „theologischen“ Themen, denen sich Jean-<br />
Marc Ela explizit gewidmet hat: Schöpfung, Exodus, Kreuz, Eucharistie, Gemeinschaft
10<br />
und Reich Gottes. All diese Thema kreisen um die „semantische Achse“ der Offenbarung<br />
Gottes in der Geschichte, wobei sich diese in <strong>einem</strong> historischen Kontext, der von<br />
Beherrschung und Unterdrückung geprägt ist, als Befreiung bzw. als Befreiungsgeschichte<br />
manifestiert.<br />
<strong>Das</strong> fünfte Kapitel konzentriert sich <strong>auf</strong> die Praxis der théologie sous l’arbre. Während<br />
das vorhergehende Kapitel die wesentlichsten theologischen Inhalte der théologie sous<br />
l’arbre gesondert im Blick hatte, geht es in diesem Kapitel um die zusammenhängende<br />
Darstellung des Prozesses der theologischen Praxis am konkreten Beispiel von Jean-<br />
Marc Elas Analyse und Kritik der Négritude.<br />
Im Schlußkapitel formuliere ich Fragen an die théologie sous l’arbre, die sich aus einer<br />
westlichen Perspektive stellen, die an sich selbst einen bewußt kritischen Anspruch<br />
stellt, und offeriere einige abschließende Reflexionen, die den Bogen zu unserem Kontext<br />
in der Ersten Welt wieder schließen: Sie versuchen, die théologie sous l’arbre als<br />
eine Herausforderung an Erste-Welt-Theologie zu begreifen, und zu formulieren, worin<br />
diese Herausforderung bestehen könnte. Diese dürfte wohl vorrangig darin bestehen,<br />
daß wir herausgefordert sind, eine unserem Kontext gemäße Befreiungstheologie zu<br />
entwickeln, die sich zwischen den Polen „Befreiung der Unterdrückten“ - „Befreiung<br />
der Unterdrücker“ bewegen müßte.<br />
Müßte eine solche Befreiungstheologie im Kontext der Ersten Welt angesichts unserer<br />
säkularen Gesellschaft vielleicht eine Art „religionsloses Christentum“ im Auge haben?<br />
Vielleicht sogar explizit religionskritisch sein - einerseits bezüglich unserer Vorstellungen<br />
von Gott und ihrer sozialen Verankerung, andererseits angesichts der (pseudo-)religiösen<br />
Aura, die das Kapital und der „Markt“ um sich verbreiten? Soviel zumindest<br />
dürfte gewiß sein, daß am Anfang eine „Relektüre“ unseres Kontextes im<br />
Licht der Bibel und unseres Glaubens stehen muß ... Oder steht womöglich auch dieser<br />
unser Glaube noch <strong>auf</strong> der Anklagebank? Wenn Glaube mit einer bestimmten Praxis<br />
korrespondiert, woran glauben wir dann - von unserer tatsächlichen Praxis her betrachtet:<br />
Gott oder Mammon?!? Daß wir in der Ersten Welt - unterderhand - einer neuen<br />
Konfession bzw. sogar Religion huldigen - dies ist mithin eine der schärfsten Anklagen,<br />
die uns von seiten vieler Dritte-Welt-TheologInnen treffen!<br />
Danksagung<br />
Verschiedenen Leute bin ich zu Dank verpflichtet. An erster Stelle sei hier meine Frau Meike<br />
Friedrichs genannt, die nach der Geburt unseres jüngsten Kindes Erziehungs-„Urlaub“ genommen<br />
hat und es mir so erst ermöglichte, mich - entbunden meiner „Hausmannspflichten“ - dieser<br />
Arbeit und dem Abschluß meines Studiums zu widmen.<br />
Des weiteren danke ich Erika Engelbrecht, Theo Haag-Bühnemann und Matthias Stöckle für das<br />
Korrekturlesen des Manuskriptes (bzw. einzelner Teile daraus) und Yan-Christoph Pelz für die<br />
Überprüfung der Übersetzungen aus dem Französischen und der französischen Zitate.<br />
Schließlich bin ich auch Jan P. Heijke zu Dank verpflichtet, der als einziger Europäer bisher eine<br />
zusammenhängende Darstellung des Werkes von Jean-Marc Ela <strong>auf</strong> dem Hintergrund seines<br />
Kontextes vorgelegt hat und dem ich von daher einige wichtige Anregungen und Hinweise ver-
11<br />
danke, die die Mühe, mich - neben dem Französischen als der Sprache, in der Jean-Marc Ela<br />
publiziert, auch - ins Niederländische einzulesen, letztlich reichlich <strong>auf</strong>wiegen.<br />
Hinweis für den Leser und die Leserin<br />
Auch wenn die einzelnen Kapitel logisch <strong>auf</strong>einander <strong>auf</strong>bauen, so stellt dennoch jedes Kapitel<br />
für sich genommen insoweit eine selbständige Einheit dar, daß es - sofern bei LeserInnen das<br />
Interesse besteht - erst einmal auch unabhängig von den anderen gelesen werden kann.<br />
Die Übersetzungen fremdsprachiger, niederländischer und v.a. französischer, Texte stammen<br />
von mir [R.K.-F.]. Soweit vorhanden, erfolgten sie in Anlehnung an bereits existierende Übersetzungen.<br />
Die Klammerverweise <strong>auf</strong> diese Übersetzungen bedeuten nicht notwendig wörtliche<br />
Übernahme, sondern sind nur ein Hinweis <strong>auf</strong> den jeweiligen Ort einer zitierten Textpassage in<br />
der entsprechenden Übersetzung.<br />
Die Zitate von Bibelstellen lehnen sich für die griechische Bibel an die revidierte Lutherübersetzung,<br />
die Neue Zürcher Bibel und/oder die Einheitsübersetzung an, für die hebräische Bibel sind<br />
sie der „Verdeutschung“ von Buber/Rosenzweig übernommen.<br />
Die verwendeten Abkürzungen sind die allgemein üblichen, werden in Klammern erläutert oder<br />
sind im Abkürzungsverzeichnis <strong>auf</strong>geführt.<br />
Ob Hervorhebungen von mir oder aus der zitierten Quelle stammen, ist aus dem Zitat in den<br />
Fußnoten ersichtlich, das inklusive aller Hervorhebungen original wiedergegeben wird. Hervorhebungen<br />
in Zitaten deutscher Texte werden nur dann gekennzeichnet, wenn sie von mir stammen.
Einleitung<br />
Biographischer Zugang<br />
Um meinen persönlichen Zugang zum Thema dieser Arbeit transparent zu machen,<br />
gebe ich zu Beginn einen Überblick über meinen biographischen Hintergrund - gewissermaßen<br />
über das, was „vor“ dem geschriebenen „Wort“ des folgenden Textes steht.<br />
Zugleich sollen meine Anliegen und Interessen bei der Auseinandersetzung mit „Dritte-Welt-Theologie“<br />
1 deutlich werden.<br />
Die Offenlegung meines persönlichen Zugangs zum Thema dieser Arbeit mag zwar für<br />
eine wissenschaftliche Arbeit ungewöhnlich erscheinen, sie ist mir jedoch insofern<br />
wichtig, als sie das ganze Vorhaben „relativiert“, d.h. bewußt und explizit in Bezug<br />
setzt zu mir als Autor, dessen Interessen, Perspektive und Art und Weise des Zugangs<br />
den Gegenstand der Untersuchung mitbestimmen. Der Sinn dieser Relativierung - d.h.<br />
der Explizierung der Relativität (bzw. Relationalität) von „Forschungs-Subjekt“ und<br />
„Forschungs-Objekt“ - besteht darin, daß eine falsche Verabsolutierung der Position<br />
des (angehenden) Wissenschaftlers vermieden werden soll. Diese ist weder absolut<br />
noch (wert)neutral oder universal und kann auch niemals über allen Zweifel erhaben<br />
sein. Vielleicht könnte die Position eines Wissenschaftlers bzw. einer Wissenschaftlerin<br />
„universal“ sein in dem Sinn, daß er oder sie an <strong>einem</strong> weltweiten Diskussionszusammenhang<br />
teilnimmt, wobei der herrschende internationale Diskurs jedoch nur die<br />
,halbe Wahrheit‘ ist. „Universal“ könnte er sich erst dann nennen, wenn die marginalisierten<br />
bzw. ausgegrenzten Stimmen - diejenigen aus der Peripherie, aber auch diejenigen<br />
der anderen ausgegrenzten Gruppen, wie z.B. der Frauen - angemessene Partizipationsmöglichkeiten<br />
hätten. Auf eine dieser Stimmen hinzuweisen und sie darzustellen,<br />
ist eine Intention der vorliegenden Arbeit.<br />
Diese Überlegungen treffen sich mit dem, was Nicole P. Zunhammer in ihrem Artikel über Hermeneutik<br />
im Wörterbuch der feministischen Theologie als den „Ausgangspunkt für eine neue<br />
menschgemäße Hermeneutik“ beschreibt. Dieser besteht insbesondere in der „Verdeutlichung<br />
der Perspektive“: <strong>„Der</strong> eigene Standpunkt bestimmt bewußt den Blickwinkel, aus welchem ein<br />
Sachverhalt betrachtet wird. Zudem wird eine Veränderung des gesamten wissenschaftlichen<br />
Paradigmas (und damit verbunden eine Umverteilung der Machtverhältnisse) gefordert, denn:<br />
Wie kann Wissenschaft allgemeingültig sein, wenn sie nur von <strong>einem</strong> Teil der Menschheit und<br />
nach dessen Normgefüge ausgeübt wird?“ 2 Dies gilt in gleicher Weise für die Frauen wie für die<br />
1<br />
2<br />
Mit „Dritte-Welt-Theologie“ meine ich - in Anlehnung an das Selbstverständnis von TheologInnen aus<br />
der Dritten Welt, wie es z.B. in der Arbeit von EATWOT (Ecumenical Association of Third World Theologians)<br />
zum Ausdruck kommt - die Theologie von solchen TheologInnen, die Theologie bewußt von ihren<br />
kulturellen Wurzeln her und in kritischem Bezug zu ihrem jeweiligen („Dritte Welt“-) Kontext<br />
betreiben.<br />
NICOLE P. ZUNHAMMER, Art. Hermeneutik, in: ELISABETH GÖSSMANN, ELISABETH MOLTMANN-WENDEL u.a.<br />
(Hg.), Wörterbuch der feministischen Theologie, Gütersloh (Mohn), 1991, 183-186, S. 184. Vgl. auch
Einleitung 13<br />
Mehrheit der Menschen aus der Dritten Welt als auch für marginalisierte und ausgegrenzte Bevölkerungsschichten<br />
in der Ersten Welt - so würde ich hinzufügen - und verlangt in letzter Konsequenz<br />
ein neues wissenschaftliches Paradigma. Da es eine wirklich wertfreie Wissenschaft<br />
nicht geben kann, wird das bewußte Einnehmen eines „advocacy-stance“ und dessen Offenlegung<br />
zu <strong>einem</strong> wichtigen Kriterium für wissenschaftliches Arbeiten - und ist zugleich ein Ausdruck<br />
wissenschaftlicher Redlichkeit.<br />
Von gelegentlichen Kindergottesdienstbesuchen abgesehen begann meine christliche<br />
Sozialisation erst mit meiner Konfirmandenzeit. Zu dieser Zeit machte ich mir zum<br />
ersten Mal Gedanken über Gott. Ich fragte mich damals, ob es Gott gebe oder nicht,<br />
konnte jedoch zu keiner Entscheidung über seine Existenz kommen. Dessenungeachtet<br />
kam ich zu dem Schluß, daß, egal ob es Gott gibt oder nicht 3 , zumindest an den Zehn<br />
Geboten ,etwas dran‘ ist, insofern sie <strong>auf</strong> sozial gerechte Verhältnisse hinausl<strong>auf</strong>en.<br />
Der christliche Kontext, in den ich hineinsozialisiert worden war, ist das pietistisch-evangelikal<br />
geprägte Christentum des nördlichen Landkreises von Karlsruhe. Stichworte: Erweckungsbewegung<br />
Henhöfers und regelmäßige Henhöfertage, AB-Gemeinschaften und Bibelstunden, Bibelschule<br />
Adelshofen und Evangelisationen ...<br />
Früh schon hatte ich ein starkes Interesse für die Bibel entwickelt, ich wollte sie - damals<br />
noch in <strong>einem</strong> vermeintlich wörtlichen Sinn - verstehen und ernst nehmen. Wohl<br />
<strong>auf</strong>grund meiner Erfahrung dessen, was es heißt, in einer reichen Gesellschaft arm zu<br />
sein, war ich schon zu dieser Zeit sensibel für sozialkritische Bibeltexte, die von den<br />
Evangelikalen geflissentlich übersehen bzw. mehr oder weniger bewußt zurechtgestutzt<br />
werden. Wie sich später erweisen sollte, lag darin eine gewisse Sprengkraft für<br />
die pietistisch-evangelikalen ,Fesseln‘, durch die mein Verständnis des christlichen<br />
Glaubens gebunden war. 4<br />
3<br />
4<br />
ihren Beitrag über Feministische Hermeneutik in: CHRISTINE SCHAUMBERGER und MONIKA MAAßEN, Handbuch<br />
Feministische Theologie, Münster (Morgana Frauenbuchverlag), 1986, 256-284.<br />
Später, im L<strong>auf</strong>e meines Theologiestudiums, bin ich <strong>auf</strong> PAUL TILLICH gestoßen, der bemerkt: „Es ist<br />
ebenso Atheismus, die Existenz Gottes zu behaupten, wie es Atheismus ist, sie zu leugnen“ (Systematische<br />
Theologie I, Berlin (de Gruyter), 1987, S. 275). So bin ich inzwischen zu der Auffassung gekommen,<br />
daß die „Existenz“ Gottes im Kontext unserer okzidentalen Vorstellungen von Sein keine Denkmöglichkeit<br />
ist und die Frage danach irrelevant. Mehr noch, nichts, was existiert, kann je den Anspruch<br />
erheben, Gott zu sein. Und wenn doch, dann ist dies nichts anderes als ein „Gott-Nichts“ (Buber), ein<br />
Götze - was freilich noch nichts über dessen gesellschaftliche Wirksamkeit aussagt, ist doch nach<br />
CHRISTOPH TÜRCKE „die Aufrechterhaltung der Kapitalzirkulation ein gigantischer Fetischdienst [...], ein<br />
gesamtgesellschaftlicher Gottesdienst, der nicht nur sonntags zwischen zehn und elf stattfindet, sondern<br />
rund um die Uhr, und auch die zur Teilnahme zwingt, die seinen Fetischcharakter durchschauen; denn<br />
auch die müssen leben“ (Kassensturz. Zur Lage der Theologie, Frankfurt am Main (Fischer), 1992, S.<br />
31).<br />
Meine pietistisch-evangelikale Prägung ist sicher nicht zu leugnen, jedoch ist sie, wie ich denke, mittlerweile,<br />
geläutert‘: Noch immer ist es mir wichtig, die Bibel zu verstehen, jedoch ist mir heute klar, daß<br />
dies ohne Berücksichtigung der verschiedenen Kontexte - einerseits der literarische und historische<br />
(d.h.: kulturelle, soziale, ökonomische und politische) Kontext der Bibel und andererseits der Kontext<br />
des Interpreten bzw. der Interpretin - unmöglich ist, ein intuitives Verständnis (z.B. <strong>auf</strong> der Grundlage<br />
ähnlicher Kontexte; vgl. z.B. <strong>Das</strong> Evangelium der Bauern von Solentiname) einmal ausgenommen. Auch<br />
die Bibel ernst zu nehmen, ist mir noch immer ein Anliegen, jedoch heißt dies für mich heute gerade<br />
auch, Kritik zu äußern, v.a. immanente („Kanon im Kanon“, besser: „semantische Achsen“; innere Widersprüche),<br />
aber auch eine solche, die von aktuellen Erfahrungen und Problemstellungen ausgeht (z.B.<br />
im Sinn einer „Hermeneutik des Verdachts“). Dies setzt die Anerkennung der Tatsache voraus, daß die<br />
Bibel selbst (und insbesondere als Kanon) das Produkt von Machtkämpfen und Interessenskonflikten ist,<br />
die sich in verschiedenen (konträren) Traditionen widerspiegeln. - Ein Beispiel: Ich frage mich, ob in
Einleitung 14<br />
Verbunden mit m<strong>einem</strong> Wunsch nach sozialer Gerechtigkeit, den ich durch die Bibel<br />
bestätigt sah und deshalb durch keinerlei Ausflüchte relativieren wollte, war mein<br />
Interesse für die „Dritte Welt“ 5 . So egoistisch war ich denn doch nicht, daß ich nur mir<br />
ein besseres Leben wünschte ..., was allerdings auch ganz „unbiblisch“ gewesen wäre!<br />
Vielleicht stand dabei eine intuitive Ahnung des strukturellen Zusammenhangs der<br />
Situationen in der Ersten und der Dritten Welt im Hintergrund.<br />
Diesen ,Ballast‘ nahm ich mit ins Theologiestudium - wobei dieser ,Ballast‘ sicherlich<br />
mit ein Grund war, dieses Studium überhaupt erst <strong>auf</strong>zunehmen. Von diesen Voraussetzungen<br />
her lag die Wahl folgender Schwerpunkte für mein Studium nahe: Exegese<br />
(und damit zusammenhängend: Hermeneutik), der Komplex Wirtschaft und Theologie,<br />
Ökumene (im Sinn von Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung für die<br />
durch Ungerechtigkeit und Kriege zerrissene und durch die ,Ökumene‘ des Weltmarktes<br />
pervertierte Welt) und Dritte-Welt-Theologien 6 . Von da aus war es nicht schwierig,<br />
<strong>auf</strong> Jean-Marc Ela und die théologie sous l’arbre zu stoßen.<br />
Der eigentliche Anlaß, mich für das Thema „théologie sous l’arbre“ zu entscheiden,<br />
war ein anderer: 1991 fand eine Konferenz der Afrika-Region des WSCF statt, bei der<br />
die damalige Ökumene-Referentin der ESG, Angela König, zu Gast war. Dort kam,<br />
v.a. <strong>auf</strong> Initiative von Luc-Norbert Kenné, Mitarbeiter im Jugendsekretariat des kamerunischen<br />
Kirchenrates (FEMEC), die Idee zu <strong>einem</strong> multinationalen Projekt zur gemeinsamen<br />
Geschichte von Kamerun, Namibia und Deutschland <strong>auf</strong>. Gemeinsame<br />
Geschichte heißt in diesem Zusammenhang: deutscher Kolonialismus, Missionsbemühungen<br />
deutscher Missionsgesellschaften und heutige wirtschaftliche, politische und<br />
kirchliche Beziehungen zwischen den betreffenden Ländern. Im Rahmen der letzteren<br />
5<br />
6<br />
der Christologie nicht schon späteres Unheil des Christentums angelegt ist, nämlich durch die Vergöttlichung<br />
eines Menschen. Zumindest die Tatsache, daß aus dem „Verkündiger“ ein „Verkündigter“ <strong>wurde</strong><br />
und nun selbst der Inhalt der Verkündigung ist, wobei der Inhalt seiner Verkündigung - das „Reich<br />
Gottes“! - untergeht, ist doch sehr fragwürdig.<br />
Auch wenn dem Begriff „Dritte Welt“ schon immer etwas Unbefriedigendes anhaftete und mittlerweile<br />
gar verschiedentlich von <strong>einem</strong> „Ende der Dritten Welt“ gesprochen wird, ist dies dennoch nicht Grund<br />
genug, diesen Terminus sofort zu verwerfen. Nach dem Ende der Ost-West-Konfrontation hat er als ein<br />
politischer Begriff weiterhin eine gewisse Berechtigung, denn an der Grundkonstellation eines Weltzusammenhangs,<br />
der wesentlich durch einen vermachteten kapitalistischen Weltmarkt bestimmt ist, ändert<br />
sich dadurch nichts. Die globale Hegemonialstruktur - <strong>auf</strong> sozialer, kultureller, wirtschaftlicher<br />
und politischer Ebene - und die damit verbundene ungleiche Verteilung von Lebenschancen zwischen<br />
„Norden“ und „Süden“ besteht ungebrochen weiter. Und solange dieser Nord-Süd-Konflikt existiert,<br />
kann nicht ernsthaft von <strong>einem</strong> „Ende der Dritten Welt“ gesprochen werden; vgl. DIETER NOHLEN und<br />
FRANZ NUSCHELER, Ende der Dritten Welt?, in: DIES. (Hg.), Handbuch der Dritten Welt; Bd. 1: Grundprobleme<br />
- Theorien - Strategien, Bonn (Dietz), 3., völlig neu bearbeitete Aufl. 1992, 14-30; REINHART KÖß-<br />
LER und HENNING MELBER, Chancen internationaler Zivilgesellschaft, Frankfurt am Main (edition suhrkamp),<br />
1993, 30-42 (Abschnitt: <strong>Das</strong> Ende der „Dritten Welt“?).<br />
Den ersten Kontakt mit afrikanischer Theologie hatte ich im Rahmen eines Seminars von WOLFGANG<br />
GERN über Glaubensbekenntnisse in Kirchen in der Dritten Welt, wo ich mich schwerpunktmäßig mit<br />
afrikanischer Theologie - und insbes. mit dem Gedicht Mein Glaube als Afrikaner von GABRIEL SETILOANE<br />
- auseinandersetzte. - Bei meiner erstmaligen Konfrontation mit (der lateinamerikanischen) Befreiungstheologie<br />
hatte ich ein ,Aha-Erlebnis‘: Mir ging <strong>auf</strong>, daß diese Theologie der Bibel viel näher ist und den<br />
sozialen und politischen Herausforderungen durch die Bibel viel eher entspricht als ‚klassische‘ Theologie<br />
(eine Ausnahme bilden vielleicht u.a. die Religiösen SozialistInnen, sofern mensch ihre Theologie zu<br />
‚klassischer‘ Theologie hinzurechnet).
Einleitung 15<br />
ist das Projekt angesiedelt, das den Namen CANAAL (CAmeroun - NAmibie - ALlemagne)<br />
trägt. Internationaler Projektkoordinator ist Luc-Norbert Kenné.<br />
CANAAL ist der Versuch, zum einen die deutsche Kolonial- und Missionsgeschichte <strong>auf</strong>zuarbeiten,<br />
zum anderen, „Partnerschaft von unten“ einzuüben bzw. zu praktizieren. 1993 begann die<br />
konkrete inhaltliche Arbeit in den Projektgruppen der jeweiligen Länder. In Deutschland war das<br />
Projekt anfangs an die Ökumene-Kommission der ESG angebunden, in der ich mitarbeite. Mittlerweile<br />
hat sich daraus ein eigenständiges ESG-Projekt entwickelt (mit demselben Namen wie<br />
das Gesamtprojekt: CANAAL).<br />
Vom 7.-28. März 1994 fand ein erstes Begegnungstreffen in Kamerun statt. Auf dem<br />
Auswertungsworkshop in Yaoundé hielt Jean-Marc Ela ein Referat über die Soziale<br />
Krise als Herausforderung für die christliche Jugend 7 . Bei diesem Anlaß konnte ich<br />
ihn persönlich erleben. Dieser international bekannte Theologe und Soziologe, der<br />
auch bei vielen in Deutschland lebenden StudentInnen aus Kamerun 8 - zumindest bei<br />
denen, die dem Regime in ihrem Heimatland kritisch gegenüberstehen - hoch angesehen<br />
ist, hat bei mir einen Eindruck von äußerster Bescheidenheit hinterlassen.<br />
Insofern meine Partizipation am CANAAL-Projekt mich letztendlich dazu bewogen<br />
hat, mich für Jean-Marc Elas Theologie als Thema der vorliegenden Arbeit zu entscheiden,<br />
ist diese im Rahmen dieses Projektes und als aus diesem erwachsen zu verstehen.<br />
Jean-Marc Ela gilt als ein exponierter Vertreter einer afrikanischen Theologie, die <strong>auf</strong><br />
originäre Weise die Ansätze einer Inkulturations- und einer Befreiungstheologie miteinander<br />
verbindet (d.h., die beiden Hauptströmungen afrikanischer Theologie). Zusätzlich<br />
interessant macht seine Theologie, daß sie Berührungspunkte und Beziehungen<br />
auch zu anderen Dritte-Welt-Theologien <strong>auf</strong>weist. Publik-Forum legt Jean-Marc<br />
Ela in den Mund, der Vater der Befreiungstheologie überhaupt zu sein (wenn auch<br />
nicht des Namens), also schon vor Gustavo Gutiérrez (der der Vater des Namens sei)<br />
eine Befreiungstheologie der Sache nach projektiert zu haben. 9 Gegenüber diesen<br />
,Superlativen‘ fällt es <strong>auf</strong>, daß im deutschen Sprachraum eine Auseinandersetzung mit<br />
Jean-Marc Ela und seiner Theologie praktisch fehlt 10 . Dieser Sachverhalt fordert geradezu<br />
eine Untersuchung der Theologie Jean-Marc Elas heraus.<br />
7<br />
8<br />
9<br />
10<br />
JEAN-MARC ELA, Soziale Krise als Herausforderung für die christliche Jugend, ansätze 6/94, 20-23.<br />
Für die Arbeit der deutschen Projektgruppe ist es übrigens sehr fruchtbar, daß in ihr auch in Deutschland<br />
lebende StudentInnen aus Kamerun integriert sind.<br />
THOMAS SEITERICH-KREUZKAMP, Wie die Kirdi den Tod Gottes überwanden. Interview mit Jean-Marc Ela,<br />
dem Begründer der afrikanischen Befreiungstheologie, Publik-Forum 23 (1994), Nr. 9, 21-23 [im folgenden<br />
zitiert als: THOMAS SEITERICH-KREUZKAMP]. - Zum Vergleich mit GUSTAVO GUTIÉRREZ vgl. auch<br />
RASOLONJATOVO MARTIAL, La théologie sous l’arbre ou une inculturation Camerounaise du révélé<br />
chrétien, Aspects du Christianisme à Madagascar 5 (1993), Nr. 3, 122-132, S. 122: „‚La théologie de la<br />
libération‘ est ainsi à Gustavo Gutierrez, ce que ‚la théologie sous l’arbre‘ est à Jean-Marc Ela.“<br />
Bei HERIBERT RÜCKER, „Afrikanische Theologie“. Darstellung und Dialog (Innsbrucker theologische<br />
Studien; Bd. 14), Innsbruck, Wien (Tyrolia-Verlag), 1985 [zitiert als: DERS., „Afrikanische Theologie“],<br />
und selbst bei ULRIKE LINK-WIECZOREK, Reden von Gott in Afrika und Asien: Darstellung und Interpretation<br />
afrikanischer Theologie im Vergleich mit der koreanischen Minjung-Theologie (Forschungen zur<br />
systematischen und ökumenischen Theologie; Bd. 60), Göttingen (Vandenhoeck & Ruprecht), 1991<br />
(zugl.: Diss. Uni. Heidelberg, 1989) [zitiert als: DIES., Reden von Gott in Afrika und Asien], wird Jean-<br />
Marc Ela nur am Rande erwähnt, in der jüngst erschienenen Theologiegeschichte Afrikas von JOHN
Einleitung 16<br />
Dritte-Welt-Theologien im allgemeinen und Befreiungstheologien im besonderen stellen für uns<br />
in der Ersten Welt in verschiedener Hinsicht eine Herausforderung dar: 1.) Angesichts der Devise:<br />
„Kann denn aus der Peripherie etwas Gutes kommen?“ lassen sich diese Theologien als eine<br />
Herausforderung unserer rassistischen und kulturimperialistischen Prädispositionen verstehen;<br />
2.) konfrontieren uns diese Theologien mit dem biblischen Umkehrruf und erinnern uns an die<br />
historischen Dimensionen des Reiches Gottes - sie üben in dieser Hinsicht eine prophetische<br />
Funktion aus; 3.) stellen sie grundsätzlich die theologische Methode und Hermeneutik nordatlantischer<br />
Theologie in Frage - sie lassen sich daher als eine Anfrage im Hinblick <strong>auf</strong> Wissenschaftlichkeit,<br />
Wissenschaftstheorie und Epistemologie im allgemeinen verstehen; 4.) schließlich<br />
erinnern uns Dritte-Welt-Theologien an die Tatsache der Existenz einer Dritten Welt und ermöglichen<br />
so vielleicht den „Einbruch der Armen“ in Bewußtsein und Denken von uns Erste-Welt-<br />
TheologInnen - möglicherweise entdecken wir dann auch eine Dritte Welt in der Ersten und<br />
deren theologische Relevanz.<br />
Abschließen möchte ich diese einleitenden Vorbemerkungen über meinen biographischen<br />
Hintergrund und die Interessen, die mich bei der Beschäftigung mit Dritte-Welt-<br />
Theologie begleiten und sicher auch durch diesen Prozeß mit geprägt sind, mit einer -<br />
grob gezeichneten - Darlegung meines theologischen Vorverständnisses, von dem her<br />
ich mich der théologie sous l’arbre nähere. 11 Ich schließe dabei an die oben erwähnten<br />
Überlegungen über die Existenz Gottes an:<br />
Aufgrund der Bedingungen der Möglichkeit unserer Erfahrung haben wir - aus transzendentalphilosophischer<br />
Perspektive betrachtet - keinen Zugang zu Gott <strong>auf</strong> dem Weg<br />
der Vernunft; ihr ist Gott nicht existent, zumindest jedoch jenseitig, auch wenn er dem<br />
Glauben als Schöpfer und damit als Grund allen Seins und somit auch der Vernunft<br />
gilt. Eine wissenschaftliche Erkenntnis Gottes ist daher nicht möglich: Gott gibt es<br />
nicht als Gegenstand wissenschaftlich-theoretischer Vernunft. 12 Auf dieser Ebene lassen<br />
sich nur (Negativ-)Aussagen machen über das, was nicht „Gott“ sein kann. Hinter<br />
Kant und die Religionskritik läßt sich meiner Ansicht nach nicht zurückgehen. 13 Jede<br />
Aussage über „Gott“ ist zuallererst eine Aussage über den Menschen, sowohl als individuelles<br />
wie auch als gesellschaftliches Wesen. Ihre Wahrheit läßt sich <strong>auf</strong> der theoretischen<br />
Ebene weder beweisen noch widerlegen. Sie erweist oder widerlegt sich durch<br />
ihre ,Früchte‘, also <strong>auf</strong> der Ebene der Praxis und der menschlichen Beziehungen, die<br />
gesellschaftliche sind: Ermöglichen sie ein gelingendes bzw. gutes Leben in Fülle oder<br />
nicht, bewirken sie vielleicht sogar gerade das Gegenteil?<br />
11<br />
12<br />
13<br />
PARRATT, Theologiegeschichte der Dritten Welt. Afrika, München (Kaiser), 1991 [zitiert als: DERS., Theologiegeschichte],<br />
nicht einmal im recht umfangreichen Literaturverzeichnis <strong>auf</strong>geführt.<br />
Es geht hier tatsächlich nur um die Offenlegung meines theologischen Vorverständnisses und nicht um<br />
eine Thematisierung oder Diskussion der angesprochenen philosophisch-theologischen Probleme. Ihr<br />
Sinn ist die (andeutungsweise) Benennung meines persönlichen Standes des Versuchs, eine Lösung <strong>auf</strong><br />
diese Probleme zu finden.<br />
Es wäre im übrigen ein sehr kleiner, beherrschbarer „Gott“, der sich wissenschaftlich beweisen bzw.<br />
widerlegen ließe. Darüber hinaus hätte diese Erkenntnis nur begrenzte (theoretische) Gültigkeit, deren<br />
Grenzen durch die Grenzen der - partikulären - westlichen Kultur bestimmt sind, deren Produkt - und<br />
Art und Weise des Weltverständnisses - die (westliche) Wissenschaft ist. Gott läßt sich von ihr also<br />
nicht vereinnahmen, auch nicht in negativem Sinn (durch Widerlegung seiner „Existenz“).<br />
Dies schließt freilich eine weiterführende Kritik nicht aus (z.B. sah Kant meiner Meinung nach den die<br />
Erkenntnis der Wirklichkeit determinierenden kategorialen Rahmen zu statisch und unhistorisch).
Einleitung 17<br />
Einen „Zugang“ zu Gott haben wir von daher am ehesten <strong>auf</strong> der Ebene der gesellschaftlichen<br />
Praxis. Hier manifestiert sich, was den Menschen „Gott“ ist. Ist es nun ein<br />
Innerweltliches, das die Gesellschaft durch ihre Praxis - bzw. durch die Weise ihrer<br />
Organisation - zum „Gott“ erhebt (z.B. Markt, Kapital), dann praktiziert sie einen „gesamtgesellschaftlichen<br />
Gottesdienst“, der ein Götzendienst bzw. Fetischismus ist, mitsamt<br />
den verheerenden Folgen (sprich: Opfer), die ein solcher mit sich bringt. 14 Wie<br />
läßt sich ein solcher „Gott-Nichts“ identifizieren? - daran, daß etwas Innerweltlichem<br />
Absolutheit zugeschrieben wird bzw. daß dieses Absolutheit für sich beansprucht,<br />
nicht nur <strong>auf</strong> der ideologischen Ebene und <strong>auf</strong> der Ebene der Werte, sondern auch <strong>auf</strong><br />
der praktischen.<br />
Ethisch bedeutet dies, daß jede Verabsolutierung, z.B. eines bestimmten Gesellschaftsmodells<br />
15 , widergöttlich ist und damit unmenschlich. Die Menschen dürfen<br />
nicht als Objekte <strong>einem</strong> herrschenden System ausgeliefert bleiben, das letztlich doch<br />
nur das System der Herrschenden ist und allein diesen nutzt. Der biblische Begriff der<br />
„Sklaverei der Sünde“ liegt hier nahe, der verwandt ist mit dem befreiungstheologischen<br />
Terminus der „strukturellen Sünde“ und mit dem der „strukturellen Gewalt“. Es<br />
muß in der Hand der Menschen selbst liegen, in freier Vereinbarung die Bedingungen<br />
ihres gesellschaftlichen Zusammenlebens zu bestimmen, zu gestalten und zu transformieren.<br />
Für den Kampf mit dem Ziel, dies zu ermöglichen und menschenwürdige und<br />
gerechte Verhältnisse zu schaffen, steht die Rede vom „befreienden Gott wider die<br />
Götzen der Unterdrückung“.<br />
<strong>Das</strong> Ende widergöttlicher Verabsolutierung und absoluter Herrschaft bedingt zugleich<br />
das Ende jeglicher relativen Herrschaft. Wenn nur „einer“ Gott und ,Herr‘ ist 16 , der mit<br />
nichts Weltlichem gleichgesetzt werden kann, dann hat kein Mensch das Recht, über<br />
einen anderen Menschen zu herrschen. Sich irgendeiner Herrschaft zu beugen - auch<br />
der eines Systems oder von bestimmten Strukturen -, die nicht die des „Gottes des<br />
Lebens“ ist, stellt Idolatrie (Götzendienst) dar. Sich als Herrscher über andere Menschen<br />
zu erheben, ist im Grunde Wahnsinn, da sich ein Mensch (unmögliche) Göttlichkeit<br />
anmaßt.<br />
Eine praktische Konsequenz hiervon ist, daß der Entscheidungsprozeß über die Gestaltung und<br />
Organisierung des gesellschaftlichen Zusammenlebens und insbesondere der Ökonomie als der<br />
materiellen Grundlage des Lebens der Menschen <strong>auf</strong> eine Art basisdemokratischer Konsensfindung<br />
abl<strong>auf</strong>en muß, d.h., daß alle das gleiche Recht haben, sich mit ihren Bedürfnissen und<br />
Fähigkeiten einzubringen, und daß gegen niemandes Veto eine Entscheidung getroffen werden<br />
darf. Eine solche weitestgehend herrschaftsfreie Ordnung ermöglicht und erfordert zugleich ein<br />
hohes Maß an Verantwortlichkeit der einzelnen Menschen. Sie ermöglicht Verantwortung, weil<br />
die Gestaltung ihrer Lebensbedingungen recht unmittelbar in den Händen der Menschen selbst -<br />
in und als Gemeinschaft - liegt. Sie erfordert ein hohes Maß an Verantwortung, weil unter sol-<br />
14<br />
15<br />
16<br />
Interessant ist hierbei, daß die Verurteilung afrikanischer Religionen als purer Götzendienst und Fetischismus<br />
durch die europäischen und nordamerikanischen Missionare jetzt die okzidentale Gesellschaft<br />
selbst trifft. MARX’ Fetischismusanalyse sollte einmal in diesem Zusammenhang betrachtet werden.<br />
Vgl. z.B. die Rede vom „Ende der Geschichte“ oder von <strong>einem</strong> „besten der bekannten Gesellschafts- und<br />
Wirtschaftsmodelle“ u.ä.<br />
Vgl. z.B. 1 Sam 8.
Einleitung 18<br />
chen Verhältnissen z.B. mit <strong>einem</strong> Veto nicht leichtfertig umgegangen werden kann, da dadurch<br />
eine Gemeinschaft erheblich gefährdet sein könnte.<br />
Vielleicht könnte ein solcher Ansatz, der <strong>auf</strong> positive Aussagen über Gott weitestgehend<br />
verzichtet und sich vor allem <strong>auf</strong> die Diffamierung der Vergöttlichung von „Gott-<br />
Nichtsen“ und der Verabsolutierung von positiven Gottesvorstellungen beschränkt,<br />
„negative Theologie“ genannt werden.<br />
Mit diesen theologischen „Gehversuchen“ nähere ich mich also der Theologie von<br />
Jean-Marc Ela. Die Perspektive, aus der heraus ich versuche, Jean-Marc Ela und die<br />
théologie sous l’arbre zu verstehen und die somit einen konstitutiven Faktor meines<br />
Verstehenshorizontes bildet, ist der „Hunger und Durst nach Gerechtigkeit“, die Sehnsucht<br />
nach einer gerechteren Welt. Der Rahmen, innerhalb dessen ich Jean-Marc Ela<br />
einzuordnen versuche, bzw. ein Kriterium, an dem ich seine Theologie messe, ist von<br />
daher sein Beitrag zu einer befreienden Theologie und letztendlich zu einer gerechteren<br />
Welt bzw. zur Befreiung von allen Formen der Unterdrückung, von allen Strukturen,<br />
Institutionen und internalisierten Werten, die uns Menschen unterdrücken.<br />
Hermeneutischer Zugang 17<br />
Bei der Auseinandersetzung mit Dritte-Welt-Theologie ist es notwendig, sich als Erste-<br />
Welt-Theologe bzw. Erste-Welt-Theologin Rechenschaft abzulegen über unsere Verstehensvoraussetzungen,<br />
und zwar aus verschiedenen Gründen: Zunächst einmal geht<br />
es um eine Theologie aus <strong>einem</strong> uns fremden Kontext, dessen Menschen eine uns<br />
fremde Kultur pflegen und andere Vorstellungen von der Welt und von <strong>einem</strong> guten<br />
Leben haben. Daß dies heute nicht mehr ungebrochen so der Fall ist - Stichwort: Europäisierung<br />
der Welt und weltweite Verbreitung der Wertvorstellungen der westlichen<br />
Zivilisation -, führt uns zu einer weiteren wichtigen Voraussetzung für unseren Zugang<br />
zu Dritte-Welt-Theologie. Hinter uns liegt eine rund fünfhundertjährige Geschichte der<br />
europäischen Expansion, die ein weites Spektrum von Phänomenen umfaßt, die noch<br />
heute <strong>auf</strong> die eine oder andere Weise weiterwirken: Kolonialismus und Kolonialkriege,<br />
christliche Mission, Neokolonialismus, Eurozentrismus, Rassismus, SklavInnenjagd<br />
und -handel (Dreieckshandel) - das gesamte System der Sklaverei 18 -, Vernichtung<br />
ganzer Völker, Kulturen, Gesellschaften, Ökonomien und politischer Organisationen<br />
und die Zurichtung der Überlebenden <strong>auf</strong> europäische Bedürfnisse - oder noch präziser:<br />
<strong>auf</strong> die Profitinteressen des westlichen Kapitals, legitimiert im Namen der Zivilisation<br />
und der Religion, unter Mithilfe der Wissenschaft ... Dies alles blieb nicht ohne<br />
Rückwirkungen <strong>auf</strong> Europa selbst: Zu diesen gehören die Ermöglichung der Industria-<br />
17<br />
18<br />
Der Gebrauch des Begriffes „Hermeneutik“ ist nicht in dem Sinn der Applikation eines bestimmten<br />
Modells von Hermeneutik bzw. einer besonderen Hermeneutik (z.B. Gadamers) zu verstehen, sondern<br />
im Sinn einer allgemeinen „Lehre vom Verstehen“, die zugleich die Reflexion über die Bedingungen der<br />
Möglichkeit von Verstehen impliziert. - Ohne Zweifel ist der vorgeschlagene Ansatz bei der Hermeneutik<br />
inspiriert durch die Entwicklung einer durch die Kritische Theorie beeinflußten „Neuen Hermeneutik“.<br />
Die Sklaverei war nicht nur Unrecht und Verbrechen gegen die betroffenen Menschen, sondern auch<br />
eine gewaltige Stigmatisierung der Menschen aus Afrika - in historischen Dimensionen -, an deren Folgen<br />
sie bis heute zu tragen haben (Rassismus, „SklavInnenmentalität“).
Einleitung 19<br />
lisierung durch die „ursprüngliche Akkumulation“ 19 , die Verfestigung des Überlegenheitsgefühls<br />
des Westens in jeglicher Hinsicht und die Fundierung des Rassismus im<br />
besonderen und die „Hausfrauisierung“ 20 der europäischen Frauen. 21<br />
Die <strong>auf</strong> diesem nur knapp angedeuteten historischen Hintergrund beruhenden heutigen<br />
globalen Dominanzverhältnisse 22 - Nord-Süd, Mann-Frau, Rassismus u.a. - sind der<br />
Kontext, in dem eine Rezeption von Dritte-Welt-Theologie durch Erste-Welt-<br />
TheologInnen stattfindet, insofern Dritte-Welt-Theologie hier in der Ersten Welt überhaupt<br />
Beachtung findet. Denn wenn z.B. hier in Deutschland nicht-deutsche TheologInnen<br />
rezipiert werden, dann stammen diese in erster Linie ebenfalls aus der Ersten<br />
Welt - von der Missionswissenschaft und einigen Ausnahmen einmal abgesehen. Sofern<br />
also ein Dialog mit Dritte-Welt-Theologie tatsächlich intendiert wird, stehen diesem<br />
- soll er ein gleichberechtigter und darüber hinaus herrschaftsfreier sein - erhebliche<br />
Hindernisse entgegen, derer mensch sich erst einmal bewußt sein muß, um dann<br />
den Versuch, sie zu überwinden, unternehmen zu können.<br />
Ein weiterer zu berücksichtigender Aspekt ist ein theologischer: Der Verlust der gesellschaftlichen<br />
Unschuld der Theologie nach SklavInnenhandel, Kolonialismus,<br />
Auschwitz und Entstehung des Phänomens Dritte Welt begründet die Notwendigkeit<br />
der Reflexion der gesellschaftlichen Funktion von Theologie, und dies schließt die Art<br />
und Weise der Auseinandersetzung mit Dritte-Welt-Theologie ein. Diese Reflexion <strong>auf</strong><br />
die gesellschaftliche Funktion von Theologie impliziert letztendlich eine kontextuelle<br />
Theologie, die sich ihres Kontextes und ihres Verhältnisses zu diesem bewußt ist. In<br />
diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, ob es ein verbindliches Kriterium gibt für<br />
einen theologisch legitimen Bezug zum jeweiligen Kontext. Dieses liefert der „rote<br />
Faden“ der Bibel: der Hunger und Durst nach Gerechtigkeit für alle 23 . Insofern die<br />
Entwicklung kontextueller Theologien in der Dritten Welt fortgeschrittener ist als in<br />
19<br />
20<br />
21<br />
22<br />
23<br />
Vgl. KARL MARX, <strong>Das</strong> Kapital. Kritik der politischen Ökonomie, Berlin, DDR (Dietz), 1988 32 , Bd. 1, 741-<br />
802.<br />
Vgl. MARIA MIES, Patriarchat und Kapital. Frauen in der internationalen Arbeitsteilung, Zürich (rotpunktverlag),<br />
1989 2 , besonders Kap. 3: Kolonisierung und Hausfrauisierung, 91-139.<br />
Darüber hinaus gibt es einen nicht zu leugnenden Zusammenhang zwischen deutschem Kolonialismus<br />
und Faschismus. Zu deren Kontinuitäten bis heute vgl. z.B. KLAUS THEWELEIT, Männerphantasien. Frauen,<br />
Fluten, Körper, Geschichte, Reinbek (Rowohlt), 1993 (1977 1 ), Bd. 1 und MARTHA MAMOZAI,<br />
Schwarze Frau, Weiße Herrin. Frauenleben in den deutschen Kolonien, Reinbek (rororo aktuell), 1989<br />
(1982 1 ). Als ein Beispiel unter - leider - vielen sei hier nur daran erinnert, daß deutsche Kolonialsoldaten,<br />
die durch die Niederlage des Deutschen Reiches im Ersten Weltkrieg zur Rückkehr nach Deutschland<br />
gezwungen waren, hier nun u.a. streikende Arbeiter zusammenschossen und z.B. auch als Freikorpskämpfer<br />
mit zur Zerschlagung der Weimarer Republik beitrugen ...<br />
Birgit Rommelspacher bringt die verschiedensten Dominanzverhältnisse mit dem von ihr geprägten<br />
Begriff der „Dominanzkultur“ <strong>auf</strong> einen gemeinsamen Nenner und gibt für deren grundlegenden Zusammenhang<br />
und ihre Reproduktion eine sozialisationstheoretische Erklärung: der durch Sozialisation<br />
vermittelte Umgang mit anderen qua Hierarchisierung. Vgl. (z.B.) BIRGIT ROMMELSPACHER, Rechtsextremismus<br />
und Dominanzkultur, in: ANDREAS FOITZIG, RUDI LEIPRECHT, ATHANASIOS MARVAKIS, UWE SEID<br />
(Hg.), „Ein Herrenvolk von Untertanen“. Rassismus - Nationalismus - Sexismus, Duisburg (DISS), 1992,<br />
81-94.<br />
Vgl. z.B. WALTER DIETRICH, Der rote Faden im Alten Testament, Evangelische Theologie 49, Nr. 3 (1989),<br />
232-250 - als „roten Faden“ („Mitte“, „zentrales Thema“, „Leitfaden“ und „Grundmotiv“) der hebräischen<br />
Bibel identifiziert Walter Dietrich die „Gerechtigkeit“, die - im Gegensatz zum römischen Rechtssystem<br />
- primär das Recht der Schwachen und die Pflicht zu ihrem Schutz bedeutet.
Einleitung 20<br />
der Ersten Welt, muß damit gerechnet werden, daß wir es sind, die etwas vom Süden<br />
zu lernen haben.<br />
Wie ist ein nicht-kolonialer Zugang von Erste-Welt-TheologInnen zu Dritte-Welt-<br />
Theologie möglich? Zunächst müßte der „koloniale Blick“ 24 abgelegt werden, mit dem<br />
wir noch immer die Dritte Welt und die Menschen, die dort leben oder von dort zu uns<br />
emigrieren, betrachten. Neben einer „Hermeneutik des Fremden“ 25 bzw. einer Theorie<br />
der interkulturellen Kommunikation bedarf es auch einer Ethik der Begegnung mit<br />
dem anderen 26 . Wenngleich wir unsere westliche Prägung durch Sozialisation, Sprache<br />
und Internalisierung der herrschenden Maßstäbe und Werte nicht leugnen können, so<br />
ist es uns dennoch möglich, damit zu rechnen, daß es andere, nicht-westliche „Welten“<br />
(Lebensweisen, Denkweisen, normative Systeme) gibt, die der westlichen „Welt“<br />
komplementär sind - also weder ableitbar aus dieser noch dieser prinzipiell über- bzw.<br />
untergeordnet (<strong>auf</strong> der Ebene der Werte). Die politischen, kulturellen, sozialen und<br />
wirtschaftlichen Gegebenheiten sind jedoch durch die Dominanz des Nordens über den<br />
Süden geprägt. Praktisch herrscht also ein Über- bzw. Unterordnungsverhältnis, mit<br />
dem das westliche Wertsystem kongruiert, und das auch gewisse Auswirkungen hat<br />
<strong>auf</strong> unsere (Un)Kenntnis über die Dritte Welt und unsere Bilder, die wir von ihr und<br />
ihren Menschen haben. Von daher ist von uns eine außerordentliche Distanzierungsleistung<br />
gefordert. 27<br />
Der Versuch, den ich in dieser Arbeit unternehme, konzentriert sich <strong>auf</strong> eine bewußt<br />
deskriptive Zugangsweise. Die Intention dabei ist, durch die Rekonstruktion dessen,<br />
wie Jean-Marc Ela Theologie betreibt, durch das Nachzeichnen seiner theologischen<br />
Reflexionen, die er zu Papier gebracht hat, und durch deren Einordnung in seinen spe-<br />
24<br />
25<br />
26<br />
27<br />
Vgl. dazu HENNING MELBER, Der Weißheit letzter Schluß. Rassismus und kolonialer Blick, Frankfurt am<br />
Main (Brandes und Apsel), 1992.<br />
Vgl. z.B. THEO SUNDERMEIER, Erwägungen zu einer Hermeneutik interkulturellen Verstehens, in: DERS.<br />
(Hg., in Zusammenarbeit mit WERNER USTORF), Die Begegnung mit dem Anderen. Plädoyers für eine interkulturelle<br />
Hermeneutik (Studien zum Verstehen fremder Religionen; Bd. 2), Gütersloh (Mohn),<br />
1991, 13-28.<br />
Diese könnte sich orientieren an der Art und Weise, wie Bartolomé de las Casas den Indios in Amerika<br />
begegnete; hierzu vgl. TZVETAN TODOROV, Die Eroberung Amerikas. <strong>Das</strong> Problem des Anderen, Frankfurt<br />
am Main (edition suhrkamp), 1985 (franz. Orig.: 1982). In Anlehnung an Tzvetan Todorovs Typologie<br />
der Beziehungen zu anderen (S. 221) müßte eine solche Ethik wenigstens drei Ebenen differenzieren,<br />
die zwar als solche untrennbar miteinander verbunden sind, jedoch jeweils eine relative Autonomie besitzen:<br />
1.) die axiologische Ebene, d.h. die Ebene der Werturteile über den anderen (z.B. Liebe oder<br />
Überlegenheitsvorstellungen); 2.) die praxeologische Ebene, d.h. die aktive Annäherung an den anderen<br />
oder die Distanzierung von ihm (Identifikation mit dem anderen, Unterwerfung unter den anderen,<br />
Unterwerfung des anderen oder Indifferenz/Neutralität); 3.) die epistemologische Ebene (den anderen<br />
kennen bzw. ihn immer besser kennenlernen oder ihn nicht kennen). - Eine solche Ethik der Begegnung<br />
mit dem anderen, die sich diesem <strong>auf</strong> eine nicht-koloniale Weise anzunähern versucht und ihn dabei<br />
zugleich in seiner Differenz akzeptiert, ohne diese Differenz unmittelbar mit <strong>einem</strong> - womöglich abwertenden<br />
- Werturteil zu verknüpfen, hätte sicher viele Parallelen zu einer Ethik des Umgangs mit<br />
dem - fremden - Buch der Bibel.<br />
Als ChristInnen sollte uns dies nicht unmöglich sein, da wir nach Paulus <strong>auf</strong> dieser Erde nur PilgerInnen<br />
sind, die ihr BürgerInnenrecht im Himmel haben. Die Orientierung an <strong>einem</strong> Maßstab (Bibel, Gott,<br />
Reich Gottes), der nicht unserer westlichen Gesellschaft entstammt, ermöglicht es uns, die Werte dieser<br />
und unsere Prägung durch diese zu relativieren - sie weder als absolut noch als universal zu betrachten.<br />
Ähnlich verhält es sich mit Menschen, die noch Utopien haben, die nicht mit dieser Gesellschaft (ihrem<br />
Status quo und ihren Prinzipien) identisch sind.
Einleitung 21<br />
zifischen biographischen und historischen (kulturellen, sozialen, ökonomischen und<br />
politischen) Kontext, ihn und die théologie sous l’arbre zuerst einmal zu verstehen.<br />
Eine Einordnung in den Kontext bzw. das Raster - oder die Kontrastierung mit - einer<br />
bestimmten (westlichen) theologischen Dogmatik halte ich nicht für besonders sinnvoll<br />
28 , da dies zum einen leicht den Blick verstellen kann für den spezifischen Charakter<br />
von Jean-Marc Elas Theologie, der nicht in einer Systematisierung theologischer<br />
Grundgedanken besteht, sondern in einer bestimmten Art und Weise des Theologietreibens,<br />
mögen auch einzelne seiner Gedanken an bestimmte dogmatische Entwürfe<br />
erinnern - <strong>auf</strong>grund des gemeinsamen biblischen Bezuges wäre dies auch kaum zu<br />
vermeiden. 29 Zum anderen besteht dabei die Gefahr, daß das Kriterium für die Einordnung<br />
und Beurteilung einer solchen Theologie wieder ein westliches bliebe - was den<br />
,üblen Beigeschmack‘ eines imperialen Habitus und eines gewissen Rassismus kaum<br />
vermeiden könnte: Als wäre der weiße Mann das Maß aller Dinge!<br />
Auf dem Hintergrund der Suche nach <strong>einem</strong> nicht-kolonialen Zugang, der nicht vorher<br />
alles schon besser weiß, und der bereit ist, auch von Menschen aus der Dritten Welt<br />
sich etwas sagen zu lassen, liegt der Schwerpunkt dieser Arbeit deshalb <strong>auf</strong> der Darstellung<br />
des theologischen Ansatzes von Jean-Marc Ela. Die Tatsache, daß der jeweilige<br />
„Kon-text“ für die Bedeutung eines „Textes“ konstitutiv ist, erfordert die Situierung<br />
der théologie sous l’arbre in ihren spezifischen Kontext. Dies wird zugleich durch<br />
ihren explizit kontextuellen Charakter nahegelegt. Insbesondere ihr Ort („sous<br />
l’arbre“: „unter dem <strong>Baum“</strong>) ist, wie es der Name schon andeutet, für diese Theologie<br />
28<br />
29<br />
Insoweit stimme ich mit ULRIKE LINK-WIECZOREK (Reden von Gott in Afrika und Asien, S. 14) überein,<br />
habe jedoch Skepsis gegenüber ihrem Ansatz, mit <strong>einem</strong> bestimmten, zuvor konstruierten „heuristischen<br />
Modell“ in bezug <strong>auf</strong> das afrikanische Wirklichkeitsverständnis („Vitalismus“) an die afrikanische<br />
Theologie heranzugehen, „mit dessen Hilfe bei der Analyse und Darstellung der theologischen Ansätze<br />
die Bezugnahme <strong>auf</strong> die traditionellen Religionen erklärt werden kann“ (ebd.). Ulrike Link-<br />
Wieczorek kritisiert an Heribert Rücker („Afrikanische Theologie“), daß er mit dem Symbolbegriff zwar<br />
zeigen könne, „w i e Afrikaner [...] von Gott reden, jedoch noch nicht, w a s “ (ebd.) - womit sie freilich<br />
suggeriert, daß das von ihr entwickelte Modell dies leiste. Aber das, was AfrikanerInnen über und<br />
von Gott sagen, erfahre ich gerade nicht durch ein vorfabriziertes Modell, sondern nur durch genaue<br />
Rekonstruktion und das In-Beziehung-setzen zum jeweiligen konkreten Kontext, der im übrigen nicht<br />
nur religiös-kulturell geprägt ist. Außerdem beziehen sich afrikanische TheologInnen - insbesondere<br />
Jean-Marc Ela, aber auch Mercy Amba Oduyoye u.a. - nicht nur <strong>auf</strong> die traditionellen Religionen. Ihr<br />
Reden von Gott nimmt auch <strong>auf</strong> andere Phänomene Bezug - dies scheint mir bei der Selbstbeschränkung<br />
durch ein zuvor konstruiertes Raster leicht übersehen zu werden. Dies gilt auch für Heribert Rückers<br />
Betonung des Symbols als notwendiger Voraussetzung für das Verständnis des Zugangs von AfrikanerInnen<br />
zur Wirklichkeit. So zutreffend seine Analyse der Art und Weise des afrikanischen Weltverständnisses<br />
sein mag, so scheint er dennoch über dem „wie“ in der Tat das „was“ zu vernachlässigen:<br />
die konkrete afrikanische Lebenswirklichkeit. - Im übrigen ist es eine gewisse Gefahr von EuropäerInnen,<br />
AfrikanerInnen v.a. in bezug <strong>auf</strong> deren kulturelle Traditionen sehen zu wollen. Eine solche Reduzierung<br />
entgeht nur schwer dem unguten Gefühl, daß hierbei unterderhand gewisse rassistische Momente<br />
am Werk zu sein scheinen.<br />
Außerdem ist für Jean-Marc Ela die „Befreiung des Evangeliums“ aus der „Gefangenschaft“ durch die<br />
westliche Dogmatik ein explizites Anliegen: „Wir müssen also das Christentum in Afrika aus der Gefangenschaft<br />
‚befreien‘, in die es die Tradition der Schulen und Konzepte der westlichen Dogmatik geführt<br />
hat“; JEAN-MARC ELA, Mein Glaube als Afrikaner. <strong>Das</strong> Evangelium in schwarzafrikanischer Lebenswirklichkeit<br />
(Theologie der Dritten Welt; Bd. 10), Freiburg i.Br. (Herder), 1987 [des weiteren zitiert als:<br />
Mein Glaube als Afrikaner], S. 58.
Einleitung 22<br />
von grundlegender Bedeutung; diesen Ort zu verstehen, ist deshalb unabdingbar für<br />
das Verständnis der théologie sous l’arbre. 30<br />
Um die vertikale Hierarchie zwischen „Forschungs-Subjekt und „Forschungs-Objekt“<br />
etwas <strong>auf</strong>zubrechen und zu einer Gegenseitigkeit zweier gleichberechtigter Subjekte zu<br />
kommen, soll Jean-Marc Ela im Rahmen dieser Arbeit selbst ausgiebig das Wort haben.<br />
Der Rolle des Interpreten (bzw. der Interpretin) und seines (bzw. ihres) Kontextes<br />
im Verstehensprozeß sollten die beiden ersten Abschnitte der Einleitung Rechnung<br />
tragen.<br />
Der hier vorgetragene Ansatz des Zugangs zu Dritte-Welt-Theologie im allgemeinen und zu<br />
afrikanischer Theologie im besonderen trifft sich teilweise mit den Thesen, die der Philosoph<br />
und Afrikawissenschaftler Gerd-Rüdiger Hoffmann „als Schlüssel für ein unvoreingenommenes<br />
und auch für uns nützliches Herangehen“ an Texte aus und über Afrika formuliert:<br />
1.) „Jeder Text aus und über Afrika ist nur im Kontext zu verstehen, wobei ,Kontext‘ nicht nur<br />
mögliche Zusammenhänge mit anderen Texten oder eine nicht verifizierte afrikanische Traditionslinie<br />
meint, sondern immer wieder <strong>auf</strong> den Umstand hinweist, daß das Zusammentreffen von<br />
Europa und Afrika in Geschichte und Gegenwart kein gleichberechtigter Austausch von Kulturen<br />
war und ist, sondern sich unter dem Vorzeichen des Dominierens europäischer Kultur(en),<br />
Produktionsweise, Religion und Sprache(n) vollzog und vollzieht. Begriffe wie Ausbeutung [...]<br />
und Rassismus [...] einerseits und Befreiungskampf und kujitegemea [Swahili: „Vertrauen <strong>auf</strong><br />
die eigene Kraft“; von Julius Nyerere eingeführter Begriff; R. K.-F.] andererseits haben hier<br />
ihren Platz, um den Kontext zu bestimmen.“<br />
2.) „Invariantes Merkmal einer jeden Kultur ist, <strong>auf</strong>nahmefähig für ursprünglich Fremdes zu<br />
sein. Kann eine Kultur das nicht, verdient sie diesen Namen nicht. Daraus ergibt sich, daß der<br />
offensichtliche Unterschied zwischen afrikanischen Kulturen und europäischen Kulturen kein<br />
absoluter sein kann. Purismus von afrikanischen Kulturen zu erwarten oder gar zu fordern würde<br />
bedeuten, Afrika jede Entwicklung zu verweigern. Damit wäre auch der Umstand ignoriert, daß<br />
heute praktisch unbegrenzte Möglichkeiten der Kommunikation, des Reisens sowie des Flusses<br />
von Waren, Geld und Kapital über Ländergrenzen und Kontinente hinweg bestehen. Als<br />
,afrikanisch‘ nur zu bezeichnen, was ,traditionell‘ ist, hieße, diese grenzenlosen Möglichkeiten<br />
nur uns zuzugestehen, den Afrikanern aber zu verweigern.“<br />
3.) Bei der Auseinandersetzung mit Afrika geht es immer „auch darum, was uns das alles zu<br />
sagen hat oder zu sagen haben könnte. Die Frage ,Was geht uns das alles an?‘ kann einen demokratischen<br />
Ansatz befördern, nämlich nicht nur für andere sprechen zu wollen, die selbst<br />
30<br />
Von daher gilt auch für die théologie sous l’arbre - als einer kontextuellen afrikanischen Befreiungstheologie<br />
- das, was SABINE PLONZ, Theologie der Ausgeschlossenen, Junge Kirche 12/95, 685-690, in<br />
bezug <strong>auf</strong> die lateinamerikanische Befreiungstheologie als fundamental erkennt: <strong>„Der</strong> Ort der Theologie<br />
- dieser ist es, der uns das Verstehen der lateinamerikanischen Befreiungstheologie so schwer macht<br />
und uns von ihr unterscheidet. Deshalb müssen wir vor allem diesen Ort zu verstehen suchen und vor<br />
dem Vergleich theologischer Argumente unsere Aufmerksamkeit schenken. Der Ort unterscheidet, und<br />
zwar sowohl theoretisch als auch praktisch. Der Ort der Befreiungstheologie entscheidet über ihre<br />
Theorie. Ihre Theorie setzt an <strong>einem</strong> bestimmten Ort an“ (S. 687). Dieser Ort „ist der Ort des verneinten<br />
Lebens, der Ort des Widerstands gegen die unmenschlichen Existenzbedingungen von Kindern, Frauen,<br />
Männern, der Ort der Überlebensprojekte, der Ort der Solidarität der Betroffenen untereinander, der<br />
Ort des Einspruchs gegen die Ausschlußlogik des Kapitalismus mit s<strong>einem</strong> neoliberalen Geist, der Ort<br />
der Hoffnung <strong>auf</strong> eine andere Gesellschaft“ (S. 688).
Einleitung 23<br />
Stimme haben, sondern einen interkulturellen Dialog <strong>auf</strong> der Basis der Gleichberechtigung aller<br />
Beteiligten zu befördern.“ 31<br />
Der literarische Niederschlag der théologie sous l’arbre und<br />
die<br />
Quellen der vorliegenden Arbeit<br />
Es ist <strong>auf</strong>fallend, daß der größte Teil von Jean-Marc Elas theologischen Publikationen<br />
aus einzelnen Artikeln bzw. Aufsätzen besteht. Seine theologischen Bücher sind<br />
Sammlungen von Einzelbeiträgen, die z.T. schon zuvor erschienen waren. Seine theologische<br />
Habilitationsschrift und seine soziologische Dissertation blieben unveröffentlicht.<br />
Von Jean-Marc Ela sind bisher folgende Bücher erschienen, die auch von Anfang<br />
an als solche konzipiert waren 32 :<br />
• La plume et la pioche. Réflexion sur l’enseignement et la société dans le<br />
développement de l’Afrique Noire (1971)<br />
• L’Afrique des villages (1982)<br />
• La ville en Afrique Noir (1983)<br />
• Cheikh Anta Diop ou l’honneur de penser (1989)<br />
• Quand l’État pénètre en brousse ... Les ripostes paysannes à la crise (1990)<br />
Unter den von Jean-Marc Ela verfaßten Büchern findet sich also kein einziges theologisches<br />
Werk. Mit Ausnahme des Buches über den senegalesischen Afrikanisten<br />
Cheikh Anta Diop (1923-1986) behandeln sie alle soziologische Themen (Unterricht<br />
und gesellschaftliche Entwicklung, das afrikanische Dorf, die afrikanische Stadt, die<br />
Reaktion der Bauern und Bäuerinnen <strong>auf</strong> die Krise). Andererseits sind seine zahlreichen<br />
Zeitungsartikel, Zeitschriften<strong>auf</strong>sätze und Beiträge zu Sammelbänden fast ausschließlich<br />
theologischen Fragestellungen gewidmet. 33 Dies ist sicherlich kein Zufall.<br />
Wie sich auch an Jean-Marc Elas Stil - und selbstverständlich am Inhalt - seiner Texte<br />
erkennen läßt, ist dies eine Konsequenz der Kontextbezogenheit und des prophetischen<br />
Charakters seiner Theologie. 34 Seine theologischen Texte haben weniger einen „wissenschaftlichen“<br />
Anspruch, als daß sie prophetische Aufrufe an - in erster Linie - afrikanische<br />
TheologInnen und ChristInnen zur Umkehr zum befreienden Evangelium des<br />
Jesus von Nazareth sind. Nichtsdestoweniger sind sie Theologie - im Sinn einer Reflexion<br />
der Praxis des Glaubens im Lichte des Evangeliums.<br />
31<br />
32<br />
33<br />
34<br />
GERD-RÜDIGER HOFFMANN, Verstehen und Mißverstehen. Über den Umgang mit Texten aus und über<br />
Afrika, Dritter Weg. Journal für eine solidarische Welt 4, Nr. 14 (1995), 4-14, S. 5f).<br />
Zu den vollständigen bibliographischen Angaben siehe das Literaturverzeichnis im Anhang.<br />
Dieses Phänomen läßt sich zugespitzt so <strong>auf</strong> den Punkt bringen: Als Soziologe schreibt Jean-Marc Ela<br />
Bücher und als Theologe schreibt er Aufsätze (oder hält Vorträge).<br />
Vgl. auch Jan P. Heijke, Kameroense Befrijdingstheologie. Jean-Marc Ela. Theologie van onder de boom<br />
(Kerk en Theologie in Context; Bd. 6), Kampen (Kok), 1990 [zitiert als: ders., Kameroense Befrijdingstheologie],<br />
S. 105f.
Einleitung 24<br />
Der Stil von Jean-Marc Elas theologischen Publikationen läßt sich beinahe schon ,beschwörend‘<br />
nennen. Stilmerkmale seiner theologischen Publikationen sind zahlreiche Wiederholungen (auch<br />
von ganzen Textpassagen), ein häufiger Gebrauch von rhetorischen Fragen, eine gelegentliche<br />
Konstruierung von Neologismen und die Formulierung von „Slogans“ bzw. Wortspielen, die<br />
kurz und prägnant die jeweiligen Grundgedanken zusammenfassen, z.B.: „l’attente de l’autre<br />
monde exige un monde autre“ 35 ; „Dieu [...] a un faible pour les faibles“ 36 ; oder: „la médecine<br />
[...] apparaît comme une véritable maladie dont il faut guérir aujourd’hui l’Afrique Noire“ 37 .<br />
Jean-Marc Elas Schreibweise erinnert eher an einen Gesprächsstil, sie ist weniger linear, eher<br />
dialogisch, Gedanken erneut <strong>auf</strong>greifend, vertiefend und weiterführend. Sein Stil erinnert ein<br />
wenig an seine Beschreibung des afrikanischen Denkens. Dieses sei „ein orales und dialogisches<br />
Denken“ („une pensée orale et dialoguée“), „ein spiralförmiges Denken, das durch<br />
,nachbohrendes‘ Vertiefen voranschreitet, und nicht <strong>auf</strong> eine lineare und diskursive Weise“<br />
(„une pensée en spirale qui progresse par approfondissement, et non, de manière linéaire et<br />
discursive“) 38 .<br />
Eine systematische Darlegung seiner Theologie hat Jean-Marc Ela bisher nicht vorgelegt;<br />
vielleicht, weil ihm die „theologische Praxis“ und der prophetische Einschlag der<br />
Theologie wichtiger ist als eine Systematisierung theologischer Inhalte oder eine abstrakt-theoretische<br />
Auseinandersetzung mit hermeneutischen Problemen einer afrikanischen<br />
Theologie.<br />
Die wichtigsten Quellen der vorliegenden Arbeit sind die folgenden Sammelbände 39 :<br />
• Le Cri de l’homme Africain (1980)<br />
• Voici le temps des héritiers. Églises d’Afrique et voies nouvelles (1981) [zusammen<br />
mit René Luneau und Christiane Ngendakuriyo]<br />
• Ma foi d’Africain (1985)<br />
Die hier vorgelegte Darstellung der Theologie Jean-Marc Elas basiert also vorwiegend<br />
<strong>auf</strong> Texten, die aus seiner Zeit in Tokombéré 40 stammen - wo denn auch in der Tat der<br />
Baum steht, unter dem die théologie sous l’arbre entstanden ist. Aus der Zeit danach<br />
sind von ihm bisher keine größeren theologischen Publikationen erschienen; es sind<br />
v.a. kleinere Zeitungs- und Zeitschriften<strong>auf</strong>sätze und insbesondere Interviews, in denen<br />
35<br />
36<br />
37<br />
38<br />
39<br />
40<br />
Le Cri de l’homme Africain. Questions aux chrétiens et aux églises d’Afrique, Paris (L’Harmattan), 1980,<br />
S. 48 [zitiert als Le Cri de l’homme Africain].<br />
Le motif de la libération dans la théologie africaine, Les Nouvelles Rationalités Africaines 2, Nr. 5<br />
(1986), 37-51 [zitiert als: Le motif de la libération], S. 41.<br />
Luttes pour la santé de l’homme et Royaume de Dieu dans l’Afrique d’aujourd’hui, Bulletin de Théologie<br />
Africaine 5, Nr. 9 (1983), 65-84, S. 79.<br />
JEAN-MARC ELA, RENE LUNEAU, CHRISTINE NGENDAKURIYO, Voici le temps des héritiers. Églises d’Afrique et<br />
voies nouvelles, Postface de Vincent Cosmao, Paris (Karthala), 1981 [zitiert als Voici le temps des<br />
héritiers], S. 168.<br />
Gleichwohl sind es Bücher, die durch redaktionelle Bearbeitung ein zusammenhängendes Ganzes<br />
darstellen. Die starke Betonung dessen, daß einzelne - nicht alle - Teile schon zuvor veröffentlicht <strong>wurde</strong>n,<br />
soll nur den spezifischen Charakter der Publikationspraxis Jean-Marc Elas illustrieren.<br />
Tokombéré ist ein Dorf im Norden Kameruns, wo Jean-Marc Ela von 1971-85 als „Missionar“ tätig<br />
war. Vgl. hierzu das Kap. zur Biographie von Jean-Marc Ela (Kap. 1; zum Dorf selbst insbes. S. 38 u. S.<br />
40).
Einleitung 25<br />
er im wesentlichen seine theologischen Buchveröffentlichungen erläutert und die aktuellen<br />
Herausforderungen für die afrikanische Theologie und Kirche benennt.<br />
„Forschungsstand“<br />
Anders als in Afrika gibt es im Norden bisher keine nennenswerte Auseinandersetzung<br />
mit dem Werk von Jean-Marc Ela, die einen literarischen Niederschlag gefunden hätte.<br />
Daß er jedoch auch hier zumindest zur Kenntnis genommen wird 41 - dafür stehen die<br />
verschiedenen Übersetzungen seiner wichtigsten theologischen Beiträge und die zahlreichen<br />
Einladungen zu Gastvorträgen, die er von verschiedenen Seiten erhält. Die<br />
Suche nach Literatur über Jean-Marc Ela gestaltet sich jedoch ziemlich aussichtslos -<br />
von „Forschungsstand“ kann also nicht eigentlich die Rede sein. Es gibt jedoch eine<br />
Ausnahme: Jan P. Heijke, Dozent an der Katholischen Universität Nijmegen, mit dem<br />
Schwerpunkt Kirche und Theologie in Afrika. Er ist - soweit mir bekannt ist - der einzige<br />
europäische Autor, der sich intensiver - und nicht nur am Rande - mit Jean-Marc<br />
Ela und seiner Theologie befaßt hat. Drei Veröffentlichungen von ihm über Jean-Marc<br />
Ela sind mir bekannt, zwei Zeitschriften<strong>auf</strong>sätze und eine Monographie:<br />
• Een Afrikaanse Befrijdingstheoloog: Jean-Marc Ela, Euntes-Digest 18 (1985), Nr.<br />
4, 254-264<br />
• Kameroense Befrijdingstheologie. Jean-Marc Ela. Theologie van onder de boom<br />
(Kerk en Theologie in Context; Bd. 6), Kampen (Kok), 1990<br />
• Contextualisatie bij Jean-Marc Ela, Kerk en Missie Nr. 268 (1992), 6-11<br />
Jan P. Heijke charakterisiert Jean-Marc Ela in den oben genannten Arbeiten inhaltlich<br />
als einen im Rahmen von EATWOT zu verortenden Repräsentanten einer „kontextuellen<br />
afrikanischen Befreiungstheologie“ - ohne jedoch diesen Begriff expressis verbis<br />
zu gebrauchen.<br />
In Kameroense Befrijdingstheologie gibt Jan P. Heijke <strong>auf</strong> dem Hintergrund des politischen,<br />
kirchlichen und theologischen Kontextes einen Gesamtüberblick über das Werk Jean-Marc Elas.<br />
Ausgehend von einigen Reflexionen über die Relevanz von Dritte-Welt-Theologie für Erste-<br />
Welt-TheologInnen gibt Jan P. Heijke einen Überblick über die Kritik, die in Afrika, und insbesondere<br />
in Kamerun, an der vorherrschenden - durch die missionarische Verkündigung vermittelte<br />
- westlichen Theologie geübt wird. 42 Danach folgt ein Überblick über den Kontext, der sich<br />
in zwei Kapitel <strong>auf</strong>teilt: Ein Kapitel über Kamerun, das im wesentlichen die politische Geschichte<br />
Kameruns seit dem Ende des Ersten Weltkrieges bis zur Ära Biya zum Gegenstand hat. Besonderes<br />
Augenmerk liegt hierbei <strong>auf</strong> der Geschichte des durch die UPC (Union des Populations<br />
du Cameroun) repräsentierten „autochthonen Nationalismus“ und der „Politik der Unterdrückten“.<br />
<strong>Das</strong> andere Kapitel behandelt die Geschichte der - katholischen - Kirche in Kamerun im<br />
41<br />
42<br />
In Johannes Heisings kommentierter Bibliographie zu entwicklungsrelevanter Philosophie in Afrika<br />
wird Jean-Marc Elas Buch La plume et la pioche von 1971 als eine „Studie philosophisch-soziologischer<br />
Bildungsreflexion in Schwarzafrika“ immerhin berücksichtigt (neben Cabral, Eboussi Boulaga, Elungu,<br />
Hountondji, Wiredu u.a.); JOHANNES HEISING, Entwicklung und moderne Philosophie in Schwarzafrika.<br />
Wege zu einer unbekannten geisteswissenschaftlichen Tradition, Frankfurt am Main (Verlag für interkulturelle.<br />
Kommunikation), 1990, 94-97.<br />
Hierbei bezieht sich Jan P. Heijke v.a. <strong>auf</strong> den kamerunischen Theologen Fabien Eboussi Boulaga.
Einleitung 26<br />
selben Zeitraum, das sich in erster Linie <strong>auf</strong> ihr Verhältnis zum (neo)kolonialen Staat konzentriert.<br />
Ein gesonderter Abschnitt ist der Kirche in Nordkamerun gewidmet.<br />
Auf dem Hintergrund dieses Kontextes skizziert Jan P. Heijke dann die Biographie, das Werk<br />
und die Theologie Jean-Marc Elas. Dabei hat er sich - angesichts des Problems der „Entflechtung“<br />
der bei Jean-Marc Ela eng miteinander verflochtenen Aspekte der gesellschaftlichen Fragen<br />
einerseits und der Bibelinterpretation und Neudefinierung der Aufgaben der Kirche andererseits<br />
- dafür entschieden, die Gedanken Jean-Marc Elas nach dogmatischen Themen zu ordnen<br />
(Gott, Jesus, Kirche, Sakramente). Dabei bleibt sich Jan P. Heijke dessen bewußt, daß Jean-Marc<br />
Ela seine Theologie nicht in <strong>einem</strong> „theologischen Laboratorium“ entworfen hat, sondern „unter<br />
dem <strong>Baum“</strong> als dem privilegierten Ort des Theologietreibens, und daß er seine Theologie nicht<br />
vor <strong>einem</strong> gelehrten Fachpublikum verantwortet, sondern vor den „Schlachtopfern der kamerunischen<br />
und der Weltgesellschaft“.<br />
Dieser Einsicht wird dann eher das folgende 7. Kapitel über „Afrikanische Befreiungstheologie<br />
in der Praxis“ gerecht, das „die strategische Übersetzung, die Ela seiner theologischen Einsicht<br />
gegeben hat“, in drei Etappen präsentiert: „Er will das Unrecht benennen, er will dessen Verschleierung<br />
demaskieren, er will die Schlachtopfer hiervon bewußt machen.“ 43 Abschließend<br />
skizziert Jan P. Heijke Jean-Marc Elas Position innerhalb des theologischen Kontextes (die<br />
organisierte nicht-westliche Theologie: EATWOT und AOTA; die „Ethnotheologie“ bzw. die<br />
„Afrikanische Theologie“ im allgemeinen; die „universale Theologie“).<br />
<strong>Das</strong> besondere Profil der Theologie Jean-Marc Elas ist laut Jan P. Heijke darin begründet, daß er<br />
die gleiche Aufmerksamkeit, die er theologischen Fragen widmet, auch gesellschaftlichen Problemen<br />
zukommen läßt: „Es gibt fast keine afrikanische Theologen, die so ausführlich eingegangen<br />
sind <strong>auf</strong> die Probleme, die verbunden sind mit der Entleerung des agrarischen Hinterlandes,<br />
der Proletarisierung der Landbevölkerung, der Vernachlässigung der Gesundheitsfürsorge und<br />
der Unterernährung der Dorfbewohner, der Arbeitslosigkeit und der ,(Menschen-)Anballung‘<br />
(,vertrossing‘) in den Städten, der Unterdrückung der Massen und der Ausrichtung der kamerunischen<br />
und afrikanischen Ökonomie.“ 44<br />
An anderer Stelle heißt es, daß Jean-Marc Ela sich dadurch von der großen Mehrheit der afrikanischen<br />
Theologen - die sich gewöhnlich in <strong>einem</strong> kulturell definiertem Milieu situieren - unterscheidet,<br />
„daß er aus der ihn umringenden Welt den sozio-ökonomischen Determinanten den<br />
Vorrang gibt bei der Bestimmung seiner theologischen Reaktion“ 45 , was jedoch nicht bedeutet,<br />
daß für ihn die kulturelle Identität Afrikas kein Anliegen wäre. Des weiteren sieht Jan P. Heijke<br />
eine „große Verwandtschaft zur südafrikanischen Theologie“. 46 Was Jean-Marc Elas Theologie<br />
jedoch von der südafrikanischen unterscheide, sei, daß sie „nicht durch eine große Basisbewegung<br />
getragen“ werde. 47 Am Ende seines Buches setzt Jan P. Heijke jedoch noch ein kleines<br />
Fragezeichen hinter diese Behauptung, das zugleich auch eine Anfrage an unsere Anteilnahme<br />
43<br />
44<br />
45<br />
46<br />
47<br />
„Hij wil het onrecht benoemen, hij wil de versluiering ervan ontmaskeren, hij wil de slachtoffers ervan<br />
bewust maken“; Jan P. Heijke, Kameroense Befrijdingstheologie, S. 139.<br />
„Er zijn weinig of geen Afrikaanse theologen die so uitvoerig zijn ingegaan op de problemen rond de<br />
leegloop van het agrarische achterland, de verproletarisering van de boerenbevolking, de<br />
verwaarlozing van de gezondheidszorg en de ondervoeding van de dorpelingen, de werkloosheid en de<br />
,vertrossing‘ in de steden, de onderdrukking van de massa en de oriëntatie van de Kameroense en<br />
Afrikaanse economie“; a.a.O., S. 110.<br />
„Ela onderscheidt zich van de grote meerderheid van de Afrikaanse theologen doordat hij uit de hem<br />
omringende wereld de socio-economische determinanten de vorrang geeft bij de bepaling van zijn<br />
theologische reactie“; a.a.O., S. 139.<br />
„Ela’s theologie vertoont weinig overeenkomst met de doorsnee Afrikaanse en grote verwantschap aan<br />
de zuidafrikaanse theologie“; a.a.O., S. 174.<br />
„Zijn theologie wordt niet gedragen door een grote basisbeweging“; a.a.O., S. 175.
Einleitung 27<br />
an und unser Wissen über Afrika ist: „Eine Basisbewegung läßt sich hier noch nicht deutlich<br />
<strong>auf</strong>zeigen. In Nordkamerun nicht, in Kamerun nicht, und vielleicht auch nicht im Afrika nördlich<br />
des Limpopo. Oder doch? In den Unabhängigen Kirchen? In den Slums, unbemerkt?“ 48 - Ein<br />
Buch also, das einen nützlichen Überblick bietet über das Leben und Denken von Jean-Marc Ela<br />
und seinen theologischen, kirchlichen und politischen Kontext.<br />
Was Jan P. Heijkes Monographie von dieser Untersuchung unterscheidet, sind weder vorrangig<br />
inhaltliche Differenzen noch die theologische Verortung Jean-Marc Elas, sondern eher eine<br />
verschiedene Gewichtung hermeneutischer Fragen: die Betonung der Notwendigkeit einer<br />
Selbstreflexion bei der Rezeption von Dritte-Welt-Theologie durch Erste-Welt-TheologInnen<br />
(„hermeneutischer Zugang“) und die stärkere Gewichtung der „theologischen Praxis“ der théologie<br />
sous l’arbre („Methode/Hermeneutik der théologie sous l’arbre“) im Verhältnis zu ihren<br />
theologischen Inhalten („biblisch-theologische Grundlagen“). Gleichzeitig lasse ich stärker noch<br />
als Jan P. Heijke Jean-Marc Ela selbst zu Wort kommen, was sich sowohl in der ausführlichen<br />
Darstellung einzelner Texte von Jean-Marc Ela zu bestimmten Themen als auch in zahlreichen<br />
und z.T. auch umfangreichen Zitaten ausdrückt.<br />
Die Bedeutung des Begriffes „théologie sous l’arbre“<br />
Jean-Marc Ela nennt seine Theologie „théologie sous l’arbre“ („Theologie unter dem<br />
<strong>Baum“</strong>). Dieser Begriff bedarf ohne Zweifel einer Erläuterung. Ich greife dabei <strong>auf</strong><br />
Jean-Marc Elas eigene Begriffsklärung zurück, die im folgenden kommentiert werden<br />
soll. In <strong>einem</strong> Interview mit Publik-Forum erklärt er, was unter diesem Begriff zu<br />
verstehen ist:<br />
Damit ist das Holz des Kreuzes gemeint, an dem Jesus leidet und schreit, wie<br />
auch die Unterdrückten Afrikas. Zugleich entsteht diese Theologie auch oftmals<br />
unter <strong>einem</strong> Palaver-Baum: abends und nachts, beim geduldigen Austausch aller<br />
über die Befreiungsbotschaft Christi und ihre Konsequenzen für das Leben. 49<br />
Eine weitere Bedeutungsnuance dieses Begriffes findet sich in Mein Glaube als Afrikaner.<br />
Dort interpretiert Jean-Marc Ela das Kreuz im Kontext von Offb 22,2 als den<br />
„Baum des Lebens“, dessen „Blätter zur Heilung der Völker dienen“ (S. 18).<br />
Es lassen sich somit vier Aspekte identifizieren, durch die sich die Bedeutung des<br />
Begriffes théologie sous l’arbre konstituiert 50 :<br />
Der Rückbezug <strong>auf</strong> die biblische Passionsgeschichte<br />
Die erste Assoziation zum Begriff des Baumes ist das Kreuz Jesu und seine Passion.<br />
Die Betonung des „Schreies“, den der Gemarterte am Kreuz ausstößt, ist für Jean-Marc<br />
48<br />
49<br />
50<br />
„Een basisbeweging is er nog niet duidelijk aanwijsbaar. In Noord-Kameroen niet, in Kameroen niet, en<br />
wellicht in Afrika benoorden de Limpopo-rivier ook niet. Of toch? In de Onafhankelijke Kerken? In<br />
slums, onopgemerkt?“; a.a.O., S. 209.<br />
THOMAS SEITERICH-KREUZKAMP, S. 23.<br />
Mensch könnte auch noch einen fünften Aspekt erwarten: Der Baum als heiliger Ort der Begegnung<br />
mit den Ahnen. Einen solchen Bedeutungsaspekt konnte ich in den Texten von Jean-Marc Ela jedoch<br />
nicht verifizieren.
Einleitung 28<br />
Ela wesentlich. Jesu Leiden am Kreuz ist die Konsequenz seiner „Parteinahme für die<br />
Armen gegen Situationen des Elends und der Unterdrückung“. Sein Engagement für<br />
die Befreiung der Armen ließ ihn zu <strong>einem</strong> „Opfer repressiver Gewalt“ werden. 51 In<br />
diesem Sinn ist die théologie sous l’arbre eine - biblisch fundierte - Kreuzestheologie.<br />
52 Die Bedeutung des Kreuzes manifestiert sich insbesondere darin, daß es als hermeneutischer<br />
Schlüssel für das Verständnis der aktuellen Leiden fungiert.<br />
<strong>Das</strong> Kreuz als hermeneutischer Schlüssel<br />
für das Verständnis der Leiden der Unterdrückten<br />
Schrei und Leiden des Gekreuzigten von Golgatha sind wiederzuerkennen im Schrei<br />
und im Leiden der Ausgebeuteten und Armen heute. <strong>Das</strong> Kreuz Jesu ist zum Kreuz der<br />
Dritten Welt geworden. Die Dritte Welt „ist der historische Leib Jesu Christi heute“ 53 .<br />
Dies bedeutet, daß die Kirche, wenn sie „wahrhaft der Leib des Gekreuzigten [...] sein<br />
will“, „gleichsam einen Leib bilden“ muß mit den „ihrer Rechte beraubten und zum<br />
Schweigen verurteilten Menschen“. 54 <strong>Das</strong> Kreuz ist jedoch nicht der Höhepunkt der<br />
evangelischen Geschichte. Dieser besteht vielmehr in der Auferstehung Jesu, welche<br />
„den Sieg über die Mächte des Todes“ verkündet und „eine neue Welt“ eröffnet. 55 So<br />
bleibt der „Schrei“ nicht das letzte „Wort“ der Leidenden, genau so wenig wie es dies<br />
der Schrei der in Ägypten versklavten HebräerInnen war. Der Gott des Exodus erhörte<br />
ihren Schrei und befreite sie aus der Knechtschaft. Dieses befreiende Eingreifen Gottes<br />
in die Geschichte seines Volkes ist der Schlüssel für das Verständnis seiner Offenbarung<br />
und der „Heilsgeschichte“. 56 Daß Jesus diesen Exodus-Gott verkündete, war der<br />
Grund, der ihn schließlich ans Kreuz brachte.<br />
Die Dimension von Heil und Heilung<br />
<strong>Das</strong> Kreuz ist nicht das Ende, die Botschaft des Evangeliums kulminiert in der Auferstehung,<br />
dem „Sieg über die Mächte des Todes“. Die Auferstehung wird konkret,<br />
„wenn der Arme vom Tod zum Leben gelangt“ 57 . Diese zugleich konkrete und umfassende<br />
Bedeutung von Auferstehung schwingt mit bei der Assoziation des Kreuzes mit<br />
dem „Baum des Lebens“, dessen „Blätter zur Heilung der Völker dienen“. Der Begriff<br />
Heilung verweist <strong>auf</strong> die Heilungsgeschichten Jesu, die „die Gegenwart des Reiches<br />
Gottes in der Welt“ 58 sichtbar machen. „Mit der Heilung der Kranken fügt sich Jesus<br />
51<br />
52<br />
53<br />
54<br />
55<br />
56<br />
57<br />
58<br />
Mein Glaube als Afrikaner, S. 124.<br />
Vgl. KLAUSPETER BLASER, Volksideologie und Volkstheologie. Ökumenische Entwicklungen im Lichte der<br />
Barmer Theologischen Erklärung (Ökumenische Existenz heute; Bd. 7), München (Kaiser), 1991, S. 72<br />
und S. 83.<br />
Mein Glaube als Afrikaner, S. 114 („Le Tiers monde [...] est le corps historique de Jésus-Christ<br />
aujourd’hui“, Ma foi d’Africain, S. 130).<br />
A.a.O., S. 170.<br />
A.a.O., S. 125.<br />
Vgl. a.a.O., S. 117 ff und Kap. 3 (An African Reading of Exodus) in: JEAN-MARC ELA, African Cry,<br />
Maryknoll, N.Y. (Orbis), 1986 [zitiert als African Cry], S. 28-38.<br />
Mein Glaube als Afrikaner, S. 126.<br />
A.a.O., S. 93.
Einleitung 29<br />
ein in die messianische Tradition, in welcher der Gerechte eine umfassende und universale<br />
Erlösung erwartet.“ 59 Diese umfaßt sowohl die Erlösung unseres Leibes als<br />
auch die Neuschöpfung des Kosmos, gesellschaftliche Befreiung wie Befreiung von<br />
den Mächten des Todes, Heilung im Sinn von Gesundheit und Heil, welches das Leben<br />
in Fülle ist.<br />
Der Bezug <strong>auf</strong> den afrikanischen Ort der Theologie: der Palaver-Baum<br />
Der Ort, an dem die théologie sous l’arbre entsteht und getrieben wird, ist „unter dem<br />
<strong>Baum“</strong>. Dieser Baum ist insbesondere der Palaver-Baum, d.h. der öffentliche Versammlungsort<br />
der jeweiligen Gemeinschaft in der traditionellen afrikanischen Gesellschaft.<br />
An diesem Ort werden gewöhnlich auch die Dorffeste gefeiert. <strong>Das</strong> Palaver<br />
selbst ist, wie Jean-Marc Ela es ausdrückt, „eine Art Entscheidungsprozeß in Konflikten“,<br />
„d.h. eine Form der Regelung der kollektiven Existenz“. 60 Aus diesem Grund ist<br />
das Palaver „der bevorzugte Ort der Mission“. 61 „Unter dem <strong>Baum“</strong>, das ist der Ort, an<br />
dem „jede Gemeinde zusammenkommt, um das Wort Gottes zu hören, wo man sich<br />
fragt, wie Leute aus dem Volk zu Denkern und Gestaltern ihrer Zukunft werden können“.<br />
62 Bei <strong>einem</strong> solchen „Evangeliums-Palaver“ 63 „entwickelt sich, von den Alltagsproblemen<br />
ausgehend, ein echtes Glaubensverständnis“. 64<br />
Insofern der Palaver-Baum - im ,übertragenen‘ Sinn - auch ganz allgemein für freie<br />
Meinungsäußerung und demokratische Entscheidungsfindung, für öffentlich ausgetragene<br />
Konflikte und eine wirkliche politische Debattierkultur steht, gibt es ihn in den<br />
meisten afrikanischen Staaten jedoch nicht mehr: Die herrschenden politischen Regimes<br />
„haben tatsächlich den Palaverbaum gefällt, aus Gründen der öffentlichen Sicherheit,<br />
so sagt man“ 65 , denn in vielen dieser Staaten existieren weder Meinungs-,<br />
noch Presse-, noch Versammlungsfreiheit - in einer „oralen Kultur“ ein kaum zu unterschätzendes<br />
Drama.<br />
Die Darstellung des Spektrums an Assoziationen, die mit den einzelnen Aspekten der<br />
Bedeutung des Begriffes théologie sous l’arbre 66 verbunden sind, beschränkte sich<br />
59<br />
60<br />
61<br />
62<br />
63<br />
64<br />
65<br />
66<br />
Ebd.<br />
A.a.O., S. 189.<br />
A.a.O., S. 23.<br />
A.a.O., S. 25.<br />
A.a.O., S. 63.<br />
A.a.O., S. 25.<br />
„Ceux-ci [les régimes en place], de fait, ont abattu l’arbre à palabres pour des raisons, dit-on, de<br />
sécurité publique“; Le Cri de l’homme Africain, S. 88 (African Cry, S. 69).<br />
Es gibt übrigens eine interessante Parallele zum Begriff der théologie sous l’arbre: den der école sous<br />
l’arbre. In den 60er Jahren <strong>wurde</strong>n in den bäuerlichen Gemeinschaften Kameruns die von der UNESCO<br />
schon in den 50er Jahren eingeleiteten Alphabetisierungskampagnen fortgesetzt. „Zuerst unter dem<br />
Namen ‚Ecole sous l’arbre‘ sollten die Bauern das Lesen und Schreiben der französischen Sprache erlernen,<br />
um dadurch an der Entwicklung aktiv teilnehmen zu können“; NAZAIRE BITOTO ABENG, Von der<br />
Freiheit zur Befreiung. Die Kirchen- und Kolonialgeschichte Kameruns (Europäische Hochschulschriften,<br />
Reihe 23, Theologie; Bd. 364), Frankfurt am Main (Lang), 1989 (zugl.: Diss. Münster/Westfalen,<br />
1983) [zitiert als: ders., Von der Freiheit zur Befreiung], S. 198.
Einleitung 30<br />
bisher <strong>auf</strong> den zweiten Teil dieses Begriffes. Jean-Marc Elas Verständnis von Theologie<br />
soll hier jedoch nur kurz angedeutet werden, da dieses in Kapitel 3 (Hermeneutik<br />
und Methode der théologie sous l’arbre - Der epistemologische Bruch) eingehender<br />
behandelt wird.<br />
Theologie im Sinne der théologie sous l’arbre bedeutet, daß sich der Theologe bzw.<br />
die Theologin zunächst einmal „unter den <strong>Baum“</strong> begeben muß:<br />
Ganz offensichtlich müssen wir zurückkehren unter den Baum des Kreuzes, um<br />
mit der Theologie neu zu beginnen von den Kämpfen her, die die schwarzen<br />
Völker führen, um die Welt vor <strong>einem</strong> Rückfall in jenes Chaos zu bewahren,<br />
das vor der Schöpfung geherrscht hat. 67 In diesem Kontext ist das Theologietreiben<br />
keine akademische Übung mehr, sondern ein spirituelles Wagnis. 68<br />
Die théologie sous l’arbre verlangt daher von den TheologInnen praktische Konsequenzen:<br />
Dafür aber müssen wir hinausgehen aus unseren Bibliotheken und <strong>auf</strong> den<br />
Komfort klimatisierter Büros verzichten, um in der Ungesichertheit der Suche<br />
unter Menschen zu leben, die weder lesen noch schreiben können, in einer Umgebung,<br />
wo das einfache Volk bis über die Knöchel im Schlamm steckt. 69<br />
Auf diese Weise entsteht „unter dem <strong>Baum“</strong>, im geschwisterlichen Miteinander von<br />
(ausgebildeten) TheologInnen und (ungebildeten) Bauern und Bäuerinnen, die nach<br />
dem Sinn von Gottes Wort für ihren Kontext suchen, die Theologie. 70 Die spezifisch<br />
theologische Aufgabe hierbei „is a labor of deciphering the sense of revelation in the<br />
historical context in which we become aware of ourselves and our situation in the<br />
world“ 71 . Die Funktion von Theologie ist demzufolge eine hermeneutische. Sie hat drei<br />
Aufgaben:<br />
(1) Analyse des historischen, d.h. des politischen, ökonomischen, sozialen und kulturellen<br />
Kontextes;<br />
(2) Bewußtwerdung der eigenen Position innerhalb dieses Kontextes;<br />
(3) Dekodierung der Offenbarung Gottes und ihres Sinnes in diesem Kontext.<br />
Der Begriff „<strong>Baum“</strong> im zuvor beschriebenen Sinn ist als Symbol 72 zu verstehen. Als<br />
ein solches stellt der „<strong>Baum“</strong> die Kontaktstelle dar zwischen der afrikanischen Wirk-<br />
67<br />
68<br />
69<br />
70<br />
71<br />
72<br />
Vgl. die Überzeugung des koreanischen Minjung-Theologen Ahn Byung-Mu, der am Schluß seiner für<br />
den Frankfurter Kirchentag vorgesehenen Predigt zu Lk 16, 19-26 (die er jedoch nicht halten konnte,<br />
da er keine Ausreisegenehmigung erteilt bekam) formulierte: „Ohne daß sich Lazarus aus dem Zustand<br />
der Bettelarmut befreit, gibt es keinen Frieden für den Reichen.“ Und einige Zeilen weiter: „Lazarus ist<br />
die Möglichkeit des Heils für den Reichen. So ist auch heute die Dritte Welt für die Erste Welt die einzig<br />
mögliche Quelle des Heils.“ (AHN BYUNG-MU, Reicher Mann - Armer Lazarus, Predigt zur Perikope Lukas<br />
16, 19-26 (Juni 1987), Ms.).<br />
Mein Glaube als Afrikaner, S. 194.<br />
A.a.O., S. 195.<br />
Vgl. ferner African Cry, S. VI.<br />
A.a.O., S. 28f.<br />
Zum Begriff des Symbols und zu dessen Bedeutung für Schwarzafrika vgl. Kap. 2.5.
Einleitung 31<br />
lichkeit, der biblischen Geschichte und der Dimension des Heils und ermöglicht so die<br />
Partizipation an allen durch das Symbol zusammengefügten Dimensionen. Der symbolische<br />
Zugang zur Wirklichkeit ist sich dessen bewußt, daß er ein möglicher Zugang<br />
zur Wahrheit neben anderen möglichen Zugängen ist. Zugleich ist er sich des relationalen<br />
und personalen (nicht: persönlich-subjektiven) Charakters seines (bzw. eines<br />
jeden) Zugangs zur Wahrheit bewußt. Dies klingt mit an, wenn Jean-Marc Ela von der<br />
Notwendigkeit einer Vielfalt kontextspezifischer Theologien bzw. theologischer Sprachen<br />
spricht, die alle denselben christlichen Glauben ausdrücken: „Ours is not the only<br />
voice“. 73<br />
73<br />
JOHN LADU, Poised for the Future (Interv.. mit Jean-Marc Ela), New People No. 7 (1990), 6-8, S. 8.
1 Jean-Marc Elas Biographie in Verschränkung<br />
mit der Entwicklung seiner theologischen<br />
Reflexion<br />
Jean-Marc Ela „hat eine makellose akademische Karriere hinter sich“ 1 , „er hat die<br />
westlichen Formen geisteswissenschaftlicher Arbeit intensiv studiert“ und „vermag ihr<br />
Instrumentarium virtuos zu handhaben“ 2 . Er ist Mitglied der ökumenischen Vereinigung<br />
afrikanischer Theologen (AOTA) und der Internationalen Konferenz für Religionssoziologie<br />
(CISR), er lehrte am Internationalen Ausbildungs- und Forschungszentrum<br />
für Bevölkerung und Entwicklung in Louvainla Neuve 3 , er ist Gastprofessor am<br />
Centre International d’Etudes de la Formation Religieuse „Lumen Vitae“ in Brüssel,<br />
Professor am Séminaire Théologique Saint-Cyprièn de Ngoya in Kamerun 4 und seit<br />
1985 Professor für Soziologie an der Universität der kamerunischen Hauptstadt Yaoundé.<br />
Seine Bücher sind z.T. ins Deutsche, Italienische, Englische und Niederländische<br />
übersetzt.<br />
Indes, Jean-Marc Elas „akademische L<strong>auf</strong>bahn ist nur die eine Hälfte seiner Wirksamkeit<br />
und Erfahrungswelt“ 5 . Welches ist die andere Hälfte? Wer ist dieser Mann, der zu<br />
den führenden Theologen in Afrika zählt, und dem gleichzeitig nachgesagt wird, er sei<br />
„einer der wenigen Dozenten an der Universität von Yaoundé, die man kaum wahrnimmt<br />
- so einfach ist dieser Mann“ 6 ? Was ließ ihn zum „Begründer der afrikanischen<br />
Befreiungstheologie“ 7 werden?<br />
Da Theologie und Biographie eng zusammenhängen - nicht nur bei kontextuellen TheologInnen<br />
-, und der eine Aspekt jeweils zum besseren Verständnis des anderen hilft bzw. sogar eine not-<br />
1<br />
2<br />
3<br />
4<br />
5<br />
6<br />
7<br />
FLAVIEN TIOKOU NDONKO, Jean-Marc Ela - Befreiungstheologe, in: GERLINDE KURZBACH (Hg.), Kamerun.<br />
Ein Reisebuch, Hamburg (VSA), 1992, 17f, S. 17. - Jan P. Heijke merkt an, daß Reiseführer in der Regel<br />
irrelevant sind für die zur Auseinandersetzung mit kontextuellen Theologien notwendigen Hintergrund<strong>info</strong>rmationen;<br />
JAN P. HEIJKE, Kameroense Befrijdingstheologie, S. 14. <strong>Das</strong> von Gerlinde Kurzbach<br />
herausgegebene Reisebuch ist jedoch eine erwähnenswerte Ausnahme.<br />
Art. Jean-Marc Ela, Kamerun, in: Theologen der Dritten Welt (Missionswissenschaftliches Institut<br />
Missio e.V., Aachen, unveröffentlichte Sammlung von Kurzbiographien und -darstellungen der Theologie<br />
von Dritte-Welt-Theologen).<br />
Darüber berichtet nur FLAVIEN TIOKOU NDONKO, a.a.O., S. 17f.<br />
Diese Information findet sich nur bei RASOLONJATOVO MARTIAL, La théologie sous l’arbre ou une<br />
inculturation Camerounaise du révélé chrétien, Aspects du Christianisme à Madagascar 5 (1993), Nr.<br />
3, 122-132, S. 123.<br />
Art. Jean-Marc Ela, Kamerun.<br />
FLAVIEN TIOKOU NDONKO, a.a.O., S. 18. Vgl. auch die Bemerkung von John Ladu in der redaktionellen<br />
Vorbemerkung zu s<strong>einem</strong> Interview mit Jean-Marc Ela: „To arrange for an interview with Jean-Marc<br />
Ela is a complicated task. He does not have a car or a telephone and one has to venture going to see him<br />
without a previous appointment“ (JOHN LADU, Poised for the Future, New People No. 7 (1990), 6-8, S.<br />
6).<br />
So die im Untertitel formulierte These von THOMAS SEITERICH-KREUZKAMP.
1 Jean-Marc Elas Biographie in Verschränkung mit der Entwicklung seiner theologischen Reflexion<br />
33<br />
wendige Voraussetzung hierfür ist, 8 gebe ich im folgenden einen Überblick über Jean-Marc Elas<br />
Biographie in Verbindung mit der Entwicklung seiner theologischen Reflexion und im Zusammenhang<br />
mit einigen Daten aus der kamerunischen Geschichte.<br />
Die folgende Rekonstruktion der Biographie von Jean-Marc Ela basiert im wesentlichen <strong>auf</strong><br />
folgenden Texten 9 :<br />
• Ein Itinerarium, in: Mein Glaube als Afrikaner, 15-26 (1. Kapitel); Jean-Marc Ela läßt hier<br />
seinen Weg als Missionar in Nordkamerun Revue passieren<br />
• Thomas Seiterich-Kreuzkamp, Wie die Kirdi den Tod Gottes überwanden. Interview mit<br />
Jean-Marc Ela, dem Begründer der afrikanischen Befreiungstheologie, Publik-Forum 23<br />
(1994), Nr. 9, 21-23; hier spricht Jean-Marc Ela auch kurz seine heutigen Aktivitäten an<br />
1.1 Die Wurzeln<br />
Jean-Marc Ela <strong>wurde</strong> 1936 in Ebolowá geboren. Ebolowá liegt in einer Waldregion im<br />
Süden Kameruns. 10 Odile Mocou und Jean-Rémi Etowa, die Eltern von Jean-Marc Ela,<br />
waren Kleinbauern, die <strong>auf</strong> weniger als zwei Hektar Land Kakao anbauten. Jean-Marc<br />
Ela, der noch acht Geschwister hat, nennt seine Eltern „große Christen, mit <strong>einem</strong><br />
zutiefst am Evangelium ausgerichteten Leben“ 11 , die seinen Weg ins Priestertum zwar<br />
begleitet, aber nicht angestoßen haben. „Als sie sterben mußten, haben sie gebetet bis<br />
der Tod kam. Meine Mutter, die nie lesen und schreiben gelernt hatte, sagte mir in ihrer<br />
Sterbestunde: ‚Mein Sohn, du wirst Priester. Aber werde nicht so einer wie die von<br />
heute‘“. 12 Dies läßt immerhin <strong>auf</strong> ein gewisses, durch die Bibel inspiriertes, kritisches<br />
Verhältnis gegenüber der herrschenden Praxis kirchlicher Amtsträger schließen, ungeachtet<br />
dessen, ob hinter der Erlaubnis, ihren Sohn Priester werden zu lassen, die Mahnung<br />
der Missionare: „Hindere deinen Sohn nicht, Priester zu werden, wenn Gott ihn<br />
gerufen hat.“ 13 gestanden haben mag oder nicht.<br />
Die Gegend, in der Jean-Marc Ela <strong>auf</strong>gewachsen ist, hat für seine weitere Entwicklung<br />
in zweifacher Hinsicht Relevanz: Zunächst ist diese ein Gebiet, in der schon Jahrzehnte<br />
8<br />
9<br />
10<br />
11<br />
12<br />
13<br />
Dies heißt freilich nicht, daß sich der eine Aspekt vollständig aus dem jeweils anderen erklären läßt.<br />
Theologie und Biographie beeinflussen sich wechselseitig, aber determinieren sich nicht. - Zwischen<br />
Theorie und Praxis kann ebenso ein „garstiger Graben“ bestehen. Für BefreiungstheologInnen ist es in<br />
diesem Zusammenhang jedoch charakteristisch, daß sie versuchen, Theorie und Praxis bewußt in eine<br />
dialektische Beziehung zu bringen. Wird diese lebendige Verbindung ernst genommen, dann lassen sich<br />
die eigene Biographie und (Glaubens-)Praxis von der theologischen Reflexion und einer ggf. notwendigen<br />
Revision nicht ausnehmen.<br />
Außerdem habe ich die für Jean-Marc Elas Biographie relevanten Texte von Jan P. Heijke mit herangezogen:<br />
Kameroense Befrijdingstheologie (insbes. das Kap. über Jean-Marc Elas Biographie, 93-105) und<br />
Contextualisatie bij Jean-Marc Ela, Kerk en Missie Nr. 268 (1992), 6-11 [im folgenden zitiert als: ders.,<br />
Contextualisatie].<br />
Zum Namen seines Heimatdorfes bemerkt Jean-Marc Ela folgendes: „Ebolowá ist ein ernster und zugleich<br />
lustiger, scherzhafter Ortsname. Übersetzt bedeutet das etwa: ‚Ich habe einen faulen Gedanken‘ “<br />
(THOMAS SEITERICH-KREUZKAMP, S., 21). Dieser Name soll vermutlich „böse Geister“, die dem Dorf übel<br />
wollen könnten, irritieren. Zur Bedeutung der Namensgebung in Afrika, insbesondere der von Menschen,<br />
vgl. Mein Glaube als Afrikaner, S. 52.<br />
THOMAS SEITERICH-KREUZKAMP, S. 21.<br />
Ebd.<br />
NAZAIRE BITOTO ABENG, Von der Freiheit zur Befreiung, S. 170.
1 Jean-Marc Elas Biographie in Verschränkung mit der Entwicklung seiner theologischen Reflexion<br />
34<br />
vor der katholischen Kirche die protestantische Mission deutlich präsent war. Dies ist<br />
der Hintergrund für die besondere Beziehung des Katholiken Jean-Marc Ela zur Bibel.<br />
Später sollte er seine theologische Dissertation zu Luther schreiben, den er heute neben<br />
Dietrich Bonhoeffer und Thomas von Aquin explizit als Teil seiner Lebens- und Ausbildungsgeschichte<br />
versteht. 14 Über seine Heimatkirche urteilt Jean-Marc Ela, daß sie<br />
schon „mit den Anzeichen vorzeitigen Alterns geboren <strong>wurde</strong>“ 15 , insofern sie, wie so<br />
viele andere „junge Kirchen“, einfach das durch die Mission vermittelte europäische<br />
Modell übernommen hat, ohne das Evangelium vom Gesichtspunkt der eigenen Kultur<br />
aus neu zu überdenken. 16<br />
Andererseits lag im Süden Kameruns der Schwerpunkt des organisierten Widerstandes<br />
gegen die französische Kolonialherrschaft. 17 Der antikoloniale Widerstand <strong>wurde</strong> wesentlich<br />
getragen durch die 1948 von dem Gewerkschafter Ruben Um Nyobé 18 gegründete<br />
Partei UPC (Union des Populations du Cameroun). Die Ermordung Ruben<br />
Um Nyobés 1958 und die weitgehende Übernahme der zentralen Forderungen der<br />
UPC (schnellstmögliche Unabhängigkeit und Wiedervereinigung) durch die Regierung<br />
Ahmadou Ahidjo führten jedoch zur Zersplitterung der UPC. Die Repression durch die<br />
französische Kolonialmacht und ihre kamerunische Marionettenregierung tat ein übriges.<br />
<strong>Das</strong> Klima des Kampfes gegen die koloniale Unterdrückung prägte Jean-Marc Elas<br />
Jugend:<br />
Schon bald sang ich in meiner Muttersprache, trotz aller Verbote, jene Melodie,<br />
die Schüler zum großen Teil aus meiner engeren Heimat komponiert hatten und<br />
die später, nach 1960 [Jahr der Unabhängigkeit Kameruns], unsere Nationalhymne<br />
werden sollte. Mit dem Entstehen dieser Melodie begann eine Phase unserer<br />
Geschichte, in der die Ablehnung der kolonialen Situation durch die schu-<br />
14<br />
15<br />
16<br />
17<br />
18<br />
THOMAS SEITERICH-KREUZKAMP, S. 22.<br />
Mein Glaube als Afrikaner, S. 15.<br />
Vgl. JOHN LADU, Poised for the Future (Interview), New People Nr. 7 (1990), 6-8, S. 7.<br />
Von 1884 bis 1916 war Kamerun deutsche Kolonie („Schutzgebiet“) gewesen. Nach Beendigung des<br />
Ersten Weltkrieges teilten Großbritannien und Frankreich das Land in Einflußzonen <strong>auf</strong>, wobei Großbritannien<br />
ein Fünftel und Frankreich vier Fünftel erhielt. Dies <strong>wurde</strong> 1919 im Vertrag von Versailles<br />
bestätigt. Während Großbritannien seine Politik derjenigen, die es in Nigeria betrieb (Prinzip der „indirect<br />
rule“), anpaßte, praktizierte Frankreich eine streng zentralistische Politik, die einen starken Einfluß<br />
durch französische Kultur mit sich brachte. 1922 <strong>wurde</strong> Kamerun als Mandatsgebiet des Völkerbundes<br />
britischer und französischer Verwaltung unterstellt. 1946 kam das Land unter UN-Treuhandschaft,<br />
blieb aber weiterhin unter britischer und französischer Verwaltung. Dar<strong>auf</strong>hin begann eine Zeit des<br />
politischen Erwachens, in der die entstehende Unabhängigkeitsbewegung zunehmend an Bedeutung<br />
gewann. Für einen Überblick über die kamerunische Kolonialgeschichte und den antikolonialen Widerstand<br />
vgl. z.B. GERLINDE KURZBACH (Hg.), Kamerun. Ein Reisebuch, Hamburg (VSA), 1992, S. 103-115;<br />
JAN P. HEIJKE, Kameroense Befrijdingstheologie, S. 16-31.<br />
Der 1913 geborene Ruben Um Nyobé hatte, anders als z.B. Nkrumah, Cabral oder Nyerere, nie eine<br />
westliche Universität besucht. Seine Ausbildung hatte er durch Missionare und kommunistische französische<br />
Gewerkschafter (CGT) erhalten. „Heute gilt Ruben Um Nyobé beinahe noch stärker als damals als<br />
Märtyrer, als großer Kämpfer für ein wirklich unabhängiges Kamerun, erschossen von den Marionetten<br />
des Kolonialismus“, dessen Volk betrogen und „um die Früchte der Dekolonisation gebracht“ <strong>wurde</strong><br />
(ANDREAS ECKERT, Ruben Um Nyobé, in: GERLINDE KURZBACH (Hg.), a.a.O., S. 111).
1 Jean-Marc Elas Biographie in Verschränkung mit der Entwicklung seiner theologischen Reflexion<br />
35<br />
lisch gebildete Bevölkerung in zahlreichen Forderungen immer deutlicher zum<br />
Ausdruck kam. 19<br />
Später widmete Jean-Marc Ela sein Buch Mein Glaube als Afrikaner (franz.: 1985)<br />
unter anderem den „Märtyrern des schwarzen Volkes“ (martyrs du peuple noir). Mit<br />
Jan P. Heijke gehe ich davon aus, „daß er dabei nicht abstrakt an den gesamten Kontinent,<br />
sondern ganz konkret an sein eigenes Land gedacht haben muß“ 20 . Jean-Marc Ela<br />
verweist jedoch nirgends explizit <strong>auf</strong> die UPC. Seine konkrete Beziehung zu dieser<br />
Bewegung - war er einfach Sympathisant oder hat er <strong>auf</strong> irgendeine Weise partizipiert?<br />
- geht aus seinen Schriften nicht hervor.<br />
Bevor Jean-Marc Ela 1964 zum Priester geweiht <strong>wurde</strong>, besuchte er eine Missionsschule<br />
und absolvierte danach sein Theologiestudium am Großen Seminar 21 des Erzbistums<br />
Yaoundé. Seine theologischen Lehrer waren Benediktinerpatres aus Engelberg<br />
in der Schweiz.<br />
Kirchengeschichtlich interessant für diese Zeit ist der Januar 1962. Zwei Jahre nach der<br />
politischen Unabhängigkeit wird der erste einheimische Bischof eingesetzt - ein wichtiger<br />
Schritt im Kampf gegen die „unterdrückende Macht der Kolonialkirche“ 22 .<br />
Jean-Marc Elas erste Publikationen stammen aus dem Jahr 1963. Er thematisiert darin<br />
die Bedeutung des gerade begonnenen Zweiten Vatikanischen Konzils für Afrika und<br />
das Problem des Ökumenismus in Afrika. Dabei geht es ihm u.a. um die Anerkennung<br />
der eigenen afrikanischen Kultur. Für eine bibeltheologische Arbeit über das Jerusalemer<br />
Apostelkonzil (Apg 15) - „<strong>Das</strong> erste aller Ökumenischen Konzile“ - gewann er<br />
den zweiten Preis im Rahmen eines Wettbewerbs aller französischsprachigen Länder. 23<br />
Nach seiner Priesterweihe 1964 lehrte Jean-Marc Ela zunächst als Dozent am Großen<br />
Seminar. Während dieser Zeit schrieb er für das Studentenblatt Tam Tam einen Artikel<br />
über die Kirche und ihre Begegnung mit der Dritten Welt. Darin schneidet er das Problem<br />
der ökonomischen Ungleichheit in der Welt an und ruft die Armen <strong>auf</strong>, ihre Präsenz<br />
in der Kirche deutlich zu machen - was letztlich eine strukturelle Umwandlung<br />
der westlichen Gesellschaft impliziert. Des weiteren konstatiert er für die hebräische<br />
Bibel als roten Faden das Streben nach einer gerechten Gesellschaft. In der Gesellschaft,<br />
in der z.B. Amos <strong>auf</strong>tritt, stellen die Armen eine enterbte Bevölkerungsgruppe<br />
dar, die durch die besitzende Klasse ausgebeutet und proletarisiert wird. Auch bei<br />
Jesaja findet sich der Protest gegen die Entwertung der Menschen als Folge der ökonomischen<br />
Ausbeutung. Dies führt Jean-Marc Ela zu dem Schluß, daß es nicht möglich<br />
ist, Jesus zu begegnen, wenn mensch den Armen aus dem Weg geht, denn die<br />
19<br />
20<br />
21<br />
22<br />
23<br />
Mein Glaube als Afrikaner, S. 15.<br />
„Het is zeker dat hij daarbij niet abstract aan het uitgestrekte continent, maar heel concreet aan zijn<br />
eigen land moet hebben gedacht“; JAN P. HEIJKE, Kameroense Befrijdingstheologie, S. 93.<br />
Zum „Grand Séminaire“ vgl. NAZAIRE BITOTO ABENG, a.a.O., S. 185-187.<br />
A.a.O., S. 163.<br />
JEAN-MARC ELA, Note sur le problème de l’oecuménisme en Afrique Noire, in: Tam Tam Nr. 3-4 (1963),<br />
48-52; ders., L’Eglise, le Monde Noir et le Concile, in: Personnalité africaine et Catholicisme (Présence<br />
Africaine), Paris (1963); ders., Le premier de tous les Conciles Oecuméniques (Actes XV, 1-35). 2 e Prix<br />
Concours Biblique des Pays de langue française, Strasbourg, 1963.
1 Jean-Marc Elas Biographie in Verschränkung mit der Entwicklung seiner theologischen Reflexion<br />
36<br />
Schlachtopfer der Ausbeutung sind das Bild des leidenden Christus. 24 - Ein frühes<br />
Zeugnis für den befreiungstheologischen Ansatz von Jean-Marc Ela.<br />
In seiner Funktion als Seminardozent gab Jean-Marc Ela sich jedoch nicht mit der<br />
Vermittlung reinen Bücherwissens zufrieden. Sein Interesse richtete sich darüber hinaus<br />
<strong>auf</strong> das, was in der Gesellschaft passierte. Es war ihm z.B. <strong>auf</strong>gefallen, daß der<br />
Unterricht in Kamerun, der größtenteils in der Hand der katholischen Kirche lag, in<br />
keiner Weise den Verhältnissen des Landes angemessen war. Der Unterricht sollte,<br />
statt abhängig zu machen durch die Übernahme anderswo und von anderen erdachter<br />
Antworten und Ideen, die Menschen dazu befähigen, selbst nachzudenken und ihre<br />
gesellschaftlichen Verhältnisse zu hinterfragen. In Kamerun, wo - wie allgemein in<br />
Schwarzafrika - die Bevölkerung hauptsächlich von der Landwirtschaft geprägt ist -<br />
was übrigens auch <strong>auf</strong> viele StadtbewohnerInnen zutrifft, die ja zumeist vom Land in<br />
die Stadt migriert sind -, muß der Unterricht von dieser Situation ausgehen. Diese ihre<br />
Situation analysieren zu lernen, ist das wichtigste Unterrichtsziel. Was Jean-Marc Ela<br />
hierbei vorschwebt, läßt sich mit Jan P. Heijke eine „Kontextualisierung des Unterrichtes“<br />
25 nennen.<br />
Diese Gedanken führten Jean-Marc Ela dazu, seine Position als Seminardozent in Frage<br />
zu stellen. Künftige Priester sollten zuallererst lernen, ihr Glaubensverständnis zu<br />
vertiefen, dadurch, daß sie sich <strong>auf</strong> ihren konkreten Kontext einlassen. Demgegenüber<br />
<strong>wurde</strong>n die Priesterkandidaten am Großen Seminar praktisch von ihrer Umwelt abgeschnitten,<br />
ihre Kontakte nach außen restriktiv reglementiert: „Alle Kontakte mit den<br />
verdorbenen Angehörigen waren zu vermeiden“. In Verbindung mit dem Lehrstoff<br />
<strong>wurde</strong> so der Entwurzelungsprozeß der Priesterkandidaten forciert. 26 Deshalb muß die<br />
Abhängigkeit von fremden Sichtweisen abgelöst werden von <strong>einem</strong> kontextuellen<br />
Zugang. Kontextualität heißt für einen Priester, der sich am Evangelium orientiert, sich<br />
primär durch das Schicksal der Marginalisierten und Ausgeschlossenen bestimmen zu<br />
lassen. 27<br />
Doch erst einmal führte Jean-Marc Elas weiterer Weg von der Peripherie ins Zentrum.<br />
Er ging nach Frankreich, wo er sich 1969 in Strasbourg mit einer umfangreichen Arbeit<br />
über die Transzendenz Gottes und die menschliche Existenz bei Martin Luther in<br />
Theologie habilitierte. 28 Ferner studierte er in Paris und in Belgien Kultur- und Sozialwissenschaften<br />
(Philosophie und Soziologie).<br />
24<br />
25<br />
26<br />
27<br />
28<br />
JEAN-MARC ELA, L’Eglise à la rencontre du Tiers Monde, Tam Tam Nr. 1-2 (1965), 4-8 und Nr. 9-10,<br />
27-44. Zusammenfassung dieses Artikels bei JAN P. HEIJKE, a.a.O., S. 93f und S. 118.<br />
„Contextualisering van het onderwijs“; JAN P. HEIJKE, Contextualisatie, S. 7. Die Informationen über<br />
Jean-Marc Elas Zeit als Seminardozent basieren <strong>auf</strong> diesem Aufsatz (S. 6f). Mit der Problematik des Unterrichtes<br />
setzt sich JEAN-MARC ELA auseinander in s<strong>einem</strong> ersten Buch: La plume et la pioche. Réflexion<br />
sur l’enseignement et la société dans le développement de l’Afrique Noire, Yaoundé (CLE), 1971. <strong>Das</strong><br />
Thema der Bildung und Erziehung (von der Kolonialgeschichte bis heute) behandelt ebenfalls NAZAIRE<br />
BITOTO ABENG ausführlich in seiner Dissertation über die Kirchen- und Kolonialgeschichte Kameruns.<br />
NAZAIRE BITOTO ABENG, a.a.O., S. 121f (Zitat S. 121).<br />
Vgl. JAN P. HEIJKE, a.a.O., S. 7.<br />
JEAN-MARC ELA, Transcendance de Dieu et existence humaine selon Luther. Essai d’introduction à la<br />
logique d’une théologie, Thèse pour le Doctorat d’Etat et théologie, Strasbourg, 1969, 2 Bde. (als Verfasser<br />
ist Jean-Marc Etoa angegeben - Eto(w)a ist der Name von Jean-Marc Elas Vater).
1 Jean-Marc Elas Biographie in Verschränkung mit der Entwicklung seiner theologischen Reflexion<br />
37<br />
Angesprochen durch das Wort des Paulus: „Wehe mir, wenn ich das Evangelium nicht<br />
verkündige“ (1 Kor 9,16) faßte Jean-Marc Ela 1971 einen folgenreichen Entschluß, der<br />
s<strong>einem</strong> Leben eine grundlegende Wende geben sollte und den Grundstein legte für die<br />
Entstehung der théologie sous l’arbre. Dozieren schien ihm nicht länger eine adäquate<br />
Antwort <strong>auf</strong> die Herausforderung durch das Evangelium zu sein. Schon früh hatte er<br />
die Beziehung zu s<strong>einem</strong> konkreten Kontext theologisch reflektiert: „Er kann nicht an<br />
das ‚Heil‘ denken - ein Begriff, der ihm sowohl beim Katechismusunterricht in seiner<br />
Jugend als auch bei seiner theologischen Lektüre wiederholt begegnete -, ohne augenblicklich<br />
an den ‚Ort des Unheils‘ zu denken.“ 29 Diesen Ort suchte Jean-Marc Ela nun<br />
<strong>auf</strong>.<br />
1.2 "Unter dem Baum": der Geburtsort der théologie sous<br />
l’arbre (Tokombéré; 1971-1985)<br />
1971 kehrte Jean-Marc Ela mit einer klaren Idee aus Europa nach Kamerun zurück:<br />
„that the best way to deepen in the divine sciences is to be immersed in human realities“<br />
30 . Nachdem er zuerst erwogen hatte, unter den Pygmäen zu arbeiten, entschied er<br />
sich dafür, als Missionar in den äußersten Norden Kameruns zu gehen. Rund 14 Jahre<br />
lang blieb er in Tokombéré. Er folgte damit dem Beispiel Simon Mpeckés, des ersten 31<br />
einheimischen kamerunischen Priesters.<br />
Exkurs: Baba Simon - der „Barfuß-Apostel“ 32 von Nordkamerun<br />
Baba Simon, wie Simon Mpecké genannt <strong>wurde</strong>, stammte wie Jean-Marc Ela aus dem<br />
Süden Kameruns, aus der Gegend von Lasánága. Ein Artikel in den Etudes Camerounaises<br />
über die Religiosität der verachteten und ausgebeuteten Kirdi in Nordkamerun<br />
hatte ihn derart getroffen, daß er - im Alter von 55 Jahren - beschloß, als Missionar zu<br />
diesen Menschen zu gehen. So ließ er sich 1959 unter den Madas in Tokombéré nieder,<br />
wo es ihm gelang, eine christliche Gemeinschaft ins Leben zu rufen. Ein Arzt aus der<br />
Schweiz, Dr. Maggi, schloß sich ihm an und begann, in Tokombéré ein kleines Hospital<br />
<strong>auf</strong>zubauen.<br />
„Die Quintessenz von Baba Simons Evangelium war der Respekt gegenüber dem Menschen.“<br />
33 Nach seinen eigenen Angaben praktizierte er eine „afrikanische Mystik“ -<br />
29<br />
30<br />
31<br />
32<br />
„Hij kan niet aan het ,heil‘ denken - term die hij zowel in de catechismuslessen van zijn jeugd als in zijn<br />
theologische lectuur bij herhaling tegenkwam - zonder ogenblikkelijk aan de ,plaats des onheils‘ te<br />
denken“; JAN P. HEIJKE, a.a.O., S. 6.<br />
So JOHN LADU in der Vorbemerkung zu s<strong>einem</strong> Interview mit Jean-Marc Ela (a.a.O., S. 6).<br />
Diese Angabe macht Jean-Marc Ela im Interview mit THOMAS SEITERICH-KREUZKAMP (S. 21); in Poverty<br />
and Theology, New People Nr. 31 (1994), 16 [zitiert als: Poverty and Theology; dieser Text ist zu Beginn<br />
von Kap. 5 vollständig dokumentiert], spricht er von Baba Simon als „one of the first Cameroonian<br />
priests“.<br />
Jean-Marc Ela nennt Baba Simon in Le Cri de l’homme Africain, S. 144, „le missionnaire camerounais<br />
aux pieds nus“ (African Cry, S. 120).
1 Jean-Marc Elas Biographie in Verschränkung mit der Entwicklung seiner theologischen Reflexion<br />
38<br />
„Gott in allem sehen“ - und lebte seinen Glauben, ohne weder dem afrikanischen Fatalismus<br />
noch dem christlichen Quietismus zu verfallen. Er sah darüber hinaus die Zeit<br />
gekommen, „das Christentum ganz neu zu erfinden, um es mit unserer afrikanischen<br />
Seele zu leben“ 34 . Seine Beziehungen zur traditionellen Religion scheinen harmonisch<br />
gewesen zu sein, wohl weil er es ablehnte, Druck <strong>auf</strong> die Menschen auszuüben und sie<br />
mit aller Gewalt zu christianisieren. So <strong>wurde</strong> Baba Simon zu den Aktivitäten der traditionellen<br />
Religion eingeladen und nach s<strong>einem</strong> Tod bezeugte der Priester der Mouyangs,<br />
einer Untergruppe der Kirdi, daß er ihn gelehrt habe, die anderen zu akzeptieren.<br />
Was ihm imponierte an seiner Beziehung zu Baba Simon, war, daß dieser - im Gegensatz<br />
dazu, wie den Kirdi, die in den Bergen leben, in der Ebene gewöhnlich begegnet<br />
wird - die Kirdi ermutigte, sich selbst zu lieben. 35 Baba Simons Name soll sogar bei<br />
den traditionellen Opfern in den Mandarabergen von den Priestern im Rahmen ihrer<br />
Zeremonien erwähnt werden. Die Steinhütte, die Baba Simon <strong>auf</strong> <strong>einem</strong> Hügel gebaut<br />
hatte, um sich in der Abgeschiedenheit dem Gebet widmen zu können, <strong>wurde</strong> für viele<br />
Menschen aus den Mandarabergen zu <strong>einem</strong> Wallfahrtsort, der alljährlich zu s<strong>einem</strong><br />
Todestag <strong>auf</strong>gesucht wird.<br />
Ende 1974 verschlechterte sich der gesundheitliche Zustand von Baba Simon, weshalb<br />
er beim Bischof um seine Entlassung ersuchte. Nach Tagebuch<strong>auf</strong>zeichnungen von<br />
Baba Simon schien Jean-Marc Ela, als er davon erfuhr, in <strong>einem</strong> völlig desolaten Zustand<br />
gewesen zu sein. Im Mai 1975 verließ der nun Siebzigjährige Tokombéré für<br />
immer, bevor er am 13. August desselben Jahres starb. Baba Simon war, so läßt sich<br />
abschließend resümieren, eine beeindruckende, ausstrahlende und wohl charismatische<br />
Persönlichkeit. 36<br />
Baba Simon führte Jean-Marc Ela in den Umgang mit der Bevölkerung von Tokombéré<br />
und Umgebung ein. Dies geschah über die samstäglichen Zusammenkünfte unter<br />
<strong>einem</strong> großen Tamarindenbaum und durch ausgedehnte Wanderungen zu Fuß in die<br />
Umgebung. Auf diese Weise empfing Jean-Marc Ela seine „pastorale Initiation“.<br />
Tokombéré selbst liegt am Rande der Mandaraberge, <strong>einem</strong> Gebirgszug im Norden<br />
Kameruns, der direkt an Nigeria grenzt. Die dort lebende Bevölkerung <strong>wurde</strong> dorthin<br />
abgedrängt von der in Nordkamerun dominierenden Moslembevölkerung, dem aus<br />
Westafrika zugewanderten Rinderhirtenvolk der Peul bzw. Fulbe. Für die Muslime<br />
gelten die Menschen aus den Mandarabergen als verächtliche „Heiden“ (Kirdi). So<br />
<strong>wurde</strong> „Kirdi“ zu <strong>einem</strong> Sammelbegriff für verschiedene nicht-islamische Bevölkerungsgruppierungen.<br />
In den Mandarabergen stellt jedes Bergmassiv praktisch eine<br />
eigene ethnische Gesellschaft dar. „Von Dorf zu Dorf ändern sich Sprache, Hausform,<br />
33<br />
34<br />
35<br />
36<br />
„De quintessence van Baba Simon’s evangelie was het respect voor de mens“; JAN P. HEIJKE, Kameroense<br />
Befrijdingstheologie, S. 89.<br />
So zitiert ihn Jean-Marc Ela in Le Cri de l’homme Africain, S. 144 („réinventer le christianisme pour le<br />
vivre avec notre âme africaine“).<br />
Dies deutet auch Jean-Marc Ela an, wenn er in Mein Glaube als Afrikaner, S. 16 (Anm. 1), von „jenen<br />
jungen Leuten“ spricht, „denen Baba Simon den Stolz ein Kirdi zu sein, wiedergegeben hat“ („ces jeunes<br />
à qui Baba Simon a rendu la fierté d’être kirdi“; Ma foi d’Africain, S. 24).<br />
Die Informationen zu diesem Exkurs basieren <strong>auf</strong> den Angaben von JAN P. HEIJKE (Kameroense Befrijdingstheologie,<br />
89-92).
1 Jean-Marc Elas Biographie in Verschränkung mit der Entwicklung seiner theologischen Reflexion<br />
39<br />
Sitten und Gebräuche und z.B. auch die Kopfbedeckung der Frauen“. 37 In diese schwer<br />
zugänglichen Orte gelangt mensch am besten zu Fuß. Manchmal ducken sich die kleinen<br />
Lehmhütten so an die Berghänge, als wollten sie nicht entdeckt werden, ein andermal<br />
wirken die Hausanlagen „wie eine uneinnehmbare Festung oder eine Wagenburg<br />
von Siedlern“ 38 .<br />
Exkurs: Die Geschichte der Fulbe in Kamerun 39<br />
Die Fulbe, die in vielen westafrikanischen Staaten (Senegal, Mali, Niger, Nigeria,<br />
Kamerun, Tschad) Enklaven bilden, sind die mächtigste Volksgruppe in Nordkamerun,<br />
sowohl was ihre Zahl als auch was ihren religiösen und politisch-administrativen Einfluß<br />
betrifft. Diese ehemaligen Rinderhirtennomaden sind heute bis <strong>auf</strong> die kleine<br />
Gruppe der Mbororo, die noch mit ihren Herden durch Nordkamerun streifen, seßhaft.<br />
Möglicherweise hat die Islamisierung der Fulbe zu ihrer Seßhaftwerdung geführt. Seit<br />
dem 16. Jahrhundert leben Fulbe <strong>auf</strong> dem Gebiet des heutigen Kamerun. Im 18. Jahrhundert<br />
gründeten sie in Adamaua ihre ersten Lamidate - so heißen ihre Herrschaftsgebiete<br />
in ihrer Sprache (dem Fulfulde), ihre religiös-weltlichen Führer nennen sie Lamidos.<br />
„Die nun seßhaften Fulbe-Führer versklavten die einheimische Bevölkerung oder<br />
machten sie tributpflichtig. Dank der Arbeit der Leibeigenen und Sklaven häuften die<br />
Fulbe Reichtum und Macht an“ 40 . Die Legitimation für die gewaltsame Eroberung des<br />
in den Mandarabergen und der Ebene der Dianaré, der heutigen Gegend von Maroua,<br />
gelegenen Königreiches Mandara erhielten die Fulbe 1804, als der islamische Reformator<br />
und Fulbe-Scheich Osman dan Fodio den Dschihad ausrief. Fast 30 Jahre lang<br />
führten die Fulbe Krieg gegen die verschiedenen ortsansässigen Volksgruppen (Masa,<br />
Matakam, Mousgoum, Mofu, Fali, Mbum u.a.). Die Folgen dieses Krieges: „Entweder<br />
traten Angehörige dieser Völker zum islamischen Glauben über oder sie <strong>wurde</strong>n versklavt,<br />
wenn sie nicht in die für die Fulbe-Kavallerie undurchdringlichen Berge flüchteten“.<br />
41 <strong>Das</strong> Herrschaftssystem der Fulbe beruhte <strong>auf</strong> ihrer militärischen Macht und<br />
<strong>einem</strong> zentralistischen Herrschaftsapparat mit dem Lamido an der Spitze. Als unsere<br />
deutschen Vorväter Anfang des 20. Jahrhundert den Norden Kameruns kolonisierten,<br />
bauten sie <strong>auf</strong> das vorgefundene Herrschaftssystem <strong>auf</strong>, indem sie loyale Fulbe als<br />
Lamido einsetzten. Die deutschen Kolonisatoren unterstützten sogar die Ausweitung<br />
des Machtanspruchs der Fulbe, sollen SklavInnenjagden toleriert und darüber hinaus<br />
sogar mitgetragen haben. Die spätere Unabhängigkeit änderte nichts an der Machtver-<br />
37<br />
38<br />
39<br />
40<br />
41<br />
GERLINDE KURZBACH, Bizarre Mandaraberge und verträumte Orte in der Ebene. Nordkamerun, in: Gerlinde<br />
Kurzbach (Hg.), a.a.O., 206-218, S. 207.<br />
GERLINDE KURZBACH, Wagenburgen, Kirdis und die Mousgoum. Die traditionelle Lehmarchitektur,<br />
a.a.O., 27-30, S. 28.<br />
Dieser Exkurs basiert im wesentlichen <strong>auf</strong> folgendem Artikel: GERLINDE KURZBACH, Die islamischen<br />
Fulbe-Ritter und ihr Reich, a.a.O., 101-102.<br />
A.a.O., S. 101.<br />
A.a.O., S. 102; zum Dschihad des Osman dan Fodio vgl. auch JOSEPH KI-ZERBO, Die Geschichte Schwarzafrikas,<br />
Frankfurt am Main (Fischer TB), 1992 (franz.: 1978), 392-395, zum Königreich Mandara vgl.<br />
den kurzen Abschnitt a.a.O., S. 309.
1 Jean-Marc Elas Biographie in Verschränkung mit der Entwicklung seiner theologischen Reflexion<br />
40<br />
teilung im Norden. Mit Hilfe der Franzosen <strong>wurde</strong> der Fulbe Ahmadou Ahidjo erster<br />
Staatspräsident der formal unabhängigen Republik Kamerun. 42<br />
Jean-Marc Ela schreibt über das in der Sahelzone liegende Gebiet um Tokombéré, daß<br />
es sich, „wie Baba Simon mir gleich am Abend meiner Ankunft erläuterte, in <strong>einem</strong><br />
Zustand latenter Knechtschaft befand“:<br />
Was mich in der Tat von Anfang an erschütterte, war die Tatsache, daß die Bewohner<br />
dieses felsigen Landes, unter denen ich nun für viele Jahre leben sollte,<br />
nicht nur verachtet und von jeder Entscheidung ausgeschlossen, sondern auch<br />
die Mittellosesten unter der Landbevölkerung Kameruns waren. Um es deutlicher<br />
zu sagen, wenn diese Bewohner arm sind, dann nicht, weil sie etwa nicht<br />
arbeiten, sondern weil sie seit Generationen ausgebeutet und unterdrückt werden.<br />
43<br />
Als Jean-Marc Ela zu diesen Menschen kam, „mußten sie wie Sklaven leben“ 44 . Zu<br />
dieser Zeit herrschte in der Sahelzone eine sich immer weiter verschärfende Dürre, die<br />
mit einer großen, v.a. für viele Kinder tödlichen Hungersnot verbunden war. Die Ursache<br />
für diese Hungersnot ist - so betont Jean-Marc Ela - nicht allein die Naturkatastrophe<br />
der Dürre. Daß diese Dürre sich so verheerend auswirken konnte, liegt insbesondere<br />
in einer verfehlten Agrarpolitik und in Entwicklungsmodellen, die nicht an der jeweiligen<br />
Bevölkerung, an ihren Möglichkeiten und Bedürfnissen ausgerichtet sind,<br />
sondern allein am Profit der nationalen Elite und des internationalen Kapitals, dessen<br />
Handlanger jene ist. Deutlich wird dies z.B. bei der Durchsetzung der Produktion von<br />
Cash-crops <strong>auf</strong> Kosten der Produktion von Nahrungsmitteln für die einheimische Bevölkerung.<br />
Die daraus resultierende prekäre Ernährungssituation hat darüber hinaus<br />
eine dramatische Situation des Gesundheitszustandes der Bevölkerung zur Folge. 45<br />
Die Kirdi sind Kleinbauern und -bäuerinnen, die handtuchkleine steinige und steile<br />
Äcker bebauen, die in Terrassen parzelliert an den Berghängen liegen. Es ist eine mühsame<br />
Arbeit, den Berghängen fruchtbaren Boden abzutrotzen. Daneben halten die<br />
Kirdi etwas Kleinvieh wie Hühner, Ziegen und Schafe. <strong>Das</strong> Großvieh bleibt den Peul<br />
vorbehalten.<br />
<strong>Das</strong> wesentliche Charakteristikum der Situation, in der die Kirdi um ihr Überleben<br />
kämpfen, ist der „Konflikt zwischen Baumwolle und Hirse“ 46 , d.h. der Konflikt zwischen<br />
der Integration in die Marktökonomie und einer traditionellen Subsistenzwirtschaft.<br />
Die Bauern, die lieber ihre Grundnahrungsmittel wie z.B. Hirse (Sorgho), Erd-<br />
42<br />
43<br />
44<br />
45<br />
46<br />
Genaueres über die Eroberung von Adamaua durch - einerseits - die Fulbe und - andererseits - die<br />
Deutschen, über den jeweiligen Widerstand und über die Folgen ist zu erfahren bei MONIKA MIDEL, Fulbe<br />
und Deutsche in Adamaua (Nord-Kamerun) 1809-1916. Auswirkungen afrikanischer und kolonialer<br />
Eroberung (Europäische Hochschulschriften, Reihe 3, Geschichte und Hilfswissenschaften; Bd. 425),<br />
Frankfurt am Main (Lang), 1990 (zugl.: Diss. Bonn, 1990).<br />
Mein Glaube als Afrikaner, S. 15f.<br />
THOMAS SEITERICH-KREUZKAMP, S. 22.<br />
Zu Jean-Marc Elas Analyse des Gesundheitssystems in Afrika siehe unten Kap. 2.6.<br />
Mein Glaube als Afrikaner, S. 17.
1 Jean-Marc Elas Biographie in Verschränkung mit der Entwicklung seiner theologischen Reflexion<br />
41<br />
nüsse, Bohnen und Erbsen anpflanzen würden, werden gezwungen, statt dessen<br />
Baumwolle anzubauen, die ihnen nur Verluste einbringt.<br />
Weitere Probleme, mit denen die Kirdi zu kämpfen haben, sind ihr weitestgehender<br />
Ausschluß aus politischen Entscheidungsgremien, ihre Benachteiligung bei der medizinischen<br />
Versorgung und bei der schulischen Bildung und ihre willkürliche Schikanierung<br />
in vielfältigen Formen (z.B. Pflichtarbeiten beim Straßenbau und <strong>auf</strong> den Feldern<br />
des Häuptlings, willkürliche Verhaftungen, Mißbrauch bei der Steuereintreibung<br />
...). 47<br />
Hier, im äußersten Norden Kameruns, war Jean-Marc Ela eine Art Emigrant - fern von<br />
s<strong>einem</strong> vertrauten Milieu, in <strong>einem</strong> Gebiet, das für ihn in nahezu jeglicher Hinsicht ein<br />
fremdes Land war, und unter einer Bevölkerung mit einer anderen Sprache und einer<br />
anderen Kultur. Nicht ohne Grund wird Kamerun auch als „Afrique en miniature“<br />
bezeichnet. Im Gegensatz zum südkamerunischen Waldland zählt Nordkamerun geographisch<br />
zur Feucht- oder Baumsavanne (Adamaua-Plateau) bzw. zur Trockensavanne<br />
(Bénoué-Becken und Mandaraberge), wo nur in der Regenzeit die Flora gedeiht. In<br />
religiöser Hinsicht dominiert im Norden der Islam, im Gegensatz zum christlichen<br />
Süden. Viele der von den Fulbe dominierten Volksgruppen bewahren zwar ihre traditionelle<br />
afrikanische Religion, den sozialen Aufstieg bewältigen die „Heiden“ der Berge<br />
jedoch nur, wenn sie „in die Ebene hinabsteigen“ und sich „fulbesieren“ lassen, d.h.<br />
zum Islam konvertieren. 48 - Fern auch von der akademischen Welt, an <strong>einem</strong> Ort, wo<br />
die meisten Menschen, die da leben, AnalphabetInnen sind. Jean-Marc Ela beschreibt<br />
seine neue Lage so: „[...] nachdem ich jahrelang in Frankreich studiert hatte, war ich<br />
von <strong>einem</strong> Tag <strong>auf</strong> den anderen mit einer riesengroßen Herausforderung konfrontiert:<br />
mit dem Alltagsleben in <strong>einem</strong> kleinen afrikanischen Dorf.“ 49<br />
Jean-Marc Elas Anliegen war es, von s<strong>einem</strong> Vorbild Baba Simon zu lernen: „Wie<br />
geht das? Evangelisierungsarbeit, Verkündigung und Seelsorge unter den Ärmsten der<br />
Armen?“ 50 Von Baba Simon sagt Jean-Marc Ela später, daß er für ihn war „like a spiritual<br />
father, and he opened my eyes on the real life of the rural people“ 51 . Viele seiner<br />
Veröffentlichungen hatte er mit ihm diskutiert. Jean-Marc Ela betont, daß Baba Simon<br />
nicht nur hinsichtlich der Spiritualität für ihn wichtig war, sondern daß er ihm auch viel<br />
47<br />
48<br />
49<br />
50<br />
51<br />
Die Situation der Kirdi beschreibt JEAN-MARC ELA z.B. in Mein Glaube als Afrikaner, S. 15ff und beim<br />
Interv. mit THOMAS SEITERICH-KREUZKAMP, S. 21ff. Insbesondere ist seine soziologische Dissertation dem<br />
Thema der traditionellen Gesellschaftsformen und ökonomischen Veränderungen bei den BergbewohnerInnen<br />
in Nordkamerun gewidmet (JEAN-MARC ELA, Structures sociales traditionnelles et changements<br />
économiques chez les montagnards du Nord-Cameroun. L’exemple de Tokombéré. Thèse pour le<br />
Doctorat de 3 e cycle, Paris V, Sorbonne, René Descartes, 1978).<br />
Vgl. GERLINDE KURZBACH, Bizarre Mandaraberge, in: a.a.O., S. 206ff.<br />
THOMAS SEITERICH-KREUZKAMP, S. 21. Jan P. Heijke kommentiert Jean-Marc Elas Entscheidung, als Missionar<br />
zu den Kirdi zu gehen, folgendermaßen: „Er hat den Bruch mit dem Selbstverständlichen in s<strong>einem</strong><br />
eigenen Leben erfahren, den Bruch selbst gesucht, dazu gerufen durch das, was er als eine Berufung<br />
durch das Evangelium verstand“ („Hij heeft de breuk met het vanzelfsprekende in zijn eigen leven<br />
ervaren, die breuk zelfs gezocht, daartoe geroepen door wat hij verstond als een appel met het evangelie“;<br />
JAN P. HEIJKE, Een Afrikaanse Befrijdingstheoloog: Jean-Marc Ela, Euntes-Digest 18 (1985), Nr. 4,<br />
254-264, S. 254).<br />
THOMAS SEITERICH-KREUZKAMP, S. 21.<br />
Poverty and Theology (S. 16).
1 Jean-Marc Elas Biographie in Verschränkung mit der Entwicklung seiner theologischen Reflexion<br />
42<br />
für sein Denken zu verdanken hat, ja letztlich für sein gesamtes Leben. 52 Seine Wertschätzung<br />
gegenüber Baba Simon drückte Jean-Marc Ela auch dadurch aus, daß er<br />
Mein Glaube als Afrikaner neben den schwarzen Märtyrern zugleich Baba Simon<br />
widmete: „en témoignage de mon affection filiale“ („als Zeugnis meiner ,kindlichen‘<br />
Zuneigung“).<br />
Angesichts ihrer Situation der Armut und Unterdrückung und konfrontiert mit der<br />
vernichtenden Dürre dachten die Menschen in Tokombéré, daß ihnen Gott den Rücken<br />
zugekehrt habe. Laut Jean-Marc Ela erklärten sie immer wieder: „Früher hat Gott zu<br />
uns Menschen gesprochen. Und heute? Er schweigt. Er hat uns verlassen, jeden Tag<br />
verläßt er uns mehr. Er gibt uns den Leiden preis, der Hungersnot ohne Ende, der Dürre,<br />
der Krankheit zum Tode, dem Sterben.“ 53 Jean-Marc Ela interpretiert diese Äußerungen<br />
der Kirdi über ihre Vorstellung von Gott als Ausdruck ihres Leidens am „Tod<br />
Gottes“. 54 Dies stellte den Missionar vor die Frage: „Wie kann man Menschen in solcher<br />
Not den Gott Jesu, den Gott des Lebens, glaubhaft verkünden? Wie den Kirdi<br />
erfahrbar werden lassen, daß Gott, der das Leben liebt, die Leute von Tokombéré nicht<br />
im Stich läßt?“ 55<br />
Im Kontext der praktischen Versklavung der Kirdi bekommt Evangelisierung immer<br />
mehr den Sinn von Befreiung aus dieser Situation. Dieses Verständnis von Evangelisierung<br />
orientiert sich neben der Befreiungspraxis Jesu vor allem an der Interpretation<br />
des Exodus als eines geschichtlichen Ereignisses der Selbstbefreiung eines Volkes aus<br />
der Sklaverei, worin sich Gott als der Gott der Befreiung offenbarte. 56<br />
Jean-Marc Ela sah sich somit vor die Aufgabe gestellt, die Probleme der Mission neu<br />
zu überdenken:<br />
Da ich mich nicht zum Verwalter eines in Lehre und Disziplin zwar definitiv<br />
festgelegten, ansonsten aber in der Auflösung 57 befindlichen Christentums berufen<br />
fühlte, mußte ich Distanz gewinnen gegenüber <strong>einem</strong> Kirchenmodell, das<br />
52<br />
53<br />
54<br />
55<br />
56<br />
57<br />
Wörtlich: „Beaucoup de choses qu’il m’est arrivé d’écrire, je les ai souvent réfléchies et méditées le soir,<br />
assis sous la véranda de ma case ronde avec Baba Simon. Je vous disais qu’il a été mon maître, pas<br />
seulement sur le plan de la spiritualité, mais également sur le plan de la pensée. [...] Je lui dois<br />
énormément dans ma réflexion comme dans ma vie la plus profonde.“ (JEAN-MARC ELA, Les enjeux de la<br />
mission aujourd’hui. Conférence donnée à Lubumbashi, le 22 juillet, in: Christianisme et Libération en<br />
Afrique. Les Dossiers de Mbegu, No. 7, Kinshasa, 1984, 30-43, S. 31).<br />
THOMAS SEITERICH-KREUZKAMP, S. 22.<br />
Ebd.<br />
Ebd.<br />
Selbstbefreiung und Befreiung durch Gott mag (von <strong>einem</strong> westlichen Wirklichkeitsverständnis her) als<br />
Widerspruch erscheinen; aber sowohl nach biblischem als auch nach <strong>einem</strong> afrikanischen Verständnis<br />
existiert dieser Widerspruch zwischen göttlichem Handeln und menschlicher Praxis nicht (vgl. unten<br />
Kap. 2.5). D.h. nicht, daß beide Dimensionen - so wenig sie auch getrennt werden können - völlig<br />
gleich zu setzen wären: Die Identifikation göttlichen Wirkens in der Geschichte bedarf der Arbeit der<br />
Unterscheidung. Hierfür ist der Exodus als Paradigma von entscheidender Bedeutung; vgl. hierzu das 3.<br />
Kap. von African Cry (An African Reading on Exodus; 28-38) und unten Kap. 4.2.<br />
Zu Jean-Marc Elas Analyse der Krise des westlichen Christentums vgl. Mein Glaube als Afrikaner, S.<br />
115f. - Zur „spirituellen Krise“ der Ersten Welt vgl. auch PER FROSTIN, Umkehr in der Metropole. Eine<br />
Antwort der Ersten Welt <strong>auf</strong> die Theologien der Dritten Welt, in: Theologie als konziliarer Prozeß.<br />
Chancen und Grenzen eines interkulturellen Dialogs zwischen Theologien der „Dritten“ und „Ersten“<br />
Welt (Weltmission heute; Nr. 3), hg. v. EMW, Hamburg, 1988, 96-119.
1 Jean-Marc Elas Biographie in Verschränkung mit der Entwicklung seiner theologischen Reflexion<br />
43<br />
irgendwo anders ausgedacht worden war für Menschen, die die Lebensbedingungen<br />
unserer Bergbewohner nicht kannten. 58<br />
Jean-Marc Ela hatte den Eindruck, „daß man eigentlich die Kirche schließen und mit<br />
der Katechese ganz von vorne beginnen müßte“. Er sah sich gezwungen, „ein Leben in<br />
der Unsicherheit des Suchens zu akzeptieren“. 59 Getragen von der Einsicht, daß wir<br />
erst uns selbst bekehren lassen müssen, bevor wir andere bekehren wollen, sah sich<br />
Jean-Marc Ela dazu gedrängt, „eine fragwürdige Form des Christentums abzuschütteln,<br />
um mit viel Geduld aus dem konkreten Leben eine andere Sprache des Evangeliums<br />
<strong>auf</strong>keimen zu lassen“. 60 Dies implizierte freilich, sich zuerst einmal tatsächlich <strong>auf</strong> das<br />
konkrete Leben und die alltäglichen Probleme und Sorgen der Menschen in Tokombéré<br />
einzulassen, was Jean-Marc Ela denn auch tat: „Mit diesen Menschen wollte Ela<br />
sich identifizieren.“ 61 Er „entwickelte eine große Sensibilität für die ganz einfachen<br />
Dinge. In ihnen sucht er das Verständnis für die Lebensformen der Unterschicht, die<br />
von einer unproduktiven Polit-Bourgeoisie unterdrückt wird.“ 62 Jean-Marc Ela legte<br />
besonderen Wert dar<strong>auf</strong>, das Leben der Kleinbauern und -bäuerinnen in Tokombéré bis<br />
ins kleinste zu teilen: „Ich habe [...] gehungert, gegessen, gearbeitet, gewohnt wie sie.<br />
Ich hatte einen Esel, wie meine Nachbarn auch.“ 63 Ebenso selbstverständlich lernte und<br />
benutzte Jean-Marc Ela die Sprache, welche die Menschen in Tokombéré sprechen.<br />
Die Erfahrung einer persönlichen Befreiung, nachdem er „in den ‚kleinen Schritten der<br />
Befreiung‘ einer der Ihren geworden war“, führte ihn dazu, daß er „keinen Aspekt des<br />
Glaubens mehr betrachten“ konnte, ohne sich „Gedanken über seine Wirkung <strong>auf</strong> die<br />
Situation der marginalisierten Bauern zu machen“. 64 1974 schrieb Jean-Marc Ela in<br />
<strong>einem</strong> Artikel in L’Effort Camerounais, dem monatlich erscheinenden Organ der katholischen<br />
Bischofskonferenz 65 , daß für ihn Glaube an Jesus Christus nur bestehen<br />
58<br />
59<br />
60<br />
61<br />
62<br />
63<br />
64<br />
65<br />
Mein Glaube als Afrikaner, S. 17.<br />
Ebd. - Wie die herkömmliche missionarische Praxis aussah, die sich Jean-Marc Ela hätte zum Vorbild<br />
nehmen können, beschreibt z.B. NAZAIRE BITOTO ABENG in: Von der Freiheit zur Befreiung (passim).<br />
Mein Glaube als Afrikaner, S. 17.<br />
„Met deze mensen wilde Ela zich vereenzelvigen“; JAN P. HEIJKE, Een Afrikaanse Befrijdingstheoloog:<br />
Jean-Marc Ela, Euntes-Digest 18 (1985), Nr. 4, 254-264, S. 254.<br />
FLAVIEN TIOKOU NDONKO, Jean-Marc Ela - Befreiungstheologe, a.a.O., S. 18. - Der Alltag der<br />
„klein(gemacht)en Leute“, die Perspektive „von unten“, das ist auch der - theologisch motivierte - soziologische<br />
Ansatz von Jean-Marc Ela. Von diesem Ort her intendiert er ein Verständnis der Gesamtgesellschaft.<br />
Indes, Soziologie ist für ihn - ebenso wie die Traditionen der westlichen Theologie - ein<br />
„Hilfsmittel“ für seine Theologie bzw. für eine am Evangelium orientierte, <strong>auf</strong> Befreiung ausgerichtete<br />
christliche Praxis (vgl. THOMAS SEITERICH-KREUZKAMP, S. 22f).<br />
THOMAS SEITERICH-KREUZKAMP, S. 21 (Ein Esel ist das dort übliche Transportmittel).<br />
Mein Glaube als Afrikaner, S. 12.<br />
L’Effort Camerounais <strong>wurde</strong> 1955, noch während der Kolonialzeit, als Wochenblatt gegründet und ist<br />
die älteste der heute in Kamerun erscheinenden Zeitungen. Von 1975-1987 mußte L’Effort Camerounais<br />
<strong>auf</strong>grund Geldmangels und innerkirchlicher Kritik (in den letzten Nummern war das Thema der<br />
Anwesenheit ausländischer Priester und Ordensleute <strong>auf</strong>gegriffen worden, wobei die Forderung laut<br />
<strong>wurde</strong>, daß diese doch ihren Rückzug vorbereiten mögen) sein Erscheinen einstellen. Seitdem erscheint<br />
er monatlich. Für einen kurzen Überblick über die Presse in Kamerun vgl. ANDREAS MEHLER, Journalisten<br />
leben gefährlich, in: GERLINDE KURZBACH (Hg.), a.a.O., 95-99; und speziell zu L’Effort Camerounais vgl.<br />
JAN P. HEIJKE, Kameroense Befrijdingstheologie, 82-85.
1 Jean-Marc Elas Biographie in Verschränkung mit der Entwicklung seiner theologischen Reflexion<br />
44<br />
kann in <strong>einem</strong> kritischen und prophetischen Bezug <strong>auf</strong> die konkrete Gesellschaft. Entscheidend<br />
ist dabei die Beziehung zu den Entrechteten. 66<br />
Vier Jahre lang arbeitete Jean-Marc Ela in Tokombéré an der Seite von Baba Simon.<br />
Nach dessen Tod im Jahr 1975 setzte er das von diesem unter den Kirdi begonnene<br />
Missionswerk fort. Aus dieser Arbeit ist - als theologische Reflexion seiner Praxis - die<br />
théologie sous l’arbre entstanden, unter „Arbeitsbedingungen, die vielleicht zu einer<br />
,Dritte-Welt-Theologie‘ einfach dazugehören“: ohne die Möglichkeit, eine Bibliothek<br />
zu benutzen, ohne den „Komfort klimatisierter Büros“ und ohne fertige Antworten und<br />
Modelle, in der „Ungesichertheit der Suche“, konfrontiert mit den alltäglichen Problemen<br />
von Menschen, die „bis über die Knöchel im Schlamm“ stecken:<br />
Es war eine unbequeme, mühselige Erfahrung: Hin und her gerissen zwischen<br />
der Arbeit in den Dörfern, Vermittlungsdiensten nach draußen und den viel Zeit<br />
und Geduld erfordernden Gesprächen mit der Jugend, war ich am Abend vom<br />
ständigen Unterwegssein ziemlich erschöpft. Die einzige Möglichkeit, zu mir<br />
selbst zu kommen und mich an meinen Arbeitstisch zu setzen, bot die Nacht. 67<br />
Unter solchen Bedingungen entstand also die théologie sous l’arbre als eine kontextuelle<br />
afrikanische Befreiungstheologie. Dabei bedeutet Kontextualität für Jean-Marc Ela<br />
jedoch nicht, andere schriftlich publizierte Erfahrungen zu ignorieren oder sich aus der<br />
theologischen Diskussion herauszuhalten. Ganz im Gegenteil: So fragt z.B. René Luneau<br />
im Vorwort zu Voici le temps des héritiers, wo Jean-Marc Ela eigentlich die Zeit<br />
dafür hernehme, all das zu lesen, was er zitiert. 68 In die theologische Diskussion griff<br />
Jean-Marc Ela während seiner Zeit in Tokombéré mit einer Vielzahl von Publikationen<br />
ein. 69 Außerdem bereitete er während dieser Zeit seine soziologische Dissertation vor,<br />
die er 1978 an der Sorbonne in Paris präsentierte. 70 Darin untersucht er am Beispiel<br />
von Tokombéré die traditionellen Gesellschaftsstrukturen und die ökonomischen Veränderungen<br />
bei den BergbewohnerInnen in Nordkamerun. Neben der Diskussion der<br />
relevanten anthropologischen Literatur formuliert Jean-Marc Ela insbesondere eigene<br />
Erfahrungen seiner Konfrontation mit dem Leben der Kirdi, ihren Lebensbedingungen,<br />
ihrer Lebensweise und ihrem Weltverständnis. Er konstatiert, daß die Kirdi, deren<br />
Niederlassungen wie Bastionen gegen die steilen Hänge liegen, von einer „Mentalität<br />
von Belagerten“ geprägt seien, und daß sich die Jugendlichen immer mehr ihrer Gesellschaft<br />
entwurzelten und sich aus dem Staub machten, um in der Ebene ihr Glück zu<br />
suchen.<br />
Jean-Marc Ela postuliert von daher eine „Pädagogik des Blicks“ bzw. eine „Pädagogik<br />
der <strong>auf</strong>merksamen Betrachtung“ („pédagogie du regard“), die drei Ziele vor Augen<br />
hat:<br />
1) die Betrachtung aller Aspekte einer Gesellschaft in ihrem Zusammenhang;<br />
66<br />
67<br />
68<br />
69<br />
70<br />
JEAN-MARC ELA, Croire en Jésus-Christ aujourd’hui?, L’Effort Camerounais, 2 juin 1974.<br />
Mein Glaube als Afrikaner, S. 13.<br />
Voici le temps des héritiers, S. 9.<br />
Vgl. das Literaturverzeichnis.<br />
Zu den bibliographischen Angaben für diese Arbeit siehe Anm. 47.
1 Jean-Marc Elas Biographie in Verschränkung mit der Entwicklung seiner theologischen Reflexion<br />
45<br />
2) die Motivierung der Menschen, die Umgestaltung der Gesellschaft selbst in die<br />
Hand zu nehmen, so daß sie aus Objekten zu Subjekten werden; und<br />
3) die Bekämpfung des Fatalismus.<br />
Auf der Grundlage dieser Erwägungen erstellte Jean-Marc Ela zusammen mit den<br />
Lehrer(Inne?)n 71 der Schule von Tokombéré ein Unterrichtsprogramm, das die Intention<br />
hatte, aus den SchülerInnen die „Augen des Dorfes“ („les yeux du village“) werden<br />
zu lassen. Jean-Marc Ela versuchte also, seine Kritik am herkömmlichen, kolonialen<br />
und entfremdenden Unterrichtssystem 72 in einen „kontextuellen Lehrplan“ 73 umzusetzen.<br />
Bei seiner Missionsarbeit ging es Jean-Marc Ela nicht „darum, möglichst viele T<strong>auf</strong>en<br />
und eine gute Bilanz an Osterkommunionen zu erzielen, Heiratspalaver zu regeln oder<br />
als Priester zu den Respektspersonen des Dorfes zu gehören“, es ging ihm auch nicht<br />
darum, „daß jeden Sonntag die Kirche gefüllt ist“, sondern darum, „bei den Menschen<br />
zu sein und mit ihnen zu leben, sie <strong>auf</strong>zusuchen an den Orten ihrer Existenz“. 74 <strong>Das</strong><br />
primäre Ziel seiner Präsenz unter den Kirdi ist, daß das „Evangelium für die Menschen<br />
zu <strong>einem</strong> Ort der Begegnung und Versammlung jenseits aller Unterschiede und Rivalitäten<br />
wird“ 75 .<br />
Jean-Marc Ela hatte erkannt, daß in <strong>einem</strong> Kontext, in dem der reiche Ertrag der Arbeit<br />
der Bauern anderen zugute kommt als denen, die ihn produzieren, ein glaubwürdiges<br />
christliches Engagement den Rahmen karitativer Werke überschreiten muß: „Es geht<br />
nicht mehr darum, den Leuten eine Menge Sachen zu bringen, sondern sie erkennen zu<br />
lassen, daß sie fähig sind, sich zu organisieren, um ihre Felder zu behalten und der<br />
Willkür zu wehren.“ 76<br />
Mit s<strong>einem</strong> Lebensstil möchte Jean-Marc Ela dazu beitragen, daß Gemeinschaften<br />
entstehen und wachsen, die sich der Probleme ihrer Dörfer bewußt sind und mit der<br />
strukturellen Ungerechtigkeit brechen wollen. Er sucht deshalb nach generativen Themen,<br />
nach den „wesentlichen Fragen im Leben eines Dorfes, die für die Menschen dort<br />
zum Ort der Begegnung werden können“ 77 . Klar, daß eine solche Methode viel Zeit<br />
braucht und eine „vom Stundenzeiger der Uhr diktierte Zeit<strong>auf</strong>fassung“ <strong>auf</strong>bricht.<br />
Diese Methode macht es für Jean-Marc Ela nötig, „im Vorwärtsschreiten <strong>auf</strong> dem Weg<br />
des Glaubens meine Schritte denen der Menschen hier anzupassen“ 78 .<br />
71<br />
72<br />
73<br />
74<br />
75<br />
76<br />
77<br />
78<br />
Ob es tatsächlich auch Lehrerinnen in Tokombéré gab (gibt), kann ich <strong>auf</strong>grund der androzentrischen<br />
Sprache Jean-Marc Elas nicht beurteilen. Daß es Schülerinnen gibt, ist schon etwas wahrscheinlicher.<br />
Siehe oben S. 35 und JEAN-MARC ELA, La plume et la pioche (s. Anm. 25).<br />
Vgl. JAN P. HEIJKE, Contextualisatie, a.a.O., S. 9.<br />
Mein Glaube als Afrikaner, S. 19.<br />
Ebd.<br />
A.a.O., S. 22; vgl. auch JEAN-MARC ELA, De l’assistance à la libération. Les tâches actuelles de l’Eglise en<br />
milieu Africain, Telema 7, Nr. 27 (1981) 3, 5-29 (= 9. Kap. in Mein Glaube als Afrikaner).<br />
Mein Glaube als Afrikaner, S. 19 - Diese Missionsmethode erinnert sehr an Paulo Freires „Pädagogik<br />
der Unterdrückten“, von der sich Jean-Marc Ela möglicherweise inspirieren ließ; vgl. PAULO FREIRE, Pädagogik<br />
der Unterdrückten. Bildung als Praxis der Freiheit, Mit einer Einführung von Ernst Lange, Reinbek<br />
(Rowohlt), 1987 (Orig.: 1970).<br />
Mein Glaube als Afrikaner, S. 19.
1 Jean-Marc Elas Biographie in Verschränkung mit der Entwicklung seiner theologischen Reflexion<br />
46<br />
Die so entstehenden „Evangeliums-Gemeinschaften“, „in denen Männer und Frauen<br />
ihr Leben und ihre Zukunft in die Hand nehmen“ und <strong>auf</strong> diese Weise den Menschen<br />
ihrer Umgebung ermöglichen, „die Werte des Reiches Gottes zu erleben“, sind der Ort,<br />
„an dem sich der Glaube im konkreten Leben eines Volkes verwurzelt“ und wo eine<br />
eigenständige Gestalt von Kirche entsteht. 79<br />
<strong>Das</strong> Problem der Mission in diesem Zusammenhang ist es, daß sie es versteht, die<br />
Entstehung und Entwicklung solcher Gemeinschaften angemessen zu feiern. Und diese<br />
Gemeinschaften selbst sind der Ort, an dem authentische Formen des Feierns entstehen.<br />
80<br />
Da ist z.B. das Fest des Gottesbieres, das die Bauern von Tokombéré jedes Jahr nach<br />
der Ernte feiern. Dieses Fest ist eine Art Erntedankfest für Gott, der den Regen, die<br />
Hirse und die Gesundheit gibt und die Menschen während der Pflanz- und Erntezeit<br />
beschützt. Sein Sinn ist tief verwurzelt in der Mentalität und den sozio-religiösen<br />
Bräuchen der BergbewohnerInnen, deren Kultur dadurch charakterisiert ist, daß Gott<br />
ihnen „gesagt hat, sie sollten Hirse anbauen“. 81 Der Sinn dieses Festes führt Jean-Marc<br />
Ela zu „<strong>einem</strong> Neuüberdenken dieses Festes als Antwort des Glaubens an die Botschaft<br />
der Seligpreisungen“. 82<br />
Ein anderes Beispiel ist die Feier des Ostergeheimnisses:<br />
Zur Osterzeit geht es nicht mehr darum, bloß seine Christenpflicht zu erfüllen,<br />
sondern den Sieg des Lebens über den Tod zu feiern (1 Kor 15,54-57) und die<br />
Werte einer Kultur in diese Feier einzubeziehen. So wird das Evangeliums-<br />
Palaver (la palabre évangélique) rund um den Tod Jesu zu einer Zeit kraftvollen<br />
Lebens der Gemeinschaften, die, ausgehend von den Schwierigkeiten ihres täglichen<br />
Lebens, die Leidensgeschichte <strong>auf</strong>s neue nachvollziehen. 83<br />
Diese Feier wird folgendermaßen gestaltet: Vor dem steinernen Altar ist eine Matte<br />
ausgebreitet, wor<strong>auf</strong> sich Bibel, Opferkalebasse und Kreuz befinden, zur Erinnerung<br />
an Jesu Leben und Dienst. In ihrer Gestik und in der Art und Weise ihres Verhaltens<br />
drückt die Gemeinde ihre Gefühle angesichts des Leidens und Todes Jesu aus. Im<br />
Hintergrund sind die Totengesänge und Klagelieder der Frauen zu hören, die von einheimischen<br />
Musikinstrumenten begleitet werden. Im Rhythmus der Musik umschreiten<br />
die KatechumenInnen den Altar, bevor ihre christliche Initiation dar<strong>auf</strong>hin abgeschlos-<br />
79<br />
80<br />
81<br />
82<br />
83<br />
A.a.O., S. 20. - Diese „Evangeliums-Gemeinschaften“ sind vergleichbar mit den christlichen Basisgemeinden<br />
in Lateinamerika. Die vom afrikanischen Klerus übernommene Option einer Erneuerung der<br />
afrikanischen Kirche <strong>auf</strong> der Basis „kleiner christlicher Gemeinschaften“ scheint demgegenüber in erster<br />
Linie am Problem des Priestermangels ausgerichtet zu sein. Die Inspiration dieses klerikalen Konzeptes<br />
kommt „von oben“. Dementsprechend müssen die Führungskräfte der Gemeinden von außen<br />
kommen, um die Beziehung zu Klerus und Hierarchie und die Orthodoxie sicherzustellen; vgl. HERIBERT<br />
RÜCKER, „Afrikanische Theologie“, S. 82ff. Dem Thema der christlichen Basisgemeinschaften ist insbesondere<br />
JEAN-MARC ELAS Aufsatz Les communautés de la base dans les Églises africaines (Voici le temps<br />
des héritiers, 161-183) gewidmet; vgl. zu diesem Thema auch Kap. 4.5.<br />
Vgl. Mein Glaube als Afrikaner, S. 20.<br />
A.a.O., S. 18.<br />
Ebd.<br />
Ebd.
1 Jean-Marc Elas Biographie in Verschränkung mit der Entwicklung seiner theologischen Reflexion<br />
47<br />
sen ist. Schließlich wird ein großes weißes Kreuz 84 <strong>auf</strong>gestellt, das jede und jeder berührt,<br />
um so die Kraft des „Baumes des Lebens“ in sich <strong>auf</strong>zunehmen. 85<br />
Was die T<strong>auf</strong>vorbereitung betrifft, so begnügt sich Jean-Marc Ela nicht damit, einfach<br />
nur den Katechismus durchzunehmen. Entscheidend ist für ihn „der Übergang vom<br />
Katechismus zur Offenbarung“ 86 . <strong>Das</strong> heißt, das Ziel des T<strong>auf</strong>unterrichtes bzw. der<br />
„christlichen Initiation“ ist, einen neuen Lebenssinn zu finden in einer Situation des<br />
Elends, der Armut und der Hoffnungslosigkeit und fähig zu werden zum Handeln und<br />
zum Kampf gegen diese Situation. 87<br />
Daß das Evangelium eine „Βotschaft der Befreiung“ ist und eine „Praxis des Lebens“<br />
vermittelt 88 , hat Jean-Marc Ela zusammen mit den Kirdi bei den gemeinsamen Bibelarbeiten<br />
unter dem Palaverbaum entdeckt. Solche Evangeliums-Palaver sahen so aus,<br />
daß sie nachts unter dem Palaverbaum zusammen einen Text aus der Bibel gelesen und<br />
diskutiert haben. „Und dann habe ich zugehört, bis alle ausgeredet hatten. <strong>Das</strong> dauerte<br />
oft lang. Doch es waren unvergeßliche Entdeckungsabende und -nächte“ 89 . Solche<br />
Evangeliums-Palaver sind mehr noch als ein bloßes Vorlesen und Diskutieren biblischer<br />
Texte<br />
ein Fest der Sprache, an dem die ganze Gemeinde der Versammelten teilnimmt,<br />
indem man das Wort ergreift, nach dem Sinn forscht, Fragen stellt, Meinungen<br />
austauscht, betet und singt. Bei dieser Feier fehlt auch nicht der Gestus, denn<br />
der Afrikaner spricht nicht nur durch Bilder und Symbole, sondern auch mit<br />
s<strong>einem</strong> ganzen Körper, seiner Mimik und seinen Gebärden. 90<br />
Bei dieser „Liturgie des Wortes“ wirken alle Beteiligten mit bei der Entdeckung des<br />
Sinns der biblischen Botschaft für ihren konkreten Kontext, z.B. auch durch Zurufe,<br />
die dann wiederum von anderen kommentiert werden. Hier ist „jeder mit dem Klang<br />
seiner Stimme und dem Rhythmus seiner Füße dabei“ 91 : „Hier ist nichts im voraus<br />
festgelegt. Es triumphiert allein die Gabe der Improvisation und der Kreativität, wie in<br />
den dörflichen Versammlungen, bei denen man gemeinsam zu einer Entscheidung<br />
kommt, die ein Ereignis der Gemeinschaft erforderlich macht.“ 92<br />
84<br />
85<br />
86<br />
87<br />
88<br />
89<br />
90<br />
91<br />
92<br />
In der afrikanischen Farbsymbolik ist Weiß häufig die Farbe der Trauer und des Todes. - Von daher läßt<br />
sich die gewisse Tragik einer kolonialen missionarischen und kirchlichen Praxis ermessen, die z.B. weiße<br />
T<strong>auf</strong>kleider vorschrieb. - Demgegenüber ist - oft, aber nicht immer - Rot die Farbe des Lebens. Vgl.<br />
hierzu ENGELBERT MVENG, Black African Arts as Cosmic Liturgy and Religious Language, in: African<br />
Theology en Route, hg. v. KOFI APPIAH-KUBI und SERGIO TORRES, Maryknoll, N.Y. (Orbis), 1983 3 , (1979 1 ),<br />
137-142. - Was im Rahmen der kolonialen Praxis der Mission u.a. das Anschaffen ritueller Kleidung<br />
auch in finanzieller Hinsicht für die Betroffenen bedeutete, beschreibt der kamerunische Schriftsteller<br />
KENJO JUMBAN anschaulich in s<strong>einem</strong> historischen Roman The White Man of God, Oxford, GB (H<strong>einem</strong>ann),<br />
1980.<br />
Vgl. Mein Glaube als Afrikaner, S. 18. - Zur Bedeutung des Kreuzes vgl. Kap. 4.3.<br />
A.a.O., S. 20.<br />
Vgl. a.a.O., S. 20f.<br />
THOMAS SEITERICH-KREUZKAMP, S. 22.<br />
Ebd.<br />
Mein Glaube als Afrikaner, S. 63.<br />
Ebd.<br />
Ebd.
1 Jean-Marc Elas Biographie in Verschränkung mit der Entwicklung seiner theologischen Reflexion<br />
48<br />
Jean-Marc Elas Interesse als Theologe war es, zu beobachten, „wie die Dorfgemeinschaft<br />
ihr Leben im Gegenüber zu <strong>einem</strong> Text aus der Bibel deutete“. So lernte er , „die<br />
Botschaft von Jesus Christus ,mit neuen Augen‘ wiederzuentdecken“ als eine „durchgängige<br />
Botschaft der Befreiung“. 93<br />
Die Kirdi fragten insbesondere nach Jesu Beziehung zu den Armen und Marginalisierten<br />
seiner Zeit. Dabei erkannten sie, „daß Jesus durchgängig eine Praxis des Lebens<br />
vermittelte“ 94 . Entsprechend heißt Jesu Botschaft für die Praxis der Kirdi: „Leistet<br />
Widerstand für das Leben, gegen den Hunger, gegen den Tod in all seinen Formen,<br />
gegen die Versklavung und Ungerechtigkeiten.“ 95<br />
So entdeckten die Kirdi durch eine Relektüre der Bibel „mit unseren afrikanischen<br />
Köpfen, Herzen, Augen und Ohren“, „daß das Evangelium alle Situationen des Unrechts<br />
fundamental in die Kritik stellt“. Sie erfuhren Jesus Christus als einen „Kirdi,<br />
einer der mitgeht, einer, der mit um Befreiung kämpft“ und „der denselben Schmerz<br />
erlitt, von dem sie niedergedrückt werden“. Die Kirdi erkannten also im Kreuz Jesu ihr<br />
eigenes Leiden - und das der Armen und Ausgebeuteten <strong>auf</strong> der ganzen Welt - wieder.<br />
96<br />
„Um die Gemeinschaften mit dem nötigen Rüstzeug zur Selbstverteidigung zu versehen“<br />
97 , entwickelte Jean-Marc Ela eine „Alphabetisierungspraxis“, die die Bevölkerung<br />
befähigen sollte, selbständig über ihre Probleme, über Gesundheit, Ernährung und<br />
Landwirtschaft, und über ihre Rechte nachzudenken. Voraussetzung hierfür ist, die<br />
Bevölkerung, die mehrheitlich aus AnalphabetInnen besteht, zuerst einmal über ihre<br />
Rechte <strong>auf</strong>zuklären. Dazu gehört z.B., die Menschen in die Lage zu versetzen, „die<br />
Steuerkarte lesen“ zu können - diese ist verbunden mit dem Anrecht <strong>auf</strong> Wasser, Straßen<br />
und Elektrizität. Im Rahmen dieser „bewußtseinsbildenden Evangelisierung“ wird<br />
die Schule zu <strong>einem</strong> wichtigen Ort, „zum Zentrum einer umfassenden Animation für<br />
die Eltern, die entdecken, ,daß‘ - wie ein Bauer es ausdrückte - ,ein Dorf ohne Schule<br />
ein Dorf von Sklaven ist‘“. 98 Alphabetisierung bzw. „bewußtseinsbildende Evangelisierung“<br />
ist <strong>auf</strong> diese Weise ein Instrument zur „Entfatalisierung“ der herrschenden<br />
Verhältnisse und dafür, daß die Menschen die Kraft der Sprache wiedergewinnen und<br />
so ihre eigene Stimme geltend machen können. 99<br />
93<br />
94<br />
95<br />
96<br />
97<br />
98<br />
99<br />
THOMAS SEITERICH-KREUZKAMP, S. 22.<br />
Ebd.<br />
Ebd.<br />
Ebd. - Zum Thema des Kreuzes vgl. Kap. 4.3.<br />
Mein Glaube als Afrikaner, S. 22.<br />
Ebd.<br />
Ebd. - Hier ist der Einfluß Paulo Freires <strong>auf</strong> Jean-Marc Elas Konzept einer bewußtseinsbildenden Evangelisierung<br />
unverkennbar. Zumindest ist eine enge Parallelität nicht zu verkennen: Paulo Freires Modell<br />
einer „educaça problematizadora“ (problemorientierte Bildung), die „consientização“ (Bewußtwerdung)<br />
zum Ziel hat, versteht unter Lernen die Wahrnehmung der eigenen Lebenssituation als Problem<br />
und den Versuch, dieses Problem in Aktion und Reflexion zu lösen. Lehren ist dementsprechend das<br />
Problematisieren, das Aufwerfen von Fragen und die Provokation zur Selbstbestimmung. Lehren und<br />
Lernen sind so ein wechselseitiger Prozeß (vgl. ERNST LANGE, Einführung zu PAULO FREIRE, Pädagogik der<br />
Unterdrückten, a.a.O., S. 14f).
1 Jean-Marc Elas Biographie in Verschränkung mit der Entwicklung seiner theologischen Reflexion<br />
49<br />
Im Kontext einer Hirsekultur taucht ein besonderes Problem <strong>auf</strong>: die herrschende<br />
kirchliche Praxis, das Gedenken an „Jesu subversive Praxis“ mit dem Teilen von Brot<br />
und Wein zu feiern. Brot und Wein sind jedoch „Früchte der Erde und der menschlichen<br />
Arbeit“ einer anderen Kultur. Diese für die Eucharistie universal verbindlich zu<br />
machen, läuft hinaus <strong>auf</strong> die Manifestation der Abhängigkeit der Dritten Welt von der<br />
Ersten Welt mitten im Herz dieses zentralen Sakraments der christlichen Gemeinschaft.<br />
Deshalb plädierte Jean-Marc Ela zusammen mit anderen afrikanischen TheologInnen<br />
für eine Feier der Eucharistie, die die in der jeweiligen Region heimischen Nahrungsmittel<br />
als sakramentale Zeichen integriert.<br />
1976 war es im nordkamerunischen Bistum Maroua, zu dem die katholische Mission von Tokombéré<br />
gehört, zu <strong>einem</strong> „Konzil des Mangobaumes“ gekommen, <strong>auf</strong> dem die herrschende<br />
Ordnung für die Eucharistie in Frage gestellt worden war. Seitdem hatte sich die stillschweigende<br />
Übereinkunft entwickelt, Hirsebrot und Hirsebier als sakramentale Materie für die Eucharistie<br />
zu verwenden. Auch im benachbarten Bistum Pala (Tschad) hatte der Bischof diese kontextuelle<br />
Eucharistie gestattet - bis der Vatikan durch ein Motu Proprium mit dem Titel Inestimable Donum<br />
diesem Brauch 1980 ein Ende machte. 100<br />
1.3 Vom „Afrika der Dörfer“ in die Hauptstadt (Yaoundé; seit<br />
1985)<br />
1985 geht Jean-Marc Ela von Tokombéré nach Yaoundé, um an der dortigen Universität<br />
Soziologie zu lehren. Die Gründe für diesen Ortswechsel hat er nirgends erläutert.<br />
Verschiedene Faktoren können dafür ausschlaggebend gewesen sein: Z.B. scheinen in<br />
seiner soziologischen Dissertation einige Spannungen zwischen ihm und dem durch<br />
einen weißen Priesterarzt geleiteten Gesundheitszentrum von Tokombéré durch. Auch<br />
zur nordkamerunischen Bischofskonferenz hatte er ein gespanntes Verhältnis. Darüber<br />
hinaus fordert er von der Kirche, sich nicht nur <strong>auf</strong> dem Land zu engagieren, sondern<br />
sich auch in das Zentrum zu begeben, dorthin, wo die sozio-ökonomischen und politischen<br />
Entscheidungen getroffen und die Weichen für die Zukunft - auch der ländlichen<br />
Gebiete - gestellt werden. Insofern Jean-Marc Elas Publikationen stark autobiographisch<br />
geprägt sind - er reflektiert auch seine eigene Praxis, wobei er seine theoretischen<br />
Reflexionen jeweils auch in eine erneuerte eigene Praxis umzusetzen versucht -,<br />
mag letztgenannter Punkt ausschlaggebend gewesen sein. 101<br />
Weshalb Jean-Marc Ela keine Theologie lehrt, erläutert er im Interview mit Thomas<br />
Seiterich-Kreuzkamp folgendermaßen:<br />
100 Für diese Informationen vgl. JAN P. HEIJKE, Cotextualisatie, a.a.O., S. 10. Bei Jean-Marc Elas Auseinandersetzung<br />
mit der Eucharistie spielt nicht nur die Frage der sakramentalen Zeichen, durch die mitten in<br />
diesem zentralen christlichen Symbol die Dominanz der nordatlantischen Welt manifest ist, eine Rolle,<br />
sondern auch die Frage der Ämter. - Zur Eucharistie vgl. das 1. Kap. (Eucharist in the African Churches:<br />
Sign of Salvation or of Dependence?) in African Cry, 1-8, und daneben den entsprechenden Abschnitt<br />
dieser Arbeit (Kap. 4.4). Zur Frage der Ämter vgl. JEAN-MARC ELA, Kirchliches Amt und Probleme der<br />
jungen Kirchen, Concilium 13 (1977), 373-377 (= Kap. 4 in Mein Glaube als Afrikaner) und GIUSEPPE<br />
CAVALLINI, The Synod, a step towards the Council. „Nigrizia“ interviews Jean-Marc Ela, Idoc Internazionale<br />
1 (1994), 20-24, S. 20f.<br />
101 Vgl. JAN P. HEIJKE, Kameroense Befrijdingstheologie, S. 102.
1 Jean-Marc Elas Biographie in Verschränkung mit der Entwicklung seiner theologischen Reflexion<br />
50<br />
Wer den Verantwortlichen der Kirchenleitung so hartnäckig unbequeme Fragen<br />
stellt wie ich und wer mithilft, daß die Armen selbstbewußt werden und <strong>auf</strong>stehen,<br />
der schafft sich Gegner in der Kirchenleitung. So <strong>wurde</strong> ich eben nicht<br />
Theologieprofessor. Als Soziologieprofessor benutze ich die Soziologie als<br />
Werkzeug für den Durchblick und als Hilfsmittel für die Befreiung. Mit den<br />
Studierenden analysiere ich die Strukturen der Unterdrückung in unserer Gesellschaft,<br />
aber auch weltweit. 102<br />
Es scheint für Jean-Marc Ela nicht besonders dramatisch zu sein, nicht Theologie lehren<br />
zu können, da er auch als Soziologe seinen theologischen Überzeugungen entsprechend<br />
wirksam sein kann. So stellt er die Soziologie in den Dienst des übergeordneten<br />
Zieles der Befreiung, indem er sie gemeinsam mit seinen StudentInnen als Analyseinstrumentarium<br />
für die ungerechten (welt)gesellschaftlichen Strukturen nutzt - was<br />
wiederum einen bewußtseinsbildenden Effekt hat. Als ein Ergebnis ihrer Analyse der<br />
Situation Afrikas, drängt sich ihnen die Erkenntnis <strong>auf</strong>, die Jean-Marc Ela so formuliert:<br />
Wir Afrikaner sind von den Reichen <strong>auf</strong>gegeben, abgeschrieben, in jeglicher<br />
Weise für bankrott erklärt. Es ist, als ob die Weltbeherrscher in den Industrienationen<br />
die Tür hinter sich zugemacht hätten, nachdem Europa uns jahrhundertelang<br />
ausgesaugt hatte. 103<br />
In s<strong>einem</strong> Artikel Poverty and Theology aus dem Jahr 1994 geht Jean-Marc Ela noch<br />
weiter, wenn er konstatiert: „the international powers have decided to keep Africa<br />
under a kind of geo-political apartheid“. Die Politik des IWF und der Weltbank in<br />
Afrika bezeichnet er als „a coming back of [...] colonization“. Insbesondere die sogenannten<br />
Strukturanpassungsprogramme, die in erster Linie <strong>auf</strong> die Rückzahlung der<br />
Auslandsschulden abzielen und keine Rücksicht <strong>auf</strong> die Menschenrechte (v.a. das<br />
Recht <strong>auf</strong> Gesundheit und das <strong>auf</strong> Bildung) nehmen, sind für Jean-Marc Ela Ausdruck<br />
„of the perverse logic of money“. 104<br />
Es fällt <strong>auf</strong>, daß Jean-Marc Ela erst in Yaoundé die internationalen Finanzorganisationen<br />
IWF und Weltbank schärfer in den Blick nimmt. Dies dürfte Ausdruck eines Perspektivenwechsels<br />
105 sein, der mit dem Übergang vom Kontext eines afrikanischen<br />
Dorfes in den Kontext einer afrikanischen Hauptstadt einhergeht.<br />
102 THOMAS SEITERICH-KREUZKAMP, S. 23. - Daß Jean-Marc Ela der römisch-katholischen Hierarchie nicht<br />
wohlgefällig ist, zeigt sich auch an der Intervention des Vatikan, als 1990 die katholische Universität in<br />
Fribourg/Schweiz anläßlich ihrer 100-Jahr-Feier neben Tissa Balasuriya (Sri Lanka), Gustavo Gutierrez<br />
(Peru) und Elisabeth Schüssler Fiorenza (USA) auch Jean-Marc Ela die Ehrendoktorwürde verleihen<br />
wollte: ,Rom‘ machte dieses Vorhaben zunichte. Zugleich fiel damit auch das mit diesen TheologInnen<br />
geplante Seminar ‚ins Wasser‘ - ein Beispiel dafür, wie der Vatikan die Befreiungstheologie <strong>auf</strong> allen<br />
Ebenen bekämpft (Informationen über diesen Vorfall auch bei JAN P. HEIJKE, Contextualisatie, S. 6).<br />
103 Ebd.<br />
104 Poverty and Theology (S. 16).<br />
105 Von <strong>einem</strong> Ortswechsel kann nur im geographischen Sinn die Rede sein: Sein „Ort“ - theologisch qualifiziert:<br />
sein „locus theologicus“ (vgl. dazu Kap. 3.3.1) - bleiben weiterhin die Marginalisierten und<br />
Ausgeschlossenen der kamerunischen und der Weltgesellschaft.
1 Jean-Marc Elas Biographie in Verschränkung mit der Entwicklung seiner theologischen Reflexion<br />
51<br />
Theologie treibt Jean-Marc Ela inzwischen im organisatorischen Rahmen der Volkspfarrei<br />
N’Djong Melén. Mit jungen Erwachsenen aus den Vorstädten von Yaoundé<br />
macht er abends und nachts Bewußtseinsbildung, Glaubens- und Bibelkurse: „Wir<br />
schauen uns das Leben an.“ 106 Dabei leiten sie große und existentielle Fragen:<br />
Wie in einer Situation der wirtschaftlichen Verarmung und erniedrigenden<br />
Hoffnungslosigkeit trotzdem die Hoffnung nicht <strong>auf</strong>geben? Wie in einer Situation<br />
des systematischen Todes dennoch dem Leben zum Sieg verhelfen, indem<br />
wir gemeinsam leben und gegen die Unterdrückung kämpfen? 107<br />
Die Situation der Jugendlichen ist in der Tat erschütternd. Sie werden immer mehr an<br />
den Rand der Gesellschaft gedrängt und sind gezwungen, „sich tausendundein Kleinhandwerk<br />
auszudenken, um in der Krisen-Gesellschaft überleben zu können“. Die<br />
StudentInnen werden seit Jahrzehnten „von korrumpierten universitären Eliten eingeschläfert<br />
und mit der Ideologie der Einheitspartei gefüttert. Jeder kritische Geist <strong>wurde</strong><br />
im Ansatz erstickt.“ 108<br />
Dennoch, so berichtet Jean-Marc Ela, träumen die Jugendlichen, mit denen er zusammenarbeitet,<br />
nicht vom Auswandern und vom Wohlstand in Europa oder insbesondere<br />
in Paris,<br />
denn sie sind gut <strong>info</strong>rmiert. Paris ist nicht das Paradies. Dort wartet das Ausgebeutetwerden,<br />
die Trostlosigkeit der Armutsflüchtlinge neben der Glitzerwelt<br />
der Arrivierten, mehr nicht. Die jungen Leute, mit denen ich arbeite, wollen in<br />
Kamerun würdig und <strong>auf</strong>recht und solidarisch leben. 109<br />
Neben seinen Tätigkeiten als Soziologieprofessor und Pastoralarbeiter ist Jean-Marc<br />
Ela zugleich als StudentInnenpastor aktiv. Darüber hinaus konnte er Menschen, die aus<br />
Tokombéré und Umgebung nach Yaoundé umgezogen waren, mobilisieren, sich regelmäßig<br />
sonntags zu treffen, um über die Probleme ihres Herkunftsortes zu diskutieren.<br />
Sie gründeten sogar einen kleinen Hilfsfonds, mit dem sie von Zeit zu Zeit kleine<br />
Investitionen finanzieren können. Jean-Marc Ela hofft, daß sich unter diesen Menschen<br />
106 THOMAS SEITERICH-KREUZKAMP, S. 23.<br />
107 Ebd.<br />
108 FLAVIEN TIOKOU NDONKO, Jean-Marc Ela - Befreiungstheologe, a.a.O., S. 18.<br />
109 THOMAS SEITERICH-KREUZKAMP, S. 23. - Es gibt jedoch Situationen, in denen die Repression und die Gefahr<br />
für das eigene Leben so groß sind, daß auch solche Leute, die in Kamerun bleiben wollen, gezwungen<br />
sind, das Land zu verlassen, wie im Fall des Präsidenten des kamerunischen Studentenparlamentes Senfo<br />
Tonkam und seiner Freunde. Zuerst waren sie in Nachbarländer geflohen, aber da sie auch dort nicht<br />
ihrer Freiheit und ihres Lebens sicher waren (<strong>auf</strong>grund der Kooperation der verschiedenen Regimes),<br />
mußten sie andere Wege suchen. Senfo konnte z.B. über ein Stipendium der Hamburger Stiftung für<br />
politisch Verfolgte in die BRD kommen, wo er weiterhin für die Demokratisierung in Afrika sehr aktiv<br />
ist. Aber dennoch ist es nicht das Anliegen dieser AfrikanerInnen, in Europa zu bleiben. Darum engagieren<br />
sie sich für die Unterstützung afrikanischer StudentInnen, die in anderen afrikanischen Ländern<br />
studieren wollen bzw. müssen (z.B. in Südafrika oder Namibia; Stipendien gibt es bisher jedoch - auch<br />
kirchlicherseits - nur für Studierende aus Ländern der Dritten Welt, die in Europa studieren wollen).<br />
Ein wichtiges Anliegen ist für sie die Vernetzung regierungsunabhängiger Studierendenorganisationen<br />
in und aus Afrika. Von ihnen initiiert, <strong>wurde</strong> inzwischen ein Dachverband gegründet mit dem Namen<br />
„SOS - Struggle of Students“.
1 Jean-Marc Elas Biographie in Verschränkung mit der Entwicklung seiner theologischen Reflexion<br />
52<br />
WortführerInnen finden werden, die bei den hauptstädtischen Instanzen die Interessen<br />
ihrer DorfgenossInnen vertreten können. 110<br />
Nach der Ermordung von Engelbert Mveng, des 1930 in Kamerun geborenen Jesuiten<br />
und langjährigen Generalsekretärs der AOTA, im April 1995, sah sich Jean-Marc Ela<br />
ebenfalls mit dem Tod bedroht und zur Flucht gezwungen. Er lebt inzwischen in Kanada<br />
im Exil. 111<br />
110 Dies berichtet JAN P. HEIJKE (Contextualisatie, S. 9).<br />
111 Zu diesen Informationen vgl. LUDWIG BERTSCH, „Il faut réinventer la démocratie au niveau quotidien“.<br />
Interview avec Jean-Marc Ela, Yaoundé (Cameroun), in: Missionswissenschaftliches Institut Missio e.V.<br />
(Hg.), Jahrbuch für kontextuelle Theologien, Frankfurt am Main (IKO - Verlag für Interkult. Komm.),<br />
1995, 185-193, S. 185 (Anm.).
2 Der Kontext der théologie sous l’arbre<br />
Denn das Reich dieser Welt ist gleich <strong>einem</strong> Herrscher, der voraussah, daß der Tag<br />
kommen würde, an dem ihn die <strong>auf</strong>gebrachten Massen und ihre Freiheitskämpfer zwingen<br />
würden, ein gewisses Land zu verlassen. Er war sehr bekümmert und sann über<br />
Mittel und Wege nach, seine Güter, die er in jenem Land erworben hatte, zu bewahren;<br />
auch suchte er nach Möglichkeiten, wie er seine Herrschaft über die Eingeborenen<br />
<strong>auf</strong>rechterhalten könnte. Was soll ich tun, angesichts der Tatsache, daß diese Leute,<br />
über die ich von jeher geherrscht habe, mich jetzt von den Plantagen und Fabriken, die<br />
ich ihnen einst weggenommen habe, verjagen wollen? [...] Warte ich, bis sie <strong>auf</strong> mich<br />
schießen und mich aus dem Land hinausprügeln, so wird mir dieser Schandfleck stets<br />
anhaften - habe ich ihnen denn nicht die haarsträubenden Geschichten über die unbesiegbare<br />
Macht meiner Panzer und Bomben erzählt? Habe ich nicht stets versucht,<br />
ihnen klarzumachen, daß die weiße Rasse niemals der schwarzen unterlegen sein<br />
wird? Sollten nun die Guerillas den Kampf gewinnen und den Schlüssel zum Land<br />
erobern, werde ich nie wieder in den Besitz dieser Plantagen und Industrieanlagen<br />
gelangen. Aller Tee, aller Reis, aller Kaffee, alle Baumwolle und Edelsteine, alle Hotels,<br />
Läden und Fabriken, alle Früchte ihres wertvollen Schweißes - all das und noch<br />
mehr, wird für mich <strong>auf</strong> immer verloren sein. Eines Tages werde ich dieses Land durch<br />
die Vordertür verlassen und in mein eigenes Land zurückkehren - nun weiß ich jedoch,<br />
was ich tun werde, damit ich zurückkommen und das Land durch die Hintertür wieder<br />
betreten kann, damit ich willkommen geheißen werde und tiefer reichende und fester<br />
gründende Wurzeln schlagen kann als je zuvor.<br />
Er rief seine treuen Sklaven und Knechte zu sich. Er lehrte sie alle Ränke und Machenschaften<br />
dieser Welt, und insbesondere lehrte er sie, Raub und Diebstahl mit den süßesten<br />
Düften zu umhüllen, Gift in zuckrige Blätter zu verpacken und noch vieles mehr.<br />
Alles mit dem Ziel, durch Bestechung und durch Betonung der Stammes- und Religionsunterschiede<br />
Spaltung und Uneinigkeit zu säen. Nachdem er seine Vorbereitungen<br />
abgeschlossen hatte, ließ er sie wissen, daß er demnächst nach Hause, in ein anderes<br />
Land, reisen würde.<br />
Als sie hörten, daß ihr Herr und Meister sie verlassen wollte, zerrissen die treuen Sklaven<br />
und Knechte ihre Kleider, streuten sich Asche <strong>auf</strong>s Haupt, knieten nieder und<br />
schrien: Warum gehst du fort von hier und läßt uns als arme Waisen zurück? Du weißt<br />
sehr wohl, daß wir in d<strong>einem</strong> Namen die Menschen verfolgt und viele Verbrechen<br />
begangen haben. [...] Wie kannst du uns nun <strong>auf</strong> Gnade und Ungnade den nationalistischen<br />
Freiheitskämpfern ausliefern?<br />
Und der Herr, ihr Meister, sprach zu ihnen: Ihr Kleingläubigen! Bekümmert eure<br />
Herzen nicht, denn ihr glaubt an den Gott, den ich euch einst verkündet habe; glaubt<br />
nun auch an mich, den Verkünder seines Willens. Ich kenne viele Mittel und Wege, um<br />
meine Wünsche in diesem Land erfüllt zu sehen. Wäre dem nicht so, so hätte ich es<br />
euch wissen lassen, damit ihr Zeit gehabt hättet, zu fliehen oder euch Stricke zu besorgen,<br />
um euch zu erhängen, ehe die Patrioten Hand an euch gelegt hätten. Aber nun
2 Der Kontext der théologie sous l’arbre 54<br />
will ich euch Plätze bereiten, die euch zur Führerschaft befähigen werden; ich will den<br />
Brocken, die für euch von m<strong>einem</strong> Tische gefallen sind, noch ein Weniges mehr hinzufügen.<br />
Und nachdem ich gegangen bin, werde ich zurückkehren, und ich werde viel<br />
Geld und viele Banken mit mir bringen, dazu eine Vielzahl von Panzern, Gewehren,<br />
Bomben und Flugzeugen, und ich werde bei euch sein und ihr bei mir, wir werden in<br />
beständiger Liebe beieinander wohnen und das Mahl miteinander halten - ich werde<br />
ausgewählte Gerichte zu mir nehmen, und ihr könnt euch die wertvollen Überreste<br />
aussuchen.<br />
Und da der Herrscher auszog, um in sein Land heimzukehren, geschah es, daß er wiederum<br />
all seine Knechte zu sich rief, und er vertraute ihnen den Schlüssel des Landes<br />
an. Alsdann sprach er zu ihnen: Die patriotischen Freiheitskämpfer und die Masse des<br />
Volkes in diesem Land werden nun einer Täuschung unterliegen, denn ihr seid ebenso<br />
schwarz wie sie. Sie werden singen und sagen: „Seht, unsere eigenen schwarzen Leute<br />
halten nun den Schlüssel zu unserem Land in Händen! [...] Für nichts anderes, als daß<br />
dies geschehen möge, haben wir gekämpft! Laßt uns die Waffen niederlegen, laßt uns<br />
singen und unsere schwarzen Herren loben und preisen.“<br />
Dann vertraute er ihnen seinen Besitz und seine Güter an, damit sie sie wohl verwalteten<br />
und vermehrten; und <strong>einem</strong> gab er fünfhunderttausend Shilling, dem anderen zweihunderttausend<br />
Shilling und dem dritten einhunderttausend Shilling; <strong>einem</strong> jeden nach<br />
seiner Tüchtigkeit, mit der er dem Herrn gedient, und nach seiner Treue, mit der er<br />
dem Glauben und den Vorstellungen des Herrn nachgefolgt war. Und so zog der Herrscher<br />
aus und verließ das Land durch die Vordertür.<br />
Und der Knecht, der fünfhunderttausend Shilling erhalten hatte, zögerte nicht, er ging<br />
hin und k<strong>auf</strong>te zu <strong>einem</strong> niedrigen Preis bei den Bauern <strong>auf</strong> dem Lande ein, dann verk<strong>auf</strong>te<br />
er die so erworbene Ware zu <strong>einem</strong> höheren Preis an die Arbeiter in der Stadt;<br />
<strong>auf</strong> diese Weise erbrachte sein Kapital einen Gewinn von fünfhunderttausend Shilling.<br />
Der, welcher zweihunderttausend Shilling erhalten hatte, tat desgleichen: Er k<strong>auf</strong>te<br />
billig bei den Herstellern ein und verk<strong>auf</strong>te teuer an die Verbraucher, und so erzielte<br />
er aus s<strong>einem</strong> Kapital einen Gewinn von zweihunderttausend Shilling.<br />
Der aber, welcher nur einhunderttausend Shilling erhalten hatte, hielt sich selbst für<br />
klug. Er überdachte sein Leben und das Leben der Menschen im ganzen Land und<br />
auch das Leben des Herrschers, der eben in ein fremdes Land gezogen war. Und er<br />
sprach zu sich: dieser Herr und Meister hat stets damit geprahlt, daß er alleine dieses<br />
Land entwickelt habe, und zwar nur mit dem wenigen Geld, das er mitgebracht, und<br />
mit dem beständigen Ruf: Kapital, Kapital! Nun will ich sehen, ob dieses Kapital irgendetwas<br />
bringt, auch wenn es nicht mit dem Schweiß der Arbeiter begossen wird,<br />
und wenn es nicht selbst hingeht und für wenig Geld den Schweiß der Bauern und<br />
Arbeiter <strong>auf</strong>k<strong>auf</strong>t. Bringt es ohne mein Zutun etwas hervor, dann werde ich über alle<br />
Zweifel wissen, daß Geld allein ein Land entwickeln kann. Und so ging er hin und legte<br />
die einhunderttausend Shilling in eine Büchse, die er sorgfältig verschloß; dann hob er<br />
unter <strong>einem</strong> Bananenbaum ein Loch aus und begrub die Büchse dort.<br />
Und ehe viele Tage vergangen waren, geschah es, daß der Herr zurückkehrte. Er<br />
betrat das Land durch die Hintertür und überprüfte, was aus s<strong>einem</strong> zurückgelassenen<br />
Besitz geworden war. Er rief seine Knechte zu sich, damit sie ihm Rechenschaft über<br />
die Güter und das Geld ablegten, das er <strong>einem</strong> jeden gegeben hatte.<br />
Da trat hervor der, der die fünfhunderttausend Shilling erhalten hatte, und sagte:<br />
„Mein Herr und Meister, du hast mir ein Kapital von fünfhunderttausend Shilling
2 Der Kontext der théologie sous l’arbre 55<br />
anvertraut. Ich habe es verdoppelt.“ Da war sein Herr wahrhaft erstaunt, und er rief<br />
aus: „Hundert Prozent Gewinn? Phantastische Profitrate! Du hast wohlgetan, du<br />
guter und getreuer Knecht. Du hast bewiesen, daß du über wenigem getreu sein<br />
kannst, nun will ich dich über vieles setzen. Gehe ein zu deines Herrn Freude und<br />
Wohlstand. Ich ernenne dich zum Direktor der Zweigstellen meiner Banken hier im<br />
Lande, [...] außerdem zum Direktor einer meiner Gesellschaften [...] Du wirst auch<br />
einige Aktien dieser Gesellschaft erhalten. Vom heutigen Tage an werde ich mein Gesicht<br />
nicht mehr allzuoft zeigen. Du sollst mein Gefolgsmann hier in d<strong>einem</strong> Lande<br />
sein.“<br />
Und der, der die zweihunderttausend Shilling erhalten hatte, trat hervor und sagte:<br />
„Mein Herr und Meister, du hast mir zweihunderttausend Shilling anvertraut. Siehe,<br />
mit d<strong>einem</strong> Kapital habe ich weitere zweihunderttausend Shilling gewonnen.“ Und der<br />
sprach und sagte: „Großartig, einfach großartig diese steigende Profitrate! Ein sicheres<br />
Land für Investitionen. Du hast wohlgetan [...] Ich werde dich zum Verk<strong>auf</strong>sdirektor<br />
der Zweigstellen meiner Versicherungsgesellschaften machen und außerdem zum<br />
Direktor der Niederlassungen meiner Industriebetriebe hier im Lande [...] Auch du<br />
wirst als Anerkennung einige Aktien erhalten. Vom heutigen Tag an werde ich mein<br />
Gesicht verbergen. Ich werde mich hinter den Kulissen <strong>auf</strong>halten - du aber stehe unter<br />
der Tür und am Fenster, so daß dein Gesicht stets allen sichtbar ist. Du sollst der Aufpasser<br />
über meine Investitionen in d<strong>einem</strong> Lande sein.“<br />
Und der, der die einhunderttausend Shilling erhalten hatte, trat hervor und sagte: „Du<br />
Herr und Meister, Angehöriger der Weißen Rasse! Ich habe deine Machenschaften<br />
<strong>auf</strong>gedeckt! Ich habe deinen richtigen Namen erfahren. Imperialist ist dein Name, und<br />
du bist ein sehr grausamer Herrscher. Warum? Du erntest, wo du nicht gesät hast, du<br />
greifst nach Dingen, für die du keinen Tropfen Schweiß vergossen hast, du hast dich<br />
angemaßt, Güter zu verteilen, an deren Produktion du keinen Anteil hattest. [...] Nur<br />
weil du über Kapital verfügst. Und so bin ich hingegangen und habe dein Geld in der<br />
Erde vergraben, um zu sehen, ob sich dein Geld ohne meinen Schweiß oder ohne den<br />
Schweiß eines anderen [...] vermehren würde. Siehe, hier hast du deine einhunderttausend<br />
Shilling [...]. Ich gebe dir dein Kapital zurück. [...] Über eines aber habe ich<br />
mich am meisten verwundert - mein Schweiß verschaffte mir Nahrung zum Essen, Wasser<br />
zum Trinken und ein Dach über dem Kopf [...] He! Nie wieder werde ich vor dem<br />
leblosen Gott Kapital niederknien! He! Ich werde nicht mehr länger Sklave sein! Meine<br />
Augen sind sehend geworden! Reichte ich heute all denen die Hand, die es sich zum<br />
Ziel gesetzt haben, Herren ihres eigenen [...] Schweißes zu sein, dann wären dem<br />
Reichtum, den wir für unser Volk und unser Land hervorbringen könnten, keine Grenzen<br />
mehr gesetzt!“<br />
Der Herr aber schaute ihn mit schmerzerfülltem Herz und mit bitterem Blick an und<br />
sprach: „Du böser, ungetreuer und fauler Knecht, Angehöriger einer <strong>auf</strong>rührerischen<br />
Sippe! Du hättest mein Geld zur Bank bringen müssen, oder es den Wechslern übergeben,<br />
so hätte ich bei meiner Rückkehr das Meine mit Zins zurückbekommen. Weißt du<br />
nicht, welche Schmerzen es mir bereitet [...], daß du mein Geld wie einen Leichnam<br />
begraben hast? Wer hat dir das Geheimnis meines Namens verraten? Wer hat dir<br />
geraten, mir untreu zu werden, weil ich ernte, wo ich nicht gesät habe, und weil ich<br />
nach Dingen greife, für die ich keinen Schweiß vergossen habe? [...] Ihr Schwarzen<br />
seid solcher <strong>auf</strong>rührerischen Gedanken nicht fähig! Nein! Ihr Schwarzen seid unfähig,<br />
euch Mittel und Wege auszudenken, wie ihr die Stricke, die euch an eure Herren bin-
2 Der Kontext der théologie sous l’arbre 56<br />
den, durchschneiden könntet. Deshalb müssen dich die Kommunisten verführt haben ...<br />
[...] dein Denken ist mit kommunistischen Ideen vergiftet ... [...] Du bist zu einer echten<br />
Bedrohung für den Frieden und die Stabilität geworden, die es einstmals in diesem<br />
Lande für mich gab, und für meine hiesigen Vertreter, die Aufpasser über meinen Besitz<br />
... Du wirst soviel Feuer zu sehen bekommen, daß du meinen wahren Namen für<br />
immer vergessen wirst. Nehmt ihn fest, ehe er diese giftigen Gedanken den anderen<br />
Arbeitern und Bauern weitergibt und ihnen zeigt, daß die Macht ihrer organisierten<br />
Einheit stärker ist, als alle meine Bomben und Panzerwagen. Nehmt von ihm das wenige,<br />
das er hat, und verteilt es unter euch. Denn wer da hat, dem wird gegeben werden,<br />
wer aber nicht hat, dem wird auch, was er hat, genommen werden. <strong>Das</strong> ist das höchste<br />
meiner Gebote. [...] ruft die Polizei und das Militär, daß sie diesen Mann festnehmen,<br />
der die kommunistische Kühnheit besessen hat, sich gegen die Sklaverei <strong>auf</strong>zulehnen.<br />
Werft ihn ins Gefängnis oder übergebt ihn der ewigen Finsternis, so wird die Ernte<br />
seiner Familie nur Zähneknirschen und Tränen sein.<br />
Ausgezeichnet! Ihr habt gute Arbeit geleistet, Leute! Verfahrt ebenso mit allen anderen<br />
Rebellen. Schüchtert die Arbeiter ein, damit sie sich ducken und es nicht wagen werden<br />
zu streiken und höhere Löhne zu verlangen, oder gar zu den Waffen zu greifen, um die<br />
Ketten der Sklaverei zu sprengen.<br />
Und was euch betrifft, so werde ich euch in der Öffentlichkeit nicht mehr Sklaven [...]<br />
nennen. Ihr seid nun wahrhaft meine Freunde. Warum? Selbst nachdem ich euch die<br />
Schlüssel zu eurem eigenen Land zurückgegeben hatte, behieltet ihr meine Gebote bei<br />
und schütztet meinen Besitz und mehrtet ihn so, daß er eine höhere Gewinnrate abwarf<br />
als zu den Zeiten, da ich selbst die Schlüssel in der Hand hielt. [...] ich habe euch zu<br />
meinen Freunden gemacht, weil ihr über alle meine Pläne, die ich für diese Land habe,<br />
Bescheid wißt, und so werde ich es auch in Zukunft halten. Von meinen Einnahmen<br />
werde ich euch etwas abgeben - es soll euch Stärkung und Ansporn sein, um denen das<br />
Genick zu brechen, die von den ,Massen‘ reden.<br />
Lang lebe Frieden, Liebe und Einigkeit [...] zwischen mir und euch, meinen Vertretern<br />
hier im Lande! Was soll da Schlechtes daran sein? Ihr beißt zweimal zu und ich beiße<br />
viermal, so führen wir die leichtgläubigen Massen hinters Licht ... Ein Hoch <strong>auf</strong> die<br />
Stabilität, die zum Fortschritt führt ... ein Hoch <strong>auf</strong> den Fortschritt, der zum Gewinn<br />
führt ... ein Hoch <strong>auf</strong> die Ausländer und die ausländischen Fachkräfte ...“ 1<br />
Die folgende Darstellung des Kontextes der théologie sous l’arbre folgt im wesentlichen Jean-<br />
Marc Elas Ausführungen in seinen (theologischen) Veröffentlichungen. <strong>Das</strong> Charakteristische<br />
für einen kontextuellen Theologen bzw. eine solche Theologin ist, daß der jeweilige Kontext für<br />
ihre Theologie eine konstitutive Bedeutung 2 hat und somit auch in ihre Veröffentlichungen<br />
1<br />
2<br />
Aus: NGUGI WA THIONG’O, Der gekreuzigte Teufel, Frankfurt am Main (edition suhrkamp), 1988 (engl.:<br />
Devil on the cross, London, 1982), Kap. 4.1, S. 100-106. - Ich führe diesen Text - quasi als ein Motto in<br />
Überlänge - deshalb an, weil er in anschaulicher Weise ein Bild von Afrika vermittelt, das vergleichbar<br />
ist mit dem Bild, das Jean-Marc Ela von s<strong>einem</strong> Kontext zeichnet.<br />
„Konstitutive Bedeutung“ heißt nicht, daß der Kontext die Theologie in irgend<strong>einem</strong> Sinn dominieren<br />
würde (z.B. im Sinn der Deutschen Christen), sondern bezieht sich <strong>auf</strong> dessen hermeneutische Relevanz,<br />
deren Vernachlässigung es gerade ist, die Glauben und Theologie unterderhand zu Bütteln des<br />
herrschenden Systems werden läßt - sofern sie sich nicht von sich aus voller Überzeugung dazu bekennen<br />
und damit praktisch Gott leugnen, auch wenn sie ihn weiter (blasphemisch) im Munde führen -<br />
meistens zur Legitimierung der herrschenden Verhältnisse. Geschieht dies unbeabsichtigt, so aus dem
2 Der Kontext der théologie sous l’arbre 57<br />
Eingang findet. Dies ist notwendigerweise so und keineswegs etwas Beiläufiges oder Akzidentielles,<br />
was ebenso gut vernachlässigt werden könnte. Der historische Kontext gehört keinesfalls<br />
zu den Adiaphora, da genau hier der Ort der Heilsgeschichte zu finden ist und nicht etwa in einer<br />
jenseitigen Welt.<br />
Von daher ist es nur konsequent, daß für Jean-Marc Ela nicht in erster Linie abstrakte theologische<br />
Themen zum Gegenstand seiner theologischen Reflexion werden, sondern ganz konkrete<br />
Phänomene seines Kontextes - das, was „unter dem <strong>Baum“</strong> geschieht. Und dies setzt eine Kontext-Analyse<br />
voraus. Hierfür ist die Soziologie für Jean-Marc Ela eine nützliche Hilfe, aber<br />
entscheidender ist noch ein anderer Aspekt - und zwar derjenige der Perspektive: „Die Perspektive,<br />
die heute den Zugang zu einer profunden Kenntnis des afrikanischen Kontinents gewährt,<br />
ist der Blick der Armen und Marginalisierten <strong>auf</strong> ihre Gesellschaft, der Blick der Massen des<br />
Volkes, deren Unterdrückung in Afrika immer offensichtlicher wird.“ 3<br />
Diese Menschen sind es, die Afrika wirklich kennen und deshalb unter epistemologischem und<br />
hermeneutischem Gesichtspunkt den Vorrang genießen 4 . Die Perspektive „von unten“ öffnet in<br />
der Tat unseren Blick für Aspekte der Wirklichkeit, die im herrschenden Diskurs keinen Ort<br />
haben. Auf dem Land und in den Slums kommt das zum Ausdruck, was der offizielle Diskurs<br />
verschweigt - sei dies nun <strong>auf</strong>grund bestimmter Interessen oder wegen der „blinden Flecken“<br />
einer Perspektive „von oben“. 5 Diese Perspektive ist zum einen Jean-Marc Elas spezifischer,<br />
selbstgewählter Blickwinkel, zum anderen fordert er von der afrikanischen Kirche, ebenfalls<br />
diesen Blickwinkel einzunehmen, was ganz konkret bedeutet, sich praktisch und solidarisch an<br />
die Seite dieser Menschen („unter den <strong>Baum“</strong>) zu begeben und die tatsächlichen Lebensbedingungen<br />
der „Verdammten der Erde“ 6 <strong>auf</strong> sich zu nehmen.<br />
Dieses Kapitel ist so <strong>auf</strong>gebaut, daß <strong>auf</strong> die vorangegangenen Prolegomena ein knapper Gesamtüberblick<br />
über die kulturelle, soziale, ökonomische und politische Situation aus der Perspektive<br />
von Jean-Marc Ela folgt. An diese Globalsicht - quasi in diese eingebettet - schließen sich dann<br />
exemplarische Einzelanalysen 7 bestimmter Aspekte des Kontextes an, die für Jean-Marc Ela von<br />
3<br />
4<br />
5<br />
6<br />
7<br />
Grund, daß keine Rechenschaft abgelegt wird über die gesellschaftliche Funktion von Glaube und Theologie.<br />
„Le point de vue qui fait accéder à la connaissance profonde du continent africain, aujourd’hui, c’est le<br />
regard du pauvre et du marginalisé sur sa société, le regard des masses populaires dont l’oppression en<br />
Afrique est de plus en plus manifeste“; JEAN-MARC ELA, Le rôle des Eglises dans la libération du continent<br />
africain, Bulletin de Théologie Africaine 6, No. 12 (1984), 281-302 [zitiert als Le rôle des Eglises], S.<br />
290.<br />
Der hermeneutische Vorrang der Armen und Unterdrückten korreliert im übrigen mit ihrer vorrangigen<br />
theologischen Stellung, die wiederum <strong>auf</strong> Gottes biblisch bezeugter Parteilichkeit basiert.<br />
Vgl. a.a.O., S. 286.<br />
Dieser Begriff stammt aus der „Internationalen“, dem Kampflied der klassischen europäischen ArbeiterInnenbewegung.<br />
Der Text dieses Liedes geht zurück <strong>auf</strong> Eugène Pottier (1816-1887), der diesen als<br />
Mitglied der Pariser Kommune (1871) verfaßte. Der erste Satz lautet: „Wacht <strong>auf</strong>, Verdammte dieser<br />
Erde, die stets man noch zum Hungern zwingt!“ (frz.: „Debout, les damnés de la terre, debout, les<br />
forçats de la faim“). Frantz Fanon (1925-1961), in Martinique geborener Arzt und Psychotherapeut,<br />
der sich Ende der 50er Jahre der algerischen Befreiungsbewegung anschloß, war es, der den Begriff der<br />
„Verdammten der Erde“ <strong>auf</strong> die Menschen der Dritten Welt bezog; vgl. FRANTZ FANON, Les Damnés de la<br />
terre, Paris, 1961 1 (dtsch.: Die Verdammten dieser Erde, Frankfurt am Main, 1966 1 ). Dieses Buch, das<br />
in 19 Sprachen übersetzt <strong>wurde</strong>, war so etwas wie das „kommunistische Manifest der anti-kolonialen<br />
Revolution“. Zu seiner Aktualität für heute vgl. FRANK HOFFMANN, Heilserwartung und Aufklärung, Freitag,<br />
Nr. 28 (3. Juli 1992), S. 13. - Jean-Marc Ela bezieht sich explizit <strong>auf</strong> dieses Buch, insbesondere <strong>auf</strong><br />
seinen Titel greift er häufig zurück, wenn er die Menschen Afrikas als „Verdammte der Erde“ charakterisiert.<br />
Diese Darstellung erhebt also keinen Anspruch <strong>auf</strong> Vollständigkeit. Es werden jeweils nur exemplarische<br />
Analysen von Jean-Marc Ela referiert. Die Quellenbasis ist <strong>auf</strong> seine theologischen Publikationen<br />
beschränkt, seine soziologischen Untersuchungen müssen hier leider weitestgehend unberücksichtigt<br />
bleiben; Jean-Marc Ela greift in seinen theologischen Texten jedoch auch <strong>auf</strong> diese zurück, so daß sie
2 Der Kontext der théologie sous l’arbre 58<br />
besonderer Bedeutung sind. Gleichzeitig stellen diese einige der für die Menschen „unter dem<br />
<strong>Baum“</strong> relevanten Themen und Probleme dar. Darüber hinaus veranschaulichen diese Analysen<br />
Jean-Marc Elas spezifische Sicht <strong>auf</strong> seinen Kontext.<br />
2.1 Überblick über die globale Situation Afrikas: „Eine Art<br />
geo-politische Apartheid“ 8<br />
8<br />
9<br />
10<br />
11<br />
12<br />
Es gibt kaum einen Text von Jean-Marc Ela, in dem er nicht <strong>auf</strong> den einen oder anderen Aspekt<br />
seines Kontextes bezug nimmt. Es fällt dabei <strong>auf</strong>, daß er dabei zwar jeweils von seinen unmittelbaren<br />
Erfahrungen in Kamerun ausgeht, aber der globale Kontext, in dem er sich situiert, bleibt<br />
immer Afrika als ein zusammenhängendes und vergleichbares Ganzes. Insofern sich die partikulären<br />
Erfahrungen der Menschen „an der Basis“ - <strong>auf</strong> dem Land und in den Slums der Städte - an<br />
praktisch allen Orten dieses riesigen Kontinents entsprechen 9 , kann Jean-Marc Ela in der Regel<br />
ohne Probleme verallgemeinernd von ganz Afrika sprechen - zumal er seine Augen ja auch nicht<br />
verschließt vor dem, was in den anderen Teilen dieses Kontinentes geschieht und welches die<br />
Erfahrungen der Menschen an diesen Orten sind. 10<br />
Einen expliziten Gesamtüberblick über die Situation in Kamerun im besonderen und in Afrika<br />
im allgemeinen gibt Jean-Marc Ela u.a. im 5. Kapitel von Le Cri de l’homme Africain 11 . Ausgehend<br />
von diesem Text zeichne ich im folgenden das Bild von <strong>einem</strong> Afrika, wie Jean-Marc Ela<br />
selbst es wahrnimmt. Dieser Text stammt zwar von 1980, aber an der Gesamtsituation bzw. an<br />
dem Bild, das Jean-Marc Ela von s<strong>einem</strong> afrikanischen Kontext zeichnet, dürfte sich im wesentlichen<br />
nichts geändert haben 12 - abgesehen von einer Verschärfung der Situation für die Mehrheit<br />
der Bevölkerung. Die wohl gravierendste Veränderung seit dieser Zeit ist der Wegfall des<br />
Ost-West-Konfliktes, der zu <strong>einem</strong> gewissen Aufschwung der afrikanischen Demokratiebewehier<br />
zumindest indirekt Eingang finden. Zwischen seinen theologischen und soziologischen Texten bestehen<br />
denn auch keine wesentlichen Differenzen, außer daß in den theologischen die soziologischen<br />
Analysen gleichsam in komprimierter und - selbstverständlich - theologisch reflektierter Form enthalten<br />
sind.<br />
Jean-Marc Ela spricht in Poverty and Theology davon, daß „the international powers have decided to<br />
keep Africa under a kind of geo-political apartheid (S. 16).<br />
Vgl. Ma foi d’Africain, S. 118: „Le drame du peuple kirdi est celui des millions de paysans africains qui<br />
ne demandent qu’à vivre“ („<strong>Das</strong> Drama des Kirdi-Volkes ist das von Millionen afrikanischer Landbewohnern,<br />
die nichts anderes wollen als leben“; Mein Glaube als Afrikaner, S. 103).<br />
Mit Kamerun verhält es sich ähnlich wie mit Südafrika: Wie das Südafrika unter der Apartheid einen<br />
Mikrokosmos darstellt, in dem sich die weltweiten Machtstrukturen widerspiegeln - vgl. dazu z.B. PER<br />
FROSTIN, Umkehr in der Metropole. Eine Antwort der Ersten Welt <strong>auf</strong> die Theologien der Dritten Welt,<br />
a.a.O. (insbes. den Abschnitt „Südafrika als ein Mikrokosmos“, S. 98f) und Südafrika - die Konflikte der<br />
Welt in <strong>einem</strong> Land. <strong>Das</strong> „Damaskus-Dokument“. Stimmen zu einer ökumenischen Anfrage der Armen<br />
an die Reichen (texte 53), Hamburg (Dienste in Übersee), 1993, 2 Bde. -, so kann von Kamerun entsprechend<br />
gesagt werden, daß es ein Mikrokosmos des schwarzafrikanischen Kontinents („Afrique en<br />
miniature“) ist, in dem uns die geographischen, ökonomischen, politischen und sozialen Charakteristika<br />
des heutigen Afrika gleichsam in komprimierter Form begegnen; vgl. dazu auch JAN P. HEIJKE, Kameroense<br />
Befrijdingstheologie, S. 15.<br />
„Afin que renaisse l’espoir“ („Daß die Hoffnung zu neuem Leben erwache“), Le Cri de l’homme<br />
Africain, 70-100 (African Cry, 54-80). Einen Überblick über die globale Situation des Afrika „von unten“<br />
gibt Jean-Marc Ela z.B. auch in: Le rôle des Eglises (bes. der Abschnitt: „L’Afrique ,d’en-bas‘, 285-<br />
290).<br />
Vgl. hierzu die neueren Texte von Jean-Marc Ela, insbesondere JOHN LADU, Poised for the Future (Interview<br />
mit Jean-Marc Ela), New People Nr. 7 (1990), 6-8; The Church has to Accompany the People<br />
(Auszüge aus <strong>einem</strong> Gespräch mit Jean-Marc Ela), New People Nr. 19 (1992), 10-11, und Poverty and<br />
Theology.
2 Der Kontext der théologie sous l’arbre 59<br />
gungen geführt hat 13 , aber an der grundlegenden Konstellation des Nord-Süd-Konfliktes ändert<br />
dies nichts - außer vielleicht, daß der Ost-West-Konflikt nun nicht mehr den Blick für den grundlegenden,<br />
d.h. den Nord-Süd-Konflikt, verstellen kann. 14<br />
Jean-Marc Ela beobachtet in Afrika - wie übrigens in der gesamten Dritten Welt -<br />
einen „wahrhaftigen Prozeß der ,Rekolonisierung‘“ 15 . Nichts kann darüber hinwegtäuschen:<br />
„<strong>Das</strong> wirkliche Afrika befindet sich in einer kolonialen Situation, mit ihrem<br />
ganzen Gefolge an Elend und Ungerechtigkeiten, die tausend Gesichter tragen.“ 16 Da<br />
ist z.B. die verheerende Ernährungslage in der Sahelzone als Folge einer ökonomischen<br />
Beherrschung (un effet de domination économique). Diese ökonomische Beherrschung<br />
äußert sich konkret in den Formen einer „Diktatur der Erdnuß oder der Baumwolle“<br />
(„la dictature de l’arachide ou du coton“). Ihr allgemeines Charakteristikum ist<br />
die Vorherrschaft einer „durch das ausländische Kapital beherrschten Landwirtschaft“<br />
(„une agriculture dominée par le capital étranger“), die ausschließlich <strong>auf</strong> den Export<br />
hin ausgerichtet ist. In dieser Situation ist die formelle Unabhängigkeit der afrikanischen<br />
Staaten nichts als „ein Trugbild, das die tatsächliche Abhängigkeit Afrikas verschleiert“<br />
17 .<br />
Die konkrete Situation der Massen in den Ländern Afrikas, die doch rechtlich vom<br />
kolonialen Joch befreit sind, hat sich seit der Unabhängigkeit eher verschlimmert als<br />
verbessert:<br />
13<br />
14<br />
15<br />
16<br />
17<br />
Einen aktuelleren Überblick über die Situation in Afrika im allgemeinen bietet WALTER MICHLER, Weißbuch<br />
Afrika, Bonn (Dietz), völlig überarbeitete und erweiterte 2. Auflage 1991 (1988 1 ); über die „Demokratisierung“<br />
in Kamerun im besonderen <strong>info</strong>rmiert ANDREAS MEHLER, Kamerun in der Ära Biya. Bedingungen,<br />
erste Schritte und Blockaden einer demokratischen Transition (Hamburger Beiträge zur<br />
Afrika-Kunde; Bd. 42), Hamburg (Institut für Afrika-Kunde), 1993 (zugl. Diss. Hamburg, 1993). Über<br />
die aktuellen Demokratiebewegungen und Demokratisierungsprozesse in Afrika (Benin, Zambia, Zaire,<br />
Kenya) berichten auch REINHART KÖßLER und HENNING MELBER, Chancen internationaler Zivilgesellschaft,<br />
a.a.O., 146-191.<br />
In Ma foi d’Africain, S. 149 (Mein Glaube als Afrikaner, S. 130), bezeichnet Jean-Marc Ela den Nord-<br />
Süd-Konflikt als „das eigentliche Problem unserer Zeit“ („le véritable conflit de notre temps se situe entre<br />
le Nord et le Sud“); dieser ist der „fundamentale Konflikt“ („conflit fondamental“).<br />
„[...] un véritable processus de ,recolonisation‘ de l’Afrique est en course“; Le Cri de l’homme Africain,<br />
S. 72 (African Cry, S. 56). Daran hat sich auch in den 90er Jahren nichts Wesentliches geändert: „We<br />
see a coming back of a form of colonization“, so konstatiert Jean-Marc Ela 1994 in Poverty and<br />
Theology (S. 16). Auch in s<strong>einem</strong> jüngsten Buch aus dem Jahr 1990 spricht Jean-Marc Ela davon, daß<br />
in den afrikanischen Ländern „un véritable processus de recolonisation est en course“ bzw. von „le rôle<br />
de la (re)colonisation dans les processus de sous-développement en Afrique noire“; JEAN-MARC ELA,<br />
Quand l’État pénètre en brousse ... Les ripostes paysannes à la crise, Paris (Karthala), 1990 [zitiert als:<br />
Quand l’État pénètre en brousse], S. 7 bzw. S. 5. - Mit dieser Einschätzung steht Jean-Marc Ela nicht<br />
alleine, was z.B. schon der eingangs dieses Kap. zitierte Text von Ngugi wa Thiong’o belegt. Ich führe<br />
hier nur noch exemplarisch den Anfang dieses Jahres (1995) ermordeten Landsmann von Jean-Marc<br />
Ela und ehemaligen Generalsekretär der AOTA an, den Jesuiten Engelbert Mveng. Er schreibt: „The actual<br />
situation in Africa is a result of the last five centuries of African history, five centuries of slavery<br />
and colonial domination. Even in post-independence Africa, the background of slavery and the colonial<br />
domination system still prevail in a majority of African countries all over the continent“; ENGELBERT<br />
MVENG, African Theology: A Methodological Approach, Voices from the Third World 18, Nr. 1 (1995),<br />
106-116, S. 107.<br />
„L’Afrique réelle vit une situation coloniale, avec son cortège de misères et d’injustices au mille visages“;<br />
Le Cri de l’homme Africain, S. 72 (African Cry, S. 56).<br />
„[...] l’indépendance formelle des jeunes Etats est une mystification qui masque une réelle dépendance<br />
de l’Afrique“; a.a.O., S. 73
2 Der Kontext der théologie sous l’arbre 60<br />
[...] für die Massen hat die Unabhängigkeit keine großen Veränderungen gebracht.<br />
Sie bedeutete sehr oft nichts anderes als die Verpflichtung, einen Personalausweis<br />
oder den Mitgliedsausweis der Einheitspartei mit sich zu führen.<br />
Kurz, die Sonne der Unabhängigkeit scheint heute nicht über allen Afrikanern.<br />
18<br />
<strong>Das</strong> Afrika von heute ist das Afrika „von Millionen von Menschen, deren Lebensbedingungen<br />
vielleicht noch schlechter geworden sind als sie es vor der Unabhängigkeit<br />
schon waren“ 19 . Auf die Kolonisierung durch die Weißen folgt nun eine Kolonisierung<br />
von Schwarzen durch Schwarze: „eine wirkliche Kolonisierung durch den eigenen<br />
Bruder“ (une véritable colonisation du frère par frère).<br />
Angesichts dieser Situation sind viele Menschen versucht, zu denken, daß sich für sie<br />
mit der Unabhängigkeit nichts wirklich geändert hat: „Die Landbevölkerung war arm<br />
und elend unter den Weißen; sie bleibt es unter den Schwarzen.“ 20 So ist es nicht verwunderlich,<br />
daß unter diesen Menschen - die Jean-Marc Ela in Anlehnung an den Titel<br />
des berühmten Werkes von Frantz Fanon die „Verdammten der Erde“ nennt - eine<br />
latente Unzufriedenheit existiert, die jederzeit „explodieren“ und z.B. zu Hungerrevolten<br />
führen kann. Zweifelsohne stellt sich auch weiterhin das Problem der Befreiung.<br />
Von daher erweist sich die angebliche politische Stabilität gewisser Regimes - insbesondere<br />
Kamerun wird häufig zu diesen „stabilen“ Ländern gerechnet 21 - als eine Ideo-<br />
18<br />
19<br />
20<br />
21<br />
„[...] pour les masses, l’indépendance n’a pas changé grand’chose [sic!]. Elle n’a été marquée, pour<br />
beaucoup, que par l’obligation de la carte d’identité ou du parti unique. Bref, Les Soleils de<br />
l’indépendance n’éclairent pas aujourd’hui tous les Africains“; a.a.O., S. 77f (African Cry, S. 60f).<br />
„[...] celle des millions d’hommes dont les conditions de vie sont peut-être devenues pires que celles<br />
d’avant l’indépendance“; a.a.O., S. 78 (African Cry, S. 61). Vgl. auch ENGELBERT MVENG, a.a.O., S. 109:<br />
„Even after African independence, new mechanisms of pauperisation, enslavement and domination,<br />
under the guises of technical assistance, debt, structural adjustment and humanitarian intervention,<br />
have reduced Africa in such a way as to make it today a horrible and lamentable battlefield of famine,<br />
AIDS, tribal wars and genocide. These are the factors of what we call anthropological pauperisation, in<br />
two senses, active and passive. Pauperisation is passive when one becomes poor, losing what one was,<br />
what one had and what one was able to achieve. Pauperisation is active when an external agent makes<br />
someone become poor, depriving one of what one was, what one had and what was able to achieve. Yet<br />
when the deprivation involves not only material or physical goods, but also the essence of our personality,<br />
our identity, our dignity, our cultural heritage, our past, our present and our future, our rights, our<br />
existence, our capacity to choose, to love, to give to ourselves a sense of our existence, then poverty becomes<br />
deprivation of what constitutes the essence of our human personhood; poverty becomes, properly,<br />
anthropological.“ Diesen Begriff einer allumfassenden „anthropologischen Armut“ („pauvreté anthropologique“)<br />
hat Jean-Marc Ela von Engelbert Mveng übernommen; vgl. Le rôle des Eglises, S. 291.<br />
„Les paysans étaient pauvres et misérables avec les Blancs; ils le demeurent avec les Noirs“; ebd.<br />
Dieser Eindruck ist eng verbunden mit dem ersten Präsidenten Kameruns, Ahmadou Ahidjo, der schon<br />
vor der Gründung der „Bundesrepublik Kamerun“ am 1. Oktober 1961 Präsident des seit 1.1.1960 unabhängigen<br />
Ostkamerun war und sich dann als Präsident der Föderation über zwei Jahrzehnte lang an<br />
der Macht halten konnte, bis er diese 1982 an Paul Biya abgab, der bis heute amtierender Präsident ist<br />
(1984 durch Wahl legitimiert). Wie Ahidjo besitzt auch Biya heute weitreichende diktatorische Vollmachten<br />
- trotz der Phase einer gewissen „Demokratisierung“, die 1992 in die ersten Mehrparteienwahlen<br />
zum Präsidentschaftsamt mündete, die Biya trotz zahlreicher Fälschungen und Manipulationen<br />
nur knapp gewann. Als Staatschef ist Paul Biya zugleich auch Vorsitzender der regierenden Einheitspartei<br />
RDPC (Rassemblement Démocratique du Peuple Camerounais) und Oberbefehlshaber der kamerunischen<br />
Armee. Qua Amt ist er nicht nur Chef der Exekutive, sondern auch der Jurisdiktion. Seine Vollmacht,<br />
über die Tagesordnung des Parlaments zu entscheiden, bedeutet die faktische Entmachtung der<br />
kamerunischen Volksvertretung; vgl. dazu auch die junge welt vom 8. Nov. 1995, S. 10, und ANDREAS<br />
MEHLER, Kamerun in der Ära Biya, a.a.O., passim.
2 Der Kontext der théologie sous l’arbre 61<br />
logie, die nur dazu dient, ausländische Investoren zufriedenzustellen. Viele dieser Regimes<br />
können sich lediglich durch den kontinuierlichen Auf- und Ausbau eines Repressions-<br />
und Militärapparates an der Macht halten; oder durch eine starke Vermehrung<br />
von Bars und Nachtlokalen, so fügt Jean-Marc Ela hinzu und spielt damit <strong>auf</strong> die<br />
Funktion der Massenkultur an, die darin besteht, „Opium für das Volk“ zu sein.<br />
<strong>Das</strong> heutige Afrika hat seine jüngere Vergangenheit noch keineswegs bewältigt, die<br />
„koloniale Nacht“ wirft weiterhin ihre lange „Schatten“ über diesen riesigen Kontinent:<br />
<strong>Das</strong> Erbe, das die Kolonisatoren zurückgelassen haben, <strong>wurde</strong> nicht abgeschüttelt.<br />
Die Neger sind einfach nur in die Fußstapfen der Weißen getreten. [...] Der<br />
koloniale Rassismus hat in der afrikanischen Seele zu tiefe Narben und Verstümmelungen<br />
hinterlassen; die Traumata der einheimischen Bevölkerung und<br />
die Folgen der Jahre kolonialer Verachtung bestehen auch nach der Unabhängigkeit<br />
noch weiter. 22<br />
Entgegen allen Erwartungen und Hoffnungen, welche die Menschen in die Unabhängigkeit<br />
gesetzt hatten, hat diese weder einen neuen Menschen hervorgebracht, noch die<br />
AfrikanerInnen in die Lage versetzt, eine neue und bessere Gesellschaft zu schaffen.<br />
Der Kontext des post-kolonialen Afrika ist in erster Linie geprägt durch seine gravierenden<br />
und sich immer weiter vertiefenden sozialen Disparitäten:<br />
Was diese Situation unbestreitbar kennzeichnet, ist das Wachstum der Ungleichheiten<br />
im unabhängigen Afrika. Von Afrikas Slums bis in die entlegensten<br />
Wald- und Savannengebiete hungern und dürsten die durch das Elend und<br />
die Armut gebeugten Männer, Frauen und Kinder nach Gerechtigkeit und Freiheit.<br />
23<br />
Insbesondere die Landbevölkerung - die große Mehrheit der Bevölkerung - wird mehr<br />
und mehr marginalisiert und verdammt zu Unterernährung, Kindersterblichkeit, Analphabetismus<br />
und fortwährender Verschuldung. Die Ursache hierfür ist eine ihr <strong>auf</strong>gezwungene<br />
Ausrichtung der landwirtschaftlichen Entwicklung, die ausschließlich <strong>auf</strong><br />
die Produktion für den Export abzielt. Auf diese Weise wird die afrikanische Landwirtschaft<br />
und mit ihr die Landbevölkerung schutzlos der Herrschaft des Weltmarktes<br />
ausgeliefert.<br />
Diese Entwicklung muß verstanden werden in <strong>einem</strong> Kontext, in dem die afrikanischen<br />
Ökonomien gezielt nach den Bedürfnissen der kapitalistischen Welt gestaltet werden.<br />
Zu diesem Zweck haben die herrschenden Klassen des Zentrums in Afrika einen kolonialen<br />
Staat eingerichtet, der sich <strong>auf</strong> eine privilegierte einheimische Klasse stützt, die<br />
22<br />
23<br />
„L’héritage laissé par les colonisateurs n’a pas été rejeté. Les Nègres n’ont fait que chausser les bottes des<br />
Blancs (wörtl.: „Die Neger haben nur die Stiefel der Weißen angezogen“). [...] Le racisme colonial a<br />
laissé dans l’âme africaine des traces et des mutilations trop profondes; les blessures de l’indigénat et les<br />
séquelles des années de mépris colonial subsistent au-delà de l’indépendance“; Le Cri de l’homme<br />
Africain, S. 78f (African Cry, S. 61f).<br />
„Ce qui caractérise incontestablement cette situation, c’est la croissance des inégalités dans l’Afrique<br />
indépendante. Dans les bidonvilles d’Afrique et jusque dans les campagnes les plus éloignées de la forêt<br />
et de la savane, des hommes, des femmes et des jeunes courbés par la misère et la pauvreté ont soif de<br />
justice et de liberté“; a.a.O., S. 79 (African Cry, S. 62).
2 Der Kontext der théologie sous l’arbre 62<br />
allein von den Früchten der Unabhängigkeit profitiert. Seien es nun zivile oder militärische<br />
Oligarchien, die den Staat in ihrer Hand haben - diese Oligarchien „sind heute<br />
die unverzichtbaren Gehilfen und Satrapen des ausländischen Kapitals vor Ort“ 24 :<br />
Die miserable Situation der bäuerlichen Massen läßt sich nur verstehen, wenn<br />
die Schaffung einer lokalen Bourgeoisie berücksichtigt wird, die mit den Organen<br />
der Plünderung assoziiert ist; denn diese Klasse lebt von den Krümeln, die<br />
für sie bei der Ausbeutung der Länder Afrikas abfallen. 25<br />
In diesen Ländern ist es ganz offensichtlich, daß die Gesamtheit der Ökonomie in keiner<br />
Weise im Dienst der Befriedigung der wesentlichen Bedürfnissen der Mehrheit der<br />
Bevölkerung steht - „es sind die Bedürfnisse einer Minderheit, die zu befriedigen man<br />
sich entschieden hat“ 26 . „Die Verankerung der afrikanischen Ökonomien in den Weltkapitalismus<br />
bringt allein einer Minorität von Privilegierten Vorteile.“ 27 Die verlokkenden<br />
Gewinne, welche die exportorientierte Entwicklungspolitik zu versprechen<br />
scheint, fließen gewöhnlich wieder in diejenigen Länder zurück, aus denen das Kapital<br />
kommt:<br />
Eine solche Entwicklungsstrategie bevorzugt in Afrika die Einführung von solchen<br />
Industrien, die ausschließlich <strong>auf</strong> den Export ausgerichtet sind, und die<br />
nicht die geringste Rücksicht <strong>auf</strong> die primären Bedürfnisse der Aufnahmeländer<br />
nehmen. Die ausländischen Unternehmen können so die Verschmutzungen und<br />
Umweltbelastungen, die der Westen nicht mehr will, nach Afrika verlagern. Die<br />
Situation der Massen verschlechtert sich in dem Moment, in dem diese Unternehmen<br />
prosperieren, während die Mitglieder der herrschenden Klasse durch<br />
ihre Kollaboration mit der neo-kolonialen Ausbeutung skandalöse persönliche<br />
Reichtümer anhäufen. 28<br />
Die Rede von der „Unterentwicklung“ erweist sich in diesem Zusammenhang als eine<br />
Ideologie, die die Beherrschung Afrikas als die wahre Ursache der Armut verschleiert:<br />
Die Vorstellung von einer „Unterentwicklung“ [...] transportiert [...] eine Ideologie,<br />
die die wahre Natur des in Schwarzafrika vorherrschenden neokolonialen<br />
Staates verschleiert. Tatsächlich ist die „Armut“ in all ihren Formen<br />
eine Folge der Beherrschung, der die große Mehrheit der Afrikaner unterworfen<br />
ist. Wir müssen damit <strong>auf</strong>hören, von „Armut“ zu reden in <strong>einem</strong> Kontext, in<br />
24<br />
25<br />
26<br />
27<br />
28<br />
„[...] elles sont aujourd’hui sur le terrain, l’auxiliaire indispensable et le satrape du capital étranger“;<br />
a.a.O., S. 80 (African Cry, S. 63).<br />
„On ne comprend pas le malaise des masses paysannes si l’on ne tient compte de la création d’une<br />
bourgeoisie locale associée aux organes de pillage: car cette classe vit des miettes de l’exploitation des<br />
pays d’Afrique“; ebd.<br />
„[...] ce sont les besoins d’une minorité que l’on décide de satisfaire“; a.a.O., S. 81.<br />
„L’ancrage des économies africaines au capitalisme mondial profite à une minorité de privilégiés“; ebd.<br />
„Une telle stratégie de développement préconise l’implantation en Afrique d’industries exclusivement<br />
orientées vers l’exportation et ne tenant nullement compte de besoins primaires des pays d’accueil. Les<br />
entreprises étrangères peuvent ainsi transporter en Afrique les pollutions et les nuisances dont<br />
l’Occident ne veut plus. La situation des masses se détériore au moment où ces entreprises sont<br />
prospères, tandis que les membres de la classe dirigeante se constituent de scandaleuses fortunes<br />
personnelles en collaborant à l’exploitation néo-coloniale“; ebd. (African Cry, S. 64).
2 Der Kontext der théologie sous l’arbre 63<br />
dem Afrika immense Reichtümer besitzt, die von den Herren des Geldes ausgebeutet<br />
werden. 29<br />
In dieser Situation bleibt Afrika „ein Rohstoffreservoir für den Westen und seine Bevölkerung<br />
eine billige Arbeitskraft für die ausländischen Investoren“ 30 . Die gegenwärtige<br />
globale Situation ist gekennzeichnet durch krasse Ungleichheiten zwischen <strong>einem</strong><br />
Westen, der im Überfluß lebt, <strong>auf</strong> der einen Seite, und <strong>einem</strong> verarmten bzw. arm gemachten<br />
Afrika <strong>auf</strong> der anderen Seite, wo „eine Art Club derjenigen Einheimischen,<br />
die ihre Schäfchen im trockenen haben, und die an der Ausbeutung der Massen mitbeteiligt<br />
sind“ 31 , gegründet <strong>wurde</strong>. Selbst ein sogenanntes „revolutionäres“ Regime entgeht<br />
nicht der - Elend und Ungerechtigkeit erzeugenden - neo-kolonialen Abhängigkeit.<br />
„Die Beherrschung hat hier viele Formen und sie erstreckt sich <strong>auf</strong> alle Bereiche<br />
des nationalen Lebens: Handel, Banken, Industrie, Landwirtschaft, Massenkultur, etc.<br />
...“ 32 Für Jean-Marc Ela steht letztlich fest: „<strong>Das</strong> abhängige und blockierte Afrika ist zu<br />
<strong>einem</strong> Land der Unterdrückung und der Ungerechtigkeit geworden“ 33 : „Hier ist die<br />
Gewalt nicht länger jene der in den nationalen Befreiungskämpfen engagierten Rebellen<br />
oder Widerstandskämpfer, sondern die, die der neo-koloniale Staat ausübt, um sein<br />
Überleben zu gewährleisten und seine Apparate instand zu halten.“ 34<br />
In vielen afrikanischen Ländern ist die Presse einer strikten Reglementierung unterworfen<br />
- „als ob ein Journalist schon qua Amt ein Opponent wäre, der der Orthodoxie<br />
des offiziellen Denkens unterworfen werden müßte“ 35 . Viele Regimes können sich in<br />
der Tat nur durch „eine wahrhaftige Meinungsdiktatur“ (une véritable dictature sur<br />
l’opinion) an der Macht halten. „Subversive Umtriebe“ in Form von als tendenziös<br />
betrachteten schriftlichen oder mündlichen Äußerungen werden als gefährlich für die<br />
„nationale Sicherheit“ betrachtet und unterliegen einer besonderen Rechtsprechung.<br />
Die Besessenheit durch die Angst vor <strong>auf</strong>rührerischen Umtrieben geht manchmal so<br />
weit, daß diese Gesetze selbst <strong>auf</strong> Personen ausgedehnt werden, die wichtige staatliche<br />
Ämter bekleiden, die aber durch ihr Verhalten oder ihre Äußerungen die staatlichen<br />
Institutionen „untergraben“. Die Meinungsüberwachung (surveillance de l’opinion)<br />
nimmt selbst im Ausland lebende BürgerInnen nicht aus, wenn sie dort auch nur irgend<br />
etwas gegen eine Regierung sagen, die mit ihrem Mutterland Beziehungen unterhält.<br />
29<br />
30<br />
31<br />
32<br />
33<br />
34<br />
35<br />
„L’idée de ,sous-développement‘ [...] véhicule [...] une idéologie qui masque la nature réelle de l’Etat<br />
néocolonial prédominant en Afrique Noire. En effet, la ,pauvreté‘ sous toutes ses formes, est un effet de<br />
la domination imposée à la grande majorité des Africains. Il faut renoncer à parler de ,pauvreté‘ dans<br />
un contexte où l’Afrique possède d’immenses richesses exploitées par les puissances d’argent“; ebd.<br />
„L’Afrique reste un réservoir de matières premières pour l’Occident et sa population une main-d’œuvre<br />
à bon marché pour les investisseurs étrangers“; a.a.O., S. 81f.<br />
„[...] une sorte de club des nantis autochtones associés à l’exploitation des masses“; a.a.O., S. 82.<br />
„La domination est ici multiforme et elle s’étend à tous les secteurs de la vie nationale: commerce,<br />
banque, industrie, agriculture, culture de masse, etc. ...“; ebd.<br />
„A la limite, l’Afrique dépendante et bloquée est devenue une terre d’oppression et d’injustice“; ebd.<br />
(African Cry, S. 65).<br />
„Ici la violence n’est plus celle des rebelles ou des maquisards engagés dans les luttes de libération<br />
nationale, mais celle qu’exerce l’Etat néo-colonial pour assurer sa survie et entretenir ses appareils“;<br />
ebd.<br />
„[...] comme si le journaliste était, d’office, un opposant qu’il faut soumettre à l’orthodoxie de la pensée<br />
officielle“; ebd.
2 Der Kontext der théologie sous l’arbre 64<br />
Im Heimatland selbst ist keine freie Kommunikation möglich, nicht einmal im Kreise<br />
der Familie - Denunzianten kann es schließlich überall geben; außerdem kennt die<br />
afrikanische Großfamilie kein Privatleben im westlichen Sinn.<br />
Die Atmosphäre ist in diesen Ländern ohne Zweifel von Angst und gegenseitigem<br />
Mißtrauen geprägt. Jean-Marc Ela kontrastiert diese „Friedhofsruhe“ mit der traditionellen<br />
afrikanischen Kultur des Palavers, wenn er schreibt: „In Zivilisationen des Palavers<br />
und der Oralität gibt es wohl keine Situation, die weniger tolerabel ist als jene, in<br />
die der Afrikaner <strong>auf</strong> der Ebene des freien Ausdrucks seiner Ideen, seiner Meinungen,<br />
seiner Optionen und seiner Einwände geführt <strong>wurde</strong>.“ 36<br />
In dieser „Konzentrationslager-Welt“ („univers concentrationnaire“), in der jede Kritik<br />
als ein Angriff <strong>auf</strong> die „nationale Sicherheit“ gilt, entsteht zwangsläufig „eine Art<br />
Selbstzensur“ (une sorte d’auto-censure), der auch die ausländischen Journalisten nicht<br />
entrinnen - ansonsten würden sie ihre Aufenthaltsgenehmigung erheblich gefährden. In<br />
<strong>einem</strong> solchen Kontext, in dem eine offene Kommunikation praktisch unmöglich ist, ist<br />
es kein Wunder, wenn die literarische und intellektuelle Produktion stagniert und das<br />
Denken keine Fortschritte mehr macht.<br />
<strong>Das</strong> gesamte intellektuelle Leben unterliegt einer permanenten Kontrolle; Versammlungen,<br />
<strong>auf</strong> denen die Menschen ihre Meinungen und Gedanken austauschen könnten,<br />
werden ebenso wie als „subversiv“ beurteilte Veröffentlichungen verboten. Publikationen,<br />
deren Inhalt sich als ein politisches Verbrechen interpretieren läßt, können gar<br />
eine Vorbeugehaft nach sich ziehen. Den Intellektuellen, wollen sie ihre Familien nicht<br />
gefährden, bleibt oft keine andere Möglichkeit als die der „intellektuellen Prostitution“<br />
für das herrschende Regime, denn selbst das Schweigen ist verdächtigt, insofern es als<br />
eine Form der Mißbilligung diesem Regime gegenüber ausgelegt werden kann. Von<br />
daher lassen sich leicht die Gewissenskonflikte nachvollziehen, mit denen die Intellektuellen<br />
angesichts ihrer Verpflichtung, den offiziellen Diskurs zu reproduzieren, konfrontiert<br />
sind.<br />
Dieser Zwang zum Konformismus führt letztlich zu einer „Papageien-Mentalität“<br />
(„une mentalité de perroquet“), für die jede kritische Reflexion eine Bedrohung darstellt,<br />
dadurch daß sie als der Ausdruck von Dissidenz erscheint: <strong>„Der</strong> Geist findet sich<br />
eingesperrt in die sich ständig wiederholende Liturgie der Welt des Mythos.“ 37<br />
Für Jean-Marc Ela stellt sich daher die Frage, ob dies nicht eine der historischen Tragödien<br />
des heutigen Afrikas ist:<br />
Man mag sich fragen, ob die Konsolidierung dieser Republiken des Schweigens,<br />
die Tag für Tag zu wahren Friedhöfen des Geistes werden, nicht eine der<br />
Tragödien der zeitgenössischen afrikanischen Geschichte ist. <strong>Das</strong> Fehlen jeder<br />
echten politischen Debatte offenbart die Schranken, die in den Jahren nach der<br />
Unabhängigkeit der Entwicklung der Demokratie gesetzt waren. <strong>Das</strong> Streben<br />
36<br />
37<br />
„Dans les civilisations de la palabre et de la oralité, il n’y a peut-être pas de situation plus intolérable<br />
que celle qui est fait à l’Africain au niveau de la libre expression de ses idées et de ses opinions, de ses<br />
options et de ses oppositions“; a.a.O., S. 95 (African Cry, S. 75).<br />
„L’esprit se trouve enfermé dans la liturgie répétitive propre à l’univers du mythe“; a.a.O., S. 84<br />
(African Cry, S. 66).
2 Der Kontext der théologie sous l’arbre 65<br />
nach Einheit durch die Einrichtung der Einheitspartei 38 artete aus zu einer Hetzjagd<br />
<strong>auf</strong> jede Form einer als Bedrohung der öffentlichen Sicherheit qualifizierten<br />
Dissidenz. 39<br />
<strong>Das</strong> vordringliche Insistieren <strong>auf</strong> der „öffentlichen Sicherheit“ in <strong>einem</strong> vom Ausland<br />
beherrschten Afrika, in dem offenkundige Antagonismen bestehen zwischen einer<br />
privilegierten und wohlhabenden Elite und der Masse der Bevölkerung, die sich <strong>auf</strong><br />
dem Weg einer fortschreitenden Proletarisierung befindet, offenbart deren ideologischen<br />
Charakter: „Wie das Konzept der nationalen Einheit 40 hier die Existenz sich<br />
herausbildender Klassen verschleiert, so muß zugestanden werden, daß sich die nationale<br />
Sicherheit als eine Ideologie der Beherrschung erweist.“ 41<br />
Diese „nationale Sicherheit“ hat bisher tatsächlich nur zur Bereicherung der herrschenden<br />
Oligarchien beigetragen, in Ländern, die sich <strong>info</strong>lge ihrer Spaltung in soziale<br />
Klassen und einer ungerechten Verteilung des Volksvermögens zu wahren Brutstätten<br />
von Repression und „institutioneller Gewalt“ (violence institutionnelle) entwickelt<br />
haben:<br />
Ausgehend von der Entscheidung, daß „die nationale Einheit“ eine Bedingung<br />
für die ökonomische und soziale Entwicklung sei, radiert man schließlich die<br />
Ausübung der grundlegenden Freiheiten aus dem täglichen Leben aus. Kurz, im<br />
Namen der Einheit tendiert man dazu, die polizeiliche Repression zu einer<br />
wahrhaften nationalen Institution zu machen. 42<br />
In kaum <strong>einem</strong> afrikanischen Land werden heute die Menschenrechte wirklich respektiert.<br />
Die meisten dieser Länder gehören zu denjenigen Staaten, in denen laut Amnesty<br />
International „die Folter Teil eines organisierten Systems der Beherrschung ist“. Es<br />
muß jedoch betont werden, daß es nicht nur die Militärregimes sind, deren Namen<br />
synonym sind mit Folter, Unterdrückung und Repression:<br />
38<br />
39<br />
40<br />
41<br />
42<br />
Zum Einparteienmodell bemerkt Jean-Marc Ela in „The Church has to Accompany the People“, New<br />
People Nr. 19 (1992), 10-11, S. 10: „Somehow the model was more like Leninism and Stalinism. Today<br />
these models are in crisis and severely questioned by the younger generations, who are looking for more<br />
freedom and democracy.“<br />
„On peut se demander si l’une des tragédies de l’histoire africaine contemporaine n’est pas la<br />
consolidation de ces républiques du silence qui deviennent chaque jour de véritables cimetières de<br />
l’intelligence. L’absence de tout débat politique véritable révèle les freins mis au développement de la<br />
démocratie dans les années qui ont suivi les indépendances. La recherche de l’unité par l’instauration du<br />
parti unique se solde par la chasse à toute forme de dissidence qualifiée de menace contre la sécurité<br />
publique“; Le Cri de l’homme Africain, S. 84.<br />
In Afrika ist die Berufung <strong>auf</strong> die nationale Einheit häufig verbunden mit dem Bezug <strong>auf</strong> eine utopische<br />
Vergangenheit, als hätte es im „authentischen“ Afrika der Ahnen keinerlei internen Konflikte oder<br />
Spannungen gegeben, sondern reine Einmütigkeit und Harmonie - so jedenfalls doziert die Staatsmacht;<br />
vgl. a.a.O., S. 152 (African Cry, S. 127).<br />
„Si le concept d’unité nationale dissimule ici l’existence des classes en formation, il faut admettre que la<br />
sécurité de l’Etat apparaît comme une idéologie de domination“; ebd. (African Cry, S. 67).<br />
„A partir de la décision selon laquelle ,l’unité nationale‘ est une condition du développement<br />
économique et social, on en arrive à gommer de la vie quotidienne l’exercice des libertés fondamentales.<br />
Bref, au nom de l’unité, on tend à faire de la répression policière une véritable institution nationale“;<br />
a.a.O., S. 85 (African Cry, S. 67f).
2 Der Kontext der théologie sous l’arbre 66<br />
In der Welt eines planetarischen Gulag, in der die Tyrannei etwas ganz Gewöhnliches<br />
ist, sind die zivilen Machthaber keine besseren Garanten der Freiheiten<br />
des Volkes. Auch wenn es oft schwer ist, Informationen über die Folter<br />
in Schwarzafrika zu erhalten, so läßt sich dennoch beobachten, daß in zahlreichen<br />
Staaten <strong>auf</strong>grund politischer Gründe die politischen Rechte entweder <strong>auf</strong>gehoben<br />
sind oder nicht beachtet werden. 43<br />
In diesen Systemen ist nicht nur jede Opposition illegal und das Recht <strong>auf</strong> freie Meinungsäußerung<br />
inexistent, auch die Rechtsprechung ist repressiv und der Justizapparat<br />
unterliegt der Manipulation durch die Machthaber. Diese ganze Situation ist gekennzeichnet<br />
durch eine „Praxis der Gewalt gegen Körper und Geist der Opponenten“ 44 . In<br />
diesem Zusammenhang sind insbesondere die in den meisten afrikanischen Staaten<br />
existierenden Folterlager zu erwähnen, die euphemistisch „bürgerliche Umerziehungszentren“<br />
(centres de rééducation civique) genannt werden. 45 Es sind im übrigen dieselben<br />
Methoden, die damals die Kolonialmächte anwendeten, und die nun in weiter<br />
entwickelter Form in den unabhängigen Staaten gegen die Gegner der neuen herrschenden<br />
Klassen zum Einsatz kommen.<br />
Die Menschenrechtsverletzungen in <strong>einem</strong> Land wie Kamerun, das den Ruf hat, „stabil“<br />
und „ruhig“ zu sein, legen nahe, daß „die Stabilität gewisser Regimes nur um den<br />
Preis einer blutigen Repression gewährleistet werden kann“. 46 So arm diese Länder<br />
auch sind, in denen überdimensionierte Militärapparate einen Großteil des Staatshaushaltes<br />
verschlingen - und deren Ausrüstung die Abhängigkeit von ausländischer Militärhilfe<br />
zusätzlich vergrößert -, so leisten sie sich dennoch den Luxus, ihre Folterknechte<br />
in den Schulen der Weißen ausbilden zu lassen, wo sie mit den ausgefeiltesten<br />
Techniken und den entsprechenden Werkzeugen ausgestattet werden. Die Folter dient<br />
hier nicht nur dazu, Auskünfte zu erpressen, sondern ist darüber hinaus eine Methode<br />
der Regierung, ein Herrschaftsinstrument, um jede oppositionelle Regung schon im<br />
Keim zu ersticken. Diesem Zweck dienen auch die Gesetze über die Aufrechterhaltung<br />
der öffentlichen Ordnung, die eine unbefristete Inhaftierung ohne jede Gerichtsverhandlung<br />
erlauben. Sicherheit genießen nur die Funktionäre einer offenkundig korrupten<br />
Elite, während bereits das Verteilen von Flugblättern gegen die Regierungspolitik<br />
zu Massakern unter Jugendlichen führen kann.<br />
In Afrika gibt es keine wirkliche Debatte über die Korruption, die zu einer Quelle der<br />
Bereicherung <strong>wurde</strong> für eine käufliche Bourgeoisie (une bourgeoisie compradore),<br />
deren Rolle es ist, als Bindeglied zwischen den multinationalen Gesellschaften und<br />
<strong>einem</strong> kleinen Kreis von maßgeblichen Funktionären zu fungieren. Jede Kritik und<br />
43<br />
44<br />
45<br />
46<br />
„Dans l’univers du Goulag planétaire où la tyrannie est rampante, les civils au pouvoir ne sont pas les<br />
meilleurs garants des libertés du peuple. Bien qu’il soit souvent difficile d’avoir des <strong>info</strong>rmations sur la<br />
torture en Afrique Noire, on remarque que les droits politiques sont ou suspendus ou ignorés dans<br />
nombre de pays pour des raisons politiques“; a.a.O., S. 86 (African Cry, S. 68).<br />
„[...] pratique de la violence sur le corps et les esprits des opposants“; a.a.O., S. 87<br />
Diese Lager gibt es auch in Kamerun. Unter der Schreckensherrschaft von Ahmadou Ahidjo sollen in<br />
Kamerun an die 20 Konzentrationslager eingerichtet worden sein. Jan P. Heijke nennt diejenigen in<br />
Mokolo, Yoko, Mantoum, Tscholliré und Manengouba (Kameroense Befrijdingstheologie, S. 35).<br />
„[...] que la stabilité de certains régimes ne soit assurée qu’au prix d’une répression sanglante“; Le Cri de<br />
l’homme Africain, S. 87 (African Cry, S. 69).
2 Der Kontext der théologie sous l’arbre 67<br />
jeder Protest gegen diese Zustände gilt als ein Verbrechen, wie schlechterdings jede<br />
Äußerung von Opposition gegen die Politik der herrschenden Regimes als subversiv<br />
gebrandmarkt wird. „Diese haben tatsächlich den Palaverbaum gefällt, aus Gründen<br />
der öffentlichen Sicherheit, so sagt man.“ 47<br />
Die verheerende Menschenrechtssituation in Schwarzafrika ist mithin ein Grund für<br />
den massiven Exodus der afrikanischen ‚Intelligenzija‘, der Afrika eines unverzichtbaren<br />
Kapitals für die Konsolidierung seiner Unabhängigkeit beraubt. Nur wenige der<br />
hochqualifizierten Fachleute widerstehen der Versuchung des Exils im Ausland, wenn<br />
die Alternative nur das Exil im eigenen Land ist.<br />
Der zentrale interne Konflikt in Afrika ist derjenige zwischen der herrschenden Klasse,<br />
d.h. einer Minorität von Privilegierten, die von den Früchten der antikolonialen Befreiungskämpfe<br />
profitieren, und der Masse der Bevölkerung, die von jeglichem Fortschritt<br />
ausgeschlossen ist, und zu deren alltäglichen Realität das mysteriöse Verschwinden<br />
von Menschen, Entführungen, von Kugeln durchsiebte Körper, öffentliche oder heimliche<br />
Hinrichtungen, Massenexekutionen und lebenslange Inhaftierungen unter unmenschlichen<br />
Bedingungen gehören. Was die Dissidenten in diesem Zusammenhang<br />
zum Ausdruck bringen, ist im Grunde genau das, was die Mehrheit der Bevölkerung<br />
nicht zu sagen wagt, und deren Repräsentanten sie in diesem Sinn sind.<br />
Die Verfolgung der Dissidenten und der oppositionellen Bewegungen geschieht letztlich<br />
auch im Interesse der Bourgeoisien des Zentrums, die in Afrika vitale Interessen<br />
haben. Die im Verborgenen agierenden Bank- und Finanzimperien tragen bei zur absoluten<br />
Verarmung der Länder der Dritten Welt. Die großen Industriemächte verweigern<br />
der afrikanischen Menschheit fortwährend den Status eines politischen Subjektes.<br />
Durch die Vermittlung der einheimischen Elite, die der westliche Imperialismus geschaffen<br />
hat, versucht dieser, die totale Abhängigkeit der afrikanischen Ökonomien<br />
von den Metropolen zu zementieren.<br />
In dieser Hinsicht ist die Folter „eine der Folgen der Beherrschung der Völker der<br />
Peripherie durch die Oligarchien des hegemonialen Kapitalismus des Zentrums, die<br />
selbst ein Akt der Gewalt ist“ 48 Auf der gegenwärtigen Stufe der Beherrschung des<br />
Menschen durch den Menschen ist die Folter „die Zerstörung der Menschen der Peripherie<br />
durch die Hände ihrer eigenen Verwandten“ 49 .<br />
Die Gesamtsituation Afrikas ist also charakterisiert durch<br />
die Existenz einer enormen Zahl an Armen, die von einer reichen Minderheit<br />
beherrscht werden, welche bestrebt ist, den Orientierungs-, Regulierungs- und<br />
Entscheidungsprozeß zu ihrem Gunsten zu kontrollieren - <strong>auf</strong> der Basis des<br />
47<br />
48<br />
49<br />
„Ceux-ci, de fait, ont abattu l’arbre à palabres pour des raisons, dit-on, de sécurité publique“; a.a.O., S.<br />
88.<br />
„La torture est l’un des effets de la domination des peuples de la périphérie par des oligarchies du<br />
capitalisme hégémonique du centre qui est elle-même un fait de violence“; a.a.O., S. 94 (African Cry, S.<br />
74).<br />
„Au stade ultime de la domination de l’homme par l’homme, qui revêt des formes nouvelles, la torture<br />
est une forme de destruction des hommes de la périphérie par la main de leurs propres congénères“;<br />
ebd.
2 Der Kontext der théologie sous l’arbre 68<br />
transnationalen Kapitals, das sich die Kontrolle über einen sagenhaft reichen<br />
Kontinent sichert. 50<br />
In diesem Kontext, in dem Millionen von Menschen nicht nur eines minimalen Lebensstandards<br />
beraubt sind, sondern auch ihrer Freiheit, und insbesondere des Rechtes,<br />
sich frei zu äußern, ein Kontext, in dem die Pressefreiheit eliminiert ist, die Medien<br />
insgesamt einer strengen Kontrolle unterliegen und die Gewerkschaften bloße Anhängsel<br />
der Regierungspartei sind, geschweige denn, daß es ein Streikrecht gäbe - im Namen<br />
der Doktrin der nationalen Sicherheit, die letztlich nichts anderes ist als die Sicherheit<br />
einer durch und durch korrupten Staatsbürokratie und die der Profite des<br />
transnationalen Kapitals - in diesem Kontext haben die Kirchen die einzigartige Chance,<br />
eine der wenigen organisierten und freien Stimmen sein zu können, die sich für die<br />
Respektierung der Menschenrechte stark machen könnten. Insbesondere die Bischöfe<br />
sind mithin die einzigen Personen die wirklich freimütig sprechen können:<br />
In den in Afrika vorherrschenden politischen Systemen kann die Kirche die einzige<br />
Institution sein, die fähig ist, von Freiheit zu reden und etwas von ihr zu<br />
retten. Unter den Umständen, unter denen wir leben, sind die Bischöfe die einzigen<br />
Personen, die in der Kirche diese Rolle spielen können. Mehr als je zuvor<br />
sind die Bischöfe die Inkarnation der Ortskirche, und sie sind die einzigen Personen,<br />
die frei reden können. Die Priester und die Laien richten ihren Blick <strong>auf</strong><br />
sie, in der Erwartung, Worte zu hören, die befreien. Historische Umstände<br />
zwingen dem Episkopat der Dritten Welt diese Rolle <strong>auf</strong>. 51<br />
Exkurs zur Dependenztheorie<br />
Obiger Analyse liegt ohne Zweifel eine bestimmte Form der Dependenztheorie<br />
zugrunde. Seit einiger Zeit wird die Dependenztheorie jedoch - auch von manchen<br />
ihrer ehemaligen Vertreter 52 - heftig in Frage gestellt. Mit dieser Kritik, die sich vorrangig<br />
<strong>auf</strong> die internen Faktoren der „Unterentwicklung“ konzentriert, und für die die<br />
„Dritte Welt“ als ein Mythos erscheint, der in den „Mülleimer der Geschichte“ gehöre,<br />
setzt sich Jean-Marc Ela in der Einleitung seines jüngsten Buches auseinander. 53 Sein<br />
zentraler Kritikpunkt an der Infragestellung der Dependenztheorie ist der, daß angesichts<br />
der „Rekolonialisierung“, die in Afrika im Gange ist - und in deren Kontext in<br />
gewissen intellektuellen Kreisen sogar schon davon gesprochen wird, daß der Kolonia-<br />
50<br />
51<br />
52<br />
53<br />
„[...] l’existence d’une multitude de pauvres asservis par une minorité de riches qui tendent à contrôler<br />
le processus d’orientation, de régulation et de décision en leur faveur, à partir du capital transnational<br />
qui s’assure le contrôle d’une continent aux richesses fabuleuses“; ebd.<br />
„Dans les systèmes qui prédominent en Afrique, elle peut être la seule institution capable de parler et de<br />
sauver quelque chose de la liberté. Dans les circonstances où nous vivons, les seules personnes qui<br />
puissent jouer ce rôle dans l’Eglise sont les évêques. Plus que jamais, les évêques incarnent l’Eglise locale<br />
et ce sont les seules personnes qui peuvent parler librement. Aussi bien les prêtres et les laïcs tournentils<br />
leur regard vers eux, attendant les mots qui libèrent“; a.a.O., S. 97 (African Cry, S. 77).<br />
In Deutschland ist dies z.B. ULRICH MENZEL mit s<strong>einem</strong> provokativen Buch <strong>Das</strong> Ende der Dritten Welt<br />
und das Scheitern der großen Theorie, Frankfurt am Main (edition suhrkamp), 1992.<br />
Quand l’État pénètre en brousse, 5-20.
2 Der Kontext der théologie sous l’arbre 69<br />
lismus auch Vorteile für die afrikanischen Völker habe 54 -, die sich erneuernden Formen<br />
der Abhängigkeit nicht ignoriert werden können. Ansonsten riskiert mensch, das<br />
beträchtliche Gewicht, welches das ausländische Kapital innerhalb der afrikanischen<br />
Ökonomie hat, und die entscheidende Bedeutung ihrer Integration in den Weltmarkt<br />
aus dem Blick zu verlieren. Die Entstehung eines post-kolonialen Staates kann die<br />
Entfremdung nicht verschleiern, die sich bis ins alltägliche Leben auswirkt, und deren<br />
Ursache darin zu suchen ist, daß die großen Wirtschaftsmächte die Industrie, die Kommunikation,<br />
den Handel und die Technologien kontrollieren: „<strong>Das</strong> Schicksal der afrikanischen<br />
Kleinbauern hängt ab vom Herrschaftswillen derjenigen sozialen Kräfte, die<br />
den Börsenmarkt kontrollieren.“ 55 Ausländische Einflüsse bestimmen entscheidend die<br />
Lebensbedingungen ganzer Völker. Gezeichnet durch das Trauma des Kolonialismus<br />
bleiben die afrikanischen Gesellschaften auch weiterhin den Mechanismen der internen<br />
Herrschaftsstrukturen eines expandierenden Kapitalismus unterworfen. 56 Von daher<br />
bedeutet die Überbetonung der Eigentümlichkeit (spécificité) und der internen historischen<br />
Dynamik (historicité) der afrikanischen Gesellschaften eine Verschleierung der<br />
von außen kommenden Formen der Beherrschung, die diese Gesellschaften strukturieren.<br />
Afrikas interne Widersprüche lassen sich nicht unabhängig von den internationalen<br />
Beziehungen angemessen verstehen: „Wir können die Herausforderungen dieser<br />
Gesellschaften nicht verstehen, wenn wir die Rolle und die Praxis der Supermächte<br />
oder der Geldmächte, der Kreditorganisationen, der Banken und der Multinationalen,<br />
die ausländischen Konglomerate und ihre Strategie, die Kapitalmärkte, die schwer <strong>auf</strong><br />
den Projekten und Orientierungen des lokalen Lebens in Afrika lasten, ignorieren. Der<br />
Exportgüter-Markt, die Finanzierung der Schulden, das Auslandskapital, die militärischen<br />
Interventionen und das ausländische Personal rufen uns diese elementaren Fakten<br />
ins Gedächtnis zurück.“ 57 Erst wenn dieser Situation einer strukturellen Beherrschung<br />
(une situation de domination structurelle), die sich nicht nur <strong>auf</strong> den Bereich<br />
des politischen und ökonomischen Systems beschränkt, sondern sich auch <strong>auf</strong> den<br />
Bereich der Kultur, der Produktion von Sinn und Sprache, der Erinnerung bzw. des<br />
Gedächtnisses und des Wissens erstreckt, Rechnung getragen wird, kann sich wieder<br />
der afrikanischen Gesellschaft selbst zugewandt werden, ihrer eigenen Verantwortlichkeit<br />
und ihren internen Widersprüchen: „So wird die Artikulation dessen, was „von<br />
oben“ geschieht, <strong>auf</strong> der internationalen Ebene, und dessen, was sich „von unten“<br />
54<br />
55<br />
56<br />
57<br />
Im deutschen Kontext kann hierfür wieder Ulrich Menzel als Beispiel dienen, der eine „Treuhandschaft<br />
des Nordens“ über „besonders bedrohte Krisenregionen“ der Dritten Welt fordert und militärische Interventionen<br />
für berechtigt hält. Damit unterstellt er jedoch stillschweigend die Dominanz des Nordens<br />
über den Süden als ein a priori hinzunehmendes Faktum, das praktisch nicht mehr zu hinterfragen ist.<br />
„Le sort du petit paysan africain est lié à la volonté de puissance des forces sociales qui contrôlent le<br />
marché de la Bourse“; a.a.O., S. 8.<br />
Wörtlich heißt es bei Jean-Marc Ela: „Marquées par le traumatisme colonial, les sociétés africaines<br />
restent soumises aux mécanismes de domination interne au capitalisme en expansion“; ebd.<br />
„Nous ne pouvons comprendre les défis de ces sociétés en ignorant le rôle et l’action des<br />
superpuissances ou des puissances moyennes, des organismes de crédit, les banques et les<br />
multinationales, les conglomérats étrangers et leur stratégie, les marchés des capitaux qui pèsent sur les<br />
projets et les orientations de la vie locale en Afrique. Le marché des cultures d’exportation, le<br />
financement de la dette, le capital extérieur, les interventions militaires et le personnel étranger nous<br />
rappellent ces données élémentaires“; a.a.O., S. 9. - Des weiteren nennt Jean-Marc Ela die<br />
Strukturanpassungsprogramme und die Austeritätspolitik von IWF und Weltbank als Faktoren, die den<br />
Spielraum für die Autonomie Afrikas weiter reduzieren.
2 Der Kontext der théologie sous l’arbre 70<br />
beobachten läßt, <strong>auf</strong> der internen Ebene, zum Ort des Verständnisses existierender<br />
Gesellschaften. Dieser Ort definiert sich durch die Konfrontation zwischen externer<br />
und interner Dynamik.“ 58 Aus der Perspektive der Beherrschten hat die Dependenztheorie<br />
in diesem Sinn also weiterhin ihre unwiderlegbare Berechtigung. Solange sich<br />
an dieser Situation einer alles durchdringenden strukturellen Beherrschung nichts Entscheidendes<br />
ändert, wird sie diese auch in Zukunft noch beibehalten.<br />
2.2 Jean-Marc Elas Analyse der afrikanischen Missionsgeschichte<br />
Die missionarischen Einrichtungen, die lange Zeit Trägerinnen der Evangelisierung Afrikas<br />
waren, „haben das afrikanische Christentum durch die Beiträge des Westens geprägt, durch<br />
seinen Einfluß, sein Denken, seine Institutionen und seine Traditionen“ 59 - so Jean-Marc Ela.<br />
Auch das Ökumene-Lexikon weiß zu berichten, daß insbesondere das Christentum in Kamerun<br />
„stark von der kolonialen Vergangenheit geprägt“ ist, und daß zu dieser Zeit Missionare der<br />
verschiedensten Konfessionen und Denominationen miteinander um die Gunst der „heidnischen<br />
Seelen“ konkurrierten. 60<br />
Jean-Marc Ela analysiert die ambivalente Geschichte der christlichen Mission in Afrika im 2.<br />
Kapitel von Le Cri de l’homme Africain: „Les ambiguïtés de la mission. Le cas africain“ (18-39),<br />
und zwar unter der Fragestellung, „wie und <strong>auf</strong> welcher sozio-ökonomischen Grundlage sich die<br />
Expansion der Kirchen im 19. Jahrhundert verstehen läßt“ 61 . Ausgehend von der Tatsache, daß<br />
die „Geschichte der Missionen im 19. Jahrhundert bis heute einen Bereich darstellt, der noch zu<br />
erschließen ist“ 62 , stellt sich Jean-Marc Ela die Aufgabe, aus <strong>einem</strong> „spezifisch afrikanischen<br />
Blickwinkel [...] die Widersprüche, die Leistungen und die politischen Implikationen der Mission<br />
im 19. Jahrhundert <strong>auf</strong>zuklären“ 63 .<br />
Zunächst stellt Jean-Marc Ela fest, daß sich die äthiopischen Kirchen 64 nicht weiter in<br />
Afrika ausbreiteten. Dieses <strong>auf</strong>fallende Fehlen missionarischer Ambitionen und Aktivitäten<br />
erklärt Jean-Marc Ela durch den spezifischen politischen Kontext der äthiopischen<br />
Kirchen:<br />
58<br />
59<br />
60<br />
61<br />
62<br />
63<br />
64<br />
„Ainsi, l’articulation de ce qui se fait ,par le haut‘ au niveau international et de ce qui s’observe ,par le<br />
bas‘ sur le plan interne, devient le lieu d’intelligibilité des sociétés vivantes. Ce lieu se définit autour de<br />
la confrontation entre ,les dynamiques du dehors et les dynamiques du dedans‘ “; a.a.O., S. 11f.<br />
„[...] ils ont marqué le christianisme africain par les apports de l’Occident, son influence, sa pensée, ses<br />
institutions et ses traditions“; Le Cri de l’homme Africain, S. 129 (African Cry, S. 106).<br />
Art. „Kamerun“, in: Ökumene-Lexikon (1987 2 ), Sp. 604.<br />
„[...] comment, et sur quelles bases socio-économiques, peut-on comprendre l’expansion des Eglises au<br />
XIX e siècle?“; Le Cri de l’homme Africain, S. 18 (African Cry, S. 9).<br />
„L’histoire des missions au XIX e siècle demeure elle-même un secteur à défricher“; a.a.O., S. 19 (African<br />
Cry, S. 10).<br />
„[...] d’un point de vue surtout africain [...] mettre en lumière les contradictions, les enjeux et les<br />
implications politiques de la mission au XIX e siècle“; ebd.<br />
Ihre Geschichte reicht evtl. bis ins 1. Jh. zurück (vgl. Apg 8,26-40), ist spätestens jedoch ab dem 4. Jh.<br />
manifest.
2 Der Kontext der théologie sous l’arbre 71<br />
Als Ägyptens Vasall und ohne die nötigen Mittel für seine Selbstausbreitung<br />
hielt sich das äthiopische Christentum, aus freier Entscheidung oder aus Resignation,<br />
an die traditionelle afrikanische Toleranz, die religiösen Proselytismus<br />
nicht gerade unterstützt. Genauer, die Abwesenheit eines politischen Rahmens<br />
mit universalen Ansprüchen ist in gewisser Hinsicht die Erklärung für die „Immobilität“<br />
des äthiopischen Christentums. 65<br />
Diese These legt sich nahe <strong>auf</strong>grund der Tatsache, daß die „Evangelisierung Nordafrikas<br />
das Ergebnis der kolonialen Einpflanzung des imperialen Rom“ 66 war. Die Kirche<br />
war von daher so sehr mit dem Römischen Reich und der lateinischen Kultur verbunden,<br />
daß sie für die einheimischen Menschen ein Fremdkörper blieb und letzten Endes<br />
gemeinsam mit dem Imperium unterging:<br />
Die Kirche Nordafrikas ist der Welt der Berber, der Kabyle-Kultur, um so mehr<br />
fremd geblieben, als sie ausschließlich mit der „Romania“ Verbindungen unterhielt,<br />
die für die Gesamtheit der Werte der lateinischen Kultur und Zivilisation<br />
im Gegenüber zur „Barbarei“ steht. Daß sich die Mission nun nicht <strong>auf</strong> das<br />
Afrika südlich der Sahara ausbreitete, geschah nicht allein deshalb, daß die Kirche<br />
Augustins durch theologische Kontroversen ganz in Anspruch genommen<br />
worden wäre, sondern auch, und vielleicht sogar hauptsächlich, wegen des Niedergangs<br />
des römischen Imperiums. Solange zahlreiche Königreiche in <strong>einem</strong><br />
einzigen Imperium vereinigt waren, konnte die Predigt die Völker erreichen, die<br />
von Rom regiert <strong>wurde</strong>n [...].<br />
Die Kirchen Nordafrikas erlitten dasselbe Schicksal wie Rom und brachen zur<br />
gleichen Zeit zusammen wie das Imperium. In anderen Worten, indem das mediterrane<br />
Afrika <strong>auf</strong>hörte, lateinisch zu sein, hörte es <strong>auf</strong>, christlich zu sein. 67<br />
Vom 7. Jahrhundert an sollte Afrika für lange Zeit dem Evangelium verschlossen bleiben,<br />
solange, wie - von nun an - die durch den Islam geprägte Welt die Länder des<br />
Sudan und das Mittelmeer kontrollierte. Die christliche Mission tauchte erst dann wieder<br />
in Afrika <strong>auf</strong>, als der Atlantik Zentrum der europäischen Zivilisation und Ausgangspunkt<br />
der europäischen Expansion <strong>wurde</strong>:<br />
65<br />
66<br />
67<br />
„Vassalisé par l’Egypte et ne disposant pas de ressources matérielles nécessaires à son auto-expansion, le<br />
christianisme éthiopien s’en tenu, par choix ou par résignation, à la traditionnelle tolérance africaine<br />
qui, en matière de religion, n’encourage point le prosélytisme. Plus précisément, l’absence d’un cadre<br />
politique à prétention universelle rend compte, en un sens, de l’,immobilisme‘ du christianisme<br />
éthiopien“; ebd.<br />
„[...] l’évangélisation de l’Afrique du Nord fut la résultante de l’implantation colonisatrice de la Rome<br />
impériale“; ebd.<br />
„L’Eglise d’Afrique du Nord est demeurée d’autant plus étrangère au monde berbère, à la culture kabyle,<br />
qu’elle entretenait des liens exclusifs avec la ,Romania‘, celle-ci représentant l’ensemble des valeurs de<br />
culture et de civilisation latines face à la ,Barbarie‘. Or si la mission ne s’est pas étendue à l’Afrique au<br />
sud du Sahara, ce n’est pas uniquement parce que l’Eglise d’Augustine était accaparée par les<br />
controverses théologiques: cela tient aussi, et peut-être principalement au déclin de l’Empire romain<br />
lui-même. Tant que de nombreux royaumes s’étaient réunis en un seul empire, la prédication pouvait<br />
atteindre les peuples gouvernés par Rome [...].<br />
L’Eglises d’Afrique du Nord subissent le sort de Rome et s’effondrent en même temps que l’Empire. En<br />
d’autres termes, en cessant d’être latine, l’Afrique méditerranéenne cesse d’être chrétienne“; a.a.O., S.<br />
19f (African Cry, S. 10).
2 Der Kontext der théologie sous l’arbre 72<br />
Fünfzehn Jahrhunderte später scheint sich die Geschichte zu wiederholen: Was<br />
sich im Norden ereignete, wiederholt sich südlich der Sahara. Nunmehr steht<br />
fest: Die moderne missionarische Bewegung fällt zusammen mit der Errichtung<br />
der Kolonialreiche durch die verschiedenen Völker Europas; diese Reiche waren<br />
die Garanten und die Stützen für die Evangelisierung Schwarzafrikas. Zur<br />
Zeit der großen Entdeckungsreisen als auch später, zur Zeit der Erforschung,<br />
gehört der Missionar zu einer expandierenden Gesellschaft und zu <strong>einem</strong> expandierenden<br />
Wirtschaftssystem, die sich in das koloniale Abenteuer warfen; er<br />
tritt Seite an Seite mit dem Soldaten und dem Händler in Erscheinung. Nachdrücklich<br />
zu betonen sind hier die religiösen Auswirkungen der Krise in Europa,<br />
die am Ende des Mittelalters in die Geburt des Handelskapitalismus mündete.<br />
68<br />
Zu Beginn des 15. Jahrhunderts war es das vorrangige Interesse der europäischen<br />
K<strong>auf</strong>leute, den Vormarsch des Islam zu stoppen. Der Ausbau der Häfen und neue Navigationstechniken<br />
ermöglichten den Europäern, sich in den Kampf ums Gold zu stürzen.<br />
Die Umschiffung Afrikas durch Europäer - <strong>auf</strong> der Suche nach einer alternativen<br />
Gewürzroute - markiert ein entscheidendes Datum in der Geschichte der christlichen<br />
Mission. Vor dem 19. Jahrhundert jedoch gab es in Afrika keine nennenswerte Ausbreitung<br />
des Christentums. Zur Zeit der Forschungsreisen und Handelsexpeditionen an<br />
die Küsten Westafrikas sahen die Handelsstützpunkte mehr SklavInnenhändler als<br />
MissionarInnen. Dementsprechend war der missionarische Erfolg auch nur gering:<br />
Dieser Mißerfolg kann nicht ausschließlich einer flüchtigen Christianisierung<br />
zugeschrieben werden; er ist gleichermaßen <strong>auf</strong> internationale Rivalitäten und<br />
Kriege zurückzuführen, die wiederum <strong>auf</strong> Afrika zurückwirkten. Schließlich<br />
fügte die Entwicklung des Sklavenhandels dem Christentum beträchtlichen<br />
Schaden zu. Diese Tatsache muß um so stärker betont werden, als der Handel<br />
mit Schwarzen während vier Jahrhunderten durch die christlichen Nationen zugelassen<br />
<strong>wurde</strong>, weil die Herren verpflichtet waren, ihre Sklaven zu christianisieren.<br />
Auf jeden Fall hatte Europa, das daran interessiert war, in Afrika Zwischenhäfen<br />
für die Route nach Ostindien und Lagerhäuser für Sklaven zu schaffen,<br />
kein explizites Projekt für die Evangelisierung des afrikanischen Kontinents.<br />
69<br />
68<br />
69<br />
„A quinze siècles de distance, l’histoire semble s’être répétée: ce qui s’était produit au Nord se reproduit<br />
au sud du Sahara. Le fait est désormais établi: le mouvement missionnaire des temps modernes a<br />
coïncidé avec la formation des empires coloniaux des différents peuples de l’Europe; ces empires ont<br />
servi de garantie et de support a l’évangélisation de l’Afrique Noire. A l’heure des grands voyages de<br />
découverte, comme plus tard au temps d’exploration, le missionnaire appartient à une société et à une<br />
économie en expansion qui se lancent dans l’aventure coloniale; il fait son apparition aux côtés du<br />
militaire et du marchand. Il faut insister ici sur l’impact religieux de la crise de l’Europe qui, à la fin du<br />
Moyen-Age, aboutit à la naissance du capitalisme marchand“; a.a.O., S. 20 (African Cry, S. 11).<br />
„Pendant plus d’un siècle, le bilan des missions est maigre. Cet échec ne saurait être attribué<br />
uniquement à une christianisation rapide; il est dû également aux rivalités et guerres internationales qui<br />
ont leur répercussion en Afrique. En définitive, le développement du commerce des esclaves fera un tort<br />
considérable au christianisme. Le fait doit être d’autant plus souligné que le traite des Noirs a été admise<br />
pendant quatre siècles par les nations chrétiennes parce qu’on obligeait les maîtres à christianiser leurs<br />
esclaves. De toutes manières, l’Europe qui s’était intéressée à l’Afrique pour y créer des escales sur la<br />
route des Indes orientales et des entrepôts d’esclaves n’a pas un projet défini d’évangélisation du<br />
Continent africain“; a.a.O., S. 21 (African Cry, S. 12).
2 Der Kontext der théologie sous l’arbre 73<br />
Als in Europa die pietistische Erweckungsbewegung <strong>auf</strong>kam (Ende des 17. Jahrhunderts),<br />
lenkte die Situation der schwarzen SklavInnen die Aufmerksamkeit <strong>auf</strong> Afrika.<br />
Gegen Ende des 18./Anfang des 19. Jahrhunderts <strong>wurde</strong>n im protestantischen Bereich<br />
die ersten Missionsgesellschaften gegründet, die sich die Evangelisierung Afrikas zum<br />
Ziel setzten: Den Kirchen war klar geworden, daß es nicht mehr genügte, einfach nur<br />
Geistliche zu den großen Handelsgesellschaften an der afrikanischen Küste zu schikken.<br />
Zu diesen Missionsgesellschaften zählen u.a. die Basler Mission (1815), die Baptist<br />
Missionary Society (1792), die London Missionary Society (1795) und die Anglican<br />
Evangelical Church Missionary Society (1799). Zu erwähnen sind auch diejenigen<br />
englischen Methodist(Inn)en und Quäker(Innen), die 1787 mit Freetown eine Zufluchtsstätte<br />
für geflohene SklavInnen errichteten. Generell läßt sich konstatieren, daß<br />
im angelsächsischen Bereich die protestantischen Missionen eng mit der Anti-<br />
Sklaverei-Bewegung liiert waren.<br />
Ebenfalls im 19. Jahrhundert vollzog sich die Erneuerung der katholischen Mission,<br />
die sich durch die Gründung von Missionsorden auszeichnete, die sich dem „Apostolat<br />
der Schwarzen“ widmeten (z.B. Pères Blancs/Kardinal Lavigerie; Missions Africaines<br />
de Lyon; Missionnaires du Saint-Cœur de Marie/Père Libermann - 1848 fusioniert mit<br />
dem Orden der Pères du Saint-Esprit). Nachdem bis zum 18. Jahrhundert die Evangelisierung<br />
in der Hand Portugals und Spaniens lag, die seit dem Ende des Mittelalters die<br />
europäische Expansion angeführt hatten - und denen päpstlicherseits auch die Christianisierung<br />
der eroberten Länder anvertraut war -, erlebt das 19. Jahrhundert eine Neugestaltung<br />
der missionarischen Bewegung, die nun von Frankreich angeführt wird.<br />
Bis zum 18. Jahrhundert blieb Europas Kenntnis im großen und ganzen <strong>auf</strong> die Küstengebiete<br />
begrenzt, während das Innere Afrikas ein Geheimnis war, das zu den „wildesten“<br />
Spekulationen Anlaß gab. Jean-Marc Ela erklärt:<br />
Die Sklaverei, die sich an der Küste entwickelte, schien Europa gegenüber allem,<br />
was nicht mit dem Handel zu tun hatte und seine Neugier für das Innere<br />
Afrikas hätte wecken können, zu verschließen. <strong>Das</strong> Jahrhundert der Aufklärung<br />
war hinsichtlich der Kenntnis des Kontinents eine Periode der Finsternis. Die<br />
Gewinnsucht war ein Hindernis für den Fortschritt der Aufklärung. 70<br />
Was die Kenntnis des Landesinnern betrifft, sollte sich Ende des 18. Jahrhunderts die<br />
Lage ändern. So erklärte z.B. die Londoner African Society die Erforschung des Kontinents<br />
zu ihrem prinzipiellen Ziel. Insbesondere die Entwicklung der Naturwissenschaften<br />
trug zur Entdeckung des Landesinnern bei. Nun begannen auch Regierungen,<br />
Forschungsreisen zu finanzieren: „Es mußte das Bild vom Innern Afrikas überwunden<br />
werden, das die Leute an der Küste für den europäischen Gebrauch fabriziert hatten:<br />
70<br />
„L’esclavage qui se développe sur la côte semble fermer l’Europe à tout ce qui, en dehors de la traite,<br />
pourrait éveiller sa curiosité pour l’intérieur de l’Afrique. Le siècle des Lumières correspond ici, en ce<br />
concerne la connaissance du Continent, à une période de ténèbres. L’esprit de lucre fait obstacle au<br />
progrès des lumières“; a.a.O., S. 23f (African Cry, S. 14).
2 Der Kontext der théologie sous l’arbre 74<br />
grausame und menschenfressende Völker, blutrünstige wilde Tiere - ein Bild, das<br />
kaum dazu anregte, für fragliche Profite weiter vorzudringen.“ 71<br />
Die Erforschung Afrikas war jedoch weder eine rein wissenschaftliche Angelegenheit<br />
noch pure Befriedigung reinen Wissensdurstes; sie stand in engem Zusammenhang mit<br />
dem Kolonialismus:<br />
Die Forschungsreisen waren freilich oft ein Vorspiel für die Eroberung und die<br />
Errichtung eines Imperiums. Livingstone, Brazza, Stanley, Binger, etc. ..., deren<br />
Namen heute in aller Gedächtnis sind, haben nicht nur ihren Anteil an der Geschichte<br />
der Entdeckungen, sondern auch an derjenigen der Kolonisation. Jeder<br />
Forscher wollte, daß die Karte Afrikas in den Farben seines Vaterlandes gezeichnet<br />
würde. Livingstone führte die systematische Erforschung Zentral-<br />
Afrikas durch mit dem erklärten Ziel, die entdeckten Regionen dem europäischen,<br />
vorzugsweise dem britischen, Handel zu öffnen. Nun war Livingstone<br />
auch ein Missionar. Auf diese Weise koexistierten im selben Individuum Abenteuerlust,<br />
das Bedürfnis, die Kenntnisse zu erweitern, Eroberungsgeist und das<br />
Apostolat. In der Tat erforschte Europa im 19. Jahrhundert Afrika nur, um es<br />
<strong>auf</strong>zuteilen und zu kolonisieren. 72<br />
Jean-Marc Ela betont nun, daß genau in dieser Entwicklung, die in der Errichtung der<br />
Kolonialreiche mündete, die sozio-ökonomische Basis der missionarischen Renaissance<br />
während dieser Epoche zu suchen ist:<br />
Die missionarische Aktivität der Kirche im 19. Jahrhundert muß im Kontext der<br />
Beziehung zwischen Europa und den Völkern Schwarzafrikas gesehen werden,<br />
denn sie hat sich eingefügt in eine vielgestaltige Expansion, deren primäre Ursachen<br />
ökonomischer, politischer und kultureller Art sind. Die Wiedergeburt<br />
der Mission geschah in <strong>einem</strong> spezifischen Kontext - dem der Expansion einer<br />
durch die wissenschaftliche und technische Revolution erneuerten Ökonomie;<br />
zwischen der Mission und dieser Expansion bestanden komplexe Beziehungen,<br />
deren Existenz nicht geleugnet werden kann und deren Auswirkungen <strong>auf</strong> die<br />
eigene Expansion der Kirchen zu evaluieren sind. 73<br />
71<br />
72<br />
73<br />
„Il faudra vaincre et dépasser l’image de l’intérieur de l’Afrique fabriquée par les gens du rivage à<br />
l’usage de l’Europe: peuples cruels et anthropophages, animaux féroces, image qui n’incitait guère à<br />
aller plus loin pour des profits problématiques“; a.a.O., S. 24 (African Cry, S. 15).<br />
„Or, les explorations sont souvent un prélude à la conquête et à l’établissement d’un empire.<br />
Livingstone, Brazza, Stanley, Binger, etc. ... dont les noms sont aujourd’hui dans toutes les mémoires<br />
n’ont pas seulement leur part dans l’histoire des découvertes mais aussi dans celle de la colonisation.<br />
Chaque explorateur voudra que la carte de l’Afrique soit peinte aux couleurs de sa patrie. Livingstone<br />
effectuera l’exploration systématique de l’Afrique centrale avec l’intention déclarée d’ouvrir les régions<br />
découvertes au commerce européen, de préférence britannique. Or, Livingstone est aussi un<br />
missionnaire. Ainsi coexistent dans le même individu le goût de l’aventure, le besoin d’étendre les<br />
connaissances, l’esprit de conquête et l’apostolat. En fait, l’Europe n’explore l’Afrique au XIX e siècle que<br />
pour la partager et la coloniser“; a.a.O., S. 24f (African Cry, S. 15).<br />
„Il faut situer l’activité missionnaire de l’Eglise au XIX e siècle dans cette relation de l’Europe avec les<br />
peuples d’Afrique Noire. Car elle s’inscrit dans une expansion multiforme dont les causes premières<br />
sont économiques, politiques et culturelles. La relance de la mission s’opère dans une conjoncture<br />
spécifique, celle de l’expansion d’une économie renouvelée par la révolution scientifique et technique;<br />
la mission entretient avec cette expansion des relations complexes dont il faut reconnaître l’existence et<br />
mesurer les conséquences pour l’expansion des Eglises elles-mêmes“; a.a.O., S. 25f (African Cry, S. 16).
2 Der Kontext der théologie sous l’arbre 75<br />
In diesen Zusammenhang gehört die Tatsache, daß die Verwaltungen der Metropolen<br />
nur nationale Missionen wollten, so daß in den Kolonien eines weitestgehend dechristianisierten<br />
Europas nun eine Art Staatsreligion <strong>auf</strong>tauchte. Hierfür ist Kamerun -<br />
deutsche Kolonie („Schutzgebiet“) von 1884-1916 - ein charakteristisches Beispiel.<br />
Die Deutschen führten hier <strong>auf</strong> autoritäre Weise eine Methode ein, die sich am Prinzip<br />
des cuius regio eius religio orientierte. D.h., daß bestimmte Regionen den protestantischen<br />
Missionen vorbehalten waren, während den katholischen Missionen wiederum<br />
andere Gebiete zugewiesen <strong>wurde</strong>n. Nach dem Ersten Weltkrieg, als Kamerun weitestgehend<br />
an Frankreich überging, <strong>wurde</strong>n die deutschen Missionen durch französische<br />
ersetzt. In anderen Kolonien war es nicht viel anders: „Im Prinzip bedeutete in Afrika<br />
ein Wechsel des Souveräns einen Austausch der Missionare.“ 74 Von daher läßt sich mit<br />
Recht bezweifeln, daß die Missionen - eigentlich die Repräsentantinnen des christlichen<br />
Universalismus - frei gewesen wären von dem Nationalismus, der die koloniale<br />
Expansion prägte. Sie waren abhängig von den jeweils herrschenden Mächten, und<br />
dies war nicht ohne Auswirkungen <strong>auf</strong> ihre Praxis.<br />
Für die katholische Mission ist die Situation etwas differenzierter zu betrachten, insofern<br />
als der Vatikan die Supranationalität der Kirche betonte. In diesem Sinne wollte<br />
z.B. ein Mann wie Père Libermann seine Mission nicht von politischer Kontrolle abhängig<br />
wissen. Er warnte seine Missionare vor der Gefahr, als politische Agenten der<br />
französischen Regierung betrachtet zu werden. So scheint es verständlich, daß in bestimmten<br />
Ländern die Kolonisten vor Ort manchmal heftig gegen die Errichtung von<br />
Missionsstationen opponierten. „Aber die Missionen entgingen nicht immer jeder Kollaboration<br />
mit den Kolonialstaaten.“ 75 Und es war eher die Regel, daß die politischen<br />
Machthaber die Missionen unterstützten und mit ihnen zusammenarbeiteten. Selbst das<br />
republikanische und säkulare Frankreich, das zu Hause antiklerikal eingestellt war und<br />
keinerlei Religionsausübung unterstützte, war in seinen Kolonien den Kirchen ein<br />
hilfreicher Partner: „Ein im republikanischen Frankreich unbekannter Typus der Beziehung<br />
zwischen der politischen Macht und den religiösen Organisationen setzte sich<br />
un<strong>auf</strong>hörlich durch im L<strong>auf</strong>e der Geschichte der Missionen des 19. Jahrhunderts.“ 76<br />
Was versprach sich der Staat von seiner Hilfe für die Kirchen bzw. für die Missionsarbeit?<br />
Zum einen spiegelten die religiösen Bauwerke sein Prestige wieder, zum anderen<br />
sollte die Mission ihren Einfluß unter den evangelisierten Schwarzen dar<strong>auf</strong> verwenden,<br />
sie unter die Kontrolle der Verwaltung zu bringen.<br />
Ohne Zweifel war die Expansion der Kirchen nicht ausschließlich <strong>auf</strong> die Hilfe oder<br />
die Subventionen der kolonialen Machthaber gegründet. Solide organisierte Missionsgesellschaften<br />
bildeten das institutionelle Rückgrat der Missionsarbeit. Private und<br />
kirchliche Spendenaktionen in der gesamten Christenheit stellten finanzielle Ressour-<br />
74<br />
75<br />
76<br />
„En principe, un changement de souveraineté signifie, en Afrique, une mutation de missionnaires“;<br />
a.a.O., S. 26 (African Cry, S. 16).<br />
„Mais les missions n’échapperont pas toujours à toute compromission avec les Etats colonisateurs“;<br />
a.a.O., S. 27 (der kurze Abschnitt, aus dem dieses Zitat stammt, fehlt in African Cry).<br />
„Un type de relation inconnu dans la France républicaine entre le pouvoir politique et les organisations<br />
religieuses s’affirme sans cesse au cours de l’histoire des missions du XIX e siècle“; ebd. (African Cry, S.<br />
17).
2 Der Kontext der théologie sous l’arbre 76<br />
cen zur Verfügung. Eine besonders wichtige Rolle spielten dabei große Medienkampagnen<br />
und die Missionspresse und Missionsliteratur. Diese konnten die europäische<br />
Christenheit für das Werk der Evangelisierung Afrikas interessieren und prägten<br />
gleichzeitig das Bild, das sich Europa von Afrika machte. In diesem Kontext „erschien<br />
der Missionar als ein Held unter den Menschenfressern“ 77 . Für die Gewährleistung<br />
einer kontinuierlichen finanziellen Unterstützung, entwickelten die Missionen eine<br />
entsprechende Ideologie, welche die Mission als „ein Werk des Mitleids für den<br />
,armen Schwarzen‘, der der Krankheit, der Sklaverei und der Unwissenheit unterworfen<br />
ist“ 78 , erscheinen ließ. Die Mission präsentierte sich selbst als ein „Werk der Nächstenliebe“,<br />
das sich in verschiedenen karitativen Werken verkörperte. Insbesondere die<br />
Abschaffung der Sklaverei war eines der großen Anliegen der Kirche im 19. Jahrhundert:<br />
Während vier Jahrhunderten sah das Europa der Missionare in Afrika nur das<br />
Vorhandensein einer Bevölkerung, die (als Ware) dem Dreieckshandel unterworfen<br />
<strong>wurde</strong>. Für dieses Europa war der schwarze Kontinent nicht nur ein zu<br />
erforschender und zu okkupierender Komplex von Ländern; er war ein Land der<br />
Sklaven, die zu befreien waren. 79<br />
So verwundert es denn auch nicht, daß in den Küstengebieten die ersten Konvertiten<br />
oft ehemalige SklavInnen waren. Eine weitere wichtige Adressatin der Mission war<br />
neben den SklavInnen die Jugend. In diesem Zusammenhang nahm die Schule eine<br />
strategische Stellung ein, und sie war letztendlich der entscheidende Faktor für die<br />
Ausbreitung des Christentums in Afrika:<br />
Dank der Schule hat sich das Christentum in Afrika ausgebreitet. In <strong>einem</strong> Kontext,<br />
in dem die Erwachsenen dem Eindringen einer Religion widerstanden, die<br />
das gesamte Gefüge der traditionellen Gesellschaftsstrukturen ins Wanken<br />
brachte, ging es für die Missionen in der Tat darum, den Kampf <strong>auf</strong>zunehmen<br />
mit den sozio-kulturellen Hindernissen der afrikanischen Welt, indem sie den<br />
Jugendlichen die Irrationalität der ancestralen Praktiken, die Hohlheit des Glaubens,<br />
an dem die Eltern weiterhin festhielten, <strong>auf</strong>zeigten. Kurzum, die traditionellen<br />
Verhaltensweisen mußten <strong>auf</strong> archaische und rückschrittliche Vorstellungen<br />
zurückgeführt werden. In der missionarischen Strategie war die Schule<br />
das Schlachtfeld, <strong>auf</strong> dem man eine Elite hervorbrachte, die mit dem afrikanischen<br />
Heidentum gebrochen hatte. Eine Investition in die Zukunft. Da nun einmal<br />
nichts mit den Alten zu machen war, mußte das Kampfterrain verlagert und<br />
in die Jugend investiert werden. 80<br />
77<br />
78<br />
79<br />
80<br />
„[...] le missionnaire apparaît comme un héros parmi les anthropophages“; a.a.O., S. 28 (African Cry, S.<br />
17).<br />
„[...] une œuvre de compassion pour le ,pauvre Noir‘ soumis à la maladie, à l’esclavage et à ignorance“;<br />
a.a.O., S. 29 (African Cry, S. 18).<br />
„Pendant quatre siècles, l’Europe des missionnaires ne s’est trouvée en Afrique qu’en présence des<br />
populations asservies au commerce triangulaire. Pour cette Europe, le continent noir n’est pas<br />
seulement un ensemble de pays à explorer et à occuper; il est une terre d’esclaves à libérer“; ebd. (African<br />
Cry, S. 18f).<br />
„Et c’est grâce à l’école que le christianisme s’est étendu à l’Afrique. En effet, dans un contexte où les<br />
adultes résistent à la pénétration d’une religion qui ébranle l’ensemble des structures sociales
2 Der Kontext der théologie sous l’arbre 77<br />
Neben ihrem Engagement zur Freilassung der SklavInnen und den Schulen betrieben<br />
die Missionen auch Polikliniken und Hospitäler. Diese „Werke der Barmherzigkeit“<br />
kosteten allesamt Geld. Dieses Geld versuchten sich die Missionen jedoch nicht vor<br />
Ort zu beschaffen, sondern in ihren Heimatländern:<br />
In der Tat gab es in den Missionen keine finanziellen Mittel, die nicht aus den<br />
Herkunftsländern der Missionare kamen. Dies erreichte ein solches Ausmaß,<br />
daß viele der Strukturen schon bald nach dem Weggang der Missionare, die ihr<br />
Funktionieren garantiert hatten, verschwanden. Seit dem 19. Jahrhundert sind<br />
Europa, die Vereinigten Staaten und Kanada die Herkunftsländer der Ressourcen<br />
für die Verkündigung des Glaubens: Gottesdienstgebäude, Schulen, Polikliniken,<br />
Seminare, Katechetenschulen, Waisenhäuser, Lepraheime, etc. ... <strong>wurde</strong>n<br />
durch Fonds unterhalten, die von außerhalb der Missionsländer kamen. So mußte<br />
z.B. jeder Seminarist einen „Wohltäter“ haben; er lernte keinen Beruf, der<br />
sein Überleben hätte sichern können, er mußte als Unterentwickelter leben, nach<br />
den Erfordernissen einer hetero-zentrierten Ökonomie. Für alle ihre Aktivitäten<br />
mußte die Mission ausländische Geldgeber finden. 81<br />
Auch wenn es gewisse Spannungen zwischen den Missionen und den Kolonialmächten<br />
gab, so war deren Verhältnis doch ein ziemlich enges. Die vereinzelten positiven<br />
Aspekte der Mission können ihre grundsätzlich ambivalente Rolle im Kontext der<br />
kolonialen Situation nicht verbergen:<br />
Gewiß, die Missionen opponierten manchmal gegen die kolonialen Eroberungen,<br />
sie versuchten die Folgen zu begrenzen und eine genuin afrikanische Entwicklung<br />
zu fördern. Die meisten der afrikanischen Leader <strong>wurde</strong>n in Missionsschulen<br />
ausgebildet und die Kampagnen gegen die koloniale Ausbeutung hatten<br />
in der Tatsache der Mission ihren Ausgangspunkt. Obgleich es sich gegenüber<br />
den afrikanischen Traditionen als feindlich erwies, leistete das Missionschristentum<br />
nichtsdestotrotz einen Beitrag zur Förderung der einheimischen Sprachen<br />
und unterstützte die Entwicklung in Richtung der Ausbildung von Führungskräften,<br />
deren Zeichen bald schon schwarze Pastoren und dann katholische<br />
Priester sind. Händler und Pflanzer griffen die Missionen oft scharf an und<br />
81<br />
traditionnelles, il s’agit, pour les missions, de s’attaquer aux obstacles socio-culturels du monde africain,<br />
en faisant découvrir aux jeunes l’irrationalité des pratiques ancestrales, la vacuité des croyances<br />
auxquelles les parents restent accrochés. Bref, il faut réduire les comportements traditionnels à des<br />
représentations archaïques et rétrogrades. Dans la stratégie missionnaire, l’école est le champ de bataille<br />
où l’on fait surgir une élite en rupture avec le paganisme africain. C’est un pari sur l’avenir. Puisqu’il<br />
n’y a rien à faire avec les vieux, il faut déplacer le terrain de la lutte et investir sur les jeunes“; a.a.O., S.<br />
30 (African Cry, S. 19f).<br />
„De fait, il n’y a pas de ressources financières dans les missions qui ne viennent pas du pays d’origine<br />
des missionnaires au point que bien des structures disparaîtraient rapidement avec le départ des<br />
missionnaires qui en assuraient le fonctionnement. Dès le XIX e siècle, l’Europe, les Etats-Unis et le<br />
Canada sont la source de provenance des ressources de la Propagation de la Foi: lieu de culte, écoles,<br />
dispensaires, séminaires, écoles de catéchistes, orphelinats, léproserie, etc. ... seront entretenus par des<br />
fonds extérieurs aux pays de mission. Ainsi, chaque séminariste devra avoir un ,bienfaiteur‘; il<br />
n’apprendra pas un métier pour survivre, il devra vivre en sous-développé, selon les exigences d’une<br />
économie hétéro-centrée. Pour toutes ses activités, la mission devra trouver des bailleurs de fonds à<br />
l’étranger“; a.a.O., S. 30f (African Cry, S. 20).
2 Der Kontext der théologie sous l’arbre 78<br />
beschuldigten sie, „schlechte Untertanen zu machen“ für die Kolonialmacht,<br />
Menschen, die ipso facto ein Regime blinder Unterwerfung ablehnen. 82<br />
All dies geschah jedoch in <strong>einem</strong> Kontext, in dem den christlichen Missionaren, neben<br />
den Gelehrten und den Forschern, durch die <strong>auf</strong> der Berliner „Kongokonferenz“<br />
(1884/85) verabschiedete „Kongoakte“ Schutz zugesichert <strong>wurde</strong> (Art. 6). 83 Darüber<br />
hinaus <strong>wurde</strong> den Händlern und den Missionaren der Zugang zu den eroberten Ländern<br />
nicht selten durch Gewalt geöffnet. Dies macht deutlich, welche Bedeutung die<br />
kolonialen Machthaber den ökonomischen Unternehmungen und religiösen Initiativen<br />
beimaßen. <strong>Das</strong> schulische Engagement der christlichen Missionen muß im Gesamtzusammenhang<br />
des Einbruchs des Westens in Afrika gesehen werden:<br />
In <strong>einem</strong> Kontext, in dem sich die Weißen als die perfekten Muster der menschlichen<br />
Spezies betrachteten, besessen von der Manie der Assimilation, trägt in<br />
den Kolonien alles dazu bei, den Schwarzen nach dem Bild des Weißen neu zu<br />
schaffen. <strong>Das</strong> 19. Jahrhundert glaubte, daß es den Europäern obliege, „die Führer<br />
und Vormünder der niedriger stehenden Rassen“ zu sein. Die Missionsschulen<br />
waren nicht frei von dem Dogmatismus, der Universalität und das umfassende<br />
Projekt des Imperialismus der okzidentalen Kultur in eins setzte. 84<br />
Genau deshalb <strong>wurde</strong>n die Missionen von den zivilen Autoritäten unterstützt. Sie genossen<br />
zahlreiche Privilegien und konnten riesige Besitztümer erwerben. Als Gegenleistung<br />
stellten die Missionen, die nicht direkt den Anweisungen der Zivilverwaltungen<br />
unterstanden, ihren Einfluß in den Dienst ihres jeweiligen Vaterlandes und erwiesen<br />
sich daher tatsächlich als „nationale“ Missionen. So subventionierte z.B. die deutsche<br />
Regierung in Kamerun die Missionsschulen, da sie diese als Träger deutschen Einflusses<br />
betrachtete - und leistete damit einen Beitrag für die missionarischen Werke.<br />
Wie erklärt sich also die missionarische Expansion der Kirchen?<br />
Um die Expansion der Kirchen zu erklären, wird manchmal angeführt, daß zu<br />
der Zeit der Heilige Geist in Tornadostärke geweht hätte. 85 Diese Erklärung<br />
82<br />
83<br />
84<br />
85<br />
„Certes, les missions s’opposent parfois aux conquêtes coloniales et ont l’ambition d’en limiter les effets<br />
et de favoriser une promotion proprement africaine. La majorité des leaders africains seront formés<br />
dans les écoles des missions et les campagnes menées contre l’exploitation coloniale auront été au<br />
départ le fait des missions. Bien qu’il se montre hostile aux traditions africaines, le christianisme des<br />
missions ne contribue pas moins à la promotion des langues vernaculaires, aidant à l’évolution vers la<br />
formation des cadres dont les pasteurs noirs, puis les prêtres catholiques seront bientôt les signes.<br />
Commerçants et planteurs seront souvent très sévères envers les missions qu’ils accusent de ,faire de<br />
mauvais sujets‘ de la puissance coloniale des hommes qui n’acceptent pas, ipso facto, un régime de<br />
soumission aveugle“; a.a.O., S. 31f (African Cry, S. 21).<br />
Die „General-Akte der Berliner Konferenz“ ist auszugsweise dokumentiert in der überblick 1/84 (Themenheft<br />
zu „100 Jahre Berliner Kongo-Konferenz“), S. 2f.<br />
„Dans un contexte où les Blancs se considèrent comme les échantillons parfaits de l’espèce humaine,<br />
obsédés par la manie de l’assimilation, tout concourt, dans les colonies, à refaire le Noir à l’image du<br />
Blanc. Le XIX e siècle, a cru qu’il incombait aux Européens d’être ,les guides et les tuteurs des races<br />
inférieures‘. Les écoles de mission n’échappent pas au dogmatisme qui lie l’universalité au dessein<br />
général de l’impérialisme de la culture occidentale“; a.a.O., S. 32 (African Cry, S. 21).<br />
So sogar noch heute z.B. der Pallottiner WOLFGANG HERING, der in dem Sammelband zur Hundertjahrfeier<br />
der katholischen Kirche in Kamerun in diesem Sinn J. RATH zitiert: „<strong>Das</strong> große Opfer, das die Pallottiner<br />
bringen mußten, hat sicher den Herrn der Ernte bewogen, diese Mission so reich zu segnen, in der,<br />
um das Wort eines Missionars zu gebrauchen, die Gnade sich auswirkt nicht nach der Art eines sanften,
2 Der Kontext der théologie sous l’arbre 79<br />
durch übernatürliche Gründe genügt jedoch nicht. Der Erfolg der Missionen im<br />
19. Jahrhundert beruht nicht etwa <strong>auf</strong> <strong>einem</strong> „Wunder“: Die Strukturen der Missionen<br />
sind ein Ergebnis der Einwirkung der Kolonialmacht in Afrika. Denn<br />
<strong>auf</strong>grund der ökonomischen Infrastruktur waren die Missionen großenteils von<br />
der Kolonialmacht abhängig. Falls sie nicht ein Alibi für die Interessen eines<br />
Handelskapitalismus gewesen sind, der eine ungleiche Entwicklung produziert,<br />
so scheinen sie sehr wohl die zwangsläufigen Begleiterinnen einer Modernität<br />
gewesen zu sein, wovon das koloniale System nur eine Erscheinungsform ist. 86<br />
Jean-Marc Ela schreibt weiter:<br />
Auch wenn die Ergebnisse des missionarischen Werkes im 19. Jahrhundert<br />
nicht als bloße Produkte des politischen, ökonomischen und kulturellen Kontextes<br />
betrachtet werden können, so muß dennoch zugegeben werden, daß die Missionen<br />
manchmal die militärische, ökonomische und diplomatische Unterstützung<br />
des kolonialen Europa brauchten. Auf alle Fälle ist es außer Zweifel, daß<br />
die Expansion der Kirchen im 19. Jahrhundert einen Aspekt der weltweiten Expansion<br />
des Okzidents bildet. 87<br />
Zu den Konsequenzen dieser engen Beziehung und Wechselwirkung zwischen Mission<br />
und Kolonialismus 88 gehört, daß für zahlreiche Generationen das Christentum als eine<br />
86<br />
87<br />
88<br />
säuselnden Windes, sondern wie ein gewaltig brausender Sturm“; Die Anfänge des Christentums in<br />
Kamerun, in: WOLFGANG HERING (Hg.), Christus in Afrika. Zur Inkulturation des Glaubens im Schwarzen<br />
Kontinent (Glaube, Wissen, Wirken; Bd. 15), Limburg (Lahn-Verlag), 1991, 13-27, S. 27 (Quelle<br />
des Zitates: J. RATH, Ein reich gesegnetes Erntefeld der katholischen Afrikamission, KM 60 (1932), S.<br />
62).<br />
„Pour expliquer l’expansion des Eglises, on a parfois évoqué le temps où l’Esprit Saint soufflait en<br />
tornade. Cette explication par les causes secondes ne suffit pas. Le succès des missions au XIX e siècle ne<br />
relève peut-être pas du ,miracle‘: les structures des missions sont un effet de l’emprise du pouvoir<br />
colonial en Afrique. Car, par l’infrastructure économique, les missions dépendent en grande partie du<br />
pouvoir colonial. Si elles n’ont pas été un alibi des intérêts d’un capitalisme marchand produisant un<br />
développement inégal, elles semblent bien avoir été les compagnes forcées d’une modernité dont le<br />
système colonial n’est qu’un avatar“; a.a.O., S. 33 (African Cry, S. 22).<br />
„Si les résultats de l’œuvre missionnaire du XIX e siècle ne peuvent être considérés comme des simples<br />
produits du contexte politique, économique et culturel, on admettra que les missions ont parfois eu<br />
besoin de l’appui militaire, économique et diplomatique de l’Europe coloniale. En tout cas, il est hors de<br />
doute que l’expansion des Eglises au XIX e siècle constitue un aspect de l’expansion de l’Occident dans le<br />
monde“; a.a.O., S. 33f (African Cry, S. 22).<br />
Ähnlich wie Jean-Marc Ela spricht auch Horst Gründer - in bezug <strong>auf</strong> die deutsche Missions- und<br />
Kolonialgeschichte - von <strong>einem</strong> „historische(n) Bündnis von Mission und Kolonialismus“, das „im Zeitalter<br />
des Hochimperialismus noch einmal einen Höhepunkt“ erlebte: „Auch in der kurzlebigen deutschen<br />
Kolonialphase (1884-1914) kam es zu <strong>einem</strong> engen Zusammengehen beider Faktoren.“ Er nennt<br />
insbesondere „die verhältnismäßig geringe Konfliktanfälligkeit der kolonialpolitischen-missionarischen<br />
Interessengemeinschaft und die ,kolonialen Verdienste‘ der Mission“ und spricht von „ihrer kolonialen<br />
Zuverlässigkeit und kolonialpolitischen Wertschätzung“: „Schließlich gehörten die Missionare nicht<br />
zum wenigsten zu den Protagonisten und Propagandisten eines imperialen Engagements im zweiten<br />
deutschen Kaiserreich“; HORST GRÜNDER, Rückwirkungen der deutschen Kolonialinaugurierung <strong>auf</strong> die<br />
Stellung der christlichen Mission in Kirche, Staat und Gesellschaft, Zeitschrift für Missionswissenschaft<br />
und Religionswissenschaft 79, Nr. 2 (1995), 120-133, S. 133. - Ein schillerndes Beispiel für einen Kolonialprotagonisten<br />
und -propagandisten ist unbestreitbar FRIEDRICH FABRI (1824-1891), langjähriger<br />
leitender Inspektor der Rheinischen Missionsgesellschaft in Barmen (1857-1884) und „Vater der deutschen<br />
Kolonialbewegung“. Vgl. insbesondere seine Schrift Bedarf Deutschland der Colonien? Eine politisch-ökonomische<br />
Betrachtung, Gotha (F.A. Perthes), 1879, die in folgender Konklusion kulminiert:<br />
„Will das neue Deutsche Reich seine wiedergewonnene Machtstellung <strong>auf</strong> längere Zeiten begründen<br />
und bewahren, so wird es dieselbe als eine Cultur-Mission zu erfassen und dann nicht länger zu zögern
2 Der Kontext der théologie sous l’arbre 80<br />
Religion der Weißen gilt, dadurch, daß es einen Stil des Christseins verkörpert, der den<br />
afrikanischen Kulturen fremd ist. So blieb auch die afrikanische Kirche in ihrer Organisation<br />
lange Zeit „eine fremde Institution, eine Zeugin für den kolonisierenden Westen“<br />
89 . Vielleicht ist die Kirche <strong>auf</strong> der Ebene der Dorfkatechist(Inn)en autochthon,<br />
aber <strong>auf</strong> der institutionellen Ebene, <strong>auf</strong> der Ebene der Führungskräfte und der Ressourcen<br />
ist sie europäisch. So sind denn die Missionskirchen zu Beginn des 20. Jahrhundert<br />
bloße „Anhängsel der Mutterkirchen, ohne eigene Persönlichkeit“ 90 , die ihr Personal<br />
und ihre finanziellen Mittel aus dem Ausland beziehen. <strong>Das</strong> Erbe der Mission, wie sie<br />
im Kontext der Kolonisation praktiziert <strong>wurde</strong>, ist die Abhängigkeit der Kirchen des<br />
Südens von den Kirchen des Nordens. 91<br />
Speziell zur kamerunischen Missionsgeschichte möchte ich noch einen Aspekt hervorheben:<br />
Im allgemeinen - und insbesondere in Kamerun selbst - gilt Alfred Saker als der<br />
Vater der Mission in diesem Land. Dies trifft jedoch nicht zu. Es stimmt zwar, daß die<br />
ersten Missionare, die nach Kamerun kamen, Protestanten waren. Der allererste jedoch<br />
war Joseph Merrick, ein schwarzer Baptist aus Jamaika. Nach seiner Ankunft im später<br />
so genannten Kamerun Ende des Jahres 1843 begründete er in Bell-Town (Douala) die<br />
kamerunische Mission. 1844 gründete er eine weitere Missionsstation in Bimbia. Er<br />
übersetzte die Bibel in die Sprache der Menschen von Bimbia (Isubu), richtete eine<br />
Druckerei ein und entwickelte eine Maschine, die es ermöglichte, Ziegel aus lokalen<br />
Materialien herzustellen. 1849 starb Joseph Merrick <strong>auf</strong> einer Reise nach England. 92<br />
89<br />
90<br />
91<br />
92<br />
haben, auch seinen c o l o n i s a t o r i s c h e n B e r u f <strong>auf</strong>s Neue zu bethätigen“ (S. 108). Zu Friedrich Fabri<br />
vgl. auch KLAUS J. BADE, Friedrich Fabri und der Imperialismus in der Bismarckzeit. Revolution - Depression<br />
- Expansion (Beiträge zur Kolonial- und Überseegeschichte; Bd. 13), Freiburg i.Br. (Atlantis),<br />
1975 (= überarbeitete Diss. Erlangen, 1971/72).<br />
„[...] une institution étrangère, un témoin de l’Occident colonisateur“; a.a.O., S. 34 (African Cry, S. 23).<br />
- Diesen Fakt dürfte Jean-Marc Ela im Blick haben, wenn er in Ma foi d’Africain, S. 198, von „le drame<br />
des Églises nées de l’expansion de l’Occident à la conquête du monde, dans le cadre d’une alliance entre<br />
la puissance politique et le pouvoir culturel“ spricht („das Drama der Kirchen, die aus der bis zur Welteroberung<br />
führenden Expansion des Westens geboren <strong>wurde</strong>n, im Rahmen eines Bündnisses zwischen<br />
politischer Gewalt und kultureller Macht“; Mein Glaube als Afrikaner, S. 177).<br />
„[...] appendices des Eglises métropolitaines, sans personnalité propre“; ebd. - Angesichts des lange Zeit<br />
vorrangigen Interesses der Mission, das Ideal eines eurozentristisch verstandenen Christentums einfach<br />
in die „neuen Welten“ zu übertragen, ist dies auch nicht weiter erstaunlich. War die Mission doch erfüllt<br />
von dem Traum, in diesen Ländern „die Einheit der Glaubens, der Kultur und des Lebensstils wiederherzustellen,<br />
die im Herzen des alten Europas in der Auflösung begriffen war“; Mein Glaube als<br />
Afrikaner, S. 177 („de rétablir l’unité de foi, de culture et de style de vie qui était en train de se défaire<br />
au cœur de la vieille Europe“; Ma foi d’Africain, S. 198).<br />
Da sich diese Analyse der afrikanischen Missionsgeschichte primär mit deren sozio-ökonomischen Basis<br />
befaßt und von daher weniger den kirchenpolitischen Kontext im Blick hat, aus dem heraus die Mission<br />
entstanden ist, und durch den sie entscheidend geprägt war, möchte ich noch einen Aspekt ergänzen,<br />
den auch Jean-Marc Ela an anderen Stellen des öfteren anspricht, nämlich den, daß Afrika - von katholischer<br />
Seite aus - im Geist und Kontext der Gegenreformation evangelisiert <strong>wurde</strong>; so z.B. in Ma foi<br />
d’Africain, S. 199 (Mein Glaube als Afrikaner, S. 178) und passim. Vgl. für die protestantische Seite z.B.<br />
WERNER USTORF, der bei seinen Studien zur Geschichte der Norddeutschen Mission festgestellt hat, „daß<br />
der schließlich nach Afrika getragene Missionsgedanke geprägt war vom Abwehrkampf gegen ein neues,<br />
in den Revolutionsjahren um 1848 herum entstandenes Verständnis der christlichen Tradition, nämlich<br />
eine revolutionäre, radikaldemokratische Theologie“. (Theologie im revolutionären Bremen 1848-<br />
1852. Die Aktualität Rudolph Dulons, Bonn (Pahl-Rugenstein), 1992, S. 6).<br />
Siehe AARON SUH NEBA, Modern Geography of the Republic of Cameroon, Camden, New Jersey (Neba<br />
Publishers), 1987 2 , S.2.
2 Der Kontext der théologie sous l’arbre 81<br />
Erst nach ihm kam als zweiter protestantischer - und erster weißer - Missionar Alfred<br />
Saker nach Kamerun. 93 Die katholische Mission begann erst rund drei Jahrzehnte später<br />
mit ihrer Arbeit in Kamerun. 1890 errichteten deutsche Pallottiner unter der Leitung<br />
von Heinrich Vieter die erste katholische Missionsstation (Marienberg) in Kamerun. 94<br />
Exkurs: Die Theologie Ruben Um Nyobés<br />
Warum ein Exkurs über die Theologie von Ruben Um Nyobé 95 ? Zum einen werfen<br />
seine theologischen Reflexionen als ein frühes und einzigartiges Zeugnis einer ansatzweisen<br />
afrikanischen bzw. kamerunischen Befreiungstheologie 96 ein vielsagendes<br />
Licht <strong>auf</strong> die Theologie und Kirche seiner Zeit. Außerdem erinnern sie stark an diejenigen<br />
Jean-Marc Elas, die geradezu als deren Weiterentwicklung erscheinen. 97 Es ist<br />
möglich, daß Jean-Marc Ela bei der Widmung seines Buches Ma foi d’Africain - „au<br />
martyrs du peuple noir“ („den Märtyrern des schwarzen Volkes“) - insbesondere auch<br />
an diesen berühmten Märtyrer des antikolonialen Widerstandes in Kamerun gedacht<br />
haben mag. - Dieser Exkurs erfüllt also eine doppelte Aufgabe: Einerseits dient er der<br />
93<br />
94<br />
95<br />
96<br />
97<br />
Ebd. - Tatsächlich wird heute Alfred Saker noch immer als erster Missionar gefeiert. Für Menschen, die<br />
durch eine koloniale Mentalität geprägt sind, ist es schwer, sich einzugestehen, daß es ein Schwarzer<br />
war, der die christliche Mission in Kamerun begründet hat. Es gehört mit zu den Aufgaben, die sich<br />
Luc-Norbert Kenné (Mitarbeiter im Jugendsekretariat der FEMEC und Koordinator des CANAAL-<br />
Projektes) gesetzt hat, in dieser Richtung eine Bewußtwerdung anzustoßen. Es steht uns jedoch nicht zu,<br />
uns über die koloniale Mentalität vieler, v.a. protestantisch geprägter Menschen in Kamerun zu erheben,<br />
waren es doch gerade unsere deutschen Vorfahren, welche die Grundlagen hierfür gelegt haben<br />
und die von evangelikalen Missionen noch heute „gepflegt“ werden. Von derartigen religiösen Bewegungen<br />
sagt Jean-Marc Ela, daß sie „ein Beispiel für die Einmischung Europas in der Dritten Welt“ sind.<br />
„Diese Bewegungen werden finanziert und bilden einen Teil der Außenpolitik.“ Er verweist ferner <strong>auf</strong><br />
Lateinamerika und dar<strong>auf</strong>, daß das Weiße Haus es für notwendig erachtet, die Befreiungstheologie zu<br />
bekämpfen: „<strong>Das</strong>selbe passiert in Afrika“ (JEAN-MARC ELA, Soziale Krise als Herausforderung für die<br />
christliche Jugend, ansätze 6/94, S. 23).<br />
Speziell zur Geschichte der deutschen Mission (ev. u. kath.) in Kamerun vgl. HORST GRÜNDER, Christliche<br />
Mission und deutscher Imperialismus. Eine politische Geschichte ihrer Beziehungen während der<br />
deutschen Kolonialzeit (1884-1914) unter besonderer Berücksichtigung Afrikas und Chinas, Paderborn<br />
(Schöningh), 1982, 135-169 (Kap. III.2 über Kamerun); RENATE NESTVOGEL, Mission und Kolonialherrschaft<br />
in Kamerun, in: KLAUS J. BADE, Imperialismus und Kolonialmission. Kaiserliches Deutschland und<br />
koloniales Imperium (Beiträge zur Kolonial- und Überseegeschichte; Bd. 22), Wiesbaden (Steiner),<br />
1982, 205-225; SIBYLLE WEINGART, Der Pallottiner-Orden in Kamerun. Mission und Kolonialherrschaft,<br />
EPK 2/89, 22-25. Eine diachrone Darstellung (inkl. franz. Kolonialzeit und später) der kamerunischen<br />
(Kolonial- und) Missionsgeschichte findet sich bei NAZAIRE BITOTO ABENG, Von der Freiheit zur Befreiung.<br />
Sein Blick konzentriert sich hierbei v.a. <strong>auf</strong> die Pallottiner und die Väter des Hl. Geistes, die nach<br />
dem Ersten Weltkrieg die Arbeit der ersteren übernahmen.<br />
Zu Ruben Um Nyobé siehe Kap. 1, S. 34 (außerdem Anm. 18).<br />
Sie ist auch ein Beispiel für eine theologische Produktion, die nach Jean-Marc Elas Einschätzung in<br />
Afrika aus dem hervorgeht, was er den „<strong>info</strong>rmellen Sektor“ der Theologie nennt; vgl. Pour une théologie<br />
appropriée. Interview de Jean-Marc Ela, Vivant Univers Nr. 408 (1993), 30-34, S. 34: „La<br />
production théologique en Afrique relève de ce que j’appellerais le secteur <strong>info</strong>rmel.“<br />
Ob Jean-Marc Ela tatsächlich Ruben Um Nyobés theologische Reflexionen kannte, muß als eine offene<br />
Frage stehen bleiben, auszuschließen ist dies jedoch nicht. Zumindest weist Jean-Marc Ela in Quand<br />
l’État pénètre en brousse, S. 33, <strong>auf</strong> die von ACHILLE MBEMBÉ verfaßte Einleitung zu <strong>einem</strong> Sammelband<br />
unter dem Titel R. Um Nyobe. Les écrits sous maquis (Paris, L’Harmattan, 1989) hin, was dar<strong>auf</strong> schließen<br />
läßt, daß er spätestens Ende der 80er Jahre Schriften von (oder über?) Ruben Um Nyobé zur Kenntnis<br />
genommen hat (ob in dieser Textsammlung der unten zitierte Text enthalten ist, konnte ich jedoch<br />
nicht eruieren).
2 Der Kontext der théologie sous l’arbre 82<br />
Beleuchtung der (kolonial-)kirchlichen Verhältnisse in Kamerun aus der Perspektive<br />
des antikolonialen Widerstandes und andererseits soll er eine Art „Vorläufer“ der theologischen<br />
Reflexionen Jean-Marc Elas vorstellen.<br />
Den Hintergrund für Ruben Um Nyobés Darlegung seiner theologischen Ansichten,<br />
die zugleich eine scharfe Kritik des zeitgenössischen Christentums in Kamerun darstellt,<br />
bildete die durch die französischen und kamerunischen Autoritäten lancierte<br />
erfolgreiche Denunzierung der durch die UPC 98 angeführten nationalistischen Unabhängigkeitsbewegung<br />
als „gottlosen Kommunismus“. Diese Propagandakampagne<br />
führte dazu, daß von kirchlicher Seite die Mitgliedschaft in der „kommunistischen“<br />
UPC als unvereinbar mit dem Christentum erklärt <strong>wurde</strong>. Der konkrete Anlaß des im<br />
folgenden zitierten Textes von Ruben Um Nyobé war die Veröffentlichung eines bischöflichen<br />
Hirtenbriefes, der zu Ostern 1955 in allen Kirchen in Kamerun verlesen<br />
werden mußte. Darin warnten die Bischöfe die Gläubigen vor der UPC und ermahnten<br />
sie, von dieser Partei wegen ihrer unverkennbaren Beziehungen zum „gottlosen Kommunismus“<br />
Abstand zu nehmen. 99<br />
In seiner Antwort <strong>auf</strong> diesen Hirtenbrief schreibt Ruben Um Nyobé - sein Text trägt<br />
den Titel: „Religion oder Kolonialismus“ („Religion ou colonialisme“) - u.a. folgendes:<br />
„Wer behauptet, im Namen Gottes zu sprechen, kann nicht die Kolonisation verteidigen,<br />
ohne sich des Verrates schuldig zumachen. Kolonisation, das ist Sklaverei, Unterwerfung<br />
von Völkern durch eine Gruppe von Individuen, die den Reichtum und die<br />
Arbeitskraft der unterworfenen Völker exploitiert. Dem Buch Genesis zufolge dürfen<br />
allein die Vögel und Tiere des Feldes den Menschen unterworfen werden, nicht aber<br />
Menschen, die doch das Bild Gottes sind. In den Zehn Geboten heißt es: Ehrt euren<br />
Vater und eure Mutter, damit Ihr glücklich leben werdet <strong>auf</strong> der Erde, die Gott euch<br />
gegeben hat. Kamerun ist die Erde, die Gott uns gegeben hat. Willst du Gottes Namen<br />
nicht eitel gebrauchen, dann kannst du dich nicht des Landes bemächtigen, das Gott<br />
anderen gegeben hat. Gott kann nicht gleichgültig bleiben gegenüber <strong>einem</strong> nationalen<br />
Befreiungskampf.<br />
Außerdem ist da das Buch Exodus. Die Israeliten wollen weg aus dem Ägypten des<br />
Pharaos Manefta. Ein israelitischer Patriot, Moses, wird durch Gott damit be<strong>auf</strong>tragt,<br />
sein Volk von den Ketten der Unterdrückung zu befreien. Hat Gott etwas gegen Ägypten,<br />
das später seinen Sohn, das Baby, beherbergen sollte? Nein. Er will nur nicht, daß<br />
die Israeliten, geschaffen nach s<strong>einem</strong> Bild, für immer und ewig der Herrschaft durch<br />
die Ägypter unterworfen bleiben sollten, die ihrerseits ebenfalls nach dem Bild Gottes<br />
geschaffen sind. Wie können die französischen Bischöfe unseres Landes nun sagen,<br />
daß die Kameruner, geschaffen nach dem Bild Gottes, Sklaven der Franzosen und<br />
Engländer sein sollen, die gleichfalls nach dem Bild Gottes geschaffen sind?<br />
Nehmen wir nun das Neue Testament. <strong>Das</strong> Erscheinen von Jesus ist in mancher Hinsicht<br />
<strong>auf</strong> das Prinzip des nationalen Befreiungskampfes gegründet. Auch sein Land war<br />
98<br />
99<br />
Zur UPC vgl. oben S. 34.<br />
Der Text des Hirtenbriefes findet sich bei Louis Ngongo, Histoire des forces religieuses au Cameroun. De<br />
la première guerre mondiale à l’Indépendance (1916-1955), Paris, 1982, S. 289-292. Vgl. dazu auch<br />
Jan P. Heijke, Kameroense Befrijdingstheologie, S. 27 u. 74.
2 Der Kontext der théologie sous l’arbre 83<br />
besetzt, war römische Kolonie. Gouverneur Herodes, der Roland Pré 100 jener Zeit,<br />
wollte keine Konkurrenz, keinen einheimischen Führer (chef autochtone). Denn das<br />
würde das Ende der Herrschaft des römischen Imperialismus bedeuten (mettre fin au<br />
règne de l’impérialisme romain). Er befahl, alle Neugeborenen zu töten.<br />
Dies alles [...] verweist dar<strong>auf</strong>, daß Gott mit denjenigen ist, die gegen den Kolonialismus<br />
kämpfen. Ich will einmal die Aufmerksamkeit der Bischöfe, Autoren des Lettre<br />
Commune, <strong>auf</strong> einige Zitate richten. „Ihr sollt Euren Nächsten nicht ausbeuten und ihn<br />
nicht mit Gewalt berauben“ (Lev. 19, 13). Und: „Beraube den Armen nicht, weil er<br />
arm ist, und unterdrücke den Bedürftigen nicht im Tor. Denn Jahweh nimmt ihre Sache<br />
in seine Hand und Er beraubt ihre Beräuber ihres Lebens“ (Sprüche 22, 22-23).<br />
Wir fragen, ob es eine Verleumdung ist, zu sagen, daß die katholischen Priester in der<br />
Kirche Politik verkündigen und mit den Sakramenten Handel treiben (trafiquent) um<br />
politischer Zwecke willen. Es steht in der Bibel: Du sollst gegen deinen Nächsten kein<br />
falsches Zeugnis ablegen. Was soll von denen gesagt werden, die alle militanten Gewerkschaftsleute<br />
und alle Militanten aus der kamerunischen nationalen Bewegung<br />
Kommunisten nennen? [...] Es mag beinahe so scheinen, als sei zu den Zehn Geboten<br />
ein elftes hinzugekommen, ein neuer Missionsbefehl (mission): die Bekämpfung des<br />
Kommunismus.<br />
Gott hat gesagt: Im Schweiße eures Angesichtes sollt ihr euer Brot verdienen. Zur Zeit<br />
der Zwangsarbeit, als die Menschen in Lastwagenladungen zu den Goldminen transportiert<br />
<strong>wurde</strong>n, haben weder Priester noch Pfarrer ihre Stimme erhoben. Wohl gingen<br />
sie um vier Uhr morgens <strong>auf</strong> die Plantagen, um die Messe zu lesen, dahin, wo die Arbeiter<br />
365 Tage im Jahr zur Arbeit gezwungen waren. Um zehn Uhr gingen sie dann<br />
einen Aperitif trinken bei dem allmächtigen Eigentümer. Aber als wir als Gewerkschaftsleute<br />
1946 die Sonntagsruhe erzwingen konnten, verurteilten die Priester in<br />
ihrer komfortablen (= späteren) Sonntagsmesse die Gewerkschaft als das Werk des<br />
Satans. Weist nicht alles dar<strong>auf</strong> hin, daß die koloniale Kirche ohne Vorbehalt ihre<br />
Unterstützung denjenigen erweist, die zum Prinzip haben: Im Schweiße ihres Angesichtes<br />
wollen wir unser Brot essen? Wollen sich Christen in diesem Land organisieren,<br />
um das koloniale Joch abzuwerfen, dann wird das elfte Gebot herbeizitiert. Laut<br />
der Bibel hat Jesus eines Tages die Peitsche genommen, um die K<strong>auf</strong>leute aus dem<br />
Tempel zu treiben. Er sagte: Es steht geschrieben, daß Mein Haus Haus des Gebetes<br />
genannt werden soll. Aber ihr habt daraus einen Markt für eure Geschäfte gemacht<br />
(une foire pour vos trafics).“ 101<br />
Während Ruben Um Nyobé also einerseits das Christentum und die Kirche scharf<br />
kritisiert, so tut er dies doch <strong>auf</strong> der Grundlage der christlichen Normen, und erkennt<br />
damit andererseits das Christentum als einen befreienden Faktor an. Er macht also sehr<br />
wohl einen Unterschied zwischen <strong>einem</strong> „real-existierenden“ kolonialen Christentum<br />
und <strong>einem</strong> Christentum, wie es, gemessen an seinen eigenen Quellen, sein sollte und<br />
schüttet von daher nicht „das Kind mit dem Bade aus“, wie es in weiten Kreisen der<br />
100 Roland Pré <strong>wurde</strong> 1955 zu Frankreichs Hohem Kommissar in Kamerun ernannt (er hatte es sich u.a. zur<br />
Aufgabe gemacht, die „Zivilisation“ bzw. die „Kultur“ gegen den „Weltkommunismus“ zu verteidigen).<br />
101 Quelle: Ruben Um Nyobé, Le problème national Kamerunais, Paris, 1984 (hg. von Achille Mbembé), S.<br />
278-289; ins Niederländische übersetzt bei Jan P. Heijke, Kameroense Befrijdingstheologie, S. 74-75<br />
[dtsch. Übersetzung von R. K.-F.].
2 Der Kontext der théologie sous l’arbre 84<br />
europäischen Arbeiterbewegung - zumindest in den Augen ihrer Gegner - der Fall<br />
war. 102 2.3 Die sozio-kulturelle Bedeutung der traditionellen<br />
afrikanischen Religion<br />
Nach Ansicht Jean-Marc Elas ist es eine Reduzierung der traditionellen afrikanischen Religion,<br />
sie ausschließlich als den Ausdruck der Beziehung zwischen dem Menschen und dem Übernatürlichen<br />
zu verstehen. Die messianischen Bewegungen in Afrika belegen, daß die afrikanische<br />
Religion auch eine soziale Kraft hat und eine Quelle des Protests gegen die herrschende Ordnung<br />
sein kann.<br />
Jean-Marc Ela analysiert die sozio-kulturelle Bedeutung der traditionellen afrikanischen Religionen<br />
im 4. Kapitel von Le Cri de l’homme Africain: „Conscience critique et religion en<br />
Afrique noire“ (52-69).<br />
Ausgehend von dem Vorurteil, daß die AfrikanerInnen „unheilbar religiöse“ Menschen<br />
seien, wagt es Jean-Marc Ela, die Frage zu stellen, ob der Glaube an Gott in Afrika<br />
tatsächlich so weit verbreitet ist, wie im allgemeinen angenommen wird, denn es gibt<br />
gewisse Indizien, die „eine Art Atheismus in den traditionellen Milieus“ 103 nahelegen.<br />
Jean-Marc Ela führt hierfür die - nicht nur - in Südkamerun 104 allgemein bekannte<br />
„philosophische Erzählung“ (conte philosophique) von Nden-Bobo an:<br />
Hier lehnt ein wirklicher afrikanischer Hiob die Idee der Vorsehung, die Idee<br />
eines guten Schöpfergottes ab. Während eines Prozesses gegen Gott kommt<br />
„Nden-Bobo“, die Netze webende Spinne, nachdem sie die Übel, unter denen<br />
die Menschheit leidet, Revue passieren ließ, zu folgendem Schluß: „Gott, du<br />
bist nicht gut! Wie ist es möglich, daß du die Menschen erschaffst, und daß<br />
wiederum du selbst es bist, der sie tötet?“ 105<br />
102 Vor der Gefahr, daß Befreiungsbewegungen <strong>auf</strong>grund der unsolidarischen Praxis und der tatsächlichen<br />
Klassenposition der Kirche nicht nur die Kirche bekämpfen, sondern auch das Evangelium verwerfen,<br />
warnt Jean-Marc Ela in Mein Glaube als Afrikaner, S. 127: „Wie können wir verhindern, daß der Anspruch<br />
<strong>auf</strong> Emanzipation sich nicht gegen Gott und die Kirche richtet, wie es in der Geschichte des Westens<br />
geschehen ist?“.<br />
103 „[...] une sorte d’athéisme dans les milieux traditionnels“; Le Cri de l’homme Africain, S. 52 (African<br />
Cry, S. 39). - In Ma foi d’Africain, S. 207 (Mein Glaube als Afrikaner, S. 186), betont Jean-Marc Ela vor<br />
dem Hintergrund des „Zusammenpralls zwischen der schwarzen Welt und den anderen Völkern“<br />
(„heurt entre le monde noir et les autres peuples“) die Notwendigkeit, die Behauptung, daß die AfrikanerInnen<br />
„unheilbar religiös“ seien, zu entmystifizieren: „Unsere Völker sind nicht mehr sicher vor der<br />
Säkularisierung, dem Atheismus oder der religiösen Indifferenz“ („nos sociétés ne sont plus à l’abri de<br />
la sécularisation, de l’athéisme ou de l’indifférence religieuse“).<br />
104 „[...] un contexte socio-culturel où il apparaît que la ,littérature orale‘ n’est pas dominée par la mentalité<br />
magico-religieuse“; Le Cri de l’homme Africain, S. 52 („ein sozio-kultureller Kontext, in dem die<br />
,mündliche Literatur‘ nicht durch eine magisch-religiöse Mentalität beherrscht zu werden scheint“)<br />
(African Cry, S. 39).<br />
105 „Ici, un véritable Job africain réfute l’idée de Providence, d’un Dieu créateur et bon. ,Nden-Bobo‘,<br />
l’araignée toilière, au cours d’un procès contre Dieu, après avoir passé en revue les maux dont souffre la<br />
race humaine, conclut: ,Dieu, tu n’es pas bon! Comment se fait-il que tu crées les hommes et c’est<br />
encore toi-même qui les tues‘ “; ebd.
2 Der Kontext der théologie sous l’arbre 85<br />
Aus Afrika eine solche Anklage gegen Gott zu hören, scheint allen Erwartungen zu<br />
widersprechen, insbesondere angesichts dessen, daß „in Schwarzafrika im allgemeinen<br />
die Beziehung des Menschen zum ,Übernatürlichen‘ eine dem sozialen Leben inhärente<br />
Erfahrung ist, untrennbar von dem, was jemand erlebt und tut“ 106 . Es gibt hier kaum<br />
jemanden, der oder die sich nicht <strong>auf</strong> irgendeine Form des „Heiligen“ bezieht: „In<br />
dieser Hinsicht sind die traditionellen Religionen ein Teil des kollektiven Gedächtnisses,<br />
worin - für manche - das Afrika von heute seine Identität findet.“ 107<br />
Diese religiöse Leidenschaft der AfrikanerInnen gerät jedoch in den Verdacht, daß sie<br />
die Menschen entfremdet und sie unfähig macht, aktiv den Schwierigkeiten des Lebens,<br />
dem Elend und der Ungerechtigkeit gegenüberzutreten. Jean-Marc Ela formuliert<br />
diese kritische Anfrage so:<br />
In der Religion, wie sie <strong>auf</strong> der Ebene der im allgemeinen ungebildeten Massen<br />
erfahren wird - impliziert die Beziehung zum Unsichtbaren, die sich in einer<br />
Reihe ritueller Handlungen und Gesten konkretisiert, nicht einen „Providentialismus“,<br />
der letztendlich die Menschen entfremdet und sie angesichts des Elends<br />
und der Ungerechtigkeit in die Resignation treibt? 108<br />
Die Menschen mit ihren schöpferischen Fähigkeiten spielen scheinbar keine Rolle in<br />
<strong>einem</strong> religiösen System, das verspricht, das Gleichgewicht zwischen dem Menschen<br />
und dem Universum wiederherstellen zu können, indem es durch einen rituellen Akt<br />
die Beziehungen zwischen dem Sichtbaren und dem Unsichtbaren wieder in Ordnung<br />
zu bringen versucht. In dieser Linie erscheint dann für viele das Opfer für Gott oder für<br />
die Ahnen als die Lösung aller Probleme des täglichen Lebens. Von daher läßt sich der<br />
Einfluß ermessen, den die Religion in <strong>einem</strong> sozio-kulturellen Kontext hat, in dem die<br />
Kommunikation mit dem Unsichtbaren untrennbar zur Lebenswirklichkeit der Menschen<br />
gehört:<br />
Die Rolle der Religion ist von entscheidender Bedeutung in einer Gesellschaft,<br />
die <strong>auf</strong>grund des niedrigen Niveaus der Wissenschaft und Technik von allen<br />
Seiten durch Hunger, Krankheit, Sterblichkeit, etc. ... geplagt wird. Es existiert<br />
ein ganzes System von Riten, die dafür bestimmt sind, vom Himmel ertragreiche<br />
Ernten, die Abwendung von Unheil, den Rückgang einer Krankheit oder die<br />
Verschiebung des Todes zu erhalten. In der Situation <strong>auf</strong> dem Land, wo Millionen<br />
Afrikaner leben, Landwirte oder Viehzüchter, manifestiert sich in der Tat<br />
ein großer Teil des religiösen Lebens in diesen Riten. Ernährung und Gesundheit<br />
sind gefährdet, und diese Bedürfnisse müssen vorrangig durch die Hinwendung<br />
zum Unsichtbaren beantwortet werden, der Quelle allen Segens und von<br />
allem Guten. Angesichts der Schwierigkeiten, seine Existenz zu fristen, tendiert<br />
106 „[...] en Afrique noire en général, la relation de l’homme au ,surnaturel‘ est une expérience inhérente à<br />
la vie sociale, inséparable de ce qu’on vit et de ce qu’on fait“; ebd.<br />
107 „A cet égard, les religions traditionnelles constituent une part de la mémoire collective où, pour certains,<br />
l’Afrique d’aujourd’hui trouve son identité“; a.a.O., S. 52f (African Cry, S. 39).<br />
108 „[...] dans la religion vécue au niveau des masses généralement illettrées, la relation à l’invisible, qui se<br />
concrétise par une série d’actes et de gestes rituels, n’implique-t-elle pas un ,providentialisme‘ qui, à la<br />
limite, aliène l’homme et l’accule à la résignation devant la misère et l’injustice?“; a.a.O., S. 53 (African<br />
Cry, S. 40).
2 Der Kontext der théologie sous l’arbre 86<br />
der Afrikaner spontan zur Rückkehr zu den ancestralen Traditionen, zu den Altären<br />
und den heiligen Hainen, zu toten Gewässern und Quellen, zu allen Mitteln,<br />
die Schutz gewähren, und dank derer die Gemeinschaften über Jahrhunderte<br />
hinweg gelebt haben. [...] Die Rückkehr zu alten religiösen Praktiken und<br />
zum Glauben der Ahnen in Milieus, die durch Entwurzelung und Unsicherheit<br />
gekennzeichnet sind, bestätigt die Beständigkeit eines religiösen Hintergrundes,<br />
den die Veränderungen der afrikanischen Gesellschaft nicht vollständig zerstört<br />
haben. 109<br />
Jean-Marc Ela präzisiert nun die Fragen, mit denen er sich im folgenden kritisch auseinandersetzt.<br />
Sie entzünden sich daran, daß in der modernen Welt des wissenschaftlich-technischen<br />
Fortschritts der Versuch, mittels eines Ritus <strong>auf</strong> die Realität einzuwirken,<br />
geradezu anachronistisch, wenn nicht gar reaktionär erscheint:<br />
Wenn das Werkzeug den Ritus ersetzt hat im menschlichen Bemühen um die<br />
Domestizierung der Kräfte der Natur, besteht dann nicht die Gefahr, daß das<br />
Verhalten des Afrikaners <strong>auf</strong> der Suche nach Gemeinschaft mit der Natur als eine<br />
Bremse des Fortschritts erscheint?<br />
[...] Ist mit den Anforderungen, welche die ökonomische und soziale Entwicklung<br />
stellt, nicht die Zeit des Niedergangs des Ahnenkultes gekommen? Genügt<br />
es nicht, eine neue soziale Ordnung zu errichten, die keinen Raum mehr lassen<br />
wird für die Entfremdung durch die Religion? Führt die Schwächung des Glaubens<br />
der Schwarzen in Götter und Geister nicht schließlich zur Geburt eines kritischen<br />
Bewußtseins? 110<br />
Unverkennbar steht hinter diesen Fragen, die viele ,Köpfe‘ quälen, seit „die großen<br />
Meister des Denkens“ begonnen haben, die Religion grundsätzlich in Frage zu stellen,<br />
der Einfluß der Marxschen Religionskritik. Religion ist demnach einerseits der Ausdruck<br />
von Ausbeutung und Unterdrückung - „das Seufzen der unterdrückten Kreatur“ -<br />
, dient andererseits aber zugleich dadurch deren Legitimierung, daß sie <strong>auf</strong> den göttlichen<br />
Willen verweist, der die Respektierung der herrschenden Ordnung verlangt. Dar-<br />
109 „Le rôle de la religion est prépondérant dans une société que pressent de toutes parts, en raison du faible<br />
niveau de la science et de la technique, la famine, la maladie, la mortalité, etc. ... Tout un système de<br />
rites se trouve destiné à obtenir du ciel des moissons abondantes, l’éloignement des calamités, le recul de<br />
la maladie, l’ajournement de la mort. De fait, dans la situation rurale où vivent des millions d’Africains,<br />
cultivateurs ou éleveurs, une grande partie de la vie religieuse se manifeste par ces rites. C’est de<br />
nourriture et de santé qu’il est question et à ces besoins il faut répondre en priorité par le recours à<br />
l’invisible, source de toute bénédiction et de tout bien. Devant les difficultés de l’existence, l’Africain<br />
tend à revenir spontanément aux traditions ancestrales, aux autels et aux bois sacrés, aux marigots et<br />
aux puits, à tous les moyens de protection grâce auxquels durant des siècles des collectivités ont vécu.<br />
[...] Dans les milieux marqués par la déracinement et l’insécurité, le retour aux vieilles pratiques<br />
religieuses et aux croyances ancestrales atteste la permanence d’un fonds religieux que les mutations de<br />
la société africaine n’ont pas entièrement détruit“; a.a.O., S. 53f (African Cry, S. 40f).<br />
110 „Si l’outil remplace le rite dans l’effort humain de domestication des forces de la nature, l’attitude de<br />
l’Africain en quête de communion avec la nature ne risque-t-elle pas d’apparaître comme un frein au<br />
progrès?<br />
[...] Le temps du déclin du culte des ancêtres serait-il arrivé avec les exigences imposées par le<br />
développement économique et social? Ne suffit-il pas d’instaurer un ordre social nouveau qui ne fera<br />
plus place à l’aliénation par la religion? A la limite, l’affaiblissement de la foi des Noirs dans la<br />
puissance des dieux et des esprits ne conditionne-t-il pas la naissance de la conscience critique?“;<br />
a.a.O., S. 54 (African Cry, S. 41).
2 Der Kontext der théologie sous l’arbre 87<br />
über hinaus bietet die Hoffnung <strong>auf</strong> ein Paradies den Armen eine ideale Kompensation<br />
für ihr irdisches Unglück. Es ist die Machtlosigkeit der unterdrückten Massen gegenüber<br />
ihrer Ausbeutung, die den Glauben an ein besseres Leben im Jenseits hervorbringt<br />
und so Gestalt annimmt in <strong>einem</strong> religiösen Leben, das zur Entfremdung dieser Menschen<br />
führt. In dieser Perspektive erscheint die Religionskritik als der Ausgangspunkt<br />
von Kritik überhaupt.<br />
In der kritischen Auseinandersetzung mit dieser Form der Religionskritik und zugleich<br />
im Gegenüber zu <strong>einem</strong> „idealistisch“ bzw. „spiritualistisch“ verstandenen Christentum<br />
entwickelt Jean-Marc Ela die theoretische Grundlage für seine sozio-historische Analyse<br />
religiöser Phänomene, die z.B. auch seiner Analyse der afrikanischen Missionsgeschichte<br />
zugrunde liegt. Für Jean-Marc Ela ist die abstrakt gestellte Frage, ob Religion<br />
„an sich“ Entfremdung produziert, ohne Bedeutung, denn:<br />
An ihrer historischen Verifizierung durch eine Praxis innerhalb einer Gesellschaft<br />
muß jede Religion überprüft werden. Die Beziehung zum Absoluten oder<br />
zum Heiligen kann nicht jede Begegnung mit dem Kontingenten des alltäglichen<br />
Lebens vermeiden. In diesem Sinn ist die sozio-historische Bedeutung der<br />
Religion um so größer, als die religiöse Erfahrung in gewisser Weise ein umfassendes<br />
Phänomen ist, das den Menschen in s<strong>einem</strong> Denken und in s<strong>einem</strong> Handeln<br />
ergreift. Es ist <strong>auf</strong> der Basis des Engagements des Menschen in Gesellschaft<br />
und Geschichte, daß die Religion, die er sich zu eigen macht, Bedeutung<br />
gewinnt. 111<br />
Von daher kann derjenige oder diejenige, der oder die sich mit der afrikanischen Geschichte<br />
beschäftigt, die Beziehungen zwischen Christentum und Kolonialismus nicht<br />
ignorieren. Auch wenn der Vatikan in der Tat nicht selbst SklavInnenhandel und Kolonisierung<br />
betrieben hat, so ist es dennoch unbezweifelbar, „daß die Christianisierung<br />
in gewissem Sinne ein ideologisches Instrument gewesen ist, dessen sich der expandierende<br />
europäische Kapitalismus bediente“ 112 . Jean-Marc Ela erinnert in diesem Zusammenhang<br />
an „die Theologie von der Verfluchung der schwarzen Rasse und die<br />
Mystik des ,armen Schwarzen‘, die den Hintergrund von Sklaverei, Kolonisation und<br />
Mission bilden“ 113 . Der Westen - und insbesondere Frankreich - stützte sich trotz seiner<br />
Kirchenfeindschaft <strong>auf</strong> die Arbeit der MissionarInnen in Afrika, um sich einer<br />
besseren Kontrolle über die Masse der Menschen zu versichern. Dies ist auch der<br />
Grund, weshalb die Missionen in den Kolonien Privilegien und Hilfen von Seiten des<br />
Staates genießen konnten. Der gemeinsame Nenner zwischen „zivilisatorischer Mission“<br />
und Evangelisierung war das Bewußtsein der EuropäerInnen, zur „Zivilisation“ -<br />
111 „C’est dans sa vérification historique dans une praxis au sein d’une société que toute religion doit être<br />
interrogée. La relation à l’Absolu ou au sacré ne peut éviter toute rencontre avec les contingences de la<br />
vie quotidienne. Dans ce sens, l’impact socio-historique de la religion est d’autant plus fort que<br />
l’expérience religieuse est, d’une certaine manière, un phénomène total qui saisit l’homme dans sa<br />
pensée et son action. C’est à partir de l’engagement de l’homme dans la société et l’histoire que prend<br />
sens la religion à laquelle il adhère“; a.a.O., S. 55 (African Cry, S. 42).<br />
112 „[...] que la christianisation a été, en un sens, l’instrument idéologique dont s’est servi le capitalisme<br />
européen en expansion“; a.a.O., S. 55f (African Cry, S. 42).<br />
113 „[...] la théologie de la malédiction de la race noire et la mystique du ,pauvre Noir‘ qui constitue la toile<br />
de fond de l’esclavage, de la colonisation et de la mission“; a.a.O., S. 56 (African Cry, S. 42).
2 Der Kontext der théologie sous l’arbre 88<br />
die weiß ist - zu gehören, wohingegen schwarz sein bedeutete, der - schwarzen - „Barbarei“<br />
verfallen zu sein.<br />
Jean-Marc Ela betont die Tatsache, daß der europäische Imperialismus das Christentum<br />
für seine Zwecke maßgeblich vereinnahmt hatte:<br />
<strong>Das</strong> Eindringen des Westens in die überseeischen Länder ist das Ereignis, das<br />
die „Gefangenschaft“ des Evangeliums klar ans Licht bringt; dieses Eindringen<br />
stützte sich ideologisch <strong>auf</strong> die Christianisierung der beherrschten Völker, indem<br />
es sich durch diese a priori und a posteriori legitimierte. 114<br />
<strong>Das</strong> Christentum <strong>wurde</strong> instrumentalisiert für die „Zivilisierung“ der Kolonisierten,<br />
was insbesondere den Kampf gegen die traditionellen religiösen und sozialen Praktiken<br />
implizierte. Um Zugang zum Glauben haben zu können, mußte Afrika „sterben“, d.h.,<br />
alles ablegen, was auch nur irgendwie afrikanisch war. So ergaben sich für die missionierende<br />
Kirche zwei unabdingbare Aufgaben: der Kampf gegen den afrikanischen<br />
„Aberglauben“ und die Öffnung Afrikas für die europäische Kultur.<br />
Die zentrale Erkenntnis Jean-Marc Elas aus der afrikanischen Missionsgeschichte,<br />
insbesondere aus der Ergebenheit der Missionare den kolonialen Regierungen gegenüber,<br />
ist die, „daß das Evangelium, wie es in der Geschichte gelebt und erlebt wird,<br />
nicht neutral ist. In dieser Hinsicht ist das heimliche Einverständnis zwischen Glaube<br />
und Kapital(e) 115 das Unglück Afrikas in der Neuzeit.“ 116<br />
Die Bemühungen im Kampf gegen die traditionellen Praktiken konnten jedoch nicht<br />
deren Abschaffung bewirken:<br />
In dieser Hinsicht ist für den Westen und die Kirchen das Weiterbestehen der<br />
afrikanischen Religionen und ihre Vitalität besonders erstaunlich. Dieses Phänomen<br />
ist nicht nur <strong>auf</strong> die ländliche Welt begrenzt, wo religiöse Faktoren ein<br />
gewohnheitsmäßiger Bezugspunkt sind; es bestätigt sich auch durch die Invasion<br />
der religiösen Traditionen in die Städte, welche die Zentren der Ausbreitung<br />
des „Modernismus“ sind. Wenn das Verschwinden dieser Religionen abgewartet<br />
werden muß, um die afrikanischen Völker dem Elend und der Unterdrükkung<br />
entrinnen zu sehen, dann scheint es wohl so, daß diese Zeit noch nicht gekommen<br />
ist. 117<br />
114 „La pénétration occidentale dans les pays d’outre-mer est l’événement qui met en lumière cette<br />
,captivité‘ de l’Evangile; cette pénétration s’appuie idéologiquement sur la christianisation des peuples<br />
dominés, en se justifiant a priori comme a posteriori, par elle“; ebd. (African Cry, S. 43).<br />
115 Die englische Übersetzung (African Cry, S. 43) interpretiert „capital“ im Sinne von „Hauptstadt“ (wörtlich:<br />
„regime of the colonizing country“), was durch den unmittelbaren inhaltlichen Kontext näher zu<br />
liegen scheint. Damit ist dann die nationalistische Gefangenschaft und letztlich Selbst<strong>auf</strong>gabe des Glaubens<br />
angesprochen. Da sich aber im Rahmen des gesamten Denkens von Jean-Marc Ela auch die Bedeutung<br />
von „Kapital“ <strong>auf</strong>drängt, und da für Jean-Marc Ela beide Bedeutungen gleichermaßen Gewicht<br />
haben, gehe ich davon aus, daß die Doppeldeutigkeit bewußt so gewollt ist. Deshalb lasse auch ich es in<br />
der Übersetzung offen.<br />
116 „[...] que l’Evangile vécu dans l’histoire n’est pas neutre. Sur le terrain, la collusion de la foi avec le<br />
capital a constitué le malheur de l’Afrique dans le temps modernes“; a.a.O., S. 57 (African Cry, S. 43).<br />
117 „A cet égard, la grande surprise pour l’Occident et les Eglises c’est la persistance des religions africaines<br />
et leur vitalité. Ce phénomène n’est pas limité au monde rural où les facteurs religieux demeurent une<br />
référence coutumière; il se vérifie aussi par l’invasion des traditions religieuses dans les villes elles-
2 Der Kontext der théologie sous l’arbre 89<br />
Nun sind auch viele afrikanische Theoretiker der Ansicht, daß die afrikanischen Religionen<br />
ein Hindernis für Fortschritt und Entwicklung in Schwarzafrika sind, und daß<br />
sie geradezu eine Brutstätte des Obskurantismus und der Regression seien. Gerade<br />
dieses Vorurteil stellt Jean-Marc Ela vehement in Frage - und damit ist das zentrale<br />
Anliegen des hier referierten Textes über kritisches Bewußtsein und Religion in<br />
Schwarzafrika benannt.<br />
Jean-Marc Ela sieht eine Parallele zwischen den früheren Missionaren und den zeitgenössischen<br />
Propagandisten der Entwicklungsideologie:<br />
Einst mußten die afrikanischen Glaubens<strong>auf</strong>fassungen bekämpft werden, um die<br />
Neger zum christlichen Glauben zu bekehren. Heute sehen diejenigen, die sich<br />
in den Kreuzzug gegen die Unterentwicklung werfen, in den afrikanischen Religionen<br />
ein Hindernis, das zu überwinden ist. 118<br />
<strong>Das</strong> Erstaunliche dabei ist, daß die afrikanischen Intellektuellen dieser „Musik“ auch<br />
noch applaudieren, denn „diese maskiert eine der neo-kolonialen Beherrschung inhärente<br />
Ideologie“ 119 :<br />
Für die beherrschenden Länder des Westens erscheint Unterentwicklung als natürlich:<br />
Sie wird der Religiosität und den mentalen Strukturen dieser notleidenden<br />
Völker zugeschrieben. Gestern führten die Theoretiker der Kolonisation die<br />
Inferiorität der Schwarzen <strong>auf</strong> ihre prä-logische Mentalität zurück. Heute sind<br />
die Vorkämpfer der Entwicklung versucht, in den ancestralen Religionen die<br />
Quelle unseres Unglücks zu sehen, wenn sie nicht gar die alte Anklage der angeborenen<br />
Faulheit der Afrikaner wieder<strong>auf</strong>nehmen. 120<br />
Für Jean-Marc Ela ist dies eine Verschleierung der tatsächlichen Ursachen für die<br />
Situation, in der sich Afrika gegenwärtig befindet:<br />
In den traditionellen Religionen einen Hemmschuh für die Entwicklung zu sehen,<br />
bedeutet zu unterstellen, daß der Westen völlig unschuldig ist an der Situation,<br />
in der sich Afrika seit dem Sklavenhandel befindet. Anders ausgedrückt:<br />
die Ursachen des Elends der afrikanischen Massen haben <strong>auf</strong>gehört, ökonomische<br />
und politische zu sein. Man spricht nun bevorzugt von Völkern, die vom<br />
„Mythos“ beherrscht sind - als ob sich in Europa die Mythen nicht schnell<br />
verbreiten würden und der wissenschaftliche und technische Fortschritt jede<br />
mêmes qui sont les centres de diffusion du ,modernisme‘. S’il fallait attendre la disparition de ces<br />
religions pour voir les peuples africaines échapper à la misère et à l’oppression, il semble bien que le<br />
temps n’en est pas encore venu“; ebd.<br />
118 „Naguère, il fallait combattre les croyances africaines pour convertir les Nègres à la foi chrétienne. Ceux<br />
qui, aujourd’hui, se lancent dans la croisade contre le sous-développement voient dans les religions<br />
africaines un obstacle à vaincre“; a.a.O., S. 57f (African Cry, S. 44).<br />
119 „[...] celle-ci masque une idéologie inhérente à la domination néo-coloniale“; a.a.O., S. 58 (African Cry,<br />
S. 44).<br />
120 „Pour les pays dominants de l’Occident, le sous-développement apparaît naturel: il est attribué à la<br />
religiosité et aux structures mentales de ces peuples misérables. Hier, les théoriciens de la colonisation<br />
attribuaient l’infériorité du Noir à sa mentalité prélogique. Aujourd’hui, les promoteurs du<br />
développement sont tentés de voir la source de nos malheurs dans les religions ancestrales, quand ils ne<br />
reprennent pas la vieille accusation de la paresse congénitale des Africains“; ebd.
2 Der Kontext der théologie sous l’arbre 90<br />
Äußerung religiösen Lebens ausgelöscht hätte. Die Verbannung der Religion<br />
aus der säkularen Gesellschaft - vielleicht findet sie morgen statt. In den gegenwärtigen<br />
Verhältnissen begegnet uns - selbst in den materialistischsten Zivilisationen<br />
- sehr wohl eine Art diffuser Religion, die sich nur nicht als solche<br />
ausgibt. 121<br />
Die Mythen der modernen Gesellschaft erweisen die Ansicht als Illusion, „daß der<br />
Triumph der wissenschaftlichen Rationalität den modernen Menschen von Verhaltensstrukturen<br />
oder Mentalitäten befreit hätte, die ,archaischen‘ Gesellschaften zugeschrieben<br />
werden“ 122 . Wenn also Wissenschaft und Mythos sich nicht gegenseitig ausschließen,<br />
dann kann der Mythos bzw. die traditionelle afrikanische Religion nicht das zentrale<br />
Hindernis für die Entwicklung Afrikas sein, dessen Beseitigung dann die Lösung<br />
aller Probleme wäre. Jean-Marc Ela betont den trügerischen und ideologischen Charakter<br />
einer solchen Sicht der Dinge:<br />
Es ist eine Illusion zu glauben, daß die Entwicklung des Menschen - in Afrika -<br />
darin besteht, von der magisch-religiösen Mentalität zur wissenschaftlichen und<br />
technischen Mentalität überzugehen. Darüber hinaus gibt es da eine Problematik<br />
der Unterentwicklung, die <strong>auf</strong> Ideologie, nicht <strong>auf</strong> Wissenschaft beruht. [...] Alles<br />
geschieht so, als ob es eine „von der Vorsehung auserkorene“ Zivilisation<br />
gebe: Die „traditionellen“ Gesellschaften, bedacht <strong>auf</strong> Harmonie und Konformität<br />
mit der Vergangenheit, würden den Westen brauchen, um dynamisch, kritisch<br />
und historisch zu werden - alles, was den Stempel des Geistes trägt, der<br />
sich laut Hegel seit Griechenland in der europäischen Geschichte inkarniert hat.<br />
Der Westen sei also da, um die Defizite der anderen Gesellschaften auszugleichen.<br />
123<br />
Diese Ideen sind einerseits die Grundlage des Rassismus, dessen Objekt diejenigen<br />
Völker und sozialen Gruppen sind, die als „unterentwickelt“ gelten, andererseits tragen<br />
sie bei zur Verschleierung der wirklichen Natur der „Unterentwicklung“, die kein Verhängnis<br />
der Natur ist, sondern die Folge von Beherrschung und Abhängigkeit, wofür<br />
121 „Voir dans les religions traditionnelles un frein au développement, c’est supposer que l’Occident est<br />
parfaitement innocent dans la situation où se trouve l’Afrique depuis la traite des Nègres. Autrement dit,<br />
les causes de la misère des masses africaines ont cessé d’être économiques et politiques. On préfère alors<br />
parler des peuples dominés par le ,mythe‘, comme si, en Europe, les mythes ne proliféraient pas et que le<br />
progrès scientifique et technique avait anéanti toute manifestation de la vie religieuse. L’exil de la<br />
religion dans la société séculière est peut-être pour demain. Dans les conditions présentes, on se trouve<br />
bel et bien, même dans les civilisations plus matérialistes, devant une sorte de religion diffuse qui<br />
n’avoue pas son nom“; ebd.<br />
122 „[...] que le triomphe de la rationalité scientifique ait libéré l’homme moderne des structures de<br />
comportement ou des formes de mentalité attribuées aux sociétés ,archaïques‘ “; a.a.O., S. 59 (African<br />
Cry, S. 45).<br />
123 „C’est une illusion de croire que le développement de l’homme, en Afrique, consiste à passer de la<br />
mentalité magico-religieuse à la mentalité scientifique et technique. Bien plus, c’est là une<br />
problématique du sous-développement qui relève de l’idéologie, non de la science. [...] Tout se passe<br />
comme s’il existait une civilisation ,providentielle‘: les sociétés ,traditionnelles‘, soucieuses d’harmonie<br />
et de conformité avec le passé auraient besoin de l’Occident pour devenir dynamiques, critiques et<br />
historiques: tous les traits qui portent la marque de l’Esprit qui, depuis la Grèce, s’est incarné selon<br />
Hegel dans l’histoire européenne. L’Occident serait donc là pour combler ce qui manque aux sociétés<br />
différentes“; ebd.
2 Der Kontext der théologie sous l’arbre 91<br />
die afrikanischen Religionen nun wirklich nicht verantwortlich gemacht werden können.<br />
124<br />
Jean-Marc Ela sieht hinsichtlich des „Entwicklungsproblems“ die zentrale Aufgabe für<br />
die AfrikanerInnen in der Überwindung ihrer Entfremdung und gerade nicht in der<br />
Abschaffung ihrer Religion, die sehr wohl einen wichtigen Faktor bei der Lösung der<br />
Probleme darstellt:<br />
<strong>Das</strong> Hauptproblem des beherrschten Menschen ist es nicht, sich zu „entprimitivieren“<br />
oder ein gewisses Niveau der „Zivilisation“ zu erreichen, um in die<br />
Phase der Entwicklung einzutreten, sondern sich von jeder Form der durch den<br />
Weltimperialismus <strong>auf</strong>gezwungenen Entfremdung freizumachen. Die afrikanischen<br />
Traditionen sind nur scheinbar eine Bremse für soziale Veränderungen. In<br />
Wirklichkeit findet der schwarze Bauer im Bewußtsein seiner Identität die<br />
Gründe dafür, ein Entwicklungsmodell abzulehnen, das einen ökonomischen<br />
Surplus erzeugt, den sich die ausländischen Kapitalisten und die Bürokratien<br />
vor Ort teilen. Ausgehend von ihrem religiösen Leben haben die afrikanischen<br />
Völker immer gegen die ausländische ökonomische, politische und kulturelle<br />
Beherrschung gekämpft. In Verhältnissen, die durch die koloniale Situation gekennzeichnet<br />
sind, führt nichts dazu, aus der Religion das zu machen, was Marx<br />
„das Opium des Volkes“ nennt. 125<br />
Im afrikanischen Kontext ist es angesichts der praktischen Erfahrungen mit der Religion<br />
für Jean-Marc Ela völlig abwegig, die Religionskritik zum Ausgangspunkt einer<br />
jeglichen Kritik der Ökonomie und der Politik zu machen. Er sieht die Rolle der Religion<br />
in Schwarzafrika nicht darin, „Opium des Volkes“, sondern - gerade im Gegenteil<br />
- eine Quelle des Widerstandes gegen den Kolonialismus zu sein:<br />
Seit der Periode der Sklaverei waren - in Afrika wie in Amerika - die Religionen<br />
der Schwarzen niemals ein Hindernis für ihre Kämpfe. Sie waren vielmehr -<br />
gerade für diese Kämpfe - das Bindemittel für den kulturellen Zusammenhalt<br />
und eine Waffe, die gegen die Unterdrückung eingesetzt <strong>wurde</strong>. Auf dem Höhepunkt<br />
der Kolonisierung erhoben sich Tausende politisch-religiöser Bewegungen<br />
nicht nur gegen die christlichen Missionen, sondern auch gegen die koloniale<br />
Herrschaft. In dem Maße, wie die Religion der Bereich war, in dem die<br />
westliche Beherrschung am schärfsten empfunden <strong>wurde</strong>, weil sie die traditio-<br />
124 Auch wenn die afrikanischen Religionen nicht für die Fremdherrschaft verantwortlich gemacht werden<br />
können, sie diesbezüglich sogar eine kritische Funktion ausübten, so muß doch gefragt werden, in welcher<br />
Beziehung sie zu den verschiedenen innerafrikanischen Herrschaftsformen standen, und insbesondere,<br />
wie sie sich zum innerafrikanischen Sklavenhandel verhalten haben (<strong>auf</strong> diese Fragen gibt<br />
Jean-Marc Ela leider keine Antwort).<br />
125 „Car le problème majeur de l’homme dominé, ce n’est pas de se ,déprimitiviser‘ ou d’atteindre un certain<br />
niveau de ,civilisation‘ pour entrer dans la phase du développement mais d’échapper à toute forme<br />
d’aliénation imposée par l’impérialisme mondial. Les traditions africaines ne constituent qu’en<br />
apparence un frein aux changements sociaux. En réalité c’est dans la conscience de son identité que le<br />
paysan noir trouve les raisons de refuser un modèle de développement générateur d’un surplus<br />
économique que se partagent les capitalistes étrangers et les bureaucraties locales. Or, à partir de leur<br />
vie religieuse, les peuples africains se sont toujours battus contre la domination économique, politique et<br />
culturelle étrangère. Dans une conjoncture marquée par la situation coloniale, rien ne conduit à faire<br />
de la religion ce que Marx appelle ,l’opium du peuple‘“; a.a.O., S. 59f (African Cry, S. 45f).
2 Der Kontext der théologie sous l’arbre 92<br />
nelle Art und Weise des kulturellen Zusammenhaltes darstellte, <strong>wurde</strong> es zur<br />
Bestimmung des religiösen Lebens, die Stütze für jeden Protest gegen die Kolonisierung<br />
zu werden. 126<br />
Um diese These zu belegen, verweist Jean-Marc Ela mit Nachdruck <strong>auf</strong> die Bedeutung<br />
und die Rolle der religiösen Messianismen in der afrikanischen Geschichte. In diesem<br />
Zusammenhang ist es nicht möglich, sich mit Marx’ Analysen des europäischen Christentums<br />
im 19. Jahrhundert zufrieden zu geben:<br />
Nicht nur, daß diese Analysen „veraltet“ sind, sie tragen insbesondere das<br />
Merkmal eines Ethnozentrismus, dem der Marxismus nicht entgeht. Wie kann<br />
am Ende des 19. Jahrhunderts behauptet werden, daß die Religion das „Opium<br />
des Volkes“ ist, wenn - zur Zeit der Imperien - das Religiöse der Ort des Kampfes<br />
für die Befreiung der Unterdrückten ist? Denn das, was sich durch die religiösen<br />
Bewegungen der unterdrückten Völker durchgehend bestätigt, ist nicht<br />
bloß die Bemühung um die Wiederherstellung der traditionellen sozialen Ordnung,<br />
die durch die Kolonisierung zerstört <strong>wurde</strong>; es ist - viel radikaler - die<br />
Wiederergreifung der Initiative, die unter dem Schock durch die koloniale Gewalt<br />
zerbrochen war. 127<br />
Weit davon entfernt, „Opium des Volkes“ zu sein, stellten die religiösen Bewegungen<br />
den Kolonialismus und die kulturelle und politische Vorherrschaft des Westens grundlegend<br />
in Frage. Ausgehend von der religiösen Frage werfen diese Bewegungen zwei<br />
grundlegende Probleme <strong>auf</strong>: zum einen das Problem der Konfrontation zwischen unterdrückten<br />
und herrschenden Klassen und zum anderen das der Konfrontation zwischen<br />
zwei verschiedenen Typen von Kultur - wobei „die Sphäre des Religiösen in der<br />
Geschichte des modernen Afrika sich als der Ort par excellence der kulturellen Konfrontation<br />
und des politischen Kampfes herausgestellt hat“ 128 .<br />
Jean-Marc Ela geht es hier weniger um eine Apologie afrikanischer politisch-religiöser<br />
Bewegungen, sondern mehr um die Betonung der Unangemessenheit pseudowissenschaftlicher<br />
Analysen, die in jeder Religion pauschal ein Hindernis für die Befreiung<br />
des Menschen sehen, ohne deren tatsächliche Wirksamkeit im jeweiligen konkreten<br />
historischen Kontext angemessen in Betracht zu ziehen. Im Kontext der kolonialen<br />
126 „Depuis la période esclavagiste, en Afrique comme en Amérique, les religions des Noirs n’ont jamais été<br />
des obstacles à leur luttes, mais furent, pour ces luttes mêmes, ciment de cohésion culturelle et armes<br />
utilisées contre l’oppression. Au plus fort de la colonisation, des milliers de mouvements politicoreligieux<br />
ne se sont pas seulement dressés contre les missions chrétiennes mais aussi contre le pouvoir<br />
colonial. Dans la mesure où la religion était le domaine où la domination occidentale était le plus<br />
vivement ressentie, puisqu’elle constituait le mode traditionnel de cohésion culturelle, la vie religieuse<br />
était destinée à devenir le support de toute contestation de la colonisation“; a.a.O., S. 60 (African Cry, S.<br />
46).<br />
127 „Non seulement ces analyses ,datent‘ mais elles portent la marque d’un ethnocentrisme auquel le<br />
marxisme n’échappe pas. Comment affirmer, en plein XIX e siècle, que la religion est ,l’opium du peuple‘<br />
lorsqu’en Afrique, au temps des empires, le religieux est le lieu du combat pour la libération des<br />
opprimés? Car à travers les mouvements religieux des peuples opprimés, ce qui s’affirme, ce n’est pas<br />
seulement un effort de restructuration de l’ordre social traditionnel détruit par la colonisation, c’est,<br />
plus radicalement, une reprise de l’initiative brisée sous le choc des puissances coloniales“; a.a.O., S. 61<br />
(African Cry, S. 46).<br />
128 „[...] la sphère du religieux est apparue, dans l’histoire de l’Afrique moderne, comme le lieu privilégié<br />
d’un affrontement culturel et d’un combat politique“; ebd. (African Cry, S. 47).
2 Der Kontext der théologie sous l’arbre 93<br />
Situation war es gerade die Religion, welche die Entstehung eines kritischen Bewußtseins<br />
ermöglichte: <strong>„Der</strong> messianische Protest in der kolonialen Situation bezeugt - in<br />
Wirklichkeit -, daß die im afrikanischen Milieu gelebte und erlebte Religion der Ort<br />
gewesen ist, an dem sich ein kritisches Bewußtsein herausbildete.“ 129<br />
Die Messianismen, die während der letzten hundert Jahre in Afrika entstanden (z.B.<br />
der <strong>auf</strong> Simon Kimbangu zurückgehende Kimbanguismus im Kongo 130 ), verkörpern<br />
dieses kritische Bewußtsein insofern, als sie einen Versuch einer umfassenden Interpretation<br />
der Situation Afrikas in <strong>einem</strong> Kontext der Beherrschung darstellen:<br />
Innerhalb des kolonialen Systems, in dem die Kulturen <strong>auf</strong>einanderprallen, ist<br />
der Messianismus ein verzweifelter Versuch, all die Zwänge gemeinsam zu reflektieren,<br />
die durch die verschiedenen Formen der Unterdrückung <strong>auf</strong>erlegt<br />
worden sind. Da, wo ein schwarzer Prophet <strong>auf</strong>taucht, erwacht ein neues Bewußtsein<br />
des Menschen und seiner historischen Situation. Der Messianismus<br />
wird in einer beherrschten Gesellschaft geboren, die sich über ihre abhängige<br />
Situation bewußt wird. Die aus der Predigt eines aus ihrem Milieu stammenden<br />
Propheten hervorgegangene Gemeinschaft widmet ihr vorrangiges Interesse der<br />
Situation der Gewalt, der sie unterworfen ist, und sucht <strong>auf</strong> der politischreligiösen<br />
Ebene eine Lösung für ihre Konflikte. 131<br />
So verkörpern die unabhängigen Kirchen, die sich von ihren Mutterkirchen loslösen,<br />
sowohl eine kritische Analyse der kolonialen Situation als auch die Absage an eine<br />
unterdrückerische und entfremdende Gesellschaft. Im übrigen belegen die Angriffe <strong>auf</strong><br />
die messianischen Bewegungen und die Verfolgung der afrikanischen Religionen<br />
129 „En réalité, la protestation messianique dans la situation coloniale atteste que la religion vécue en milieu<br />
africain a été le lieu où s’élabore une conscience critique“; ebd.<br />
130 Vgl. dazu z.B. WERNER USTORF, Afrikanische Initiative. <strong>Das</strong> aktive Leiden des Propheten Simon Kimbangu<br />
(Studien zur interkulturellen Geschichte des Christentums; Bd. 5), Bern (Herbert Lang), Frankfurt am<br />
Main (Peter Lang), 1975. Er charakterisiert den Kimbanguismus folgendermaßen: „Nur für wenige<br />
Monate wirkte 1921 [...] Simon Kimbangu (1889-1951) als Heiler, Prediger und Prophet im Unteren<br />
Kongo (Belgisch-Kongo). Der von Kimbangu hervorgerufene und trotz kolonialer Repressionsmaßnahmen<br />
stark expandierende Kimbanguismus bedeutete einen tiefgreifenden Versuch, die unter der<br />
Fremdherrschaft erfahrene politische Entmündigung, die Zerstörung kultureller und sozialer Bindungen<br />
[...] sowie die allgemeine Bedrohung von Krankheit und Tod, gegen die sich viele Afrikaner weder<br />
durch die diskreditierte traditionelle Religion noch durch das Missionschristentum ausreichend geschützt<br />
fühlten, <strong>auf</strong> dem Wege christlicher, <strong>auf</strong> die konkret-afrikanische Leidenssituation bezogener<br />
Heilsgewißheit zu überwinden und dadurch sinnhafte Ganzheit menschlicher Existenz wiederherzustellen.<br />
[...] Kimbangu formulierte erstmals für die ländlichen Massen des Kongo den entwürdigenden<br />
Zustand einer anmaßenden weißen Dominanz und den Anspruch der Unterdrückten <strong>auf</strong> Würde und<br />
Selbstbestimmung, was sich in der Gründung einer unabhängigen schwarzen Kirche, eigener Schulen<br />
und vor allem in <strong>einem</strong> direkt-afrikanischen, außerhalb der Missionskirche gewonnenen Zugang zum<br />
Gott der Schrift ausdrückte. Indem Kimbangu den Tatbestand erzwungener Inferiorität und deren<br />
Überwindung in Worte und Handlungen faßte [...] - und zwar in der afrikanischen Interpretation biblischer<br />
Vorstellungen -, <strong>wurde</strong> die Situation für die Afrikaner gedanklich überhaupt erst bewußt und<br />
<strong>auf</strong>hebbar“ (S. 34f).<br />
131 „A l’intérieur du système colonial où s’affrontent les cultures, le messianisme est une tentative<br />
désespérée pour penser ensemble toutes les contraintes imposées par les formes multiples d’oppression.<br />
Là où surgit un prophète noir, là s’éveille une nouvelle conscience de l’homme et de sa situation<br />
historique. Le messianisme naît dans une société dominée qui prend conscience de sa situation<br />
dépendante. La communauté, née de la prédication d’un prophète issu du milieu, s’intéresse à la<br />
situation de violence qui lui est faite et elle cherche au plan politico-religieux une solution à ses<br />
conflits“; Le Cri de l’homme Africain, S. 61f (African Cry, S. 47).
2 Der Kontext der théologie sous l’arbre 94<br />
durch die Kolonialmacht, daß immerhin die Repräsentanten der herrschenden Ordnung<br />
deren subversiven Charakter sehr wohl wahrnahmen:<br />
Seinen Einfluß in Erwägung ziehend, konnte die Kolonialmacht den Bereich<br />
des Religiösen nicht sich selbst überlassen; sie kontrollierte ihn und suchte, ihn<br />
zu zerstören in dem Maße, wie sich hinter den Versuchen zur Versöhnung der<br />
Bibel mit der ancestralen Tradition Kräfte der Befreiung verbargen. In dem<br />
Moment, als das offizielle Christentum in der Institution versackte und durch<br />
das koloniale System domestiziert <strong>wurde</strong>, bestätigen die Messianismen den Willen<br />
nach Afrikas Autonomie und Unabhängigkeit. 132<br />
Insofern sich in diesen religiösen Bewegungen Elemente der Befreiung äußern - was<br />
der Marxismus jeder Religion abspricht - und sie sich somit als eine soziale Kraft erweisen,<br />
läßt sich Religion nicht <strong>auf</strong> die Beziehung zum „Übernatürlichen“ reduzieren.<br />
Aus der Religion schöpfen die Menschen ihre Kraft zum Widerstand gegen die herrschende<br />
Ordnung. So ist es nicht verwunderlich, daß die Messianismen die erste Form<br />
des Widerstandes gegen den Kolonialismus, gegen Unterdrückung und Beherrschung<br />
waren. In ihnen äußerte sich in den Formen eines religiösen Lebens - und insbesondere<br />
durch die Verschmelzung biblischer Einflüsse mit lokalen afrikanischen Traditionen -<br />
„der gewaltige Schrei der Unterdrückten“ 133 des kolonisierten Afrikas. Dabei kam es<br />
zu einer Wiederentdeckung und zu einer Rückeroberung des befreienden Charakters<br />
der Offenbarung, der biblischen Tradition und des biblischen Gottes durch die afrikanischen<br />
religiösen Bewegungen - den zur Geltung zu bringen, das Christentum in Afrika<br />
durch den Kolonialismus verhindert war:<br />
Die prophetischen Bewegungen erhoben sich gegen die koloniale Beherrschung<br />
<strong>auf</strong> der Basis einer Wiedergewinnung der befreienden Elemente des biblischen<br />
Christentums. Dies implizierte eine Infragestellung des Gottes der missionarischen<br />
Predigt. Die Afrikaner haben den Verdacht, daß dieser Gott „entfremdet“<br />
war in dem Maße, als er in die koloniale Ordnung integriert war. Seine Macht<br />
bedeutet für die Einheimischen nicht Befreiung, sondern ökonomische Unterdrückung,<br />
kulturelle und politische Entfremdung, Verachtung und Rassismus.<br />
Die Anklage des westlichen Imperialismus beruht <strong>auf</strong> einer Reinterpretation der<br />
Botschaft der Bibel, die ausgeht von der kolonialen Situation; sie fordert die<br />
Suche nach <strong>einem</strong> Gott-für-die-Emanzipation-der-Schwarzen, der seine Sprecher<br />
unter den Afrikanern selbst hat. Den schwarzen Propheten ging es nicht eigentlich<br />
darum, zum Gott der Ahnen zurückzukehren, sondern die Botschaft des<br />
Evangeliums im afrikanischen Kontext zu Gehör zu bringen. 134<br />
132 „Compte tenu de son influence, le pouvoir colonial ne pouvait laisser le champ du religieux à lui-même;<br />
il le contrôle et cherche à le démolir dans la mesure où, à travers les essais de réconciliation de la Bible<br />
et de la tradition ancestrale, se dissimulent des forces de libération. Au moment où le christianisme<br />
officiel s’enlise dans l’institution et se trouve domestique par le système colonial, les messianismes<br />
affirment la volonté d’autonomie et d’indépendance de l’Afrique“; a.a.O., S. 62 (African Cry, S. 47f).<br />
133 „[...] l’immense cri des opprimés“; a.a.O., S. 63 (African Cry, S. 48).<br />
134 „Or les mouvements prophétiques se dressent contre la domination coloniale à partir d’une reprise des<br />
éléments libérateurs du christianisme biblique. Ils impliquent une mise en question du Dieu de la<br />
prédication missionnaire. Les Africains soupçonnent que ce Dieu a été ,aliéné‘ dans la mesure où il a été<br />
intégré à l’ordre colonial. Sa puissance ne signifie pas libération mais oppression économique,
2 Der Kontext der théologie sous l’arbre 95<br />
Jean-Marc Ela interpretiert die messianischen Bewegungen also als einen ersten Ansatz<br />
einer kontextuellen afrikanischen Befreiungstheologie - auch wenn er selbst es nicht<br />
explizit so formuliert. Am nächsten kommt er dieser Terminologie, wenn er schreibt,<br />
daß die Lektüre der Bibel in den schwarzen Gemeinschaften, die aus der Predigt autochthoner<br />
Propheten entstanden sind, eine wirkliche Bemühung um eine „Kontextualisierung“<br />
darstellt, die der konkreten Situation bzw. der afrikanischen Wirklichkeit<br />
tatsächlich Rechnung trägt 135 - auch wenn diese uns heute naiv erscheinen mag. Im<br />
Vordergrund steht dabei das Thema des „Heils“:<br />
Was in dieser Hinsicht in den messianischen Bewegungen erstaunt, ist der unerwartete<br />
Gebrauch des Themas des „Heils“, das in der missionarischen Predigt<br />
ausgiebig entfaltet worden war. Der Messias erscheint weniger als der „Vermittler<br />
der Gnade“ denn als „Befreier“ der Unterdrückten. Von ihm wird aber nicht<br />
die Gnade eines Heils im Jenseits erwartet, sondern ein Mehr an Leben, das sich<br />
konkret ausdrückt in der Form des Glücks im Heute. 136<br />
Laut Jean-Marc Ela gab die Begegnung Afrikas mit der Bibel für ganze Gemeinschaften<br />
den Anstoß, Wege der Befreiung zu gehen und ihren Status als historische Subjekte<br />
wiederzuerlangen. Gleichzeitig entwickelten diese Gemeinschaften in ihrem ganz bestimmten<br />
historischen Kontext eine neue Sprache des Evangeliums bzw. eine afrikanische<br />
Ausdrucksweise des Glaubens. Die Lektüre der Bibel ließ aus dem Leben der<br />
schwarzen Gemeinschaften heraus eine - von den Mutterkirchen bisher unbekannte -<br />
Protestbewegung entstehen, die den biblischen Protest gegen Ungerechtigkeit und<br />
Unterdrückung aktualisiert, obwohl doch die Missionen den AfrikanerInnen die in der<br />
Offenbarung des Exodus-Gottes verankerte Botschaft der Befreiung verschwiegen<br />
hatten. Dieses Verschweigen - in Verbindung mit <strong>einem</strong> Predigen von Resignation und<br />
Fatalismus - führte dazu, daß es den schwarzen Propheten so vorkommen mußte, als<br />
hätten die Kolonialkirchen Gottes Offenbarung - die Offenbarung eines Gottes, der<br />
Partei ergreift für die Armen und Unterdrückten - zugunsten des Systems der Beherrschung<br />
konfisziert.<br />
Unbezweifelbar verkörpern diese religiösen Bewegungen für die etablierten Kirchen<br />
Formen von „Synkretismus“, was es ihnen schwerfallen läßt, ihren Glauben in diesen<br />
wiederzuerkennen. Aber Jean-Marc Ela fordert nachdrücklich dazu <strong>auf</strong>, trotz der unausweichlichen<br />
Synkretismen den ursprünglichen Impuls nicht zu übersehen, der uns<br />
aliénation culturelle et politique, mépris et racisme pour les indigènes. La mise en procès de<br />
l’impérialisme occidental repose sur une réinterprétation du message de la Bible à partir de la situation<br />
colonial; elle postule la recherche d’un Dieu-pour-l’émancipation-des-Noirs qui a ses porte-parole<br />
parmi les Africains eux-mêmes. Les prophètes noirs n’aspirent pas à revenir aux Dieu des Ancêtres mais<br />
à faire entendre, dans un contexte africain le message de l’Evangile“; ebd.<br />
135 Ähnlich sieht dies auch ENGELBERT MVENG in bezug <strong>auf</strong> die unabhängigen Kirchen Afrikas: „The Independent<br />
Churches are the first to have raised the two crucial questions of: 1.) the African reading of the<br />
Bible, and 2.) the relevance of the Gospel to the concrete situation of the black oppressed people“; African<br />
Theology: A Methodological Approach, Voices from the Third World 18, Nr. 1 (1995), 106-116, S.<br />
113.<br />
136 „Dans cette perspective, ce qui frappe dans les mouvements messianiques, c’est une utilisation<br />
inattendue du thème du ,salut‘ abondamment développé dans la prédication missionnaire. Le Messie<br />
apparaît moins comme ,médiateur de grâce‘ que ,libérateur‘ des opprimés. On attend de lui non pas la<br />
grâce d’un salut dans l’au-delà, mais un surcroît de vie, concrètement signifié dans une forme de<br />
bonheur pour aujourd’hui“; ebd. (African Cry, S. 48f).
2 Der Kontext der théologie sous l’arbre 96<br />
mitten ins Zentrum der evangelischen Botschaft führt und diese messianischen bzw.<br />
prophetischen Bewegungen zu einer Herausforderung für die etablierten Kirchen werden<br />
läßt. Denn diese Bewegungen - die zu einer Dimension der Religionen Afrikas<br />
geworden sind, die im Kontakt mit der Bibel die Situation der Menschen in <strong>einem</strong><br />
Kontext der Beherrschung neu überdenken, und die eine Symbolik des Glaubens entwickeln,<br />
die den afrikanischen Traditionen gerecht wird - „bieten eine Antwort <strong>auf</strong><br />
eine doppelte Notwendigkeit, die von den offiziellen Kirchen lange Zeit verkannt <strong>wurde</strong>“:<br />
Auf der einen Seite ist dies die Notwendigkeit der „Inkarnation der (biblischen)<br />
Botschaft“ im jeweiligen historischen Kontext, und <strong>auf</strong> der anderen Seite ist es die<br />
Notwendigkeit, „ihre Kraft der Befreiung in <strong>einem</strong> beherrschten Kontinent zur Geltung<br />
zu bringen“. 137<br />
In <strong>einem</strong> Kontext, in dem die AfrikanerInnen im Kontakt mit der europäischen Kultur<br />
lange Zeit den Mythos ihrer Verfluchung internalisiert hatten, stellen die Messianismen<br />
in der Tat eine Herausforderung dar für ein Christentum, das sich <strong>auf</strong> einen moralischen<br />
Code reduziert, der sich in einer Reihe von Riten und Verboten erschöpft. Die<br />
schwarzen Propheten, die sich präsentieren als von Gott be<strong>auf</strong>tragt mit der Verkündigung<br />
der Botschaft der Befreiung für die AfrikanerInnen, stellen dieses moralisierende<br />
Christentum grundsätzlich in Frage. Hierin sieht Jean-Marc Ela auch den Grund für das<br />
Entstehen der unabhängigen Kirchen. Genauer: „Es ist die Unfähigkeit der europäischen<br />
Kirchen, die befreiende Kraft des Evangeliums <strong>auf</strong>zudecken, was die Geburt und<br />
die Entwicklung der unabhängigen Kirchen erklärt.“ 138<br />
Auch wenn Jean-Marc Ela die afrikanische Religion hier in erster Linie in ihren positiven<br />
Aspekten hervorhebt, Vorurteile über die Rolle der Religion im Kontext der afrikanischen<br />
Geschichte aus dem Weg räumen will und sie als eine Herausforderung an<br />
das offizielle Christentum darstellt, so verkennt er dennoch nicht die Gefahren, denen<br />
so viele messianische Bewegungen erlegen sind. Diese bildeten neue Hierarchien heraus<br />
und lenkten ihren Kampf gegen das Imaginäre, gegen spirituelle Feinde, was sie<br />
dafür anfällig machte, selbst durch die reaktionärsten Regimes ausgenutzt zu werden,<br />
wenn sie sich nicht sogar von selbst in deren Dienst stellten - wie es z.B. hinsichtlich<br />
des Kimbanguismus in Zaire 139 der Fall ist. Durch die Institutionalisierung droht die<br />
Bewegung zu zerbrechen und das prophetische Element zu ersticken. Gleichwohl repräsentieren<br />
die messianischen Bewegungen „die Inkarnation des biblischen Prophetismus<br />
in einer bestimmten Geschichte - in der des zeitgenössischen Afrika“ 140 .<br />
137 Im Zusammenhang heißt es: „Ils [les mouvements prophétiques] apportent une réponse à une double<br />
exigence que le christianisme officiel a longtemps méconnue: l’incarnation du message et la mise en<br />
valeur de sa force de libération dans un continent dominé“; a.a.O., S. 64 (Dieser Passus fehlt in der<br />
englischen Übersetzung).<br />
138 „C’est l’impuissance des Eglises européennes à révéler la puissance libératrice de l’Evangile qui explique<br />
la naissance et le développement des Eglises indépendantes“; a.a.O., S. 65 (African Cry, S. 50).<br />
139 WERNER USTORF spricht von einer „Umkehrung der Position“: „aus der unterdrückten Bewegung ist eine<br />
etablierte Kirche geworden; die Gegnerschaft zum Bestehenden wechselte über in die Erhaltung des Status<br />
quo“ (a.a.O., S. 51).<br />
140<br />
„[...] l’incarnation du prophétisme biblique dans une histoire déterminée, celle de l’Afrique<br />
contemporaine“; ebd.
2 Der Kontext der théologie sous l’arbre 97<br />
2.4 Die Ahnenverehrung in Schwarzafrika<br />
Nach Theo Sundermeier könnte der „Kern afrikanischer Religionen“ so zusammengefaßt werden:<br />
„Am Anfang war das Leben. Und das Leben war bei dem einen, alles umfassenden Gott.<br />
Und Gott gab den ersten Menschen, den Stammesgründern, das Leben. Er gab ihnen den Auftrag,<br />
das Leben zu bewahren und zu mehren. Habsucht und Gier der Menschen führten aber<br />
dazu, daß sich Gott verärgert in weite Fernen zurückzog. Nun hat niemand mehr Zugang zu ihm<br />
als die Ahnen und besonders ermächtigte Mittler.“ 141 Abgesehen davon, daß laut dieser Charakterisierung<br />
- und wie es ebenfalls viele afrikanische Mythen <strong>auf</strong> verschiedene Weise nahelegen -<br />
im „alten“ Afrika auch nicht alles reine Harmonie gewesen sein und nur ungetrübte Einigkeit<br />
unter den Menschen geherrscht haben kann, stellt diese insbesondere die Bedeutung der Ahnen<br />
für die traditionellen afrikanischen Religionen heraus. Und insofern diesen Religionen der westliche<br />
Dualismus zwischen Sakralem (Religion) und Profanem (Gesellschaft, Wirtschaft und<br />
Politik) unbekannt ist, darf angenommen werden, daß die Ahnen auch im gesamten gesellschaftlichen<br />
Leben eine zentrale Stellung einnehmen. Laut Theo Sundermeier gehört die Ahnenverehrung<br />
wesentlich zum Lebensgefühl der (Schwarz-)AfrikanerInnen.<br />
Bei Jean-Marc Elas Darstellung der Ahnenverehrung in Afrika ist zu berücksichtigen, daß sie<br />
sich an deren Vereinbarkeit mit dem christlichen Glauben orientiert. Sie ist <strong>auf</strong>genommen als 2.<br />
Kapitel in Ma foi d’Africain: „Les ancêtres et la foi chrétienne“ (35-56). 142 Es geht Jean-Marc<br />
Ela hierbei nicht darum, die Ahnenverehrung in all ihren Ausdifferenzierungen und verschiedenen<br />
Manifestationen zu beschreiben, sondern in erster Linie „die Grundstruktur des Ahnenkultes<br />
in Schwarzafrika“ 143 herauszuarbeiten.<br />
Jean-Marc Ela bestätigt die weite Verbreitung der Ahnenverehrung in Afrika und ihre<br />
Bedeutung:<br />
Es ist selten, daß in Schwarzafrika die Toten - nach den Begräbniszeremonien,<br />
die entsprechend dem jeder Ethnie eigenen Ritual abl<strong>auf</strong>en - nicht durch irgendeinen<br />
Kult geehrt würden. In verschiedenen traditionellen Gesellschaften ist der<br />
Kult/die Verehrung 144 der Toten vielleicht der Aspekt der Kultur, dem der Afrikaner<br />
sich am stärksten verbunden fühlt; er stellt ein Erbe dar, an dem mehr als<br />
an allem anderen festgehalten wird. 145<br />
Um den tieferen Sinn der Ahnenverehrung und die Leitidee, die sie verkörpert, zu<br />
verstehen, ist es notwendig, sich die Bedeutung der Zeichen zu vergegenwärtigen,<br />
welche die AfrikanerInnen an die Gegenwart der Ahnen im Verl<strong>auf</strong> ihres Lebens und<br />
141 THEO SUNDERMEIER, Art. Afrika, in: Ökumene-Lexikon (1987 2 ), 15-24, Sp. 15f.<br />
142 „Die Ahnen und der christliche Glaube“; Mein Glaube als Afrikaner, 26-46. Dieser Artikel <strong>wurde</strong> zuerst<br />
veröffentlicht unter dem Titel „Les Ancêtres et la foi chrétienne: une question africaine?“, in: Concilium<br />
122 (1977) (Die Ahnen und der christliche Glaube: Eine afrikanische Frage, Concilium 13 (1977), 84-<br />
94).<br />
143 „[...] la structure fondamentale du culte des ancêtres en Afrique noire“; Ma foi d’Africain, S. 36 (Mein<br />
Glaube als Afrikaner, S. 27).<br />
144 In Ma foi d’Africain, S. 42f (Mein Glaube als Afrikaner, S. 33f), stellt Jean-Marc Ela klar, daß der von<br />
ihm verwendete Begriff „culte“ in bezug <strong>auf</strong> die Ahnenverehrung im Grunde unzutreffend ist, insofern<br />
es hierbei nicht um einen „religiösen“ Akt geht, sondern um eine symbolische Gemeinschaftserfahrung<br />
<strong>auf</strong> dem Hintergrund des afrikanischen Verständnisses des Menschen und des Todes. Ich übersetze diesen<br />
Begriff deshalb mit „Verehrung“.<br />
145 „[...] il est rare qu’en Afrique noire les morts, après les funérailles qui se déroulent selon des rituels<br />
propres à chaque ethnie, ne soient honorés d’aucun culte. Dans plusieurs sociétés traditionnelles, le<br />
culte des morts est peut-être l’aspect de la culture auquel l’on tient par-dessous tout“; a.a.O., S. 36.
2 Der Kontext der théologie sous l’arbre 98<br />
in der Struktur ihrer Existenz erinnern. In dieser Hinsicht hat der neue Name eine große<br />
Bedeutung, der im Verl<strong>auf</strong> der Initiation verliehen wird, „die nicht nur eine aus<br />
Gesten und Symbolen bestehende Sprache darstellt, sondern auch eine entscheidende<br />
Erfahrung ist, bei der sich ein Wandel des ontologischen Status vollzieht, der einhergeht<br />
mit der Verleihung einer Weise des Seins in der Welt in Beziehung zu den Ahnen.“<br />
146<br />
Jean-Marc Ela erwähnt insbesondere die Existenz einer Familiengruft „in der Konfiguration<br />
des erlebten Raumes“ 147 . Die Bedeutung des Grabes in Schwarzafrika erklärt er<br />
so:<br />
Für die afrikanische Mentalität ist ein Grab eine Konzentration der Gegenwart<br />
des Unsichtbaren; der Friedhof, <strong>auf</strong> dem die Ahnen ruhen, ist ein geheiligter<br />
Ort. Hier bringt man ihnen Opfergaben dar und fragt sie in schwierigen Situationen<br />
um Rat. Bei den Bantu wird der feierlichste Eid über ihren Gräbern geleistet.<br />
148<br />
Darüber hinaus gibt es im Rahmen der - im Dienst der Ahnenverehrung stehenden -<br />
Kunst Schwarzafrikas die Statuen und Masken von Ahnen, die jedoch - so betont Jean-<br />
Marc Ela gegenüber <strong>einem</strong> landläufigen Mißverständnis von EuropäerInnen - keine<br />
„Fetische“ sind:<br />
Die Statue und die Maske sind bildliche Darstellungen, aber sie sind dies <strong>auf</strong><br />
der menschlichen und nicht <strong>auf</strong> der göttlichen Ebene; eine Statue wird nicht angebetet,<br />
sie manifestiert die spirituelle Gegenwart des Ahnen. Und die Symbole,<br />
die manchmal <strong>auf</strong> den Ahnenstatuen zu sehen sind, sagen aus, welches die<br />
Macht eines jeden war. <strong>Das</strong> Beispiel ihres Handelns ist eine Ermutigung, ein<br />
Ansporn für die Nachkommen. Auf diese Weise entstand vor Zeiten eine echte<br />
Solidarität zwischen den Generationen. 149<br />
Im gleichen Sinn sind die Masken eine „dramatisierende“ Darstellung der „Gegenwart<br />
des Ahnen unter den Lebenden“. In anderen Gesellschaften kann es auch andere Gegenstände<br />
geben, welche die Ahnen symbolisch vergegenwärtigen. Bei den Bamiléké<br />
(Westkamerun) ist dies z.B. der unter dem Bett begrabene Schädel des Ahnen. Anderswo<br />
wird den Vorfahren auch einfach nur ein Altar errichtet. Bei den Bergbewohnern<br />
in Nordkamerun besitzt jedes Familienoberhaupt (chef de famille) ein Tongefäß,<br />
146 „[...] l’initiation qui constitue non seulement un langage fait de gestes et de symboles mais une<br />
expérience décisive où s’opère un changement de statut ontologique, conférant une manière d’être au<br />
monde en référence aux Ancêtres“; a.a.O., S. 36f (Mein Glaube als Afrikaner, S. 28).<br />
147 „[...] dans la configuration de l’espace vécu“; a.a.O., S. 37 (Mein Glaube als Afrikaner, S. 28).<br />
148 „Pour la mentalité africaine, une tombe est une concentration de la présence de l’invisible; le cimetière<br />
où dorment les Ancêtres est un lieu sacré. C’est là qu’on leur adresse des offrandes et qu’on les consulte<br />
dans les circonstances graves. Chez les Bantous, le serment le plus solennel se fait sur leurs tombes“;<br />
ebd.<br />
149 „La statue et le masque figurent, mais ils le font sur le plan humain et non divin; une statue n’est pas<br />
adorée, elle manifeste la présence spirituelle de l’Ancêtre. Et les symboles qui figurent parfois sur la<br />
statue des Ancêtres disent ce qu’était le pouvoir de chacun. L’exemple de leurs actes est un<br />
encouragement, un stimulant pour les descendants. Ainsi s’établit entre les génération une réelle<br />
solidarité dans le temps“; ebd.
2 Der Kontext der théologie sous l’arbre 99<br />
das seinen Vater oder Großvater repräsentiert 150 und wie diese oft nur „Baba“ (Papa)<br />
genannt wird. Meist steht dieses symbolische Gefäß unter dem Hirsespeicher, der das<br />
Zentrum der Hausanlagen der Kirdi ist. Diese „Ahnentöpfe“ sind nicht nur unentbehrlich<br />
für alle rituellen Formen der Verehrung der Ahnen (Gebete, Opfer, Feste), sie sind<br />
zugleich ein Ausdruck des afrikanischen Verständnisses des Todes.<br />
<strong>Das</strong> afrikanische Denken ist wesentlich geprägt von der grundsätzlichen Überzeugung,<br />
daß die Toten nicht tot sind: Für die AfrikanerInnen „ist der Tod keine Vernichtung<br />
des Seins.“ 151 Sie fürchten laut Jean-Marc Ela weniger den Tod selbst, als vielmehr,<br />
ohne Kinder - und vor allem: ohne Söhne - zu sterben. - Warum eigentlich sind die<br />
AfrikanerInnen so besessen von dem Wunsch nach Kindern? Warum ist Kinderlosigkeit<br />
- bzw. kinderlos zu sterben - für AfrikanerInnen der schlimmste Fluch? Jean-Marc<br />
Ela sieht den tieferen Grund hierfür in der Ahnenverehrung. Sterben, ohne eine Nachkommenschaft<br />
zu hinterlassen, das bedeutet, die familiären Bande abzubrechen. Es<br />
bedeutet insbesondere aber auch, niemanden zu hinterlassen, der seiner gedenkt, keine<br />
Gemeinschaft zu haben, der man angehört: „Ohne Verehrung ist der Tote dazu verdammt,<br />
umherzuirren, jeder Kommunikation mit den Lebenden beraubt.“ 152 Deshalb ist<br />
auch das Tongefäß, das die Toten - symbolisch - vergegenwärtigt, so wichtig: „Es<br />
manifestiert die lebendige Gemeinschaft mit den Ahnen.“ 153<br />
<strong>Das</strong> Ahnengefäß ist in diesem Sinn ein kräftiger Ausdruck für „diese Nähe des Unsichtbaren,<br />
die vielleicht das Gravitationszentrum der afrikanischen religiösen Welt<br />
ist“ 154 . Als Symbol ist es „ein Faktor der Einheit zwischen den Lebenden und den Toten“<br />
155 : „Es ist ein Symbol, dessen Ziel es ist, den Kontakt mit den Ahnen vermittels<br />
einer Beziehung der Bedeutungsgebung (une relation de signification) herzustellen.“ 156<br />
Die Mada in Nordkamerun wenden sich an den „Pra“ - mit dem sie sowohl das Tongefäß<br />
als auch die (rituelle) Verehrung des durch dieses repräsentierten Ahnen bezeichnen<br />
- wie an eine konkrete Person: „Denn zwischen dem symbolisierten Sein und jenem,<br />
das durch die Vermittlung des Symbols mit diesem in Verbindung tritt, entsteht<br />
ein Strom des Austauschs.“ 157 Der „Pra“ ist so ein Medium, ein lebendiges Band (un<br />
150 Der Begriff der „Repräsentation“ darf hier nicht mißverstanden werden im Sinn einer „Stellvertretung“.<br />
<strong>Das</strong> Tongefäß steht nicht für den Vater bzw. Großvater, es verweist nicht bloß - allegorisch - <strong>auf</strong> diese,<br />
sondern läßt sie - <strong>auf</strong> eine symbolische Weise - in der Tat wieder („re-“) gegenwärtig bzw. „präsent“<br />
werden. Diese Gegenwart kann nur durch das Symbol vermittelt werden, das in diesem Sinn gemeinschafts-<br />
und beziehungsstiftend wirkt - wozu eine bloße Bezeichnung (bzw. Allegorie) nicht fähig ist.<br />
151 „Pour l’Africain, la mort n’est pas une annihilation de l’être“; a.a.O., S. 38 (Mein Glaube als Afrikaner, S.<br />
29).<br />
152 „Sans culte, le mort est condamné à errer, privé de toute communication avec les vivants“; ebd.<br />
153 „[...] elle (i.e. la poterie funéraire) manifeste la communion vitale avec les Ancêtres“; ebd.<br />
154 „[...] cette proximité de l’invisible qui est peut-être le centre de gravité de l’univers religieux africain“;<br />
a.a.O., S. 39 (Mein Glaube als Afrikaner, S. 30).<br />
155 „[...] elle constitue un facteur d’unité entre les vivants et les morts“; ebd.<br />
156 „[...] c’est un symbole qui a pour but de mettre en contact avec l’Ancêtre, en vertu d’une relation de<br />
signification“; ebd.<br />
157 „Car il s’établit entre l’être symbolisé et celui qui entre en contact avec lui par la médiation du symbole<br />
un courant d’échange“; ebd. - „Sein“ meint hier wohl kaum den „Gegenstand“ einer Existenzaussage,<br />
sondern eher eine - qua Symbol - erfahrbare „Wirklichkeit“, die sich als erfahrene konstatieren läßt,<br />
nicht jedoch als - vermeintlich - existente beweisen.
2 Der Kontext der théologie sous l’arbre 100<br />
nœud vital), durch das der Ahne mit den Lebendigen in Verbindung treten und einen<br />
direkten Einfluß <strong>auf</strong> sie ausüben kann. 158<br />
Die Ahnenverehrung läßt sich nicht trennen von der globalen Sicht des Menschen und<br />
der Gesellschaft in Schwarzafrika. Diese wiederum ist fest verwurzelt im Kontext der<br />
Verwandtschaft, die allen Bereichen der traditionellen afrikanischen Gesellschaft<br />
zugrunde liegt:<br />
Die Verwandtschaft läßt sich als ein umfassendes Handlungssystem definieren,<br />
das die Individuen in <strong>einem</strong> koordinierten Netzwerk von wechselseitigen Aktionen<br />
und Reaktionen organisiert. Dies ist, wie es scheint, der Hintergrund, der<br />
die Gesamtheit von Beziehungen und Verhaltensweisen erhellt, die in Afrika<br />
die Gemeinschaft zwischen den Lebenden und den Toten zum Ausdruck bringen.<br />
159<br />
Der Kontext, in dem die Ahnenverehrung zu verstehen ist, ist also die afrikanische<br />
Familie, „die die Grundlage der Kultur ist“ 160 . Zu dieser Familie gehören auch die<br />
Toten. Der Sinn der Ahnenverehrung liegt von daher zum einen darin, die Gemeinschaftsbeziehungen<br />
zwischen den Lebenden und den Toten <strong>auf</strong>rechtzuerhalten: „Dank<br />
des Verwandtschaftssystems bleiben die Ahnen mit ihrer Familie verbunden und fahren<br />
fort, die Lebenden zu beschützen, sich um sie zu kümmern und als ihre Vermittler<br />
zu handeln. Gleichzeitig nehmen sie die Achtung und die Sorge der Lebenden entgegen.“<br />
161 Zum anderen besteht der Sinn der Ahnenverehrung darin, die Bindungen zwischen<br />
den Lebenden und die Einheit und den Zusammenhalt einer ethnischen Gruppe<br />
zu bekräftigen. Die Gelegenheiten, bei denen der Ahnen gedacht wird, sind die Geburt,<br />
die Heirat, die Agrarfeste oder auch die kritischen Momente im Leben des einzelnen<br />
oder der gesamten gesellschaftlichen Gruppe. Bei diesen Anlässen realisiert sich nicht<br />
nur die (familiäre) Gemeinschaft zwischen den Lebenden und den Toten, sondern<br />
insbesondere auch die Lebensgemeinschaft derjenigen Menschen bzw. Gruppen, die<br />
vom selben Ahnen abstammen. In diesem Zusammenhang „sind Speise und Trank, die<br />
den Ahnen dargebracht werden, Symbole der Kontinuität der Familie und des fortdauernden<br />
Kontakts“ 162 . Die familiäre Beziehung zu den Ahnen basiert in diesem Sinn <strong>auf</strong><br />
dem Glauben, „daß die zwischen den Mitgliedern einer Familie gewachsene tiefe Ge-<br />
158 Ohne die Bedeutung des Symbols für die afrikanische Kultur in Betracht zu ziehen, läßt sich also kaum<br />
die Struktur der Ahnenverehrung verstehen; zum afrikanischen Symbolismus vgl. ausführlicher Kap.<br />
2.5.<br />
159 „La parenté peut se définir comme un vaste système opératoire organisant les individus au sein d’un<br />
réseau coordonné d’actions et de réactions mutuelles. Tel est, semble-t-il, l’arrière-plan qui éclaire<br />
l’ensemble des relations et des attitudes qui traduisent en Afrique la communion entre les vivants et les<br />
morts“; ebd.<br />
160 „[...] la famille qui est la base de la culture“; a.a.O., S. 40 (Mein Glaube als Afrikaner, S. 31).<br />
161 „Grâce au système de parenté, les Ancêtres restent reliés à leurs familles et continuent à protéger les<br />
vivants, à se soucier d’eux et à agir comme leurs intermédiaires, et en même temps ils accueillent les<br />
égards et les soins des vivants“; ebd.<br />
162 „[...] la boisson et la nourriture offertes aux Ancêtres sont des Symboles de la continuité de la famille et<br />
du contact permanent“; a.a.O., S. 42 (Mein Glaube als Afrikaner, S. 33).
2 Der Kontext der théologie sous l’arbre 101<br />
meinschaft durch den Tod nicht zerrissen wird, sondern trotz des Todes und über ihn<br />
hinaus weiterbesteht“ 163 .<br />
Dieser Akt der Aktualisierung einer umfassenden Verwandtschaftsbeziehung im Kontext<br />
existentieller Situationen und in <strong>einem</strong> kulturellen Kontext, in dem „die Kommunikation<br />
mit dem Unsichtbaren“ 164 einen wesentlichen Aspekt darstellt und die Präsenz<br />
der verstorbenen Familienmitglieder als „Teilhabe der unsichtbaren Welt an der Welt<br />
der Lebenden“ 165 erfahren wird, ist unbezweifelbar „eine Weise der symbolischen Erfahrung“<br />
166 . Es handelt sich dabei um eine „anthropologische“ Realität bzw. - präziser<br />
- um die afrikanische Sicht des Menschen und des Todes. Nach dieser Auffassung ist<br />
das Unsichtbare ebenso real wie das Sichtbare, „die beide untrennbar miteinander<br />
verbunden sind und mittels entsprechender Symbole untereinander kommunizieren“ 167 .<br />
Es darf jedoch nicht verschwiegen werden, daß die Ahnen in Schwarzafrika eine regelrechte<br />
soziale Kontrolle ausüben - „als die authentischen Wächter des Brauchtums“ 168 .<br />
Ein Ahn ist laut Jean-Marc Ela „das symbolische Antlitz des wissenden, strafenden<br />
und belohnenden Vaters“ 169 . Nachlässigkeiten bei der Erfüllung der Pflichten gegenüber<br />
den Verstorbenen stellen eine Störung der Beziehungen im Rahmen der kulturellen<br />
Ordnung dar, deren Garanten die Ahnen sind. In einer „Gesellschaft, die eingebunden<br />
ist in eine kosmische und heilige Ordnung, in der alles zusammenhängt“ 170 , bleiben<br />
solche Beziehungsstörungen nicht ohne Konsequenzen für die Gesundheit der<br />
Menschen oder auch für ihre Fruchtbarkeit oder die Fruchtbarkeit der Erde. In diesem<br />
Zusammenhang haben die „Wahrsager“ (les devins) eine wichtige Funktion, insofern<br />
sie diese Beziehungsstörungen - Konflikte familiärer oder gesellschaftlicher Art - zu<br />
erfassen vermögen und so für deren Bereinigung im Rahmen der afrikanischen Therapie<br />
einen wesentlichen Beitrag leisten. Liegt das Problem bzw. die Krankheitsursache<br />
in der Tat in der Vernachlässigung eines Ahnen, dann wird der „Wahrsager“ in der<br />
Regel zu <strong>einem</strong> Wiedergutmachungsopfer <strong>auf</strong>fordern, das in einer von ihm näher definierten<br />
Speise für den betroffenen Ahnen besteht.<br />
<strong>Das</strong> Wiedergutmachungsopfer für die Ahnen darf nicht als „Götzendienst“ mißverstanden<br />
werden. Die Ahnen treten nicht in Konkurrenz zu Gott: „Gott bleibt der Herr des<br />
163 „[...] la relation avec les Ancêtres consiste dans la croyance que la communion profonde établie entre les<br />
membres d’une famille n’est pas rompue par la mort, mais se maintient malgré et par-delà la mort“;<br />
a.a.O., S. 43 (Mein Glaube als Afrikaner, S. 34).<br />
164 „[...] la communication avec l’invisible est un aspect de la réalité totale dans laquelle l’homme vit“;<br />
a.a.O., S. 42 (Mein Glaube als Afrikaner, S. 33).<br />
165 „[...] leur (i.e. les ,morts‘) présence est réellement éprouvée comme la participation du monde invisible<br />
au monde des vivants“; ebd.<br />
166 „[...] un mode d’expérience symbolique“; ebd.<br />
167 „[...] l’invisible est aussi réel que le visible, les deux étant inséparables et communiquant entre eux par le<br />
moyen des symboles appropriés“; a.a.O., S. 44 (Mein Glaube als Afrikaner, S. 35).<br />
168 „En Afrique noire, les Ancêtres exercent un véritable contrôle social: ne sont ils pas les gardiens<br />
authentiques de la coutume?“; a.a.O., S. 45 (Mein Glaube als Afrikaner, S. 36).<br />
169 „[...] il représente le visage symbolique du père qui sait, punit et récompense“; ebd.<br />
170 „[...] une société enveloppée dans un ordre cosmique et sacral où tout se tient“; a.a.O., S. 39 (Mein<br />
Glaube als Afrikaner, S. 30).
2 Der Kontext der théologie sous l’arbre 102<br />
Himmels und der Erde“ 171 , er „verblaßt zu keiner Zeit vor der ,Macht‘ der Ahnen“ 172 .<br />
Diese „ersetzen nicht die Gottheit, <strong>auf</strong> die alles zurückgeführt wird. Richtiger ist es,<br />
von der Mittlerrolle zu sprechen, welche die Familienoberhäupter bis ins Jenseits hinein<br />
spielen.“ 173 Außerdem muß „ein wesentlicher Zug der afrikanischen Mentalität“<br />
berücksichtigt werden: Wenn AfrikanerInnen eine Botschaft überbringen sollen, wenden<br />
sie „sich niemals direkt an die betreffende Person, sondern an einen Dritten, selbst<br />
in Gegenwart des eigentlichen Adressaten.“ 174 Die Ahnen sind so „nicht etwa Götter<br />
[...], sondern Vermittler des Lebens und der Segnungen, deren Quelle allein Gott<br />
ist.“ 175<br />
Abschließend wäre noch festzuhalten, daß die Ahnen, ebensowenig wie sie Götter<br />
sind, auch nicht mit (bösen) Geistern oder feindlichen „Mächten“, vor denen sich die<br />
Menschen fürchten und deren üble Einflüsse durch magische Riten unschädlich gemacht<br />
werden müßten, verwechselt werden dürfen. Einerseits ist die Ahnenverehrung<br />
Ausdruck des Bedürfnisses, mit den Toten bzw. den „Lebend(ig)-Toten“ 176 in Verbindung<br />
zu bleiben und sie „teilhaben zu lassen an den verschiedenen Ereignissen des<br />
Familienlebens“ 177 , andererseits kann in der afrikanischen Tradition nur der zur Würde<br />
eines Ahnen gelangen, „dessen Tugenden [...] in der Praxis seines gesamten Lebens<br />
überzeugend zum Ausdruck gekommen“ sind. 178<br />
171 „Dieu reste le Seigneur du ciel et de la terre“; a.a.O., S. 46 (Mein Glaube als Afrikaner, S. 36).<br />
172 „Dieu ne s’efface jamais devant la ,puissance‘ des Ancêtres“; ebd. (Mein Glaube als Afrikaner, S. 37).<br />
173 „Ceux-ci ne remplacent pas la divinité à laquelle on ramène tout. Il est plus juste de parler du rôle<br />
médiateur que jouent, jusque dans l’au-delà, les chefs de famille“; ebd.<br />
174 „C’est là un trait important de la mentalité africaine qui se manifeste dans les plus petites choses: si l’on<br />
doit transmettre un message, on ne s’adresse pas directement à la personne concernée, mais à un tiers,<br />
même en sa présence“; ebd.<br />
175 „[...] les Ancêtres [...], pour la tradition africaine, ne sont pas des dieux mais des médiateurs de la vie et<br />
des bienfaisants dont Dieu seul est la source“; a.a.O., S. 55 (Mein Glaube als Afrikaner, S. 45).<br />
176 Jean-Marc Ela übernimmt diesen Begriff von John S. Mbiti, der von „the living-dead“ (franz.: les mortsvivants)<br />
spricht. Vgl. JOHN S. MBITI, Afrikanische Religion und Weltanschauung, Berlin, New York (de<br />
Gruyter), 1974, S. 32 und passim (Orig.: African Religions and Philosophy, London, Ibadan, Nairobi<br />
(H<strong>einem</strong>ann), 1969). Jean-Marc Ela bezieht sich - nicht nur - im hier dargestellten Text ausgiebig <strong>auf</strong><br />
die französische Ausgabe dieses Buches (Religions et Philosophie africaine, Yaoundé (CLE), 1972)<br />
177 Im Zusammenhang: „Ce n’est pas la peur qui pousse le Mada du Nord-Cameroun à garder le ,pra‘ de<br />
son père mais le besoin de rester en communion avec lui et de le faire participer aux différents moments<br />
de la vie familiale“; Ma foi d’Africain, S. 41 (Mein Glaube als Afrikaner, S. 32).<br />
178 „Dans la tradition africaine, revêtir la dignité d’Ancêtre suppose qu’on a excellé dans la pratique de la<br />
vertu au long de son existence“; a.a.O., S. 54 (Mein Glaube als Afrikaner, S. 44). - Zu fragen wäre allerdings,<br />
welche Rolle den Frauen in dieser Hinsicht vorbehalten bleibt: Haben sie tatsächlich keinerlei<br />
Möglichkeit, zur Ahnenwürde zu gelangen? Was ist mit den toten Müttern? Wer gedenkt ihrer? ...<br />
Jean-Marc Ela sagt in Mein Glaube als Afrikaner, S. 41: „Gewiß, nicht alles ist vollkommen in dieser Beziehung“,<br />
wobei er die Ahnenverehrung im allgemeinen meint, aber leider keine konkreten Aspekte<br />
nennt. Mir scheint, daß die untergeordnete Rolle der Frauen „in dieser Beziehung“ einen solchen konkreten<br />
Aspekt darstellt, der die Ahnenverehrung unvollkommen bleiben läßt. - Im übrigen ist dies ein<br />
Beispiel dafür, wie eine anthropozentrische Sprache reale Verhältnisse, die für Männer und Frauen je<br />
verschieden sind, in der Tat verschleiert. Es ist doch nicht nur so, daß eine solche Sprache nur den Frauen<br />
nicht gerecht wird. Darüber hinaus erschwert oder verunmöglicht diese eine „objektivere“ Erkenntnis<br />
der Wirklichkeit, insofern diese oft geschlechtsspezifisch differiert, was aber diese Sprache verdeckt.
2 Der Kontext der théologie sous l’arbre 103<br />
2.5 Der afrikanische Symbolismus<br />
<strong>Das</strong> Symbol gibt zu denken, daß das Cogito ins Sein eingebunden ist, und nicht umgekehrt;<br />
[...] das Sein, das sich selbst setzt im Cogito, muß erst noch an den Tag bringen,<br />
daß der Akt, durch den es sich dem Ganzen entreißt, nicht <strong>auf</strong>hört, an dem Sein teilzuhaben,<br />
das ihn in jedem Symbol zur Rede stellt.<br />
Paul Ricoeur, Symbolik des Bösen. Phänomenologie der Schuld II<br />
In der afrikanischen Religion gibt es nicht den in der westlichen Theologie des öfteren postulierten<br />
Gegensatz zwischen menschlicher Aktivität und göttlicher Gegenwart. Hierin liegt für Jean-<br />
Marc Ela ein Unterschied zwischen der westlichen und der afrikanischen Kultur. Während die<br />
westliche Zivilisation die Zivilisation des (logischen) Begriffs ist, ist die afrikanische Zivilisation<br />
„eine Zivilisation des Symbols“: „Alles ist Symbol.“ Welche Bedeutung hat das Symbol im<br />
schwarzafrikanischen Kontext? Gotthold Hasenhüttl meint: „Ohne die symbolische Sprechweise<br />
und Erfahrungsdimension zu verstehen, ist es nicht möglich, das Selbstverständnis des Schwarzafrikaners<br />
zu begreifen.“ 179 Und es ist insbesondere die zentrale These der „Afrikanischen Theologie“<br />
von Heribert Rücker, daß das Symbol der hermeneutische Schlüssel zum Verständnis der<br />
afrikanischen Weltanschauung, des afrikanischen Welt- und Selbstverständnisses ist. Diese<br />
„symbolische Weltanschauung“ impliziere darüber hinaus „ein Bewußtsein um die Möglichkeit<br />
verschiedener Strukturen des Anschauens, Wollens, Denkens und Sprechens, die - jede <strong>auf</strong> ihre<br />
Art - Erfahrung ermöglichen und den Zugang zu einer je spezifischen Art von Objekten bzw.<br />
von ‚Welt‘ eröffnen“ 180 .<br />
Jean-Marc Elas Reflexionen zur Bedeutung des Symbolismus im sozio-kulturellen Kontext<br />
Schwarzafrikas finden sich im 3. Kapitel von Ma foi d’Africain unter dem Titel: „L’art de<br />
raconter la révélation de Dieu“ (57-80). 181 Dieser Titel benennt bereits den Kontext, in dem diese<br />
Reflexionen zu verstehen sind: Die Notwendigkeit, als AfrikanerIn und zu AfrikanerInnen <strong>auf</strong><br />
„afrikanische Weise“ und vom afrikanischen Weltverständnis her von Gott bzw. seiner Offenbarung<br />
zu reden. <strong>Das</strong> Symbol hat hierbei eine zentrale Stellung.<br />
Jean-Marc Ela zeigt sich erstaunt von dem breiten Raum, den das Symbol unter den<br />
Ausdrucksformen der AfrikanerInnen und insbesondere im alltäglichen Leben der<br />
LandbewohnerInnen in Afrika einnimmt: „<strong>Das</strong> in technischer Hinsicht mittellose<br />
Schwarzafrika erscheint eindeutig reicher an Zeichen und Symbolen als an materiellen<br />
Werkzeugen“ 182 :<br />
179 GOTTHOLD HASENHÜTTL, Schwarz bin ich und schön. Der theologische Aufbruch Schwarzafrikas, Darmstadt<br />
(Wissenschaftliche Buchgesellschaft), 1991, S. 25.<br />
180 HERIBERT RÜCKER, „Afrikanische Theologie“, S. 107. Heribert Rücker ist in diesem Zusammenhang der<br />
Überzeugung, daß „die Umkehr zum Offenbarungsgott“ ein Schritt ist, „der auch die Abkehr von einer<br />
Verabsolutierung des eigenen Denksystems beinhaltet. Eine solche Relativierung des Eigenen impliziert<br />
die Möglichkeit einer Anerkennung des Fremden und damit einen möglichen Dialog mit Afrika“; a.a.O.,<br />
S. 99. „Zur Hermeneutik des Symbols“ vgl. a.a.O., 101-113 (Kap. 2.0); vgl. auch den Exkurs über das<br />
„Symbol im Denken der Gegenwart“, a.a.O., 226-234 (Kap. 4.8).<br />
181 „Die Kunst, die Offenbarung Gottes zu erzählen“; Mein Glaube als Afrikaner, 47-69. Dieser Aufsatz<br />
<strong>wurde</strong> zuerst veröffentlicht unter dem Titel: „Symbolique africaine et mystère chrétien“, in: Un christianisme<br />
africain (Les quatre fleuves. Cahiers de recherche et de réflexion religieuses; Heft 10), Paris<br />
(Beauchesne), 1979.<br />
182 „Techniquement démunie, l’Afrique noire apparaît incontestablement plus riche en signes et symboles<br />
qu’en outils matériels“; Ma foi d’Africain, S. 59 (Mein Glaube als Afrikaner, S. 49).
2 Der Kontext der théologie sous l’arbre 104<br />
In gewisser Hinsicht ist die afrikanische Zivilisation eine Zivilisation des Symbols.<br />
In dem Maße, wie sich die Beziehungen von Mensch zu Mensch und vom<br />
Menschen zur Natur <strong>auf</strong> der Ebene des Unsichtbaren abspielen (passe par<br />
l’invisible), das der symbolische Ort ist, an dem jede Realität sich in der Gestalt<br />
eines Sinns ereignen/zu <strong>einem</strong> Sinn kommen (advenir à un sens) kann, ist das<br />
wahrhaft Wirkliche/die wahre Wirklichkeit (le vrai réel) unsichtbar und das<br />
Sichtbare nur Schein: Alles ist Symbol. Der Afrikaner lebt demnach in <strong>einem</strong><br />
„Wald von Symbolen“ - die bevorzugte Weise seiner Beziehung zur Welt/zum<br />
Universum. 183<br />
Wie ist diese Äußerung zu verstehen? Ich erkläre sie mir folgendermaßen: <strong>Das</strong> „Unsichtbare“<br />
scheint vergleichbar zu sein mit dem, was Immanuel Kant 184 die Welt der Dinge „an sich“ nannte<br />
und die für uns als solche („an sich“) unsichtbar bzw. einer Erkenntnis unzugänglich ist. Was<br />
unserer Erkenntnis zugänglich ist, ist nicht die Wirklichkeit „an sich“, sondern nur die „Objekte“<br />
unserer Wahrnehmung, wie sie durch den uns zur Verfügung stehenden kategorialen Rahmen<br />
konstituiert werden. Dieser kategoriale Rahmen geht unserer Erfahrung voraus und „be-dingt“<br />
diese als deren transzendentaler Horizont. Sofern EuropäerInnen diese Welt der Erfahrung nicht<br />
für die ganze und ursprüngliche Wirklichkeit halten, sondern sich dessen bewußt sind, daß es<br />
einen Unterschied gibt zwischen der Welt, wie wir sie wahrnehmen und erfahren und einer<br />
„Welt der Dinge an sich“, die vielleicht die ursprüngliche oder auch „wahre“ Wirklichkeit genannt<br />
werden kann, dann ist ihr Bezug <strong>auf</strong> diese wohl in der Regel ein „allegorischer“. D.h., für<br />
Menschen, die von <strong>einem</strong> westlichen Weltbild geprägt sind, sind die „Zeichen“ nur ein Verweis<br />
<strong>auf</strong> eine andere Wirklichkeit oder deren bloßes Abbild. Keineswegs aber wird angenommen, daß<br />
das „Bezeichnete“ <strong>auf</strong> eine gewisse Weise vielleicht selbst im „Bezeichnenden“ enthalten sein<br />
könnte. So kommt es letztlich zu einer Doppelung der Welt: Die sichtbare - nur scheinbare -<br />
Welt steht einer wahren und unsichtbaren - der jenseitigen - Welt gegenüber, die beide nicht<br />
direkt etwas miteinander zu tun haben. 185 Von daher kann es dann auch zu dem Dualismus zwischen<br />
menschlichem und göttlichen Handeln, zwischen menschlicher Geschichte und Heilsgeschichte<br />
kommen. 186<br />
183 „En un sens, la civilisation africaine est une civilisation du symbole. Dans la mesure où le rapport de<br />
l’homme à l’homme, de l’homme à la nature, passe par l’invisible qui constitue le lieu symbolique où<br />
toute réalité peut advenir à un sens, le vrai réel est invisible et le visible n’est qu’apparence: tout est<br />
symbole. L’Africain vit ainsi dans une ,forêt de symboles‘, mode privilégié de sa relation à l’univers“;<br />
ebd.<br />
184 Vgl. Kritik der reinen Vernunft (1781 1 /1787 2 ).<br />
185 Hier stellt sich die Frage, was es bedeutet, daß in unserem Kontext, in dem bekanntlich die „jenseitige<br />
Welt“ praktisch abgeschafft <strong>wurde</strong>, wohl in der Tat die nur „scheinbare“ Welt allgemein als die letzte<br />
Wirklichkeit gilt und von daher kein Bewußtsein um deren Bedingtheit durch unseren transzendentalen<br />
Horizont vorhanden zu sein scheint, der doch die Bedingung der Möglichkeit von Erfahrung überhaupt<br />
ist. Der Sinn für Transzendenz scheint hier im Gegensatz zu Afrika sehr wenig ausgeprägt zu sein. Gibt<br />
es unter solchen Bedingungen überhaupt die Möglichkeit, damit zu rechnen, daß andere Menschen, die<br />
durch einen anderen kulturellen Kontext geprägt sind, die Wirklichkeit tatsächlich anders wahrnehmen<br />
und erfahren könnten - und nicht nur „schlechter“ oder „primitiver“, weil sie ja noch „unterentwikkelt“<br />
seien? Besteht hier nicht ein gewisser Zusammenhang zwischen <strong>einem</strong> solchen Weltverständnis<br />
und dem europäischen Rassismus oder auch <strong>einem</strong> imperialistischen Habitus?<br />
186 Ein solches „allegorisches“ Verständnis steht sicher auch hinter den Schwierigkeiten mit „klassischen“<br />
Dogmen wie z.B. dem über Jesus Christus als „wahrer Mensch und wahrer Gott“: Wie kann denn allen<br />
Ernstes eine solche Einheit behauptet werden? Wie kann es denn möglich sein, in <strong>einem</strong> wirklichen<br />
Menschen ebenso wirklich auch Gott zu begegnen? - Für ein symbolisches Verständnis bereitet ein solches<br />
Bekenntnis keine Schwierigkeiten. Daß solche Glaubensbekenntnisse in diesem Sinn zu verstehen<br />
sind, drückt sich übrigens noch in ihrer altkirchlichen Bezeichnung als „Symbola“ aus.
2 Der Kontext der théologie sous l’arbre 105<br />
Für Afrika gibt es diesen Gegensatz nicht. <strong>Das</strong> Sichtbare und das Unsichtbare lassen sich nicht<br />
trennen, sie sind nur verschiedene Dimensionen der einen Wirklichkeit. Von daher spielen sich<br />
die Beziehungen zwischen den Menschen und zwischen Mensch und Natur zunächst einmal<br />
ganz grundlegend <strong>auf</strong> der Ebene des Unsichtbaren - <strong>auf</strong> der Ebene der „Dinge an sich“ - ab.<br />
Dessen scheinen sich AfrikanerInnen grundsätzlich bewußt zu sein, wenn sie sich vorrangig <strong>auf</strong><br />
eine symbolische Weise <strong>auf</strong> die Welt beziehen. Gleichzeitig scheinen sie sich auch dessen bewußt<br />
zu sein, daß die Welt, wie sie diese wahrnehmen und der Sinn, den sie einzelnen Phänomenen<br />
geben, ihre Wahrnehmung und ihre Sinngebung ist - nicht die „Welt an sich“, sondern nur<br />
ihr „Schein“. 187 In diesem Sinn können alle Phänomene als Symbole gelten - „alles ist Symbol“ -<br />
, die zwar einerseits die Form der Wahrnehmung sind, durch die aber andererseits tatsächlich der<br />
Wirklichkeit bzw. der „Welt der Dinge an sich“ begegnet werden kann - freilich gebrochen<br />
durch die Art und Weise des Zugangs. <strong>Das</strong> Symbol ist in diesem Sinn nicht nur ein leeres Zeichen,<br />
das <strong>auf</strong> eine andere - die bezeichnete - Wirklichkeit nur hinweist, das Symbol selbst vermittelt,<br />
sofern mensch sich <strong>auf</strong> es einläßt, den Kontakt zu dieser Wirklichkeit. Indem es diese<br />
vergegenwärtigt, trägt es diese <strong>auf</strong> gewisse Weise in sich. Ein Symbol funktioniert also so, daß<br />
es das, „was fern erscheint, in Beziehung zueinander bringt und miteinander verbunden sein<br />
läßt“ 188 . AfrikanerInnen gehen laut Jean-Marc Ela davon aus, daß das Sichtbare und das Unsichtbare<br />
miteinander kommunizieren können, und zwar vermittels entsprechender Symbole. 189<br />
Dem wird auch dadurch kein Abbruch getan, daß sich über das Unsichtbare nicht verfügen<br />
läßt. 190<br />
Ein symbolisches Weltverständnis ist ein prinzipiell offenes „System“. Es ist sich dessen bewußt,<br />
daß die Wirklichkeit nicht völlig in diesem System <strong>auf</strong>geht, da es immer wieder Neues<br />
geben kann, das bisher noch keine Bedeutung hatte bzw. noch zu k<strong>einem</strong> Sinn gekommen war,<br />
oder etwas, das eines neuen Verständnisses bedarf.<br />
187 AfrikanerInnen scheinen also im Gegensatz zu <strong>einem</strong> westlichen Verständnis weder den „Schein“ für<br />
die „Wirklichkeit“ zu nehmen, noch die „unsichtbare Welt“ - dualistisch - von der sichtbaren zu trennen.<br />
Dies ist im Grunde eine falsche Alternative. Zusammengehalten werden „Welt“ und „Wirklichkeit“<br />
in Afrika durch das Symbol, durch ein symbolisches Weltverständnis und eine symbolische Beziehung<br />
zur Wirklichkeit.<br />
188 „[...] un ,symbole‘ qui rapproche et fait tenir ensemble ce qui paraît lointain“; Ma foi d’Africain, S. 39<br />
(Mein Glaube als Afrikaner, S. 30). - Der Unterschied zwischen <strong>einem</strong> Symbol und einer Allegorie läßt<br />
sich am Beispiel eines Verkehrszeichens verdeutlichen. Steht dieses an einer Straße, an der ich vorbeikomme,<br />
dann bringt es mich zusammen mit der Straßenverkehrsordnung, die so in dem Zeichen selbst<br />
schon - „symbolisch“, aber dennoch nicht weniger wirklich - enthalten ist. <strong>Das</strong> Symbol des Verkehrszeichen<br />
vergegenwärtigt mir also die Straßenverkehrsordnung, wor<strong>auf</strong> ich mich nun einlassen kann<br />
oder auch nicht - das Symbol selbst zwingt nicht. Sehe ich ein solches Straßenschild aber in <strong>einem</strong> Second-Hand-Shop,<br />
dann fungiert es nicht mehr als Symbol, es ist zur einfachen Allegorie, zu <strong>einem</strong> leeren<br />
Zeichen geworden. Es weist zwar noch hin <strong>auf</strong> eine Realität, enthält diese aber nicht mehr in sich.<br />
Es vergegenwärtigt mir diese nicht mehr - höchstens in <strong>einem</strong> rein „spiritualistischen“ Sinn, indem es<br />
meine Gedanken <strong>auf</strong> eine reine Bedeutung lenkt. <strong>Das</strong> Verkehrszeichen als Allegorie stellt aber keinen<br />
wirklichen Kontakt mehr her zwischen mir und der Straßenverkehrsordnung.<br />
189 Vgl. Ma foi d’Africain, S. 44 (siehe oben Anm. 167).<br />
190 Wenn es zutrifft, daß die westliche Identität „wesentlich durch die Haltung des Eroberns und Beherrschens<br />
in mannigfachen [...] Formen geprägt“ ist (LUDWIG RÜTTI, Westliche Identität und weltweite<br />
Ökumene, in: PETER LENGSFELD (Hg.), Ökumenische Theologie. Ein Arbeitsbuch, Stuttgart u.a. (Kohlhammer),<br />
1980, 285-296, S. 286), dann erklärt sich auch, warum in der westlichen Welt der - unverfügbaren<br />
- „unsichtbaren Welt“ so wenig Beachtung geschenkt wird. Und insofern die westlichen Kirchen<br />
hiervon nicht ausgenommen sind, dann erstaunt es nicht, wenn sie die unsichtbare „Welt“ Gottes<br />
in ein - dualistisch verstandenes - Jenseits verlagern, da zum einen Gott - dorthin abgeschoben - im<br />
Diesseits nun nicht mehr stören kann und zum anderen die diesseitigen sichtbaren - und allegorischen<br />
- „Zeichen“ beherrschbar bleiben bzw. zur Beherrschung verwendet werden können - insofern ein allegorisches<br />
Verständnis (z.B. in Gestalt einer bestimmten Theologie) seinen relativen Charakter - daß es<br />
nur ein möglicher „Zugang“ zur „Wirklichkeit“ neben anderen möglichen Zugängen ist - verschleiert.
2 Der Kontext der théologie sous l’arbre 106<br />
Der systematische Rekurs <strong>auf</strong> das Symbol ist insbesondere für schriftlose Gesellschaften<br />
charakteristisch. Aber ein konkretes Symbol ist nur jeweils den Mitgliedern einer<br />
Gemeinschaft verständlich, die innerhalb eines bestimmten kulturellen Kontextes ein<br />
gemeinsames „symbolisches Kapital“ besitzt. Die Symbole verdeutlichen <strong>auf</strong> diese<br />
Weise die Grenzen der jeweiligen Gemeinschaft:<br />
Gegenüber den Symbolen scheiden sich die Menschen: gefüllt mit Sinn für die<br />
einen, sind sie für die anderen nicht zu dechiffrieren. So enthüllt sich das für eine<br />
jede Gesellschaft charakteristische symbolische Kapital in den von ihm geprägten<br />
Verhaltensweisen, die es gestatten, die Außenstehenden von den Dazugehörigen<br />
zu unterscheiden. So ist z.B. die Art und Weise, wie der Afrikaner<br />
s<strong>einem</strong> Körper einen bestimmten Ausdruck verleiht - der Code seiner Gesten -<br />
das Kennzeichen einer (bestimmten) Kultur - da gibt es ist eine Art Sprache, die<br />
allen Mitgliedern einer Gruppe gemeinsam ist. 191<br />
Für AfrikanerInnen haben Symbole eine noch fundamentalere Bedeutung als ,nur‘<br />
Identität und Gemeinschaft stiftend zu sein. Dies wird deutlich, wenn Jean-Marc Ela<br />
weiter schreibt:<br />
Den Afrikaner seiner grundlegenden Symbole zu berauben, bedeutet zugleich,<br />
ihn sein Selbstbewußtsein verlieren zu lassen und ihn gleichzeitig aus der Wirklichkeit<br />
herauszureißen, die ihn in ein System integriert, worin er - durch die<br />
Vermittlung der Symbole - versucht, den Widerspruch zwischen Leben und Tod<br />
zu überwinden. 192<br />
Es sind nicht nur einzelne - je nach Kontext verschiedene - Symbole, die als solche<br />
eine - wiederum je nach Kontext unterschiedliche - Bedeutung haben. Es ist eine ganze<br />
„symbolische Ordnung“, die alle Bereiche des (traditionell geprägten) Lebens in Afrika<br />
durchdringt, denn dies ist gerade die für AfrikanerInnen spezifische Art und Weise:<br />
sich vermittels Symbole <strong>auf</strong> die Wirklichkeit bzw. <strong>auf</strong> das „Unsichtbare“ zu beziehen.<br />
In Jean-Marc Elas Worten:<br />
Die symbolische Ordnung bezieht sich <strong>auf</strong> den ganzen dramatischen Prozeß der<br />
Lebenswirklichkeit (l’existence) im afrikanischen Milieu, indem sie die Beziehungen<br />
des Menschen zum Unsichtbaren zum Ausdruck bringt. Die Religion<br />
selbst ist eine eigene ganze Sprache, eine Art und Weise des Ausdrucks, die es<br />
dem Menschen ermöglicht, sich ganz und gar in (ihrer) Beziehung zur Gesamtheit<br />
der Welt zu begreifen und mit dieser in (eine kommunikative) Verbindung<br />
zu treten. Die afrikanische Religion ist ein System von Zeichen und Symbolen,<br />
in welchem dem Wort der Vorrang eingeräumt wird. Die mündlichen Aus-<br />
191 „Face aux symboles, les hommes se divisent: pleins de sens pour les uns, ils demeurent indéchiffrables<br />
pour d’autres. Ainsi le capital symbolique qui définit chaque société se révèle dans les comportements<br />
marqués de son empreinte, permettant de distinguer ceux du dehors de ceux du dedans. Ainsi la façon<br />
dont l’Africain impose un visage déterminé de son corps, son code gestuel, est la marque d’une culture;<br />
il y a là une sorte langage commun à tous les membres du groupe“; a.a.O., S. 60 (Mein Glaube als<br />
Afrikaner, S. 49).<br />
192 „Aussi, priver l’Africain de ses symboles fondamentales, c’est à la fois lui faire perdre conscience de soi<br />
et l’arracher à la réalité qui l’intègre dans un système où, par la médiation des symboles, il s’efforce de<br />
dépasser la contradiction de la vie et la mort“; ebd.
2 Der Kontext der théologie sous l’arbre 107<br />
drucksformen, die Gesten, Riten, Handlungen und Techniken tragen ebenso wie<br />
die Institutionen, die (Lebe-)Wesen und die Objekte der Welt definitiv zur Bildung<br />
einer Symbolik bei, die zum Verständnis der Sprache des Afrikaners<br />
führt. 193<br />
Die Oralität ist also das dominante Merkmal der afrikanischen Kultur. In dieser nimmt<br />
das Symbol innerhalb des menschlichen Diskurses eine beherrschende Stellung ein.<br />
Dabei hat der jeweilige Kontext eine grundlegende Bedeutung:<br />
Keine Botschaft kann außerhalb des Kontextes verstanden werden, in dem das<br />
Leben dem Denken sein Gesicht verleiht. 194 Der afrikanische Mensch drückt<br />
sich aus durch eine unendliche Vielfalt von Symbolen, die er aus der konkreten<br />
Welt seiner Erfahrung schöpft, wo die Sprache ihre Signifikanten (signifiants)<br />
findet. <strong>Das</strong> Wort (parole) selbst ist ein Symbol (une symbolique) der Wirklichkeit.<br />
195<br />
In oralen Gesellschaften stellen insbesondere Sprichwörter eine bevorzugte Ausdrucksweise<br />
für ein symbolisches und bilderreiches Denken dar, ebenso wie die Märchen<br />
196 , „in deren Welt das Reale und das Imaginäre miteinander verflochten sind und<br />
die Helden <strong>auf</strong> die Ebene von Archetypen gestellt werden, die zugleich Bilder und<br />
Symbole sind“ 197 :<br />
Aber das Märchen hat auch eine initiatorische Funktion [...]. Die afrikanische<br />
Pädagogik initiiert hierdurch die Jugendlichen in den grundlegenden Symbolismus<br />
des Lebens und des Todes. Denn der tiefe Sinn der im Märchen <strong>auf</strong>tretenden<br />
Personen ist eng verbunden mit dem Drama der Schöpfung der Welt, die<br />
durch die Unordnung einer rebellischen Kreatur gestört ist und durch die rituelle<br />
Handlung reorganisiert wird. Diese Märchen illustrieren die Ordnung und die<br />
Unordnung der Welt und zugleich auch den Sieg des Lebens über den Tod.<br />
193 „L’ordre symbolique appartient à tout le processus dramatique de l’existence en milieu africain, en<br />
exprimant les rapports de l’homme avec l’invisible. La religion elle-même est un langage total, un mode<br />
d’expression permettant à l’homme de se saisir tout entier dans son rapport avec la totalité du monde et<br />
d’entrer en communication avec lui. La religion africaine est un système de signes et de symboles où la<br />
primauté est accordée au verbe. Les formes d’expression orale, les gestes, les rites, les actions et les<br />
techniques comme les institutions, les êtres et les objets de l’univers contribuent en définitive à la<br />
constitution d’une symbolique qui mène à la compréhension du langage de l’Africain“; ebd. (Mein<br />
Glaube als Afrikaner, s. 49f).<br />
194 Ich denke, dieser Satz darf nicht so mißverstanden werden, als könnten Menschen aus <strong>einem</strong> anderen<br />
Kontext das, was AfrikanerInnen sagen, nicht verstehen. Sie können dies aber freilich nur, wenn sie deren<br />
„Botschaften“ in ihrem je spezifischen Kontext zu begreifen versuchen. Zu diesem Kontext gehört<br />
ebenso wie das „was“ des afrikanischen Kontextes auch das „wie“: also die Art und Weise, wie sich<br />
AfrikanerInnen <strong>auf</strong> ihren Kontext beziehen und wie sie diesen dementsprechend verstehen.<br />
195 „Aucun message ne peut se comprendre hors du contexte où la vie prête son visage à la pensée.<br />
L’homme africain s’exprime à travers une infinie variété de symboles, puisés dans l’univers concret de<br />
son expérience, là où le langage trouve ses signifiants. La parole elle-même est une symbolique de la<br />
réalité“; a.a.O., S. 61 (Mein Glaube als Afrikaner, S. 50).<br />
196 Der Verlag Müller & Kiepenheuer (Hanau) hat eine ganze Reihe mit Märchen afrikanischer Völker<br />
herausgegeben; vgl. insbesondere Der dankbare Affe. Märchen aus Kamerun (1990).<br />
197 „[...] le conte, dont l’univers entremêle le réel et l’imaginaire et place les héros au niveau des archétypes,<br />
qui sont à la fois images et symboles“; ebd. (Mein Glaube als Afrikaner, S. 51).
2 Der Kontext der théologie sous l’arbre 108<br />
Zum kosmischen Aspekt fügen sie eine kathartische Funktion hinzu durch das<br />
Lachen, dessen Wirkungen nicht unwesentlich sind. 198<br />
Jean-Marc Ela hebt noch einen weiteren Aspekt hervor:<br />
Der afrikanische Mensch gebraucht die Sprache äußerst sparsam. Für ihn bedeutet<br />
das Benennen nicht nur ein Lebensprogramm, eine Botschaft, es ist vielmehr<br />
auch eine Technik, eine Handlung, ein Schutz- und Verteidigungsritus.<br />
Daran erinnern die Namen von ausgesuchter Häßlichkeit, die Täusche-den-Tod-<br />
Namen, die dar<strong>auf</strong> abzielen, die Aufmerksamkeit der Geister irrezuführen. Dem<br />
Kind muß ein verachtenswerter Name gegeben werden, um es vor feindlichen<br />
Mächten abzuschirmen. Die afrikanische Namensgebung ist eine Art symbolischer<br />
Tarnung, wobei versucht wird, den Blick des Todes abzulenken, indem<br />
sein Desinteresse gegenüber dem Kind mit <strong>einem</strong> schrecklichen oder verächtlichen<br />
Namen bewirkt werden soll. 199<br />
Die afrikanische Symbolik zeichnet sich besonders durch einen gewissen „Anthropozentrismus“<br />
aus. Jean-Marc Ela erläutert dies anhand der Symbolik der Geschlechter:<br />
[...] durch eine Vielzahl an Symbolen geben die Maskulinität und die Femininität<br />
- zugleich entgegengesetzt und komplementär - Aufschluß über die gesamte<br />
Schöpfung, die dieser großen Dualität unterworfen ist. Alles geschieht so, als ob<br />
der Mensch seine Sexualität <strong>auf</strong> die Welt projizierte. Dementsprechend sei die<br />
Welt geschlechtlich bestimmt; als eine solche wirft sie <strong>auf</strong> den Menschen sein<br />
eigenes Bild zurück, das zugleich maskulin und feminin ist. Denn wenn die<br />
Welt wie ein Buch ist, dessen Botschaft der Mensch dechiffriert und decodiert,<br />
dann geschieht dies immer im Dienst des/in bezug <strong>auf</strong> (en fonction de) den<br />
Menschen, daß die ihn umgebenden Zeichen interpretiert werden. Alles tritt ein<br />
in das Feld der Beziehungen zwischen Signifikanten und Signifikaten (le champ<br />
des relations signifiants-siginfiés) - ausgehend vom Menschen, der eine Welt im<br />
kleinen ist. 200<br />
198 „Mais le conte a aussi une fonction initiatique [...]. La pédagogie africaine initie, par là, les jeunes au<br />
symbolisme fondamental de la vie et de la mort. Car le sens profond des personnages du conte se<br />
rattache au drame de la création du monde perturbé par les désordres d’une créature rebelle, et<br />
réorganisé par l’activité rituelle. Ces contes illustrent à la fois l’ordre et le désordre de l’univers, et le<br />
triomphe de la vie sur la mort. A l’aspect cosmique, ils ajoutent une fonction cathartique par le rire,<br />
dont les effets ne sont pas négligeables“; a.a.O., S. 61f.<br />
199 „[...] l’homme africain use du langage avec parcimonie. Pour lui, nommer ne comporte pas seulement<br />
un programme de vie, un message, mais constitue aussi une technique, une action, un rite de protection<br />
et de défense. C’est que rappellent les noms d’une laideur recherchée, les noms trompe-la-mort, qui<br />
visent à déjouer l’attention des esprits. Il faut donner à l’enfant un nom méprisable pour le mettre à<br />
l’abri des forces hostiles. L’onomastique africaine est une sorte de déguisement symbolique où l’on<br />
cherche à distraire le regard de la mort en provoquant son détachement vis-à-vis de l’enfant portant un<br />
nom horrible ou méprisable“; a.a.O., S. 62f (Mein Glaube als Afrikaner, 52). - Diese konkrete Praxis ist<br />
insbesondere bei den Kirdi in Nordkamerun gebräuchlich, was aber nicht notwendig bedeutet, daß die<br />
Namenssymbolik in anderen Teilen Afrikas eine geringere Bedeutung hätte.<br />
200 „[...] à travers un grand nombre de symboles, la masculinité et la féminité, à la fois opposées et<br />
complémentaires, rendent compte de la création entière, soumise à cette grande dualité. Tout se passe<br />
comme si l’homme projetait sa sexualité dans l’univers. Aussi bien, le monde est-il sexué; à ce titre, il<br />
renvoie à l’homme sa propre image, à la foi masculine et féminine. Car, si le monde est comme un livre<br />
dont il déchiffre et décode le message, c’est toujours en fonction de l’homme que l’on interprète les
2 Der Kontext der théologie sous l’arbre 109<br />
Dieser Bezug <strong>auf</strong> den Menschen - „der eines der typischsten Merkmale der afrikanischen<br />
Symbolik ist“ 201 - kommt also daher, daß der Mensch „in sich das ganze Universum<br />
zusammenfaßt“ 202 . Andererseits drücken die Symbole seine Situation in der Welt<br />
aus, „in <strong>einem</strong> globalen Kontext, in dem der Mensch sich dessen bewußt ist, daß das<br />
Leben nichts wäre ohne den Tod. Oder präziser: [...] der Tod hat nicht das letzte Wort.<br />
Die afrikanische Symbolik dramatisiert <strong>auf</strong> diese Weise den Sieg des Lebens über den<br />
Tod.“ 203 2.6 Jean-Marc Elas sozio-ökonomische Analyse des<br />
Gesundheitssystems in Afrika<br />
Jean-Marc Elas sozio-ökonomische Analyse des Gesundheitssystems in Afrika findet sich im 5.<br />
Kapitel von Ma foi d’Africain unter dem Titel: „La santé des ,sans dignité‘“ (95-116, insbes. 95-<br />
106) 204 . Sie setzt ein bei einer Untersuchung der Rolle der Medizin in der Kolonialzeit.<br />
Jean-Marc Ela geht davon aus, daß ein „Eingreifen in den Bereich der Gesundheit<br />
immer im Dienst eines sozialen und ökonomischen Systems steht“. Es ist evident, daß<br />
im „Afrika vor der Unabhängigkeit die Medizin nicht von der Kolonialpolitik der europäischen<br />
Mächte zu trennen ist“. 205 Er erläutert den Zusammenhang folgendermaßen:<br />
Die Schaffung von Reichtümern wird in den Kolonien von der Frage der Arbeitskräfte<br />
beherrscht. Diese wiederum wird bedingt durch die Gesundheitsfürsorge<br />
gegenüber der einheimischen Bevölkerung. <strong>Das</strong> medizinische Werk muß<br />
das Humankapital schützen, ohne das die Verwertung der Kolonien unmöglich<br />
signes qui l’environnent. Tout rentre dans le champ des relations signifiants-signifiés à partir de<br />
l’homme qui constitue un monde en miniature“; a.a.O., S. 66 (Mein Glaube als Afrikaner, S. 55f).<br />
201 „[...] cette référence à l’homme qui est l’un des traits les plus typiques de la symbolique africaine“;<br />
a.a.O., S. 67 (Mein Glaube als Afrikaner, S. 56).<br />
202 „L’homme récapitule donc en lui tout l’univers“; ebd.<br />
203 „[...] dans un contexte global où l’homme a conscience que la vie ne serait rien sans la mort. Ou plus<br />
précisément [...], la mort n’a pas le dernier mot. La symbolique africain dramatise ainsi la victoire de la<br />
vie sur la mort“; ebd.<br />
204 „Die Gesundheit der ,Würdelosen‘ “; Mein Glaube als Afrikaner, 80-101 (insbes. 80-91). - Dieser Text<br />
ist eine leicht gekürzte und modifizierte Version von: Luttes pour la santé de l’homme et Royaume de<br />
Dieu dans l’Afrique d’aujourd’hui, Bulletin de Théologie Africaine 5, Nr. 9 (1983), 65-84. Die Modifizierungen<br />
bestehen im wesentlichen aus Verallgemeinerungen: Während Jean-Marc Ela sich im letztgenannten<br />
Text noch konkret und explizit <strong>auf</strong> die Situation der Kirdi in Nordkamerun bezieht und von<br />
ihren Erfahrungen ausgeht, verallgemeinert er diese im zuerst genannten eher <strong>auf</strong> die allgemeine Situation<br />
in Afrika. Jean-Marc Elas Analyse des Gesundheitssystems wird im übrigen ausgiebig und zustimmend<br />
zitiert von CÉCÉ KOLIÉ in s<strong>einem</strong> Beitrag „Jesus - Heiler?“ zum Sammelband Der schwarze Christus.<br />
Wege afrikanischer Christologie (Theologie der Dritten Welt; Bd. 12), Freiburg i.Br. (Herder),<br />
1989, 108-137. - Welche Bedeutung das Thema „Gesundheit“ für die Menschen in Afrika hat, zeigt eine<br />
in Jeune Afrique vom 12. März 1980 vorgestellte Untersuchung, wonach für 75 % der AfrikanerInnen<br />
die Gesundheit das „Thema Nr. 1“ ist - noch vor der Familie (48 %) und der Sicherheit des Arbeitsplatzes<br />
(33 %).<br />
205 „L’intervention dans le domaine de la santé est toujours au service d’un système social et économique qui<br />
lui sert de référence. En Afrique avant les indépendances, la médecine est inséparable de la politique<br />
coloniale des puissances européennes“; Ma foi d’Africain, S. 95f (Mein Glaube als Afrikaner, S. 80).
2 Der Kontext der théologie sous l’arbre 110<br />
ist. 206 Aus diesem Grund sind die Polikliniken und die Krankenhäuser, die Impfungen<br />
und die Hygiene integriert in ein globales System der Beherrschung. Die<br />
Verwertung der Kolonien ist insofern nichts anderes, als durch den Einbruch<br />
des Kapitalismus in die afrikanische Landwirtschaft die Arbeitskraft, das Land<br />
und die Gesundheit der Bevölkerung den Zwängen einer profitorientierten<br />
Wirtschaft unterworfen werden, deren Folgen sich in der Destrukturierung der<br />
traditionellen Gesellschaften, im ungleichen Austausch und in der Marginalisierung<br />
offenbaren. Kurz, die Medizin ist ein Kernstück des kolonialen Apparates:<br />
Sie ist verbunden mit der Einziehung der Steuern und letztlich mit dem Fortschritt<br />
der exportorientierten Landwirtschaft, deren Entwicklung Afrika in eine<br />
Situation der Nahrungsmittelknappheit geführt hat, wie sich jeden Tag deutlicher<br />
bestätigt. 207<br />
Die koloniale medizinische Versorgung folgte also faktisch der Verwertungslogik des<br />
ausländischen Kapitals, weil die durch dessen Profitinteresse <strong>auf</strong>gezwungene Exportgüterproduktion<br />
<strong>auf</strong> Arbeitskräfte angewiesen war, die sich einer guten Gesundheit<br />
erfreuten. Diese Einsicht führt Jean-Marc Ela zu dem vernichtenden Urteil, daß die<br />
kolonialen medizinischen Leistungen demnach „in keiner Weise ein humanitäres und<br />
karitatives Unternehmen“ darstellen. 208<br />
Dies bestätigt sich auch dadurch, daß die ärztlichen Maßnahmen der Bevölkerung<br />
einfach <strong>auf</strong>gezwungen <strong>wurde</strong>n, ohne sie nach ihrer Meinung zu fragen oder auch nur<br />
über den Sinn und die Wirkungen der - behördlich verordneten - medizinischen Eingriffe<br />
<strong>auf</strong>zuklären:<br />
Zudem war die Gesundheitsfürsorge, ebenso wie die Pflichtarbeiten, <strong>einem</strong> System<br />
von Zwängen unterworfen. Sie bestand im autoritären und einseitigen Eingreifen<br />
der Staatsgewalt, dem ein passiver Gehorsam der betroffenen Bevölkerung<br />
gegenüberstand. Der Gendarm war in dieser Hinsicht der beste Helfer der<br />
Kolonialärzte. Dank ihm sind Pocken-, Pest- oder Gelbfieberepidemien verschwunden<br />
oder zurückgegangen. <strong>Das</strong> System war durchaus wirksam. Aber die<br />
Menschen waren völlig im unklaren über die Prinzipien, deren Befolgung von<br />
206 Dieser Zusammenhang wird selbst von Kolonialpolitikern offen so formuliert. Jean-Marc Ela zitiert<br />
hierzu Albert Sarrault (1921 franz. Kolonialminister): „Die medizinische Fürsorge ... ist unsere Pflicht.<br />
Sie ist aber [...] vor allem unser unmittelbarstes und alltäglichstes Interesse. Denn das ganze Werk der<br />
Kolonisierung, das ganze Geschäft der Schaffung von Reichtum wird in den Kolonien durch die Frage<br />
der ,Arbeitskräfte‘ beherrscht“; a.a.O., S. 96, Anm. 3 (Mein Glaube als Afrikaner, S. 81, Anm. 65).<br />
207 „Rien n’est plus clair: la création de richesses est dominée dans les colonies par la question de la maind’œuvre.<br />
Mais elle est conditionnée par l’assistance sanitaire aux populations indigènes. L’œuvre<br />
médicale doit préserver le capital-travail sans lequel la mise en valeur des colonies est impossible. Ainsi,<br />
les dispensaires et les hôpitaux, les vaccinations et l’hygiène sont intégrés à un système global de<br />
domination. La mise en valeur des colonies n’est pas autre chose, dans la mesure où l’irruption du<br />
capitalisme dans l’agriculture africaine soumet les forces de travail, les terres et la santé des populations<br />
aux contraintes d’une économie de profit dont les effets se traduisent par la déstructuration des sociétés<br />
traditionnelles, l’échange inégal et la marginalisation. Bref, la médecine est une pièce maîtresse de<br />
l’appareil colonial: elle est liée à la perception des impôts et, en définitive, au progrès de l’agriculture<br />
d’exportation dont le développement a conduit l’Afrique à une situation de pénurie alimentaire, comme<br />
on le constate chaque jour davantage“; a.a.O., S. 96f (Mein Glaube als Afrikaner, S. 81).<br />
208 „L’œuvre médicale coloniale n’est nullement une entreprise humanitaire et charitable“; a.a.O., S. 97<br />
(Mein Glaube als Afrikaner, S. 81).
2 Der Kontext der théologie sous l’arbre 111<br />
ihnen verlangt <strong>wurde</strong>. [...] Kurz, die Gesundheit der Bevölkerung <strong>wurde</strong> ohne<br />
deren Wissen geschützt, und oft sogar gegen ihren Willen. 209<br />
Die Relevanz dieses historischen Rekurses erklärt sich durch die Situation nach der<br />
Dekolonisierung, die sich im wesentlichen nicht geändert, ja eher noch verschärft hat:<br />
Denn nichts belegt, daß <strong>auf</strong> nationaler Ebene - trotz der offiziellen Erklärungen<br />
- das gegenwärtige Gesundheitssystem ausgerichtet wäre <strong>auf</strong> die Suche nach einer<br />
Gesellschaft, die <strong>auf</strong> Teilung der Macht und Mitverantwortung beruht.<br />
Nicht allein, daß die Tendenz der medizinischen Versorgung dahin geht, die<br />
verelendete Bevölkerung in den Weltmarkt zu integrieren, wobei das Ausscheiden<br />
von einzelnen und Gruppen ebenso wie die Abhängigkeit von den großen<br />
Trusts verschärft wird, sie verweist auch <strong>auf</strong> ein sozio-ökonomisches System, in<br />
dem die Gesundheit zum Privileg einer Elite zu werden droht. 210<br />
Um die Gesundheitsprobleme wirklich zu verstehen, müssen sie in ihrem Kontext -<br />
„ein sozio-ökonomisches System, in dem die Gesundheit zum Privileg einer Elite zu<br />
werden droht“ - betrachtet werden. Dieser zeichnet sich insbesondere dadurch aus, daß<br />
Entwicklung hier grundsätzlich als Förderung des Anbaus von Produkten für den Export<br />
verstanden wird, der Steuern und Devisen einbringt, die aber letztendlich nur dem<br />
Wohlergehen der herrschenden Eliten zugute kommen:<br />
Wie in vielen Regionen zu beobachten, wird die ganze Wirtschaft einer Region<br />
durch ein einziges exportfähiges Produkt beherrscht, ohne daß die Ernährungsprobleme<br />
ihren Platz in einer effektiven Planung finden. Landwirtschaftliche<br />
Prioritäten, Investitionen, Forschung, Industrie und Transportwesen, die Einbe-<br />
209 „De plus, l’action sanitaire était soumise à un système de contraintes au même titre que les travaux<br />
obligatoires. Elle consistait dans l’intervention autoritaire et unilatérale des pouvoirs publics avec, en<br />
face, une obéissance passive des populations concernées. Le gendarme a été, à cet égard, le meilleur<br />
auxiliaire des médecins coloniaux. C’est grâce à lui que l’on a Vivant Univers disparaître ou régresser<br />
les épidémies de variole, de peste ou de fièvre jaune. Le système a pu être efficace. Les gens n’ignoraient<br />
pas moins tout des principes qu’on leur demandait de respecter. [...] En un mot, on protégeait la santé<br />
des populations à leur insu, et souvent contre leur gré“; ebd. (Mein Glaube als Afrikaner, S. 82). - Welche<br />
Bedeutung das Verstehen der medizinischen Praktiken insbesondere für AfrikanerInnen, aber auch<br />
für den Prozeß der Heilung selbst, hat, deutet THEO SUNDERMEIER an in Erwägungen zu einer Hermeneutik<br />
interkulturellen Verstehens, in: DERS. (Hg., in Zusammenarbeit mit WERNER USTORF), Die Begegnung<br />
mit dem Anderen. Plädoyers für eine interkulturelle Hermeneutik (Studien zum Verstehen fremder Religionen;<br />
Bd. 2), Gütersloh (Mohn), 1991, 13-28, S. 23f: Wenn uns die europäische Medizin verständlich<br />
und durchschaubar erscheint - insofern sie als rational und wissenschaftlich gilt - und die afrikanische<br />
Medizin demgegenüber als undurchschaubar, unverständlich und irrational, so ist dies für AfrikanerInnen<br />
vielmehr umgekehrt, zumal die afrikanische Medizin ihre eigene, für AfrikanerInnen nachvollziehbare,<br />
Logik hat - was aber nicht heißen muß, daß ein gegenseitiges Verstehen unmöglich wäre; dies<br />
setzt aber voraus, zuerst einmal die den anderen eigene Logik in ihrer Fremdheit gelten zu lassen, als<br />
fremde, aber deshalb nicht zugleich ungleichwertige, zu akzeptieren. Ist doch Fremdheit immer auch<br />
ein Verweis <strong>auf</strong> Gott(es Fremdheit)! Vgl. z.B. Mt 25 oder Karl Barths Diktum von Gott als dem „ganz<br />
anderen“.<br />
210 „Car, rien ne prouve qu’à l’échelle nationale, en dépit des déclarations officielles, le système actuel de<br />
santé soit orienté vers la recherche d’une société qui repose sur le partage du pouvoir et la coresponsabilité.<br />
Non seulement la tendance à la médicalisation intègre les populations misérables dans le<br />
marché mondial, aggravant la démission des individus et des groupes ainsi que la dépendance à l’égard<br />
des grands trusts, mais elle renvoie à un système socio-économique où la santé risque de devenir le<br />
privilège d’une élite“; Ma foi d’Africain, S. 97.
2 Der Kontext der théologie sous l’arbre 112<br />
ziehung der Bauern - all dies bleibt dem Willen und den Interessen des Agro-<br />
Business untergeordnet. 211<br />
Insbesondere die Kindersterblichkeitsrate ist weniger <strong>auf</strong> die bäuerlichen Mentalitäten<br />
als <strong>auf</strong> die „landwirtschaftliche Modernisierung“ zurückzuführen, die oft „die Züge<br />
einer ökonomischen und kulturellen Kolonisation“ trägt, „deren Kosten die Bauern<br />
unmittelbar bezahlen“ 212 , denn<br />
die systematische Herabwürdigung all dessen, was „traditionell“ ist, durch den<br />
Unterricht, die Institutionen und die Projekte, die Zerstörung landwirtschaftlicher<br />
Strukturen durch die Verführung zum Anbau eines einzigen Exportproduktes,<br />
die Unzulänglichkeiten der landwirtschaftlichen Forschung, die Schwäche<br />
der Preispolitik und der Infrastrukturen sind Faktoren, die für die geringe Produktivität<br />
ebenso eine Erklärung bieten wie die bäuerlichen Mentalitäten. Es<br />
gibt sozio-ökonomische, kulturelle und politische Realitäten, für welche die<br />
Umwelt weit mehr Verantwortung trägt als die bäuerlichen Gemeinschaften. 213<br />
Wenn die Lebensmittelknappheiten nicht so sehr ein Unheil der Natur und ein<br />
dem Klima zu verdankendes Schicksal sind, als vielmehr die Folge einer Politik<br />
der Beherrschung, der die Bauern unterworfen sind, dann lassen sich all die ernährungsbedingten<br />
Krankheiten, die zu der Kindersterblichkeit führen, nicht allein<br />
der Unwissenheit, den Nahrungsmitteltabus oder einer fortschrittsfeindlichen<br />
Mentalität zuschreiben. 214<br />
Die Ursachen für diese Situation, die durch die niedrigen Einkünfte der Menschen <strong>auf</strong><br />
dem Land noch verschärft wird, liegen in einer <strong>auf</strong> sozialen Disparitäten <strong>auf</strong>gebauten<br />
Gesellschaft begründet:<br />
Die Reichtümer des Landes werden heute von den Gerissensten und all denen,<br />
welche die Güter der Allgemeinheit zu ihrem Nutzen veruntreuen, konfisziert.<br />
211 „Comme on le voit dans plusieurs régions, toute l’économie d’une région est dominée par un seul<br />
produit exportable sans que les problèmes nutritionnels trouvent leur place dans une planification<br />
effective. Les priorités agricoles, les investissements, la recherche, l’industrie et les rapports,<br />
l’encadrement des paysans restent subordonnés à la volonté et aux intérêts des agro-business“; a.a.O., S.<br />
98 (Mein Glaube als Afrikaner, S. 83).<br />
212 „[...] les traits d’une colonisation économique et culturelle dont les paysans font directement les frais“;<br />
ebd.<br />
213 „[...] le dénigrement systématique de tout ce qui est ,traditionnel‘ par l’enseignement, les institutions et<br />
les projets, la désarticulation des économies agraires par l’incitation aux seules cultures d’exportation,<br />
les insuffisances de la recherche agronomique, la faiblesse des politiques de prix et des infrastructures<br />
sont des facteurs aussi explicatifs de la sous-productivité de l’agriculture que les mentalités paysannes.<br />
Il existe des réalités socio-économiques, culturelles et politiques dont les responsabilités incombent bien<br />
plus au monde environnant qu’aux communautés paysannes“; ebd.<br />
214 „Si les pénuries alimentaires ne sont pas tant une calamité naturelle et une fatalité due au climat que la<br />
résultante d’une politique de domination sur les paysans, on ne saurait attribuer à la seule ignorance,<br />
aux tabous alimentaires ou à la mentalité rétrogrades toutes les maladies nutritionnelles qui provoquent<br />
la mortalité infantile“; a.a.O., S. 99 (Mein Glaube als Afrikaner, S. 83f).
2 Der Kontext der théologie sous l’arbre 113<br />
So existiert ein breiter Graben zwischen dem Lebensstandard einer vermögenden<br />
und wohlversorgten Minderheit und dem der enterbten Mehrheit. 215<br />
Seit der Unabhängigkeit hat sich der Graben zwischen arm und reich ständig vertieft.<br />
Die Gewährung von Vergünstigungen und einträglichen Pfründen ohne jegliche Verpflichtungen<br />
zugunsten einer winzigen Minderheit hat eine Situation geschaffen, in der<br />
sich die Ungleichheit in der Einkommensverteilung in der Ungleichheit des Konsums<br />
ausdrückt. Diese Unterschiede - speziell zwischen städtischer Bourgeoisie und Landbevölkerung<br />
- bleiben nicht ohne Auswirkungen <strong>auf</strong> Gesundheitszustand, Ernährungslage<br />
und Wohnverhältnisse. Während die afrikanischen Führungsschichten im Luxus<br />
leben, fehlt es der Mehrheit der Bevölkerung praktisch an allem, was zu <strong>einem</strong> nicht<br />
gesundheitsschädlichen Lebensstandard notwendig ist, insbesondere an Trinkwasser.<br />
Dieser niedrige Lebensstandard der Bevölkerung - „das Resultat von Mechanismen<br />
einer gnadenlosen Ausbeutung der Arbeit der Bauern“ 216 - ist eine ,ideale‘ Voraussetzung<br />
für viele Infektionskrankheiten. Für Jean-Marc Ela liegt es deshalb nahe, daß<br />
diese Krankheiten „sehr eng zusammenhängen mit einer Ökonomie, die nicht an der<br />
Basis neu gestaltet worden ist, um den sozialen Bedürfnissen der Mehrheit der örtlichen<br />
Bevölkerungen zu entsprechen“ 217 . Im Gegenteil:<br />
Die gesundheitsschädlichen Wohnverhältnisse, das Fehlen von Trinkwasser, die<br />
weit entfernten Quellen und Straßenbrunnen, die Abfallh<strong>auf</strong>en, etc. ... bringen<br />
einen Gesellschaftstypus zum Vorschein, der dar<strong>auf</strong> hinausläuft, sich <strong>auf</strong> der<br />
Basis wachsender Ungleichheiten zu strukturieren. 218<br />
Des weiteren verweist Jean-Marc Ela <strong>auf</strong> „die Grenzen eines Staatskapitalismus im<br />
Bereich des Gesundheitswesens“ 219 :<br />
Denn während er [i.e. der Staat; R.K.-F.] Finanzgruppen Investitionserleichterungen<br />
gewährt (Steuerbefreiung, Rückführung der Gewinne, etc.), macht er<br />
sich wenig Gedanken über eine gerechte Umverteilung der Reichtümer. <strong>Das</strong><br />
große Elend der Buschkliniken ebenso wie die mangelnde medizinische Ausrüstung<br />
offenbaren ein nach außen gerichtetes Entwicklungsmodell, das die bevorrechtigten<br />
Bereiche der Bevölkerung preisgibt. 220<br />
215 „Les richesses du pays sont aujourd’hui confisquées par les plus malins et tous ceux qui détournent les<br />
biens publics à leur profit. Il existe ainsi un gouffre entre le niveau de vie de la minorité aisée et nantie<br />
et celui de la majorité déshéritée“; ebd. (Mein Glaube als Afrikaner, S. 84).<br />
216 „[...] (les) bas niveaux de vie [...] résultent des mécanismes de la sur-exploitation du travail des paysans“;<br />
a.a.O., S. 100 (Mein Glaube als Afrikaner, S. 85).<br />
217 „[...] les maladies infectieuses semblent bien étroitement liées à une économie qui n’a pas été réinventée<br />
à la base, pour répondre aux besoins sociaux de la majorité des populations locales“; ebd.<br />
218 „L’insalubrité des conditions d’habitat, l’absence d’eau potable, l’éloignement des sources et des bornesfontaines,<br />
l’amoncellement des ordures, etc. ... font apparaître un type de société qui tend à se structurer<br />
sur la base des inégalités croissantes“; a.a.O., S. 101 (Mein Glaube als Afrikaner, S. 85f).<br />
219 „[...] les limites d’un capitalisme d’État dans le domaine de la santé“; ebd. (Mein Glaube als Afrikaner, S.<br />
86).<br />
220 „Car, s’il met à la disposition des groupes financiers des facilités pour investir (exonération d’impôts,<br />
rapatriement des bénéfices, etc.), il se préoccupe peu de la redistribution équitable des richesses. La<br />
grande misère des dispensaires de brousse ainsi que la faiblesse des équipements sanitaires mettent en<br />
relief un modèle de développement tourné vers l’extérieur, laissant à l’abandon les secteurs prioritaires<br />
de la population“; ebd.
2 Der Kontext der théologie sous l’arbre 114<br />
Die tatsächliche Art und Weise der Umverteilung des Volksvermögens sieht so aus,<br />
daß eine privilegierte Minderheit versucht, sich die nationalen Ressourcen anzueignen.<br />
In diesem Sinn ist auch die Gesundheitspolitik zu verstehen. In letzter Konsequenz hat<br />
die Okkupation der Macht durch diese Elite „die physische Eliminierung der Marginalisierten“<br />
zur Folge:<br />
Wenn das nationale System der Sozialversicherung allein den Beamten vorbehalten<br />
ist, so entspricht dies der Gesundheitspolitik insgesamt, die dahin tendiert,<br />
eine Minderheit zu privilegieren, die sich die nationalen Ressourcen anzueignen<br />
sucht. Die Prestigeausgaben und die Verschwendung, die sich die Verwaltungsbourgeoisie<br />
leistet, geben ein beredtes Zeugnis von der gängigen Art<br />
der Umverteilung des Volksvermögens. Denn der Hauptteil der verfügbaren<br />
Ressourcen ist bestimmt für das Funktionieren und den Unterhalt der Staatsapparate,<br />
die stets ihren Klassencharakter verschleiern. Obwohl die Gesundheitsprobleme<br />
heute jeden Afrikaner in seinen vitalen Interessen berühren, so hat<br />
doch die Fraktion, welche die Machtpositionen okkupiert, eine solche Bedeutung<br />
gewonnen, die am Ende die physische Eliminierung der marginalisierten<br />
Bevölkerung zur Folge hat. 221<br />
Jean-Marc Ela hebt in diesem Zusammenhang hervor, daß für die Wirtschaftspolitik<br />
die Städte die Priorität haben. Obwohl 80 % der Bevölkerung <strong>auf</strong> dem Land leben,<br />
kommen die staatlichen Ausgaben für das Gesundheitswesen fast ausschließlich den<br />
großen Metropolen zugute:<br />
Denn dort konzentrieren sich die intellektuellen Eliten, die Führungskräfte des<br />
öffentlichen und privaten Sektors, kurz, eine ganze soziale Schicht, die selbst<br />
weder Kapital noch Produktionsmittel besitzt, wohl aber die Entscheidungsgewalt<br />
über deren Verwendung. Hieraus zieht diese Schicht substantielle Vorteile,<br />
was es ihr gestattet, die Modelle zu konsumieren, die durch die Herrschaft der<br />
Ware vorgegeben sind. 222<br />
Hier versickert der größte Teil der staatlichen Investitionen, so daß für soziale Investitionen<br />
wie z.B. den Wohnungsbau oder soziale, kulturelle und medizinische Infrastrukturen<br />
nicht viel übrig bleibt. 223 Die real vorhandene medizinische Struktur erweist sich<br />
221 „Si la Caisse Nationale de prévoyance sociale n’est réservée qu’aux seuls fonctionnaires, c’est dans la<br />
mesure où la politique sanitaire, dans son ensemble, tend à privilégier la minorité qui cherche à<br />
s’approprier les ressources nationales. Les dépenses de prestige et les gabegies auxquelles se livre la<br />
bourgeoisie administrative rendent compte des modes de redistribution de la fortune nationale. Car<br />
l’essentiel des ressources disponibles est destiné au fonctionnement et à l’entretien des appareils d’États<br />
qui ne cessent de masquer leur nature de classe. Bien que les problèmes de santé touchent aujourd’hui<br />
chaque Africain dans ces intérêts vitaux, l’importance prise par la fraction qui occupe les positions de<br />
pouvoir a conséquence l’élimination physique, à terme, des populations marginalisées“; ebd.<br />
222 „Là se concentrent, en effet, les élites intellectuelles, les cadres du secteur public et privé, bref, toute une<br />
couche sociale qui ne possède en propre ni les capitaux ni les moyens de production, mais détient le<br />
pouvoir de décision quant à leur utilisation. Elle en retire des avantages substantiels qui lui permettent<br />
de consommer les modèles imposés par la règne de la marchandise“; a.a.O., S. 102 (Mein Glaube als<br />
Afrikaner, S. 86f).<br />
223 Für Jean-Marc Ela stellt sich in diesem Zusammenhang die Frage, wie unter diesen Bedingungen der<br />
Diskurs über „soziale Gerechtigkeit“ geführt werden kann, so daß er „tatsächlich den Aspirationen der<br />
Mehrheit der Bevölkerung entspricht“: „Comment peut s’appliquer dans ces conditions le discours sur
2 Der Kontext der théologie sous l’arbre 115<br />
bei näherer Betrachtung als „eng mit den Interessen der herrschenden Klassen verbunden.<br />
<strong>Das</strong> Gesundheitswesen bleibt in großem Maße ein medizinischer Dienst für die<br />
Funktionäre.“ 224 Die Mehrheit der Bevölkerung jedoch kann kaum die Kosten für die<br />
Arzneimittel <strong>auf</strong>bringen, die dann ihr ohnehin schon schmales Budget für den Lebensunterhalt<br />
noch zusätzlich belasten. Obendrein konzentrieren sich die medizinischen<br />
Einrichtungen und Fachkräfte vorrangig <strong>auf</strong> solche Gebiete, in denen die Bevölkerung<br />
über eine gewisse K<strong>auf</strong>kraft verfügt, also in erster Linie <strong>auf</strong> die Städte - insbesondere<br />
<strong>auf</strong> die Hauptstadt - und gegebenenfalls <strong>auf</strong> solche Gebiete, in denen es große Plantagen<br />
gibt (z.B. Kaffee oder Kakao). 225 Auch hinsichtlich der Bettenzahl der Krankenhäuser<br />
bestätigen sich die Ungleichheiten zwischen den Städten und den ländlichen<br />
Gebieten.<br />
Über den Zustand der medizinischen Einrichtungen, die öffentlich zugänglich sind,<br />
schreibt Jean-Marc Ela in der für ihn typischen Art: „In unserer Gesellschaft sind der<br />
Mangel an Hygiene in den öffentlichen medizinischen Einrichtungen, das Infektionsrisiko<br />
und die Fäkaliengefahr größer als die Behandlungschancen, die das Privileg einer<br />
reichen Minderheit bleiben.“ 226<br />
Die öffentlichen Krankenhäuser werden immer mehr zu bloßen „Rezeptverteilungszentren“<br />
ohne irgendein ernsthaftes Berufsethos, wo die Kranken, wenn es ihnen denn<br />
gelungen ist, einen Arzt zu sehen und ein Bett zu bekommen, sich selbst um Kompressen,<br />
Decken und Medikamente - sofern überhaupt erhältlich - kümmern müssen.<br />
Gleichzeitig nimmt die Zahl der Privatkliniken stetig zu, und die besonders Privilegierten<br />
lassen sich in den besseren europäischen Kliniken behandeln. Darüber hinaus lähmt<br />
die Funktionsweise, die Verwaltungsstruktur und der hierarchische Aufbau des staatlichen<br />
Gesundheitsapparates jede Initiative und macht es unmöglich, <strong>auf</strong> die Gesundheitsproblematik<br />
neue Antworten zu finden, die den Bedürfnissen der Mehrheit der<br />
Bevölkerung entsprechen:<br />
<strong>Das</strong> Bild der Medizin, das sich im Zusammenhang mit dem Gesamtsystem deutlich<br />
herauskristallisiert, ist das einer medizinischen Praxis, die durch eine medizinische<br />
Hierarchie mit Beschlag belegt wird, welche das Gesundheitswesen<br />
wie ein Unternehmen technischer Natur verwaltet und unfähig ist, den Weg zu<br />
einer Selbstorganisation der Bevölkerung und ihrer Befähigung zur Eigeninitiative<br />
frei zu machen. Eine solche Selbstorganisation würde dazu führen, die ganze<br />
Art und Weise der medizinischen Praxis zu überdenken und entschieden die<br />
Rolle der Ärzte zu entmystifizieren [...] In der gegenwärtigen Situation gründet<br />
sich ihre Partizipation an der gesellschaftlichen Macht der Bourgeoisie des Staala<br />
,justice sociale‘ qui correspond effectivement aux aspirations de la majorité de la majorité de la population?“;<br />
ebd. (Mein Glaube als Afrikaner, S. 87).<br />
224 „[...] la structure médicale paraît liée aux intérêts des classes dirigeantes. La service de santé reste dans<br />
une large mesure un service médical pour les fonctionnaires“; ebd.<br />
225 Jean-Marc Ela weist dar<strong>auf</strong> hin, daß sich nahezu die Hälfte der 290 MedizinerInnen (davon 76 medizinisch-technische<br />
AssistentInnen), die 1973 in Kamerun tätig waren, <strong>auf</strong> Yaoundé und Douala konzentrierte;<br />
a.a.O., S. 102f (Mein Glaube als Afrikaner, S. 87).<br />
226 „Dans notre société, le manque d’hygiène dans les établissements sanitaires publics, le risque de<br />
contagion et le péril fécal sont plus grands que les chances de soins, qui demeurent le privilège des<br />
minorités opulentes“; a.a.O., S. 103 (Mein Glaube als Afrikaner, S. 88).
2 Der Kontext der théologie sous l’arbre 116<br />
tes <strong>auf</strong> ihr „medizinisches Können“. Auf diese Weise reproduziert sich ein System,<br />
das durch die Kolonialmedizin implantiert <strong>wurde</strong>. 227<br />
Auch wenn die Zwangsarbeit abgeschafft <strong>wurde</strong>, hat die Landbevölkerung angesichts<br />
einer Klassenmedizin, die im Dienst einer städtischen Minderheit steht, und die sowohl<br />
die ländlichen Massen als auch die SlumbewohnerInnen zum Opfer endemischer<br />
Krankheiten werden läßt, noch immer den Eindruck, daß sie nicht selbst ‚Herr‘ ihres<br />
eigenen Schicksals ist: „Auf ihrer Ebene nehmen sie den Unterschied zwischen der<br />
Kolonisierung und den neuen Regimes nicht wahr. Vielleicht haben die Herren bloß<br />
die Farbe gewechselt.“ 228<br />
Einen gesonderten Abschnitt 229 widmet Jean-Marc Ela - als Abschluß seiner Analyse -<br />
dem medizinischen Beitrag der christlichen Missionen, deren Geschichte untrennbar<br />
mit medizinischen Aktivitäten verbunden ist: Nicht nur, daß fast jede Mission und fast<br />
jeder Kirchenbezirk über kurz oder lang eine Poliklinik bzw. ein Krankenhaus errichtete,<br />
nicht nur, daß sich ein großer Teil der Ordensschwestern der medizinischen Arbeit<br />
widmet und daß die MissionarInnen in der Regel zu einfachen ärztlichen Tätigkeiten in<br />
der Lage sein müssen - es ist auch so, daß die europäische Medizin in vielen - v.a. den<br />
ländlichen - Gebieten Afrikas praktisch nur durch die missionarischen Einrichtungen<br />
vertreten ist. Größtenteils sind die Missionsstationen identisch mit Ambulanzen oder<br />
Hospitälern, wenn sie sich nicht sogar als regelrechte Kliniken darstellen.<br />
Auch wenn diese meist solide Einrichtungen mit <strong>einem</strong> einsatzfreudigen und gewissenhaften<br />
Personal sind, so entgehen sie dennoch nur schwer einer gewissen Ambivalenz:<br />
Zum einen besteht die Gefahr einer missionarischen Instrumentalisierung der<br />
Werke der sozialen Fürsorge (Schulen, Ambulanzen, Hospitäler). Besonders in islamischen<br />
Gebieten, wo der Proselytismus nicht geduldet ist, und im Kontext konfessioneller<br />
Rivalitäten 230 , stößt die Verbindung von Mission und Medizin <strong>auf</strong> Mißtrauen. Zum<br />
anderen besteht der Verdacht, daß in <strong>einem</strong> System der Unterdrückung und Beherrschung<br />
die gängigen medizinischen Praktiken in den Missionen der Aufrechterhaltung<br />
jener Mechanismen dienen, die jene Verhältnisse immer wieder reproduzieren, welche<br />
die Ursache für Elend und Krankheiten sind - allein schon dadurch, daß der Bruch mit<br />
<strong>einem</strong> medizinischen System, das eine Elite begünstigt, nicht vollzogen wird.<br />
Jean-Marc Elas Gesamteinschätzung der Medizin in Afrika, insbesondere der von den<br />
Missionen betriebenen, drückt sich in folgendem Text sehr gut aus:<br />
227 „L’image de la médecine qui se profile, en cohérence avec l’ensemble du système, est celle d’une pratique<br />
médicale confisquée par une hiérarchie médicale gérant la santé comme une entreprise à caractère<br />
technique, incapable de déboucher sur l’auto-organisation des populations et leur capacité d’initiative.<br />
Une telle auto-organisation amènerait à repenser tout le mode d’exercice de la médecine et, en<br />
définitive, à démystifier le rôle des médecins [...]. Dans la situation actuelle, leur participation au<br />
pouvoir social de la bourgeoisie d’État se fonde sur leur ,pouvoir médical‘. Ainsi se reproduit un système<br />
implanté par la médecine coloniale“; a.a.O., S. 104 (Mein Glaube als Afrikaner, S. 88f).<br />
228 „A leur niveau, ils ne perçoivent pas la différence entre la colonisation et les nouveaux régimes. Peutêtre<br />
les maîtres ont-ils seulement changé de couleur“; ebd. (Mein Glaube als Afrikaner, S. 89).<br />
229 „Missions chrétiennes et action sanitaire“; a.a.O., 105f (Mein Glaube als Afrikaner, 90f).<br />
230 So ist es z.B. für Mitglieder der einen Konfession schwierig, sich in medizinischen Einrichtungen der<br />
anderen Konfession behandeln zu lassen.
2 Der Kontext der théologie sous l’arbre 117<br />
Bis jetzt hat die Medizin - vor allem in den Missionen - nicht immer der Versuchung<br />
der Wohltätigkeit und der Hilfe widerstanden. Dieser Praxis ist es nicht<br />
gelungen, die Faktoren der Morbidität zum Verschwinden zu bringen, trotz<br />
punktueller und teilweiser Erfolge; ungeachtet aller finanziellen Ausgaben und<br />
Aufopferung hat sie sich als unfähig erwiesen, das Auftreten von Menschen und<br />
autonomen Gruppen zu fördern, die fähig sind, an ihrer eigenen Selbstschöpfung<br />
mitzuwirken, die Initiative zu ergreifen und Entscheidungen zu treffen im<br />
freien Engagement in den Gemeinschaften. In dieser Perspektive erscheint die<br />
Medizin, wie sie in den Missionen allgemein üblich ist, als auch diejenige, die in<br />
den von der Kolonialzeit ererbten Strukturen praktiziert wird, als eine regelrechte<br />
Krankheit, von der Schwarzafrika heute geheilt werden muß. 231<br />
Exkurs: Ökologischer Kontext<br />
Die Ökologie ist ein Bereich, dessen sich Jean-Marc Ela zunehmend bewußt zu werden<br />
scheint. Zumindest seit den neunziger Jahren ist der ökologische Kontext für ihn im<br />
Zusammenhang mit dem „außergewöhnlichen“ Bevölkerungswachstum in Afrika ein<br />
Thema. Die Situation ist die, daß sich eine gegenwärtige Bevölkerung von ca. 600<br />
Millionen Menschen bis zum Jahr 2010 in etwa verdoppeln wird - <strong>auf</strong> eine Zahl von<br />
ca. 1,2 Milliarden Menschen, die voraussichtlich überwiegend in Gebieten leben werden,<br />
die äußerst ungünstig für die Nahrungsmittelproduktion sind. Jean-Marc Ela betont<br />
insbesondere die Probleme der Bodenerosion und der Desertifikation, durch deren<br />
Folgeproblem einer zurückgehenden Nahrungsmittelproduktion sich diese Situation<br />
noch zusätzlich verschärft. Seiner Einschätzung nach wird dies in naher Zukunft als ein<br />
enormes Problem zutage treten. Die entscheidende Frage ist für Jean-Marc Ela in diesem<br />
Zusammenhang, wie „wir Bevölkerungswachstum, Umwelt und Entwicklung in<br />
Harmonie miteinander bringen“ können. 232<br />
2.7 Widerstand<br />
Wie es im Grunde schon das Kapitel 2.3 über die sozio-kulturelle Bedeutung der afrikanischen<br />
Religion nahelegt und wie es die Protestbewegungen im L<strong>auf</strong>e seiner Geschichte bezeugen, ist<br />
231 „Jusqu’ici la médecine n’a pas toujours résisté, surtout dans les missions, à la tentation de la bienfaisance<br />
et de l’assistance. Or cette pratique n’a pas réussi a faire disparaître les facteurs de morbidité en dépit<br />
des réussites ponctuelles et sectorielles; malgré toutes les dépenses financières et le dévouement, elle<br />
s’est avérée incapable de promouvoir l’émergence des hommes et des groupes autonomes, capables de<br />
participer à leur propre auto-création, à leur prise d’initiative et de décision dans les engagements de la<br />
liberté au sein des communautés. Dans cette perspective, la médecine largement répandue dans les<br />
missions, comme aussi celle pratiquée dans les structures héritées de la colonisation apparaît comme<br />
une véritable maladie dont il faut guérir aujourd’hui l’Afrique Noire“; JEAN-MARC ELA, Luttes pour la<br />
santé de l’homme et Royaume de Dieu dans l’Afrique d’aujourd’hui, Bulletin de Théologie Africaine 5,<br />
Nr. 9 (1983), 65-84; S. 79.<br />
232 Vgl. zu diesem Thema JEAN-MARC ELA, The Church has to Accompany the People, New People Nr. 19<br />
(1992), 10-11 (Zitat S. 10).
2 Der Kontext der théologie sous l’arbre 118<br />
Afrika nicht nur ein Kontinent der Unterdrückung und der Ungerechtigkeit, sondern auch des<br />
Kampfes und des Widerstandes.<br />
Dieser Abschnitt bietet jedoch keinen umfassenden Überblick über all die unzähligen Widerstandsbewegungen<br />
und die unterschiedlichsten Formen des Kampfes der afrikanischen Menschen.<br />
Angesichts der Tatsache, daß das Bild von Afrika in der westlichen Öffentlichkeit vielfach<br />
das eines hoffnungslos der Armut und dem Elend verfallenen Kontinents ist, den man längst<br />
abgeschrieben hat, soll es hier vorrangig darum gehen, zu betonen, daß die AfrikanerInnen ihr<br />
„Schicksal“ nicht einfach lethargisch und passiv hinnehmen oder sich gegenseitig nur „zerfleischen“<br />
- wie es die Fernsehbilder suggerieren -, sondern daß sie an vielen Orten aktiv den Kampf<br />
für ein besseres Leben und für eine gerechtere Gesellschaft <strong>auf</strong>nehmen und in der Vergangenheit<br />
auch schon <strong>auf</strong>genommen hatten.<br />
Jean-Marc Ela betont dies an verschiedenen Stellen seiner Veröffentlichungen: In der Einleitung<br />
zu Ma foi d’Africain spricht er u.a. das Widerstandspotential der afrikanischen Kultur an. 233 Ein<br />
Abschnitt dieses Buches ist explizit dem Widerstand und der Kreativität des Volkes gewidmet. 234<br />
Auch die Rolle der Jugendlichen in Afrika sieht er in diesem Zusammenhang. 235<br />
Insbesondere aber der 3. Abschnitt von Le rôle des Eglises dans la libération du continent africain<br />
(Bulletin de Théologie Africaine 6, Nr. 12 (1984), 281-302) geht explizit <strong>auf</strong> die Kämpfe<br />
des Volkes ein: „Face au défi africain: des chrétiens engagés dans les luttes populaires“ (290-<br />
295; dtsch.: <strong>„Der</strong> afrikanischen Herausforderung zugewendet: Die in den Kämpfen des Volkes<br />
engagierten Christen“). Der Titel deutet es schon an, in welchem Sinn Jean-Marc Elas Äußerungen<br />
über den Widerstand zu verstehen sind: als Herausforderung für die afrikanischen ChristInnen,<br />
TheologInnen und Kirchen. Dieser Text liegt den folgenden Ausführungen zugrunde, wobei,<br />
wo nötig, die anderen angesprochenen Texte ergänzend herangezogen werden.<br />
Jean-Marc Ela weist dar<strong>auf</strong> hin, daß Forschungsarbeiten 236 ein entscheidendes Phänomen<br />
ans Licht bringen, das lange verschleiert und verkannt worden war. Nachdrücklich<br />
betont er: „[...] die Geschichte unseres Kontinents ist nicht nur eine Geschichte der<br />
Knechtschaft und der Unterdrückung; sie ist zu jedem Zeitpunkt unseres Schicksals<br />
gleichzeitig eine Geschichte der Kämpfe und des Widerstandes des Volkes.“ 237<br />
Die Erinnerung an den Widerstand der LandbewohnerInnen, an die ArbeiterInnenbewegungen<br />
und an die führenden Repräsentanten einer „Front der Verweigerung gegenüber<br />
den verschiedenen Formen der Demütigung und der Unterdrückung des<br />
233 „Avant-propos“; Ma foi d’Africain, 13-20, insbes. S. 16f (Mein Glaube als Afrikaner, 7-14, insbes. S.<br />
10f).<br />
234 „Résistance et créativité populaires“; Ma foi d’Africain, 128-130 („Widerstand und Kreativität des<br />
Volkes“; Mein Glaube als Afrikaner, 112-114).<br />
235 „Le rôle de la jeunesse chrétienne africaine“; Ma foi d’Africain, 194 („Die Rolle der christlichen Jugend<br />
Afrikas“; Mein Glaube als Afrikaner, 173-174).<br />
236 Jean-Marc Ela bezieht sich hierbei u.a. <strong>auf</strong> folgende Untersuchungen: J. BUITENHUIS, Le mouvement<br />
„Mau-Mau“. Une révolte paysanne et anti-coloniale en Afrique Noire, Paris/La Haye (Mouton), 1971; J.<br />
A. MBEMBE, Les pratiques politiques et les protestations populaires au Cameroun de 1930 à 1960, Paris,<br />
1983 (inédit); L. P. NGONGO, Histoire des forces religieuses au Cameroun, Paris (Karthala), 1982; Y.<br />
PERSON SAMORY, Une révolte dyula, 3 vols., Dakar (IFAN); J. SURET-CANALE, „Résistance“ et<br />
„Collaboration“ en Afrique coloniale (damit sind wohl die entsprechenden Abschnitte in: DERS., Afrique<br />
Noire. L’Ère coloniale (1900-1945), Éd. Sociales, 1977, gemeint).<br />
237 „[...] l’histoire de notre Continent n’est pas seulement une histoire de la servitude et de l’oppression; elle<br />
est aussi, à chaque moment de notre destin, une histoire des luttes et des résistances populaires“; Le rôle<br />
des Eglises, S. 292.
2 Der Kontext der théologie sous l’arbre 119<br />
schwarzen Kontinents“ 238 , die den jungen Generationen heute neu zu Bewußtsein<br />
kommt, führt Jean-Marc Ela zu dem Schluß, daß es „eine Fälschung der Geschichte<br />
dieses Kontinents wäre, zu glauben, die Afrikaner hätten einfach passiv und mit Resignation<br />
der Errichtung der Ausbeutungs- und Herrschaftsstrukturen beigewohnt.“ 239<br />
Um einen solchen Irrglauben zu widerlegen, führt Jean-Marc Ela als Beispiel für die<br />
afrikanische Widerstandsgeschichte unter anderem die Mau-Mau-Bewegung in Kenia<br />
an als „eine ländliche und antikoloniale Revolution“ 240 . Er erinnert an die Revolten der<br />
Tuaregs in Niger und die Widerstandsbewegung in Dahomey vor dem Ersten Weltkrieg<br />
und verweist <strong>auf</strong> die belgische Kolonie Kongo, wo<br />
die gnadenlose Ausbeutung, die Plünderung und die Unterdrückung, deren Opfer<br />
die Landbevölkerung war, diese nicht in Apathie und Gleichgültigkeit hatten<br />
versinken lassen. Hier wie anderswo kann die koloniale Geschichte nicht <strong>auf</strong><br />
eine Art „pax belgica“ zurechtgestutzt werden. In Wirklichkeit ist sie gekennzeichnet<br />
durch Protest- und Widerstandsbewegungen gegen den Kolonisator,<br />
denen häufig brutale und blutige Repressionen folgten. 241<br />
Über sein Heimatland Kamerun schreibt Jean-Marc Ela, daß „man wenig begriffen hat,<br />
daß die dreißiger Jahre in diesem Teil des kolonisierten Afrika einen Bruch darstellen“:<br />
In dieser Zeit hatten eine politische Bewußtwerdung und die Entwicklung von<br />
Protestaktionen begonnen, die - nach dem Zweiten Weltkrieg - aus diesem Gebiet<br />
eines der wenigen Länder unter franko-britannischer Herrschaft machten,<br />
wo sich die Subversionsversuche im L<strong>auf</strong> der Geschichte zu gewaltsamen<br />
Kämpfen und zur Befreiungsbewegung ausgeweitet haben. 242<br />
Jean-Marc Ela kritisiert explizit die koloniale Literatur und Geschichtsschreibung, die<br />
durch ihre Klischees „das Bild der großen afrikanischen Widerstandskämpfer ver-<br />
238 „un front de refus aux formes diverses d’humiliation et d’oppression du continent noir“; ebd.<br />
239 „Croire que les Africains ont assisté passivement et avec résignation à l’établissement des structures<br />
d’exploitation et de domination serait falsifier l’histoire de ce continent“; ebd.<br />
240 „[...] une révolution paysanne et anti-coloniale“; ebd. - Die Mau-Mau-Bewegung trat erstmals 1948 mit<br />
öffentlichen Aktionen hervor. Sie <strong>wurde</strong> hauptsächlich von den Gikuyu, Embu und Meru getragen, aber<br />
auch von Angehörigen anderer Völker Kenias. Von der britischen Kolonialregierung <strong>wurde</strong> sie <strong>auf</strong><br />
grausamste Weise bekämpft (u.a. Internierung zigtausender Menschen in Konzentrationslagern und<br />
Umsiedlung der gesamten Gikuyu-Bevölkerung in befestigte und streng bewachte Dörfer). Zu betonen<br />
ist insbesondere die Revitalisierung der traditionellen Religion innerhalb dieser afrikanischen Befreiungsbewegung,<br />
deren Ziele v.a. die Umverteilung des von den Weißen okkupierten Landes und die nationale<br />
Unabhängigkeit waren. 1952 kam es zum offenen Aufstand, der 1956 von britischen Truppen<br />
blutig niedergeschlagen <strong>wurde</strong>. Von 1952-1960 herrschte der Ausnahmezustand.<br />
241 „[...] la surexploitation, la spoliation et l’oppression dont les paysans furent victimes, ne les a pas laissés<br />
dans l’apathie et l’indifférence. Ici comme ailleurs, l’histoire coloniale ne peut être ramenée à une sorte<br />
de ,pax belgica‘. En réalité, elle est jalonnée de mouvements de protestation et résistance au<br />
colonisateur, souvent suivis de répressions brutales et sanglantes“; Le rôle des Eglises, S. 293.<br />
242 „Au Cameroun, on a peu saisi la rupture que constituent dans cette Afrique colonisée les années 30 dans<br />
l’émergence d’une conscience politique et la genèse des protestations qui feront de ce territoire, à partir<br />
de la deuxième guerre mondiale, l’un des rares pays sous domination franco-britannique où<br />
s’esquissent des tentatives de subversion au cours de l’histoire par les luttes violentes et les mouvements<br />
de libération“; ebd.
2 Der Kontext der théologie sous l’arbre 120<br />
zeichnet haben.“ 243 Er liest sie <strong>auf</strong>grund ihrer verzerrten Darstellungen ‚gegen den<br />
Strich‘:<br />
<strong>Das</strong>, was die koloniale Literatur „Aufruhr, Rebellion“, „Erhebungen“ oder<br />
„Terrorismus“ nennt, 244 ist in Wirklichkeit ein Versuch des Widerstands, der<br />
das ganze Potential an Vorstellungskraft und Kreativität ins Spiel bringt, das<br />
dank sozialer Akteure und organisierter Gruppen, welche die Energien eines<br />
Volkes oder einer Region zum Leben erwecken, Gestalt annimmt. 245<br />
Dieser Widerstand des Volkes gegen „die Angriffe einer Ordnung, die ihrer Sicht der<br />
Welt total fremd ist“ 246 , hatte in der Epoche des Kolonialismus ganz verschiedene<br />
Formen angenommen; ihm muß im Rahmen des herrschenden Systems „eine besondere<br />
Stellung“ (une place particulière) zuerkannt werden - so Jean-Marc Ela. Gleichzeitig<br />
weist er aber dar<strong>auf</strong> hin, daß mit dem Ende der Kolonialherrschaft „der Schwung, der<br />
den Afrikaner zu einer gerechten Gesellschaft treibt, in der Situation der durch die<br />
neuen Abhängigkeiten hervorgebrachten Ungleichheiten“ 247 nicht geringer <strong>wurde</strong>:<br />
Hier wie dort organisieren die Landarbeiter, die Arbeiter der Unternehmen, die<br />
Schüler oder die Studenten 248 den Widerstand für ein besseres Leben. Außerdem<br />
gibt es in der afrikanischen Tradition eine Art revolutionäres Potential, das<br />
sich in Formen des Spotts ausdrückt, die sich in symbolischen Handlungen aktualisieren,<br />
die neu entwickelt werden in den repressiven Situationen, die jede<br />
offene und öffentliche Stellungnahme ausschließen. Es gibt da Orte, die ein Re-<br />
243 „Les clichés de l’historiographie coloniale ont masqué la figure des grands résistants africains“; a.a.O., S.<br />
292f.<br />
244 In diesem Sinn und in dieser Hinsicht darf wohl auch Meyers Großes Taschenlexikon (24 Bde., 1983)<br />
„koloniale Literatur“ genannt werden. Unter dem Stichwort „Mau-Mau“ (Bd. 14; S. 112f) ist zu lesen,<br />
daß dies der „Name eines terrorist. Geheimbundes der Kikuju“ sei; außerdem ist die Rede von „Terroraktionen<br />
des M.-M.“. Die gleichen oder ähnliche Formulierungen finden sich auch im Duden-Lexikon<br />
von 1962 (3 Bde.; Bd. 2, S. 1418) und in Der Neue Brockhaus von 1960 (5 Bde.; Bd. 3, S. 456). In RGG 3<br />
(Bd. 3, 1959, 1986 2 , Sp. 1247) schreibt ein gewisser J.A.R. WATT: „1952 brach als Folge der früheren<br />
Unruhen [sic!] der Mau-Mau-Aufstand aus und störte das Leben der Kikuyus, ja sogar der ganzen Kolonie.“<br />
Im 1.Bd. (1957, 1986 2 ) desselben Nachschlagewerkes äußert sich ein C.P. GROVES folgendermaßen:<br />
„In Süd-A.[frika] begann [nach dem II. Weltkrieg] die Regierung der Nationalpartei die<br />
Apartheidspolitik konsequent durchzuführen, in deren Rahmen viel zur Fürsorge für die Bantu getan<br />
<strong>wurde</strong> [sic!]. Auf der anderen Seite <strong>wurde</strong>(n) [...] in Tanganyika, Kenya und Britisch-Zentral-A. [...] die<br />
Partnerschaft zwischen den verschiedenen Rassen propagiert [...]. Der Mau-Mau-Aufstand unter den<br />
Kikuyu, der sich ebenso gegen Christen wie Europäer wandte, stellte einen barbarischen Rückfall dar<br />
[...]“ (Sp. 162).<br />
245 „Ce que la littérature coloniale appelle ,émeutes, rébellions‘ ou ,insurrections‘ ou ,terrorisme‘, c’est en<br />
fait, un effort de résistance qui met en jeu des potentiels d’imagination et de créativité qui prennent<br />
forme grâce à des acteurs sociaux et des groupes organisés réveillant les énergies d’un peuple ou d’une<br />
région“; Le rôle des Eglises, S. 293.<br />
246 „[...] les assauts d’un ordre totalement étranger à leur vision du monde“; ebd. (ein Zitat von „J.S. Calale“,<br />
wohl: J. Suret-Canale).<br />
247 „[...] l’élan qui porte l’Africain vers une société de justice dans la conjoncture des déséquilibres nés de<br />
nouvelles dépendances“; ebd.<br />
248 In Ma foi d’Africain, S. 194, schreibt Jean-Marc Ela: „En Afrique noire, la jeunesse est une force mobile:<br />
elle peut apporter une contribution décisive à la résistance aux facteurs externes et internes de domination“<br />
(„In Schwarz-Afrika ist die Jugend eine treibende Kraft: Sie kann einen entscheidenden Beitrag<br />
zum Widerstand gegen die externen und internen Faktoren der Beherrschung leisten“; Mein Glaube als<br />
Afrikaner, S. 173).
2 Der Kontext der théologie sous l’arbre 121<br />
fugium des „Politischen“ <strong>auf</strong> der Graswurzelebene sind, die Art und Weise, wie<br />
das Volk Widerspruch und Protest äußert. In Schwarzafrika, wo der Konflikt<br />
durch die Apparate der Macht in das alltägliche Leben der Dörfer und Stadtviertel<br />
hineingetragen wird, müssen all diese Freiräume des Handelns wieder angeeignet<br />
werden, wo ein Wort, ein Ausdruck, ein Bild und selbst das Lachen eine<br />
explosive Bedeutung haben können. Manchmal vermitteln das Schweigen und<br />
die „taktische“ Geduld eines kleinen Volkes den trügerischen Eindruck der Einstimmigkeit<br />
und des kollektiven Einverständnisses, während sie tatsächlich einen<br />
Bodensatz der Ablehnung und der Revolte verbergen. 249<br />
Von daher ist es ein Trugschluß, zu glauben, daß die „von oben“ verordnete „Einheit“<br />
das Nichtvorhandensein von internen Widersprüchen und Konflikten bedeuten würde -<br />
ist dies doch eine „Einheit, die zumeist nur <strong>auf</strong> höchster Ebene um einen Führer herum<br />
verwirklicht ist, der die Friedhofsruhe durch Repression erzwingt“ 250 :<br />
Von <strong>einem</strong> Moment <strong>auf</strong> den anderen erinnern die sporadischen oder organisierten<br />
sozialen Bewegungen daran, daß gewisse Länder - auch wenn sie Paradiese<br />
für die Investoren sind - nichts anderes sind als Friedhöfe der geistigen Armut<br />
oder Orte des Hungers und der materiellen Armut für die Menschen, die die Füße<br />
im Dreck stecken haben, die aber wissen, wann es nötig ist, zu sagen, daß sie<br />
genug haben. 251<br />
Mit am bedeutungsvollsten sind für Jean-Marc Ela die Aktionen der Frauen, „die in<br />
Afrika ihre Auflehnung oft durch Demonstrationen und Straßenkämpfe ausdrücken“ 252 .<br />
Er nennt unter anderem den 16. Juli 1977, als in Mali 2000 Frauen nach dem Mord an<br />
Modibo Keita zu einer Demonstration gegen die Unterdrückung und für die Freilassung<br />
der politischen Gefangenen <strong>auf</strong>riefen. Jean-Marc Ela erinnert auch an den 27.<br />
August 1977: Nachdem im Guinea von Sékou Touré in <strong>einem</strong> seiner berühmtberüchtigten<br />
Gefängnisse Diallo Telli zu Tode gekommen war, demonstrierten 10000<br />
Frauen in den wichtigsten Städten des Landes. In Conakry plünderten und verwüsteten<br />
sie einige Polizeikommissariate; sie bewarfen den Präsidenten mit Steinen, skandierten,<br />
249 „Ici ou là, les manœuvres agricoles, les ouvriers des entreprises, ou les lycéens ou les étudiants<br />
organisent la résistance pour mieux vivre. Il existe d’ailleurs, dans la tradition africaine, une sorte de<br />
potentiel révolutionnaire qui se traduit par des formes de dérision qui s’actualisent dans les pratiques<br />
symboliques qu’on réinvente dans les situations répressives qui excluent toute prise de position ouverte<br />
et publique. Il y a là des lieux de refuge du ,politique‘ au ras de sol, des modes populaires de protestation<br />
et de contestation. En Afrique Noire où le conflit s’installe dans la vie quotidienne des villages et des<br />
quartiers urbains investis par les appareils du pouvoir, il faut ressaisir tous ces espaces d’initiatives où<br />
un mot, une expression, une image et le rire même peuvent revêtir une charge explosive. Parfois le<br />
silence et la patience ,tactique‘ d’un petit peuple donnent l’illusion de l’unanimité et de l’approbation<br />
collective alors qu’il dissimule un fond de refus et de révolte“; a.a.O., S. 293f. - Zu den versch. Formen<br />
des durch die afrik. Kultur inspirierten Widerstandes vgl. auch Ma foi d’Africain, S. 16f (Mein Glaube<br />
..., S. 10f).<br />
250 „[...] l’unité, réalisée le plus souvent au sommet autour d’un dirigeant qui impose la paix des cimetières<br />
par la répression“; a.a.O., S. 294.<br />
251 „D’un moment à l’autre, des mouvements sociaux, sporadiques ou organisés viennent rappeler que si<br />
certains pays sont des paradis pour les investisseurs, ils sont les cimetières de l’indigence ou les lieux de<br />
la faim et de la misère pour les hommes qui ont les pieds dans la boue et savent quand il le faut, dire<br />
qu’ils en ont assez“; ebd.<br />
252 „[...] qui, en Afrique, expriment souvent leur révolte par des manifestations et des combats de rue“; ebd.
2 Der Kontext der théologie sous l’arbre 122<br />
daß sie Hunger hätten und verlangten von ihm, daß er ihnen ihre Ehemänner und ihre<br />
Kinder zurückgeben solle. Laut Jean-Marc Ela beleuchten diese exemplarischen Fälle<br />
sehr deutlich „die Möglichkeiten der Frauen Afrikas im Kampf für Gerechtigkeit“ 253 .<br />
Jean-Marc Ela hebt schließlich die Bedeutung der afrikanischen Tradition hervor, der<br />
eine Erfahrung des Glaubens und Gottes, die ausgeht von einer kritischen Analyse der<br />
Ausbeutung und zur Partizipation an Befreiungsbewegungen führt, nicht fremd ist:<br />
Wie dies - in der Savanne und im Waldland - der Zyklus der Erzählungen der<br />
Waisen ins Gedächtnis zurückruft, privilegiert die afrikanische Tradition - im<br />
sozio-ökonomischen Bereich - die Armen und Schwachen. Genauer, die afrikanische<br />
Kultur bringt sich ein und gestaltet sich in der Dynamik der Konflikte<br />
und Konfrontationen zwischen der Natur und der Geschichte. [...] In der Vorstellungswelt<br />
unserer Völker stellt sich die afrikanische Kultur den Konflikten<br />
des alltäglichen Lebens. 254<br />
So finden die traditionellen afrikanischen Religionen, die Mythen, Kosmogonien, Legenden,<br />
Lieder und Skulpturen ihren Sinn im alltäglichen Leben der AfrikanerInnen.<br />
Diese sind verbunden mit der Jagd und mit der Fischerei, mit der Feldarbeit, dem Krieg<br />
und der Kontrolle über das Land und mit der Krankheit und dem Tod. In der Geschichte<br />
eines beherrschten und ausgebeuteten Volkes läßt sich eine „Relektüre der traditionellen<br />
Kultur“ dort beobachten, „wo die im kollektiven Gedächtnis ruhenden Symbole<br />
wieder neu aktualisiert und mit neuen Bedeutungen gefüllt werden“ 255 . Hierfür sind die<br />
messianischen Bewegungen ein exzellentes Beispiel, in deren Rahmen die Religion<br />
und die Kultur des „Afrika der Ahnen“ zu Faktoren der Bewußtwerdung, der Herausbildung<br />
eines kritischen Bewußtseins und des Widerstands gegen die Unterdrückung<br />
<strong>wurde</strong>n. 256 Zu dieser Zeit der kolonialen Beherrschung blieben die „Buschdörfer“ ein<br />
Ort des Exils für eine Volkskultur, deren wichtigste Hüter sowohl die Alten und die<br />
Großmütter als auch die traditionellen Heiler (guérisseurs) sind, die vom kolonialen<br />
Regime - als „Zauberer/Hexer“ (sorciers) gebrandmarkt - unbarmherzig verfolgt <strong>wurde</strong>n,<br />
da vor allem sie es waren, die den Widerstand gegen die Fremdherrschaft verkörperten.<br />
Aber auch heute hat es das Kapital nicht geschafft, alle Bereiche der afrikanischen<br />
Gesellschaft vollständig zu durchdringen, so daß gewisse Nischen bleiben, „in denen<br />
sich die Fähigkeit zum Widerstand und die Kreativität des Volkes entfalten konnten“<br />
257 :<br />
253 „[...] les potentialités des femmes d’Afrique dans la lutte pour la justice“; ebd.<br />
254 „(La tradition africain), dans le domaine socio-économique, privilégie les pauvres et les faibles comme le<br />
rappelle, dans la savane et la forêt, le cycle des contes de l’orphelin. Plus précisément, la culture<br />
africaine s’inscrit et s’élabore dans la dynamique des conflits et des affrontements entre la nature et<br />
l’histoire. [...] La culture africaine assume les conflits de la vie quotidienne dans l’imaginaire de nos<br />
peuples“; ebd.<br />
255 „[...] où les symboles endormis dans la mémoire collective sont réactualisés et investis de significations<br />
inédites“; a.a.O., S. 295.<br />
256 Vgl. dazu Kap. 2.3 über die sozio-kulturelle Bedeutung der afrikanischen Religion.<br />
257 „[...] où purent se déployer la capacité de résistance et la créativité populaire“; Ma foi d’Africain, S.<br />
(Mein Glaube als Afrikaner, S. 112).
2 Der Kontext der théologie sous l’arbre 123<br />
Man möchte ihn am liebsten ausradieren, den stummen Diskurs (le discours<br />
muet) 258 eines ganzen Volkes von Ausgebeuteten, der sich trotz der verschiedenen<br />
Formen der Beherrschung und des Widerstandes gegen diese durch die<br />
Jahrhunderte hindurch unablässig wiederholte. Seit der Fernhandel die Strukturen<br />
der afrikanischen Gesellschaften zerstört hat, haben diese nicht zu kämpfen<br />
<strong>auf</strong>gehört, um der Unterwerfung zu entrinnen. Der Widerstand ist ein fester Bestandteil<br />
des Gedächtnisses des traditionellen Afrika. 259<br />
258 Jean-Marc Ela spricht in Ma foi d’Africain, S. 17 (Mein Glaube als Afrikaner, S. 11), auch von „la parole<br />
muette“: „Il s’agit de ces mots et expressions plus ou moins entendus de ceux qui sont perchés ,en haut‘.<br />
Car, il y a un anti-discours qui tend à se développer en marge du verbe officiel en s’opposant<br />
radicalement à lui. La production de ce discours est l’œuvre d’une culture qui s’intègre parfaitement<br />
dans les luttes du peuples“ („das stumme Wort“: „Es handelt sich um jene Worte und Ausdrücke, die<br />
von denen, die ,oben‘ sitzen, mehr oder weniger verstanden werden. Denn es gibt da einen Anti-<br />
Diskurs, der die Tendenz hat, sich am Rande des offiziellen Redens zu entwickeln und sich diesem radikal<br />
entgegenzustellen. Die Produktion dieses Diskurses ist das Werk einer Kultur, die sich völlig in die<br />
Kämpfe des Volkes integriert“).<br />
259 „On a tendance à gommer le discours muet de tout un peuple d’exploités, répété inlassablement pendant<br />
des siècles, en dépit des variations de forme des dominations et des résistances à celle-ci. Depuis que le<br />
commerce au loin a déstructuré les sociétés africaines, celle-ci n’ont cessé de lutter pour échapper à la<br />
soumission. La résistance fait partie de la mémoire de l’Afrique traditionnelle“; a.a.O., S. 128 (Mein<br />
Glaube als Afrikaner, S. 112f).
3 Hermeneutik und Methode der théologie<br />
sous l’arbre - Der epistemologische Bruch<br />
3.1 Einleitung<br />
Vor der Darstellung von Jean-Marc Elas theologischer Methode und der ihr zugrunde liegenden<br />
Hermeneutik ist festzuhalten, daß er diese vor allem praktiziert und weniger abstrakt-theoretisch<br />
darlegt und diskutiert. Sein primäres Anliegen ist es nicht, in einen akademischen Diskurs über<br />
dieses Thema einzutreten, sondern seine Erkenntnisse in der Praxis zu verwirklichen, d.h. sowohl<br />
in seiner missionarischen und pastoralen Praxis als auch in s<strong>einem</strong> Wirken als theologischer<br />
Schriftsteller. Er hat von daher auch keinen hermeneutischen Entwurf oder eine erkenntnistheoretische<br />
Grundlegung einer afrikanischen Befreiungstheologie vorgelegt, wie dies z.B.<br />
Clodovis Boff 1 oder J. Severino Croatto 2 für die lateinamerikanische Befreiungstheologie getan<br />
haben. Trotzdem sind die Hermeneutik und eine reflektierte und angemessene Methode der<br />
Theologie für Jean-Marc Ela von besonderer Bedeutung. Mindestens ebenso wichtig wie die<br />
theologischen Inhalte sind für ihn die Art und Weise des Theologietreibens und der konkrete<br />
Bezug zum eigenen - lokalen und globalen - Kontext. So ist es denn auch nicht erstaunlich, wenn<br />
sich in vielen Texten von Jean-Marc Ela am Rande hermeneutische Reflexionen finden - letztlich<br />
sind all seine theologischen Publikationen nichts anderes als die Klärung und Identifizierung<br />
der Aufgaben von Theologie und Kirche angesichts der aktuellen Herausforderungen. Auf diese<br />
Weise greift Jean-Marc Ela also doch in der für ihn typischen - prophetischen - Art energisch in<br />
die Debatte um eine hermeneutisch-methodische Grundlegung einer afrikanischen Theologie 3<br />
ein.<br />
1<br />
2<br />
3<br />
Vgl. CLODOVIS BOFF, Theologie und Praxis. Die erkenntnistheoretischen Grundlagen der Theologie der<br />
Befreiung (Fundamentaltheologische Studien; Bd. 7), München (Kaiser), Mainz (Grünewald), 1983<br />
(brasil. Orig.: Teologia e Prática - Teologia do Politico e suas mediações, Petropolis, 1978).<br />
Vgl. J. SEVERINO CROATTO, Die Bibel gehört den Armen. Perspektiven einer befreiungstheologischen<br />
Hermeneutik (Ökumenische Existenz heute; Bd. 5), München (Kaiser), 1989 (span. Orig.: Hermeneutica<br />
Biblica, Buenos Aires, 1984).<br />
Verbunden mit der Debatte über die Grundlegung einer afrikanischen Theologie sind die Namen von so<br />
unterschiedlichen Theologen wie z.B. Barthelémy Adoukonou, Oscar Bimwényi-Kweshi, Fabien Eboussi<br />
Boulaga, Bénézet Bujo, Kwesi Dickson, Edward Fasholé-Luke, John Mbiti, Ngindu Mushete, Charles<br />
Nyamiti, John Pobee, Anselme Titianma Sanon, Harry Sawyer, Aylward Shorter, Tharcisse Tshibangu<br />
Tshishiku oder Desmond Tutu (für Literaturhinweise vgl. die Bibliographien bei: HERIBERT RÜCKER,<br />
„Afrikanische Theologie“ und JOHN PARRATT, Theologiegeschichte). - Besonders zu erwähnen ist hier<br />
auch die feministische Strömung der afrikanischen Theologie. Ihre prominenteste Vertreterin ist wohl<br />
Mercy Amba Oduyoye (vgl. DIES., Wir selber haben ihn gehört. Theologische Reflexionen zum Christentum<br />
in Afrika, Freiburg/Schweiz (Exodus), 1988); weitere Vertreterinnen sind z.B. Elizabeth Amoah,<br />
Bette Ekeya, Teresia Hinga, Bernadette Mbuy Beya, Theresa Okure oder Louise Tappa (vgl. zur feministischen<br />
Theologie in Afrika die entsprechenden Beiträge in: Leidenschaft und Solidarität. Theologinnen<br />
der Dritten Welt ergreifen das Wort, Luzern (Exodus), 1992; und in: URSULA KING (Hg.), Feminist Theology<br />
from the Third World. A Reader, Maryknoll, N.Y. (SPCK/Orbis), 1990; vgl. außerdem den Artikel<br />
von BERNADETTE MBUY BEYA, Die Last des Schweigens abschütteln. Wie schwarze Christinnen für ihre<br />
Befreiung kämpfen, Publik-Forum Nr. 22 (1994), 24-25).
3 Hermeneutik und Methode der théologie sous l’arbre - Der epistemologische Bruch 125<br />
Jean-Marc Ela praktiziert einen induktiven und dialektischen Ansatz: Er geht von der<br />
konkreten und alltäglichen Lebenswirklichkeit der Menschen aus und reflektiert diese<br />
theologisch. Zugleich leitet sich sein theologisches Urteil nicht aus einer bestimmten<br />
Dogmatik ab (deduktiver Ansatz), sondern es kommt zustande aus einer Auseinandersetzung<br />
mit der biblischen Tradition als Quelle der theologischen Urteilsbildung, wobei<br />
der aktuelle Kontext ein neues Licht <strong>auf</strong> die alten Texte wirft: Text (Bibel) und<br />
Kontext (afrikanische Lebenswirklichkeit) erhellen sich gegenseitig. Ein besonders<br />
wichtiger Aspekt dieses Ansatzes bei der konkreten Lebenswirklichkeit ist, daß er kein<br />
abstrakt-theoretischer bleibt, sondern in <strong>einem</strong> konkreten Engagement an der Seite der<br />
Armen und Unterdrückten für ihre Befreiung, in <strong>einem</strong> Teilen ihres alltäglichen Lebens,<br />
ihrer alltäglichen Sorgen, Nöte, Probleme, aber auch ihrer Aspirationen, Sehnsüchte,<br />
Hoffnungen und Freuden verwurzelt ist.<br />
Die besondere Betonung der Armen und Unterdrückten und insbesondere ihr „hermeneutischer<br />
Vorrang“ gründet zum einen in der Tatsache, daß die Mehrheit der AfrikanerInnen<br />
in Situationen der Armut und Unterdrückung ihr Leben fristen müssen, zum<br />
anderen in der biblischen Option für die Armen, Schwachen, Erniedrigten, Ausgebeuteten<br />
und Unterdrückten. Diesem Engagement kommt eine epistemologische Funktion<br />
zu: Es ermöglicht die Erkenntnis der gesellschaftlichen Wirklichkeit ebenso wie die<br />
der „Offenbarung“ - letztendlich die Erkenntnis Gottes.<br />
Mit diesem methodologischen Ansatz steht Jean-Marc Ela nicht allein 4 , sondern bewegt<br />
sich im Rahmen einer Strömung, die den „epistemologischen Bruch“ mit der<br />
westlichen akademischen Wissenschaft postuliert. Innerhalb der Theologie wird diese<br />
Position von der Ökumenischen Vereinigung von Dritte-Welt-TheologInnen<br />
(EATWOT) seit ihrer Gründung 1976 vertreten. In der Schlußerklärung der Konferenz<br />
von Daressalam 1976 heißt es:<br />
Die europäischen und nordamerikanischen Theologien dominieren heutzutage<br />
in unseren Kirchen und stellen eine Weise kultureller Beherrschung dar. Man<br />
muß sie als aus der Situation dieser Länder erwachsen verstehen und kann sie<br />
deshalb nicht unkritisch übernehmen, ohne daß wir die Frage der Bedeutung in<br />
4<br />
Jean-Marc Elas befreiungstheologische Hermeneutik ist vergleichbar mit der Hermeneutik der lateinamerikanischen<br />
Theologie der Befreiung, wie sie z.B. LEONARDO und CLODOVIS BOFF in ihrem Buch Wie<br />
treibt man Theologie der Befreiung?, Düsseldorf (Patmos), 1986 (brasil. Orig.: Como fazer teologia da<br />
libertação, Petropolis, 1986), dargelegt haben. Auch sie betonen die fundamentale Bedeutung einer mit<br />
den Armen und Unterdrückten solidarischen und befreienden Praxis als <strong>einem</strong> ersten Schritt, von dem<br />
aus in <strong>einem</strong> zweiten Schritt die Glaubensreflexion folgt. Diese Glaubensreflexion gliedert sich wiederum<br />
in drei Schritte: 1.) die sozio-analytische Vermittlung (Sehen), 2.) die hermeneutische Vermittlung<br />
(Urteilen) und 3.) die praktische Vermittlung (Handeln). Die Gebrüder Boff differenzieren drei Ebenen<br />
der Theologie der Befreiung: die professionelle, die pastorale und die populare Ebene (tabellarische<br />
Übersicht a.a.O., S. 23). Ich würde Jean-Marc Ela nach diesem Modell irgendwo zwischen der professionellen<br />
und der pastoralen Ebene ansiedeln. Zwar professionell ausgebildet und <strong>auf</strong> vielen theologischen<br />
und soziologischen Kongressen anzutreffen, betreibt Jean-Marc Ela Theologie doch mehr im „<strong>info</strong>rmellen<br />
Sektor“, ist stärker der Praxis verbunden und mißt dem prophetischen Element ein größeres<br />
Gewicht zu als es ein rein professioneller Theologe tun würde. Jean-Marc Ela ist v.a. auch in Bibelkreisen<br />
und Basisgemeinschaften unter „einfachen Leuten“ zu finden. Er ist eine Art „Pendler zwischen den<br />
Welten“: zwischen verschiedenen sozialen und kulturellen Kontexten. So kann er einerseits den Armen<br />
eine gewisse Hoffnung schenken, dadurch, daß sich ein so „großer“ Theologe ihnen gleichstellt, andererseits<br />
kann er <strong>auf</strong> diese Weise auch reinen Akademikern die Augen öffnen für die konkrete Lebenswirklichkeit<br />
der „Verdammten der Erde“.
3 Hermeneutik und Methode der théologie sous l’arbre - Der epistemologische Bruch 126<br />
unserem Kontext stellen. Wir müssen nämlich, um dem Evangelium und unseren<br />
Völkern treu zu sein, uns über die Wirklichkeiten unserer eigenen Situation<br />
Gedanken machen und das Wort Gottes im Verhältnis zu diesen Wirklichkeiten<br />
interpretieren. Eine bloß akademische Theologie, die vom Handeln getrennt ist,<br />
weisen wir als belanglos zurück. Wir sind bereit, in der Epistemologie einen radikalen<br />
Bruch zu vollziehen, der das Engagement zum ersten Akt der Theologie<br />
macht und sich <strong>auf</strong> eine kritische Reflexion oder die Realitätspraxis der Dritten<br />
Welt einläßt. 5<br />
Im folgenden versuche ich, die einleitende Charakterisierung der Hermeneutik und Methode der<br />
théologie sous l’arbre in einer systematisierenden Darstellung zu entfalten. Ich spreche von<br />
„versuchen“, weil einerseits Jean-Marc Ela seine Methode selbst nicht systematisch dargestellt<br />
hat und andererseits der „hermeneutische Zirkel“ - oder besser: die hermeneutische „Spirale“ -<br />
die Eigenart besitzt, die Entscheidung, womit denn zu beginnen sei, nicht gerade zu erleichtern.<br />
Folgende Gliederung scheint mir die überzeugendste zu sein:<br />
I.) „Prämissen“<br />
1.) Biographischer Hintergrund<br />
2.) Der Einbruch der Armen<br />
II.) „Theologische Praxis“<br />
1.) Befreiendes Engagement: Praxis des Glaubens<br />
2.) Sozio-analytische Vermittlung: Kontext-Analyse<br />
3.) Hermeneutische Vermittlung: Biblische Orientierung und Sprache des Glaubens<br />
4.) Praktische Vermittlung: Revision und Strategie der Befreiung<br />
III.) „Konkretionen“ - Praxisebenen<br />
1.) Jean-Marc Ela als Missionar<br />
2.) Jean-Marc Ela als Pastoralarbeiter<br />
3.) Jean-Marc Ela als Theologe bzw. als theologischer Schriftsteller<br />
IV.) Konsequenzen<br />
1.) Ende des theologischen Monopols des Westen<br />
2.) Hermeneutische Konflikte<br />
3.) Dialog<br />
3.2 „Prämissen“<br />
Es gibt zwei Momente, die Jean-Marc Elas Entscheidung für die von ihm praktizierte Methode<br />
vorausgehen. Beides sind historische Momente und insofern meta-theoretisch; in <strong>einem</strong> gewissen<br />
Sinn haben sie sogar so etwas wie einen „axiomatischen“ Charakter. <strong>Das</strong> eine Moment gehört zu<br />
Jean-Marc Elas persönlicher Geschichte, das andere ist ein weltgeschichtliches Ereignis.<br />
5<br />
Herausgefordert durch die Armen. Dokumente der Ökumenischen Vereinigung von Dritte-Welt-<br />
Theologen 1976-1986 (Theologie der Dritten Welt; Bd. 13), Freiburg i.Br. (Herder), 1990, [zitiert als:<br />
Herausgefordert durch die Armen] S. 43f.
3 Hermeneutik und Methode der théologie sous l’arbre - Der epistemologische Bruch 127<br />
3.2.1 Biographischer Hintergrund: Erfahrung einer „persönlichen Befreiung“<br />
Es bleibt ein Erlebnis von unvergleichlichem Wert, daß wir die großen Ereignisse der<br />
Weltgeschichte einmal von unten, aus der Perspektive der Ausgeschalteten, Beargwöhnten,<br />
Schlechtbehandelten, Machtlosen, Unterdrückten und Verhöhnten, kurz der Leidenden<br />
sehen gelernt haben. Wenn nur in dieser Zeit nicht Bitterkeit oder Neid das Herz zerfressen<br />
hat, daß wir Großes und Kleines, Glück und Unglück, Stärke und Schwäche mit<br />
neuen Augen ansehen, daß unser Blick für Größe, Menschlichkeit, Recht und Barmherzigkeit<br />
klarer, freier, unbestechlicher geworden ist, ja, daß das persönliche Leiden ein<br />
tauglicherer Schlüssel, ein fruchtbareres Prinzip zur betrachtenden und tätigen Erschließung<br />
der Welt ist als persönliches Glück.<br />
Dietrich Bonhoeffer, Gesammelte Schriften II, S. 441<br />
Zwar schon durch den antikolonialen Befreiungskampf politisiert, erlebt Jean-Marc Ela<br />
den entscheidenden Bruch seines bisherigen Lebens, oder zumindest den Wandel seiner<br />
Perspektive, nachdem er als frischgebackener Doktor der Theologie aus Frankreich<br />
nach Kamerun zurückkehrt und sich entscheidet, als Missionar in den Norden seines<br />
Landes zu gehen. Hier lernte er in den 14 Jahren, während denen er in dem Dorf Tokombéré<br />
lebte (1971-1985), die wirklichen Probleme Afrikas kennen. Dies mag merkwürdig<br />
anmuten angesichts der Tatsache, daß Jean-Marc Ela doch selbst in Afrika<br />
<strong>auf</strong>gewachsen ist. Nun ist der Süden Kameruns, wo Jean-Marc Elas Heimatdorf liegt,<br />
wesentlich fruchtbarer als der zum Sahel gehörige Norden des Landes, wo außerdem<br />
zu der Zeit, als Jean-Marc Ela dorthin kam, eine große Dürre und Hungersnot herrschte.<br />
Was auch nicht vernachlässigt werden darf, ist, daß insbesondere die Missionsschulen<br />
und Priesterseminare, die auch Jean-Marc Ela durchl<strong>auf</strong>en hat, eine weitestgehend<br />
von der Außenwelt abgeschirmte Welt waren, in der die Kinder und jungen Erwachsenen<br />
bewußt und gezielt ihrer eigenen Kultur und ihres eigenen Kontextes entfremdet<br />
<strong>wurde</strong>n - bedeutete Christianisierung doch zugleich Europäisierung, ja „Zivilisierung<br />
der Wilden“. 6<br />
Mit den neuen Erfahrungen, die Jean-Marc Ela im Kontext des „Afrika der Dörfer“<br />
machte, und mit dem damit zusammenhängenden Perspektivenwechsel war die frustrierende<br />
Erkenntnis verbunden, daß die Theologie, wie er sie sowohl in den Institutionen<br />
der Kolonialkirche als auch an den Universitäten in der Ersten Welt (kennen)gelernt<br />
hatte, für die Situation, in der er sich wiederfand, absolut irrelevant war -<br />
wenn sie, d.h. v.a. die durch die Mission ererbte Theologie, nicht sogar noch zur Verschärfung<br />
dieser Situation beitrug, dadurch, daß sie durch ihre Orientierung <strong>auf</strong> das<br />
Jenseits und eine Überbetonung des Seelenheils - unter Geringschätzung irdischen<br />
Glücks - die Entstehung eines kritischen Bewußtsein effektiv behinderte und die Gläubigen<br />
letztlich infantilisierte. Für diese Theologie spielte die konkrete Situation der<br />
Menschen keinerlei Rolle, und sie sprach darüber hinaus eine Sprache, die nicht die der<br />
AfrikanerInnen war.<br />
6<br />
Vgl. hierzu z.B. NAZAIRE BITOTO ABENG, Von der Freiheit zur Befreiung, 113-126, bes. S. 121 u. passim. -<br />
<strong>Das</strong> staatliche Bildungssystem war und ist übrigens nicht wesentlich weniger entfremdend.
3 Hermeneutik und Methode der théologie sous l’arbre - Der epistemologische Bruch 128<br />
Angesichts dieser Situation mußte Jean-Marc Ela mit der Theologie ganz von vorne<br />
anfangen. Und es war klar, daß diese neue Theologie nicht gleichgültig bleiben konnte<br />
gegenüber der konkreten und alltäglichen Situation der Menschen. Es galt, ganz neu zu<br />
den Quellen zurückzukehren, zur Bibel, und zwar aus der Perspektive der konkreten<br />
afrikanischen Menschen, von ihrer Weltsicht und von ihrer konkreten Situation des<br />
Elends her. <strong>Das</strong> bedeutete, zuerst einmal zu hören, wie sie selbst - die Kirdi in Nordkamerun<br />
- die Texte der Bibel verstehen. Darüber hinaus legte sich die Suche nach den<br />
Ursachen für die miserable Situation dieser Menschen nahe und das Bemühen um ihre<br />
Verbesserung, wobei wohl bald schon deutlich <strong>wurde</strong>, daß die betroffenen Menschen<br />
selbst diese in ihre eigenen Hände nehmen müssen.<br />
Der für uns entscheidende Punkt an dieser neuen Erfahrung des Alltagslebens in <strong>einem</strong><br />
kleinen afrikanischen Dorf, ist die aus dieser neuen Perspektive „von unten“ resultierende<br />
Erkenntnis der Notwendigkeit eines neuen methodologischen Ansatzes für die<br />
Theologie, der sowohl den religiös-kulturellen als auch den sozio-ökonomischen und<br />
politischen Kontext berücksichtigt.<br />
3.2.2 <strong>„Der</strong> Einbruch der Armen in die Geschichte“ - der Aufbruch der<br />
Dritten Welt<br />
Nahezu parallel zu dem, was „der Einbruch der Armen in das Bewußtsein von Jean-<br />
Marc Ela“ und seine „persönliche Bekehrung durch die Armen“ genannt werden könnte,<br />
vollzog sich im weltgeschichtlichen Rahmen der „Einbruch der Armen in die Geschichte“<br />
bzw. der Aufbruch der Dritten Welt als eigenständiges Subjekt in der Weltpolitik.<br />
Gemeint ist damit das - als globaler Prozeß zu verstehende - Entstehen und<br />
Wirken von Widerstandsbewegungen in den Ländern der Dritten Welt, zuerst gegen<br />
den Kolonialismus und später gegen den Neokolonialismus.<br />
Ein erstes Resultat des Dekolonisierungs-Prozesses war die Entstehung formal unabhängiger<br />
Staaten <strong>auf</strong> dem Gebiet der früheren Kolonien. Bald dar<strong>auf</strong> - im Anschluß an<br />
die Konferenz von Bandung 1955 - folgte die Gründung der Bewegung der Blockfreien<br />
als ein erster Versuch, die Dritte Welt als einen eigenständigen Machtfaktor zu<br />
organisieren (1. Konferenz 1961 in Belgrad). Des weiteren wäre noch die Einrichtung<br />
der UNCTAD (1. Konferenz 1964 in Genf) zu nennen, die <strong>auf</strong> Drängen der Länder der<br />
Dritten Welt erfolgte und diesen im Rahmen der UNO ein angemesseneres Gewicht<br />
verleihen sollte. In diesen Zusammenhang gehört auch die Bildung der Gruppe der 77<br />
(1967), die eng mit der UNCTAD verbunden und v.a. <strong>auf</strong> die Erarbeitung gemeinsamer<br />
Grundpositionen und die Stärkung der Verhandlungsmacht der Länder der Dritten<br />
Welt gegenüber denen der Ersten Welt ausgerichtet ist.<br />
EATWOT, <strong>auf</strong> der kirchlich-theologischen Ebene selbst ein Produkt dieses Aufbruchs<br />
der Dritten Welt, beschreibt diesen in der Schlußerklärung ihrer Konferenz von New<br />
Delhi 1981, die stattfand unter dem Titel: <strong>„Der</strong> Aufbruch der Dritten Welt - eine Herausforderung<br />
an die Theologie“:<br />
26. Angesichts d[ies]es dramatischen Bildes der Armut, Unterdrückung und der<br />
Drohung totaler Zerstörung ist unter den Unterdrückten ein neues Bewußtsein<br />
ihrer tatsächlichen Lage entstanden. Dieses wachsende Bewußtsein der tragi-
3 Hermeneutik und Methode der théologie sous l’arbre - Der epistemologische Bruch 129<br />
schen Realität der Dritten Welt hat einen Aufbruch der ausgebeuteten Klassen,<br />
marginalisierten Kulturen und gedemütigten Rassen bewirkt. Von der „Rückseite“<br />
der Geschichte brechen sie hinein in die lange Zeit vom Westen beherrschte<br />
Welt. Es ist ein Aufbruch, der in revolutionären Kämpfen, politischen Aufständen<br />
und Befreiungsbewegungen zum Ausdruck kommt. [...] Es ist ein Aufbruch<br />
all derer, die um volle Menschlichkeit und um ihren rechtmäßigen Platz in der<br />
Geschichte kämpfen.<br />
27. [...] (Die Dritte Welt) bricht herein in die Geschichte und fordert Gerechtigkeit<br />
und Gleichheit; sie bekräftigt erneut ihre alten Religionen und Kulturen und<br />
fordert das westlich orientierte und enge christliche Welt- und Geschichtsverständnis<br />
heraus. Keine gesellschaftliche Revolution in der Dritten Welt kann<br />
wirksam oder dauerhaft sein, wenn sie nicht die religiöse Erfahrung der Menschen<br />
berücksichtigt und einschließt. [...]<br />
28. Die Kämpfe der Unterdrückten um ihre Befreiung im L<strong>auf</strong> der Geschichte<br />
sind keine zufälligen und voneinander unabhängigen Ereignisse. Sie sind vielmehr<br />
Teil eines dialektischen Prozesses. Sie sind die Reaktion <strong>auf</strong> überwältigende<br />
Unterdrückung und rufen als Folge bei den Unterdrückern eine gewalttätige<br />
Gegenreaktion hervor. Angesichts der Gefährdung [...] haben die mächtigen<br />
Zentren des Kapitalismus im Verein mit ihren örtlichen Verbündeten in unseren<br />
Ländern alle Mittel eingesetzt, um alle Anstrengungen zur Befreiung zunichte<br />
zu machen. 7<br />
Inwiefern ist dieser Aufbruch der Armen („l’irruption des pauvres“) nun auch eine<br />
Herausforderung für die Theologie? Lassen wir dazu Jean-Marc Ela selbst zu Wort<br />
kommen:<br />
Der Einbruch der Armen gibt der Mission der Kirche in den Ländern der Dritten<br />
Welt eine radikale Ausrichtung [...]. Die theologische Reflexion selbst, die pastorale<br />
Praxis, das geistliche Leben werden kritisch hinterfragt in den verschiedenen<br />
Milieus, in denen die Kirche, traditionelle Gewohnheiten <strong>auf</strong>gebend, aus<br />
den beherrschten und ausgebeuteten Klassen neu geboren wird. Hier geschieht<br />
die Neuaneignung des Wortes Gottes und die Veränderung der Strukturen einer<br />
mit Gottes Plan nicht zu vereinbarenden Welt durch die historische Dynamik, in<br />
der die durch das Evangelium mit radikalen Fragen konfrontierten Armen selbst<br />
zu den Akteuren der Veränderung ihrer eigenen Existenzbedingungen werden. 8<br />
Die größte Herausforderung der Theologie durch den Einbruch der Armen in die Geschichte<br />
besteht also darin, daß nun die Armen selbst zu Subjekten nicht nur der Veränderung<br />
ihrer Lebensbedingungen, sondern auch der theologischen Reflexion und der<br />
7<br />
8<br />
Herausgefordert durch die Armen, S. 120.<br />
„L’irruption des pauvres oriente radicalement la mission de l’Église, dans les pays du Tiers monde [...].<br />
La réflexion théologique elle-même, la pratique pastorale, la vie spirituelle sont interrogées dans des<br />
milieux divers où, sortant des ornières traditionnelles, l’Église renaît à partir des classes dominées et<br />
exploitées. Ici, réappropriation de la Parole de Dieu et changement des structures d’un monde<br />
incompatible avec le dessein de Dieu s’opèrent à travers des dynamiques historiques par lesquelles les<br />
pauvres, confrontées par l’Évangile à des interrogations radicales, deviennent les acteurs de<br />
transformation de leurs propres conditions d’existence“; Ma foi d’Africain, S. 121f (Mein Glaube als<br />
Afrikaner, S. 106).
3 Hermeneutik und Methode der théologie sous l’arbre - Der epistemologische Bruch 130<br />
Interpretation der Bibel werden. Indem die Theologie die Fragen zu beantworten sucht,<br />
die durch den Einbruch der Armen <strong>auf</strong>geworfen werden, unterwirft sie sich einer<br />
grundlegenden Erneuerung. 9<br />
3.3 „Theologische Praxis“<br />
Die Praxis der théologie sous l’arbre besteht - in Jean-Marc Elas Worten kurz zusammengefaßt -<br />
darin, daß die christliche Gemeinschaft „sich ein geeignetes Instrumentarium zur Analyse der<br />
gegenwärtigen Situation aneignet, daß sie lernt, das was sie tut, im Licht des Evangeliums zu<br />
lesen“ 10 . In diesem Sinn steht die Methode der théologie sous l’arbre in der Tradition der von<br />
dem belgischen Priester und Begründer der katholischen Arbeiterjugend (CAJ) Joseph Cardijn<br />
(1882-1967) noch vor dem Zweiten Weltkrieg im Rahmen der Arbeiterpastoral entwickelten<br />
Methode einer „révision de vie“ („Revision/Überprüfung des Lebens“), die den Dreischritt „Sehen<br />
- Urteilen - Handeln“ bzw. „Analyse - Interpretation - Aktion“ umfaßt und der Katholischen<br />
Aktion ein neues Profil gab. 11 Es ist für diese Methode charakteristisch, daß sie in der Praxis als<br />
<strong>einem</strong> ihr vorgängigen Moment verwurzelt ist - sowohl historisch (Entstehung aus der Arbeiterpastoral)<br />
als auch in ihrer konkreten Anwendung - und wiederum <strong>auf</strong> - eine durch kritische<br />
Reflexion erneuerte - Praxis ausgerichtet ist.<br />
3.3.1 Ausgangspunkt: Befreiendes Engagement als Praxis des Glaubens<br />
- der „hermeneutische Ort“ der Theologie<br />
Der Ort der théologie sous l’arbre ist - wie der Name schon sagt - „unter dem <strong>Baum“</strong>,<br />
da, „wo jede Gemeinschaft zusammenkommt, um das Wort Gottes zu hören, und sich<br />
fragt, wie die Leute aus dem Volk zu Denkern und Gestaltern ihrer Zukunft werden<br />
können“. Hier ist es, wo „sich ein echtes Glaubensverständnis entwickelt, ausgehend<br />
von den alltäglichen Problemen“. 12 Dies mag sich zwar etwas banal anhören, aber<br />
welches sind denn die alltäglichen Probleme der Mehrheit der Menschen in Afrika? Es<br />
sind dies die Probleme der Ernährung, der Gesundheit, der Landverteilung, des Ausschlusses<br />
aus politischen und ökonomischen Entscheidungsprozessen, etc. Diese Menschen<br />
gehören zweifellos zu denjenigen, die Frantz Fanon die „Verdammten der Erde“<br />
nannte. Ihre Situation ist geprägt durch Leiden, Armut, Ausbeutung, Unterdrückung,<br />
9<br />
10<br />
11<br />
12<br />
Vgl. ACHILLE MBEMBE, Un entretien avec Jean-Marc Ela, théologien camerounais, Spiritus 27, Nr. 104<br />
(1986), 253-261, S. 258 („ce qui peut renouveler en profondeur le christianisme de notre temps, c’est<br />
la réponse à donner aux graves questions posées par l’irruption des pauvres dans l’histoire<br />
contemporaine“).<br />
„[...] se donne des instruments d’analyse de la situation présente, qu’elle apprenne à lire ce qu’elle fait à<br />
la lumière de l’Évangile; tout est à faire pour élaborer une véritable pastorale de l’intelligence chrétienne<br />
des problèmes actuels de notre société“; Ma foi d’Africain, S. 192 (Mein Glaube als Afrikaner, S. 171).<br />
Zu diesen Informationen vgl. HORST GOLDSTEIN, „Selig ihr Armen“. Theologie der Befreiung in Lateinamerika<br />
... und in Europa?, Darmstadt (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), 1989, S. 65, und RIOLANDO<br />
AZZI/JEAN PIERRE BASTIAN/ENRIQUE DUSSEL/MAXIMILIANO SALINAS, Theologiegeschichte der Dritten Welt.<br />
Lateinamerika, Gütersloh (Kaiser), 1993, S. 156.<br />
„Sous l’arbre où chaque communauté se retrouve pour entendre la parole de Dieu et se demande<br />
comment les gens du peuple peuvent devenir les penseurs et les ingénieurs de leur avenir, se développe<br />
une véritable intelligence de la foi à partir des problèmes quotidiens“; a.a.O., S. 33 (Mein Glaube als<br />
Afrikaner, S. 25). - Zum Thema der „Gemeinschaft“, insbesondere im Sinn von Basis- oder<br />
Evangeliums-Gemeinschaften vgl. unten Kap. 4.5.
3 Hermeneutik und Methode der théologie sous l’arbre - Der epistemologische Bruch 131<br />
Beraubung ihrer Menschenwürde und die Aberkennung ihrer Menschlichkeit, mit<br />
<strong>einem</strong> Wort: durch „anthropologische Armut“ 13 . In dieser Situation „hungern und dürsten“<br />
diese Menschen - und dies ist leicht nachvollziehbar - nach Freiheit und Gerechtigkeit.<br />
Sie sind <strong>auf</strong> der Suche nach Wegen der Befreiung. Jean-Marc Ela charakterisiert<br />
diese Situation als die eines „beherrschten Menschen, der für seine Befreiung<br />
kämpft“ 14 .<br />
Die Solidarität mit den Armen und Unterdrückten, die Partizipation an den Kämpfen<br />
für die Befreiung des Menschen, „der aktive Widerstand gegen die gegenwärtige<br />
Strukturierung der Gesellschaft in Ungleichheit und Beherrschung“ ist nicht nur der<br />
Ausgangspunkt 15 der théologie sous l’arbre, sondern darüber hinaus „konstitutiv für<br />
die Praxis des Glaubens“ in der heutigen Situation Schwarzafrikas. 16 Denn das Hinnehmen<br />
der Ungerechtigkeit, die sich in den sozio-ökonomischen Strukturen des Afrika<br />
von heute äußert, „ist ebenso wie der Götzendienst unvereinbar mit dem Dienst, den<br />
wir Gott schuldig sind“. 17<br />
Jean-Marc Ela begründet die Notwendigkeit einer befreienden Praxis des Glaubens<br />
insbesondere auch kreuzestheologisch: „Insofern das Kreuz Jesu Ausdruck der Passion<br />
der Armen ist, müssen wir uns den Konflikten und Kämpfen stellen, durch die hindurch<br />
sich das Reich Gottes <strong>auf</strong>baut.“ 18 - Ist es doch nicht zu übersehen, daß: „Life for<br />
millions of Africans has become a Calvary, a never ending way of the cross lived in the<br />
rural areas, in the refugee camps, in the shanty towns mushrooming everywhere.“ 19<br />
Mehr noch: <strong>„Der</strong> Einsatz im Kampf für die Befreiung des Menschen ist göttlich. Was<br />
den Menschen betrifft, betrifft gerade dadurch, daß es den Menschen betrifft, auch<br />
Gott: „Herr, wann haben wir dich hungrig gesehen und dir zu essen gegeben?“ (Mt<br />
25,37).“ 20<br />
13<br />
14<br />
15<br />
16<br />
17<br />
18<br />
19<br />
20<br />
Zu diesem Begriff siehe oben Anm. 19, S. 60.<br />
„Or cette situation est celle de l’homme dominé qui lutte pour sa libération“; Le Cri de l’homme<br />
Africain, S. 108 (African Cry, S. 87).<br />
In Voici le temps des héritiers, S. 208, spricht Jean-Marc Ela in diesem Zusammenhang vom „hermeneutischen<br />
Ort der Kirche“ (le lieu herméneutique de l’Église) und meint an dieser Stelle konkret die<br />
dringendsten Bedürfnisse der Dorf- und Stadtviertel-Gemeinschaften bzw. des afrikanischen Menschen<br />
in allen seinen Dimensionen: historisch, kulturell-religiös, sozial, ökonomisch, politisch. Als Determinanten<br />
dieses Ortes nennt er hier insbesondere den Nord-Süd-Konflikt und die Beziehungen zwischen<br />
arm und reich. In Ma foi d’Africain, S. 203, schreibt er, daß: „La vie quotidienne des communautés<br />
chrétiennes apparaît ici comme le lieu privilégié de la théologie africaine“ („<strong>Das</strong> alltägliche Leben der<br />
christlichen Gemeinschaften stellt sich hier dar als der bevorzugte Ort der afrikanischen Theologie“;<br />
Mein Glaube als Afrikaner, S. 182). Es geht hierbei um das „Aufrechterhalten einer lebendigen Verbindung<br />
zwischen der gemeinschaftlichen Erfahrung des Glaubens und dem theologischen Reden“ („maintenir<br />
une articulation vivante entre l’expérience communautaire de la foi et le dire théologique“); ebd.<br />
„En Afrique noire, la résistance active à la structuration actuelle de la société dans l’inégalité et la<br />
domination devient alors constitutive de la pratique de la foi“; Voici le temps des héritiers, S. 207,<br />
ebenso Ma foi d’Africain, S. 113 (Mein Glaube als Afrikaner, S. 97).<br />
„[...] est incompatible, au même titre que l’idolâtrie, avec le culte à rendre à Dieu“; ebd.<br />
„Dans la mesure où la Croix de Jésus exprime la passion des pauvres, il nous faut assumer les conflits et<br />
les luttes par lesquels se crée le Royaume“; a.a.O., S. 168 (Mein Glaube als Afrikaner, S. 148f).<br />
Poverty and Theology (S. 16).<br />
„Car l’enjeu du combat pour la libération humaine est divine. Ce qui concerne l’homme, par là même<br />
qu’il concerne l’homme, concerne Dieu: „Seigneur, quand nous est-il arrivé de te voir affamé et de te<br />
nourrir?“ (Mt. 25,37)“; Le Cri de l’homme Africain, S. 121 (African Cry, S. 99).
3 Hermeneutik und Methode der théologie sous l’arbre - Der epistemologische Bruch 132<br />
Jean-Marc Ela gibt darüber hinaus eine schöpfungstheologische Begründung, wenn er<br />
den Erzbischof von Garoua (Nordkamerun), Christian Tumi, zitiert mit den Worten:<br />
„Dort, wo der freie und nach dem Ebenbild Gottes geschaffene Mensch unterdrückt<br />
wird, ist seine Befreiung von jeder Form der Unterdrückung eine Pflicht, die mir das<br />
Evangelium <strong>auf</strong>erlegt, das von jeder Knechtschaft befreit.“ 21<br />
Dem oben skizzierten Verständnis des Glaubens liegt die - soziologisch reflektierte -<br />
theologische Erkenntnis zugrunde, daß „unser Glaube an den Gott der Offenbarung<br />
nicht <strong>auf</strong> eine abstrakte und zeitlose Weise gelebt und verstanden werden kann“ 22 : „Er<br />
muß sich einschreiben in einen historischen Kontext und sich durch eine Praxis zum<br />
Ausdruck bringen, denn er muß in verständlichen Zeichen die Botschaft der Befreiung<br />
des Menschen in Jesus Christus manifestieren.“ 23<br />
In der Praxis konkretisiert sich also der Glaube, er wird eigentlich erst „wirk-lich“<br />
durch die Praxis, in der er zum Ausdruck kommt. Umgekehrt läßt sich anhand der<br />
jeweiligen Praxis ein bestimmter Glauben identifizieren. „<strong>Das</strong> Wesentliche ist“ daher,<br />
so läßt sich mit Jean-Marc Elas eigenen Worten resümieren, „das Evangelium im alltäglichen<br />
Leben <strong>auf</strong>zunehmen, im Bewußtsein dessen, daß es als eine Botschaft der<br />
Befreiung des Menschen zu leben ist.“ 24<br />
Was ist angesichts dieses Ausgangspunktes der Theologie im befreienden Engagement<br />
kleiner Gruppen von ChristInnen und angesichts der Überzeugung, daß in Wahrheit<br />
„das Volk Gottes der erste Theologe ist“ 25 , das eigentliche „Subjekt der Theologie“,<br />
die spezifische Rolle professioneller TheologInnen? Jean-Marc Ela formuliert diese<br />
vorsichtig wie folgt: „Vielleicht ist der Theologe im Grunde nichts anderes als der<br />
Zeuge und Weggefährte, der mit wachen Sinnen <strong>auf</strong> die Zeichen Gottes achtet und sich<br />
nicht scheut, sich schmutzig zu machen inmitten der unsicheren Lebensbedingungen<br />
seines Volkes.“ 26<br />
Etwas deutlicher wird Jean-Marc Ela, wenn er die Aufgabe der TheologInnen als theologische<br />
Reflexion der befreienden Praxis der ChristInnen definiert:<br />
Die Praxis von Christen, die in Situationen der Ungerechtigkeit kämpfen, muß<br />
Eingang finden in die intellektuellen Anstrengungen für ein Verständnis des lebendigen<br />
Glaubens. Wir müssen diese Aktion reflektieren, sie mit dem Evange-<br />
21<br />
22<br />
23<br />
24<br />
25<br />
26<br />
Aus einer Ansprache von Mgr. CHRISTIAN TUMI, Garoua, 1983: „là où l’homme libre et créé à l’image de<br />
Dieu est opprimé, sa libération de toute forme d’oppression est un devoir que m’impose l’Évangile qui<br />
libre de toute servitude“; Ma foi d’Africain, S. 31 (Mein Glaube als Afrikaner, S. 23).<br />
„En effet, notre foi au Dieu de la Révélation ne peut pas se vivre et se comprendre abstraitement, d’une<br />
manière intemporelle“; Le Cri de l’homme Africain, S. 40 (African Cry, S. 28).<br />
„La foi ne peut être vécu de manière intemporelle: elle doit s’inscrire dans un contexte historique et<br />
s’exprimer par une praxis, car elle doit faire apparaître en des signes compréhensibles le message de<br />
libération de l’homme en Jésus-Christ“; a.a.O., S. 108 (African Cry, S. 87).<br />
„L’essentiel, c’est d’assumer l’Evangile dans la vie quotidienne en se rappelant qu’il doit être vécu comme<br />
une message de libération de l’homme“; a.a.O., S. 144 (African Cry, S. 119).<br />
„Le peuple de Dieu est le premier théologien“; Voici le temps des héritiers, S. 248.<br />
„Peut-être le théologien est-il, en fin de compte, le témoin et le compagnon de route, à l’affût des signes<br />
de Dieu et qui accepte de se salir dans la précarité des conditions d’existence de son peuple“; Ma foi<br />
d’Africain, S. 33 (Mein Glaube als Afrikaner, S. 25).
3 Hermeneutik und Methode der théologie sous l’arbre - Der epistemologische Bruch 133<br />
lium konfrontieren und die theologische Intention explizieren, die in ihr zum<br />
Ausdruck kommt. 27<br />
Jean-Marc Ela spricht konkret von einer „Pastoral der schmutzigen Hände“. Er meint<br />
damit<br />
eine Pastoral, die uns, ausgehend von unserer Solidarität mit den Armen und<br />
Unterdrückten, vom Bewußtsein der Sünde der Welt 28 zur Veränderung der<br />
Welt und zu unserer eigenen Veränderung führt, dorthin, wo der Glaube uns in<br />
den Hoffnungen und Kämpfen für Freiheit und Gerechtigkeit die Gegenwart<br />
und das Wirken Gottes entdecken läßt. 29<br />
Somit ist also die Partizipation an den Kämpfen für die Befreiung des Menschen „die<br />
Bedingung der Möglichkeit [...] einer jeden Theologie in Afrika“ 30 . Besonderen Wert<br />
legt Jean-Marc Ela in diesem Zusammenhang übrigens <strong>auf</strong> die Feststellung der Panafrikanischen<br />
Konferenz von Dritte-Welt-TheologInnen in Accra 1977, daß die afrikanische<br />
Theologie sowohl eine kontextuelle Theologie als auch eine Theologie der Befreiung<br />
sein muß, eine Theologie, die aus dem afrikanischen Volk kommt und ihm<br />
verantwortlich ist. 31<br />
3.3.2 Sozio-analytische Vermittlung: Kontext-Analyse<br />
Jean-Marc Ela begründet die Notwendigkeit der Kontext-Analyse als integralem Bestandteil<br />
theologischer Arbeit nicht nur von ihrer Bedeutung für eine Strategie der<br />
Befreiung her, sondern auch theologisch:<br />
Als solche, die dazu berufen sind, Zeugnis zu geben von der Hoffnung des Reiches<br />
Gottes in den Bedrängnissen dieses Lebens, müssen wir das „Nein“ des<br />
Menschen gegenüber Gott in den historischen - sozialen und ökonomischen, politischen<br />
und kulturellen - Verhältnissen neu begreifen. Es gilt daher, die Strukturen<br />
einer mißgestalteten Welt <strong>auf</strong>zudecken, die sich im Widerspruch befindet<br />
zu dem, was Gottes Wille für den Menschen und die Welt ist [...]. 32<br />
27<br />
28<br />
29<br />
30<br />
31<br />
32<br />
„La praxis des chrétiens qui luttent dans les situations d’injustice doit elle-même entrer en ligne de<br />
compte dans l’intelligence de foi vivante: nous devons réfléchir sur cette action, la confronter avec<br />
l’Évangile et expliciter la visée théologique qui s’exprime en elle“; Le Cri de l’homme Africain, S. 40<br />
(African Cry, S. 28).<br />
Mit dem Begriff „Sünde der Welt“ meint Jean-Marc Ela das „Nein“ des Menschen zu Gott, wie es sich in<br />
der konkreten Geschichte und in den ungerechten sozialen, ökonomischen, politischen und kulturellen<br />
Beziehungen und Strukturen äußert; vgl. Ma foi d’Africain, S. 111f (Mein Glaube als Afrikaner, S. 96f).<br />
„[...] la ,pastorale des mains sales‘, celle qui, à partir de notre solidarité avec les pauvres et les opprimés,<br />
nous conduit de la prise conscience du péchés du monde, à la transformation du monde et de nousmêmes,<br />
là où, dans les espoirs et les luttes pour la liberté et la justice, la foi nous fait découvrir Dieu<br />
présent et agissant“; a.a.O., S. 116 (Mein Glaube als Afrikaner, S. 101).<br />
„[...] la condition de la possibilité [...] de toute théologie en Afrique“; Le Cri de l’homme Africain, S. 157<br />
(African Cry, S. 132).<br />
Vgl. Herausgefordert durch die Armen, S. 60f; auszugsweise zitiert in: Ma foi d’Africain, S. 158f u. S.<br />
213 (Mein Glaube als Afrikaner, S. 139f u. S. 192f).<br />
„Appelés à témoigner de l’espérance du Royaume dans les détresses de cette vie, nous avons besoin de<br />
ressaisir le ,Non‘ de l’homme à Dieu dans les conditions historiques, sociales et économiques, politiques<br />
et culturelles. Il faut donc repérer les structures d’un monde mal fait et qui se trouvent en contradiction
3 Hermeneutik und Methode der théologie sous l’arbre - Der epistemologische Bruch 134<br />
Es geht also nicht nur darum, die konkrete Situation der Menschen, die zu Armut und<br />
Elend verdammt sind und in dieser Situation um ihr Überleben und ihre Befreiung<br />
kämpfen, wahrzunehmen und im Rahmen der theologischen Reflexion zu berücksichtigen,<br />
sondern auch um deren Analyse, d.h., um die Aufdeckung der Mechanismen, die<br />
diese Menschen im Teufelskreis von Ausbeutung, Unterdrückung, Unterentwicklung,<br />
Armut, Elend und Krankheit gefangenhalten.<br />
Der primäre Bezugspunkt für diese Analyse ist nicht erster Linie eine bestimmte (wissenschaftliche)<br />
Theorie, der primäre Bezugspunkt - das sind die Armen selbst, insofern<br />
sie „uns permanent zu erkennen geben, was in der Gesellschaft nicht stimmt und was<br />
zu tun ist“. 33 Es gilt dabei insbesondere <strong>auf</strong> das zu hören, was Jean-Marc Ela „das<br />
stumme Wort“ („la parole muette“) des Volkes nennt:<br />
Um die Realität zu verstehen, mit der wir in Afrika konfrontiert sind, müssen<br />
wir <strong>auf</strong> das stumme Wort eines Volkes hören, dessen Echo schwerlich bis in die<br />
Informationsorgane durchdringt, die von den Apparaten der Staatsgewalt, welche<br />
die Ideologie der Klasse der Privilegierten verbreiten, einverleibt <strong>wurde</strong>n.<br />
[...] In den mundtot gemachten Gesellschaften ist das Wesentliche nicht das,<br />
was man sagt, sondern das, was man verschweigt. Deshalb muß „von der Basis“<br />
ausgegangen werden, vom Boden der entlegensten Dörfer und der sich schnell<br />
ausbreitenden Slums. Hier äußert sich das, was nicht gesagt wird in den offiziellen<br />
Diskursen und in den mystifizierenden Bilanzen, in den Expertenberichten<br />
oder in den Informationen, die Radio und Fernsehen bringen. Allein das Afrika<br />
der Kleinen gestattet uns, die Stimme eines Volkes von Ausgebeuteten und Unterdrückten<br />
zu hören. 34<br />
Die Analyse des Kontextes muß demzufolge in der Perspektive der Opfer der herrschenden<br />
Strukturierung der Gesellschaft, der institutionellen Gewalt und des umfassenden<br />
Systems der Beherrschung begründet sein, denn allein die Perspektive der Armen,<br />
der Marginalisierten und der unterdrückten Massen ermöglicht eine profunde<br />
Kenntnis der Verhältnisse, wie sie wirklich sind. 35 Von daher hat ja auch der Ort des<br />
Theologietreibens eine solch große Bedeutung. Und zugleich ist dies der entscheidende<br />
Grund dafür, daß die Dependenztheorie - als Analyseinstrument für die internen und<br />
33<br />
34<br />
35<br />
avec la volonté de Dieu sur l’homme et sur le monde [...]“; a.a.O., S. 111 (Mein Glaube als Afrikaner, S.<br />
96). - Eine solche Analyse hat Jean-Marc Ela beispielhaft in bezug <strong>auf</strong> das afrikanische<br />
Gesundheitssystem vorgelegt; vgl. Luttes pour la santé de l’homme et Royaume de Dieu dans l’Afrique<br />
d’aujourd’hui, Bulletin de Théologie Africaine 5, Nr. 9 (1983), 65-84 (= Kap. 5 von Ma foi d’Africain)<br />
und unten Kap. 2.6.<br />
„Or les pauvres nous révèlent, en permanence, ce qui ne va pas dans la société et ce qui est à faire“; Ma<br />
foi d’Africain, S. 168 (Mein Glaube als Afrikaner, S. 148).<br />
„Pour comprendre la réalité à laquelle nous sommes confrontés en Afrique, il faut entendre la parole<br />
muette d’un peuple dont l’écho parvient difficilement à travers les organes d’<strong>info</strong>rmation annexés aux<br />
appareils de pouvoir qui diffusent l’idéologie d’une classe de privilégiés. [...] Dans les sociétés<br />
bâillonnées, l’essentiel n’est pas ce que l’on dit mais ce que l’on tait. C’est pourquoi, il faut partir ,d’enbas‘,<br />
au fond des villages les plus éloignés et des bidonvilles qui prolifèrent: c’est là que s’énonce le nondit<br />
des discours officiels et des bilans mystificateurs, des rapports d’experts ou les <strong>info</strong>rmations de la<br />
radio ou de la télévision. L’Afrique des petits nous permet seule, d’entendre la voix d’un peuple<br />
d’exploités et d’opprimés“; Le rôle des Eglises dans la libération du continent africain, Bulletin de<br />
Théologie Africaine 6, Nr. 12 (1984), 281-302, S. 285f.<br />
Vgl. dazu oben S. 57.
3 Hermeneutik und Methode der théologie sous l’arbre - Der epistemologische Bruch 135<br />
externen Abhängigkeitsstrukturen und deren gegenseitige Verflechtung - in Jean-Marc<br />
Elas Händen keinen ideologischen Charakter annimmt. 36 Es geht ihm nicht um exzellente<br />
Analysen um ihrer selbst willen, auch nicht um einen gewissen Intellektualismus<br />
oder darum, sich selbst zu profilieren, sondern um den „Durchblick“, um das Durchschauen<br />
und Verstehen der tatsächlichen Zusammenhänge und Ursachen des Elends 37 -<br />
in der Perspektive ihrer Überwindung und der Verbesserung der Lebensbedingungen<br />
der „Parias der Unabhängigkeit“.<br />
Zentrale Kategorie zum Begreifen und für ein angemessenes Verständnis der Wirklichkeit<br />
ist für Jean-Marc Ela der Begriff der „Dominanz“. Die grundlegende Ursache<br />
für die Situation, in der die Mehrheit der AfrikanerInnen um ihr Überleben kämpft,<br />
sieht er in dem globalen „System der Beherrschung“ (système de domination).<br />
Auf der ökonomischen Ebene äußert sich diese Dominanz in <strong>einem</strong> kapitalistischen Weltmarkt,<br />
der sich - ausgehend von den Profitinteressen des transnationalen Kapitals - die lokalen Ökonomien<br />
einverleibt und sie <strong>auf</strong> die Exportproduktion ausrichtet, zum Nachteil der Nahrungsmittelproduktion<br />
für die einheimische Bevölkerung. Auf der politischen Ebene verkörpert sich das<br />
System der Beherrschung im neo-kolonialen Staatsapparat, der als Bindeglied zwischen den<br />
Eliten des Zentrums und denen der Peripherie die Ausbeutung der Bevölkerung der Dritten Welt<br />
durch massive Unterdrückung und Repression und durch die Mißachtung der fundamentalsten<br />
Menschenrechte in <strong>einem</strong> System totalitärer und institutionalisierter Gewalt organisiert. Auf der<br />
kulturellen Ebene kommt die Beherrschung zum Ausdruck einerseits durch den „Kulturimperialismus“<br />
des Westens, die völlige Verachtung und Verkennung der afrikanischen Kultur und die<br />
Aberkennung des Status der afrikanischen Menschen, ein (gleichwertiger) Teil der Menschheit<br />
zu sein, andererseits durch die Instrumentalisierung (von Elementen) der traditionellen afrikanischen<br />
Kultur zur Beherrschung der AfrikanerInnen (z.B. die „authenticité“ in Zaire oder die<br />
Ideologie der nationalen Einheit) und für folkloristische Zwecke - als Exotik für TouristInnen -<br />
seitens der einheimischen Regimes. Auf sozialer Ebene werden alle Bereiche der Gesellschaft<br />
(Bildung, Gesundheit, Medien ...) von einer privilegierten Elite, die sich vor allem in den größeren<br />
Städten und insbesondere in der Hauptstadt konzentriert, dominiert und deren Interessen<br />
untergeordnet, <strong>auf</strong> Kosten der Mehrheit der Bevölkerung, die überwiegend noch eine ländliche<br />
ist - trotz der Landflucht und der dramatischen Explosion der Städte. - Sozusagen wie ein „Teppich“<br />
liegt unter all diesen Dominanzverhältnissen die folgenreiche und weiterwirkende Geschichte<br />
des Kolonialismus.<br />
Die Analyse der sozialen, politischen, ökonomischen und kulturellen Herrschaftsstrukturen<br />
und ihres Zusammenhanges allein genügt jedoch nicht. Es ist gleichfalls notwendig,<br />
deren Verschleierung und Mystifizierung zu entlarven und den ideologischen<br />
Charakter verschiedenartigster Vorstellungen, Konzepte, Lehren und (Erklärungs-<br />
)Modelle zu demaskieren: z.B. den der nationalen Sicherheit, der nationalen Einheit,<br />
der Authentizität oder auch den der Entwicklung bzw. der Unterentwicklung. Ideologiekritik<br />
ist so ein integraler Bestandteil der Kontext-Analyse.<br />
36<br />
37<br />
Zur Dependenztheorie vgl. oben S. 68. Von s<strong>einem</strong> epistemologischen und praktischen Ausgangspunkt<br />
bei den Armen und ihrer Perspektive her kann Jean-Marc Ela gerade umgekehrt den ideologischen<br />
Charakter einer „Art theoretischen a priori“ entlarven: nämlich den vorbehaltlosen Bruch mit den Dependenztheorien<br />
der 60er Jahre; vgl. Quand l’État pénètre en brousse, S. 6 („une sorte d’a priori théorique:<br />
rompre avec les théories dépendantistes des années 60“).<br />
Im Interview mit THOMAS SEITERICH-KREUZKAMP, a.a.O., S. 23, nennt Jean-Marc Ela die „Soziologie als<br />
Werkzeug für den Durchblick und als Hilfsmittel für die Befreiung.“
3 Hermeneutik und Methode der théologie sous l’arbre - Der epistemologische Bruch 136<br />
Wie Jean-Marc Ela im Anschluß an das Schlußdokument der Konferenz von Accra<br />
betont, ist die Geschichte des afrikanischen Kontinents jedoch<br />
nicht nur eine Geschichte der Knechtschaft und Beherrschung [...], sondern<br />
auch eine Geschichte des Kampfes und des Widerstandes gegen die Unterdrükkung,<br />
wie es die Protestbewegungen bezeugen, die über Generationen hinweg<br />
zum lebendigen Gedächtnis unseres Volkes gehören. 38<br />
Es geht hierbei zum einen um die Kenntnis und Erforschung der Widerstands- und<br />
Befreiungsgeschichte der AfrikanerInnen, wie sie z.B. in den traditionellen Überlieferungen<br />
bzw. im „Gedächtnis des Volkes“ („la mémoire du peuple“) zum Ausdruck<br />
kommt, zum anderen aber auch um die Analyse der gegenwärtigen - und insbesondere<br />
der verborgenen - Formen des Widerstandes, des „Anti-Diskurses“ (un anti-discours)<br />
des Volkes 39 und des aktiven Widerstandspotentials der afrikanischen Kultur. - Um die<br />
afrikanische Kultur und ihre Aktualität zu verstehen, genügt es von daher eben nicht,<br />
sich ausschließlich mit den traditionellen Glaubensformen, Riten, Gebräuchen und<br />
Institutionen zu beschäftigen.<br />
Zur Kontext-Analyse gehört darüber hinaus die schonungslose Analyse der Strukturen<br />
der „Kolonialkirchen“, die ebenfalls durch Dominanzverhältnisse gekennzeichnet sind;<br />
in diesem Fall ist dies die Dominanz der ehemaligen „Mutterkirchen“ aus dem Norden<br />
über die „Jungen Kirchen“ im Süden - sowohl in ökonomischer als auch in theologischer<br />
Hinsicht. Die Kirchen in der Dritten Welt und insbesondere in Afrika sind „unter<br />
Vormundschaft stehende Kirchen“ 40 , eine „abhängige Kirche unter unterdrückten Völkern“<br />
41 bzw. „Dritte Kirchen“ 42 , die - analog zur „Unterentwicklung“ der Dritten Welt<br />
im ganzen - in einer „theologischen Unterwicklung“ 43 gehalten werden.<br />
38<br />
39<br />
40<br />
41<br />
42<br />
43<br />
„[...] l’histoire de ce continent n’est pas seulement une histoire de la servitude et de la domination mais<br />
aussi une histoire des luttes et des résistances à l’oppression comme en témoignent les mouvements de<br />
protestation qui, à travers les générations, appartiennent à la mémoire de notre peuple“; Ma foi<br />
d’Africain, S. 159 (Mein Glaube als Afrikaner, S. 140).<br />
A.a.O., S. 17, spricht Jean-Marc Ela von „un anti-discours qui tend à se développer en marge du verbe<br />
officiel en s’opposant radicalement à lui. La production de ce discours est l’œuvre d’une culture qui<br />
s’intègre parfaitement dans les luttes du peuple“ („ein Anti-Diskurs, der sich vorwiegend am Rande des<br />
offiziellen Wortes entwickelt und sich diesem radikal entgegenstellt. Die Produktion dieses Diskurses ist<br />
das Werk einer Kultur, die sich völlig in die Kämpfe des Volkes integriert“; Mein Glaube als Afrikaner,<br />
S. 11). Dieser „Anti-Diskurs“ kommt z.B. in allerlei Formen des Spotts gegenüber den Herrschenden<br />
oder in symbolischen Aktionen zum Ausdruck.<br />
Vgl. ACHILLE MBEMBE, Un entretien avec Jean-Marc Ela, théologien camerounais, Spiritus 27, Nr. 104<br />
(1986), 253-261, S. 255: „La théologie africaine naît dans le contexte d’une ,Eglise sous tutelle‘.“ Jean-<br />
Marc Ela übernimmt diesen Begriff von dem kamerunischen Jesuiten MEINRAD HEBGA, Emancipation<br />
d’Eglises sous tutelle. Essai sur l’ère post-missionnaire, Paris (Présence Africaine), 1976. Jean-Marc Ela<br />
bemerkt zur allgemeinen Situation der Kirchen in Afrika: „Heute noch, nach <strong>einem</strong> Jahrhundert der<br />
Evangelisierung, bleiben die jungen afrikanischen Kirchen unter der kulturellen Vormundschaft der<br />
westlichen Mutterkirchen.“ Mein Glaube als Afrikaner, S. 7 („Aujourd’hui encore, les jeunes chrétientés<br />
restent soumises, après cent ans d’évangélisation, à la tutelle culturelle des Églises-mères“).<br />
„Eglise dépendante parmi les peuples opprimés“; Le Cri de l’homme Africain, S. 15 (African Cry, S. 6).<br />
Vgl. a.a.O., S. 129 (African Cry, S. 106): „les Eglises du ,tiers monde‘ [...] ne sont-elles pas en définitive<br />
des ,tierce-Eglises‘?“; der Begriff geht zurück <strong>auf</strong> ANSELME TITIANMA SANON, Tierce Église, ma mère, ou la<br />
conversion d’une communauté païenne au Christ, Paris, 1972.<br />
Vgl. Le Cri de l’homme Africain, S. 129 (African Cry, S. 106): „les Eglises d’Afrique souffrent d’un<br />
véritable sous-développement de la théologie“ und GIUSEPPE CAVALLINI, The Synod, a step to the council.<br />
„Nigrizia“ interviews Jean-Marc Ela, Idoc Internazionale 25, Nr. 1 (1994), 20-24, S. 23: „it would seem
3 Hermeneutik und Methode der théologie sous l’arbre - Der epistemologische Bruch 137<br />
Die sozio-analytische Vermittlung identifiziert <strong>auf</strong> diese Weise die Herausforderungen,<br />
mit denen der je spezifische Kontext Theologie und Kirche konfrontiert. Auf diese<br />
muß die theologische Reflexion antworten, wenn sie nicht völlig irrelevant für diesen<br />
Kontext sein will.<br />
Jean-Marc Ela nennt als solche Herausforderungen für die afrikanische Theologie und Kirche<br />
insbesondere diejenigen der kulturellen Differenz, der Armut und Unterdrückung und des Einbruchs/Aufbruchs<br />
der Armen. Als ganz konkrete Herausforderungen benennt er die Urbanisierung<br />
- die Expansion der Städte und der Massenexodus in die Städte -, die Jugend - ihre Wohnungssituation<br />
und Ernährungslage, Arbeitslosigkeit, Bedrohung durch Sekten, aber auch ihr<br />
Engagement für die Demokratisierung -, die Menschenrechtssituation, die Lebensbedingungen<br />
<strong>auf</strong> dem Land und in den Slums, das Bevölkerungswachstum, die Umweltzerstörung, den Demokratisierungsprozeß,<br />
die Verschärfung sozialer Unterschiede, die Marginalisierung breitester<br />
Bevölkerungsschichten und die Politik von IWF und Weltbank.<br />
Um <strong>auf</strong> all diese Herausforderungen eine Antwort zu finden, bedarf es für ChristInnen<br />
einer biblischen Orientierung. Dies ist die Aufgabe der hermeneutischen Vermittlung:<br />
3.3.3 Hermeneutische Vermittlung: Biblische Orientierung und<br />
eine afrikanische Sprache des Glaubens<br />
Die Bibel ist für Jean-Marc Ela unbestreitbar die vorrangige Quelle für die durch die<br />
hermeneutische Vermittlung zu erschließenden Kriterien der theologischen Urteilsbildung<br />
angesichts der Herausforderungen des aktuellen Kontextes. 44 Es ist die Bibel<br />
selbst - bzw. das Evangelium -, die uns dies als eine gesellschafts- und ideologiekritische<br />
Aufgabe <strong>auf</strong>erlegt:<br />
Wir müssen hier entdecken, was es bedeutet, an das Evangelium zu glauben.<br />
Dieses ist keine Sammlung von Wahrheiten [...]. Jesus Christus muß stets <strong>auf</strong>s<br />
neue entdeckt werden, sein Evangelium ist immer neu. Nun unterwirft er den<br />
Menschen und die Gesellschaft dem Gericht. In anderen Worten ausgedrückt<br />
heißt dies, daß der Bezug <strong>auf</strong> das Evangelium uns <strong>auf</strong>erlegt, in der Gesellschaft<br />
die dem Glauben innewohnende kritische Funktion <strong>auf</strong> uns zu nehmen. Es gibt<br />
da eine globale Infragestellung der Gesellschaft durch den evangelischen Protest<br />
der Glaubensgemeinschaften. 45<br />
Die Theologie hat bei diesem Prozeß einer kritischen Urteilsbildung eine „hermeneutische<br />
Funktion“. Jean-Marc Ela definiert diese Aufgabe folgendermaßen:<br />
44<br />
45<br />
that keeping the African Church in a sort of theological ,underdevelopment‘ is a current preoccupation.“<br />
Jean-Marc Ela spricht in diesem Kontext vom Vorrang der Bibel - insbesondere gegenüber der Dogmatik:<br />
„Wir würden lieber sehen, daß der afrikanische Theologe sich mehr der Bibel als der Dogmatik der<br />
Kirche zuwendet“; Mein Glaube als Afrikaner, S. 181 („Nous verrions mieux le théologien africain se<br />
tourner plus vers al Bible que vers la dogmatique de l’Eglise“; Ma foi d’Africain, S. 202).<br />
„Il nous faut découvrir ici ce que signifie croire à l’Évangile. Celui-ci n’est pas une somme de vérités<br />
[...]. Jésus-Christ est toujours à découvrir et son Evangile toujours nouveau. Or il soumet l’homme et la<br />
société au jugement. Autrement dit, la référence à l’Evangile nous impose d’assumer dans la société la<br />
fonction critique inhérente à la foi. Il y a une remise en cause globale de la société par la protestation<br />
évangélique des communautés de foi“; Le Cri de l’homme Africain, S. 121f (African Cry, S. 99).
3 Hermeneutik und Methode der théologie sous l’arbre - Der epistemologische Bruch 138<br />
Es ist definitiv die Geschichte selbst, innerhalb der der Sinn der Offenbarung<br />
verstanden werden muß, in den Situationen und Erfahrungen, durch die hindurch<br />
sich das Wort Gottes zu verstehen gibt. In der Tat ist die Theologie nichts<br />
anderes als eine von lebendiger Erfahrung ausgehende Reflexion. Es geht darum,<br />
die aktuelle Bedeutung des Wortes Gottes <strong>auf</strong> der Basis des historischen<br />
Verständnisses, das der Mensch von sich und der Welt hat, zu entwickeln. Die<br />
Theologie ist eine Arbeit der Dechiffrierung des Sinns der Offenbarung in dem<br />
historischen Kontext, in dem wir uns über uns selbst und unsere Situation in der<br />
Welt bewußt werden. 46<br />
Die Theologie hat also die Aufgabe, die Bibel zu interpretieren, um ihren Sinn - und<br />
insbesondere ihre „subversive Kraft“ - für die heutige Zeit und für den aktuellen Kontext<br />
zu erschließen. Hierbei sind drei Aspekte wichtig:<br />
Unabdingbare Voraussetzung für die Arbeit der Interpretation der Bibel ist die<br />
Selbstreflexion, die Reflexion über unsere soziale Position und unsere Perspektive.<br />
Wir müssen uns insbesondere die Frage stellen, <strong>auf</strong> wessen Seite wir stehen 47 , und uns<br />
dabei bewußt sein, „daß die Situation, in der die Armen und Unterdrückten leben, der<br />
Ort par excellence ist für die Meditation der Schrift und für jede Bemühung um ein<br />
(umfassendes) Verständnis des Glaubens“ 48 .<br />
In letzter Konsequenz ist von den TheologInnen - und im Grunde genommen von allen<br />
ChristInnen - das gefordert, was Jean-Marc Ela im Anschluß an Amilcar Cabral einen<br />
„Klassen-Suizid“ („le suicide de classe“) 49 nennt, einen Wechsel der Perspektive und<br />
des sozialen Standortes. Sie müssen sich „unter den <strong>Baum“</strong> begeben und die Lebensbedingungen<br />
der marginalisierten und diskriminierten Bevölkerung <strong>auf</strong> sich nehmen.<br />
Es sind zuerst einmal die TheologInnen und PastorInnen selbst, deren Bewußtsein von<br />
46<br />
47<br />
48<br />
49<br />
„En définitive, c’est dans l’histoire elle-même qu’il convient de comprendre le sens de la Révélation, à<br />
travers les situations et les expériences par lesquelles la Parole de Dieu se fait entendre. De fait, la<br />
théologie n’est pas autre chose qu’une réflexion à partir de l’expérience vécue. Il s’agit de dégager la<br />
signification actuelle de la Parole de Dieu à partir de l’intelligence historique que l’homme prend de luimême<br />
et du monde. La théologie est un travail de déchiffrage du sens de la Révélation dans le contexte<br />
historique où nous prenons conscience de nous-mêmes et de notre situation dans le monde“; a.a.O., S.<br />
40f (African Cry, S. 28f). Jean-Marc Ela nennt dies ebd. die „fonction ,herméneutique‘ de la théologie“.<br />
Vgl. Voici le temps des héritiers, S. 238: „de quel côté sommes-nous?“<br />
„Nous prenons conscience aujourd’hui que la situation dans laquelle vivent les pauvres et les opprimés<br />
est le lieu privilégié de la méditation de l’Ecriture et de tout effort de compréhension de la foi [...]“; Le<br />
Cri de l’homme Africain, S. 96f (African Cry, S. 76f).<br />
Dies gilt im übrigen - was den ,profanen‘ Bereich betrifft - auch für die „Entwicklungshelfer“: „Un des<br />
problèmes actuels de l’Afrique est précisément l’éveil et l’essor d’une nouvelle élite qui assume la condition<br />
paysanne pour accélérer le processus des transformations sociales“; JEAN-MARC ELA, L’Afrique des<br />
villages, Paris (Karthala) [zitiert als: L’Afrique des villages], S. 212 („Eines der aktuellen Probleme Afrikas<br />
ist gerade das Erwachen und Aufblühen einer neuen Elite, die die ländlichen Bedingungen <strong>auf</strong> sich<br />
nimmt, um den Prozeß der sozialen Veränderungen voranzutreiben“). In diesem Zusammenhang zitiert<br />
Jean-Marc Ela ebenfalls den Begriff des „suicide de classe“ von Amilcar Cabral. Ein solcher „Klassen-<br />
Suizid“ ist „das, was in christlicher Sprache ,Bekehrung‘ heißt“; Mein Glaube als Afrikaner, S. 100 („ce<br />
qui, en langage chrétien, s’appelle la ,conversion‘ “; Ma foi d’Africain, S. 116).
3 Hermeneutik und Methode der théologie sous l’arbre - Der epistemologische Bruch 139<br />
der christlichen Gemeinschaft sensibilisiert werden muß 50 , die „sich von den Armen<br />
evangelisieren lassen“ und <strong>auf</strong> das hören müssen, was die Unterdrückten selbst über<br />
das Wort Gottes sagen und wie diese selbst ihren Glauben verstehen - insbesondere als<br />
AfrikanerInnen.<br />
Die aktuelle Bedeutung der biblischen Botschaft im heutigen Kontext erschließt<br />
sich den Menschen nur von ihrer eigenen Sicht des Menschen und der Welt her.<br />
Jean-Marc Ela versteht die spezifisch hermeneutische Aufgabe der Theologie in dem<br />
„Bemühen, die aktuelle Bedeutung des Wortes Gottes und seines Heilsplans vom geschichtlichen<br />
Selbstverständnis und Weltbild des Afrikaners her zu erarbeiten“. Zugleich<br />
sind wir dazu „<strong>auf</strong>gefordert, uns selbst im Licht der Offenbarung zu verstehen<br />
und den tieferen Sinn der Situationen und Ereignisse zu begreifen, die unser historisches<br />
Schicksal prägen“ 51 .<br />
Der Prozeß der Bibelinterpretation ist dementsprechend keine „Einbahnstraße“. Wie<br />
die Lektüre der Bibel und ihre Interpretation sowohl Ex-egese als auch Eis-egese ist<br />
und der eigene Kontext und der kontextbedingte Verstehenshorizont für die (Re-<br />
)Produktion des Sinns der biblischen Texte ein konstitutiver Bestandteil sind, so stellt<br />
andererseits der Text selbst - die Bibel - den Kontext des Interpreten bzw. der Interpretin<br />
in ein neues Licht und trägt damit zu <strong>einem</strong> neuen, vielleicht tieferen Selbstverständnis<br />
der LeserInnen bei.<br />
Insbesondere wenn es darum geht zu erforschen, welchen Sinn diese alten biblischen<br />
Texte, die ohne Zweifel aus einer uns fremden Kultur und aus <strong>einem</strong> anderen Kontext<br />
als dem unseren stammen, in unserem Kontext bedeuten können 52 , dann wird schnell<br />
deutlich, daß dies nicht durch eine simple Wiederholung derselben Worte und Begriffe<br />
geschehen kann. Denn - so stellt Jean-Marc Ela fest - „das Offenbarte wird niemals <strong>auf</strong><br />
passive Weise erfahren“ 53 :<br />
50<br />
51<br />
52<br />
53<br />
Vgl. Ma foi d’Africain, S. 210: „Peut-être faut-il percevoir que c’est bien la communauté chrétienne ici<br />
et là qui à besoin de conscientiser les théologiens et les pasteurs“.<br />
„[...] un effort pour dégager la signification actuelle de la Parole de Dieu et du dessein de salut à partir<br />
de l’intelligence historique que l’Africain prend de lui-même et du monde. Nous devons exercer cette<br />
fonction ,herméneutique‘ de la théologie au moment où nous sommes invités à nous comprendre à la<br />
lumière de la Révélation et à percevoir le sens profond des situations et événements qui marquent notre<br />
destin historique“; a.a.O., S. 202 (Mein Glaube als Afrikaner, S. 181).<br />
„Wie kann der afrikanische Mensch Zeitgenosse Christi sein?“ - so formuliert Jean-Marc Ela die Frage,<br />
wie die historische und kulturelle Distanz überwunden werden kann, die uns von der Bibel trennt, in:<br />
Mein Glaube als Afrikaner, S. 181. Des weiteren betont er: „Wenn das eigentliche Ärgernis des Glaubens<br />
das Eingreifen Gottes in die Geschichte ist, können wir nicht der Frage ausweichen, wie wir Gott<br />
aussagen und den Glauben leben sollen in der Sinnsphäre, in der der Afrikaner versucht, sich selbst und<br />
die Welt zum Ausdruck zu bringen“ (ebd.).<br />
„On ne reçoit jamais le donné révélé d’une manière passive“; Ma foi d’Africain, S. 201 (Mein Glaube als<br />
Afrikaner, S. 180). - Vgl. dazu auch KLAUS BERGER, Hermeneutik des Neuen Testaments, Gütersloh<br />
(Mohn), 1988, S. 188: „Die Sache ist nicht gegeben; sie wird erst gewonnen, erkämpft und erlitten.“<br />
Auf S. 183 weist Klaus Berger gegenüber einer vermeintlichen Identität der „Sache“ zwar hin <strong>auf</strong> „den<br />
Kontextbezug, d.h. <strong>auf</strong> die je verschiedene ,Welt‘, in der der gemeinte Gegenstand sich befand und<br />
durch die er je eine andere Wirklichkeit empfing“, aber dieser Kontextbezug - im Sinn einer sozioökonomischen<br />
bzw. sozialgeschichtlichen Analyse - der biblischen Texte scheint mir bei ihm doch zu<br />
kurz zu kommen. Interessant ist sein Ausgangspunkt bei der Ethik (in Anlehnung an Heinz Eduard<br />
Tödts „Theorie ethischer Urteilsfindung“?) - bzgl. des Umgangs der ExegetInnen mit dem Text und als
3 Hermeneutik und Methode der théologie sous l’arbre - Der epistemologische Bruch 140<br />
Was uns vom Evangelium erreicht ist immer ein internes Phänomen der Geschichte<br />
eines Volkes, das in enger Verbindung mit sozio-kulturellen Vermittlungen<br />
steht. Es geht hier nicht einfach um die Frage der Worte oder Begriffe,<br />
die ein fester Bestandteil der Geschichte der Ideen und Lehren sind. <strong>Das</strong> Bewußtsein,<br />
das eine Gesellschaft von sich selbst hat, kommt zum Ausdruck in der<br />
Sprache, die eine Kirche entwickelt, um ihren Glauben auszusagen. Durch die<br />
Formulierung von Glaubenslehren [...], theologischen Abhandlungen [...] werden<br />
wir immer wieder <strong>auf</strong> eine Sicht des Menschen und der Welt, eine Wahrnehmung<br />
von Raum und Zeit und <strong>auf</strong> eine Weise der Beziehungen zwischen<br />
den Menschen zurückverwiesen. 54<br />
Dadurch daß uns jede Glaubensäußerung - auch die in der Bibel niedergeschriebenen 55<br />
- immer mit ganz bestimmten „sozio-kulturellen Vermittlungen“ konfrontiert, stehen<br />
wir unvermeidlich vor dem „Risiko der Interpretation“, wobei die InterpretInnen sich<br />
zugleich ihrer eigenen „sozio-kulturellen Vermittlungen“ klar bewußt sein müssen.<br />
Dieses Wagnis <strong>auf</strong> sich zu nehmen - und um zu den und als AfrikanerInnen wirklich<br />
relevant von Gott reden zu können -, erfordert einen gewissen „epistemologischen<br />
Bruch“ (rupture épistémologique):<br />
Um mit dem Afrikaner wirklich zusammenzukommen und um zu s<strong>einem</strong> Herzen<br />
zu sprechen - von dem Sinn und dem Raum her, in dem seine Seele atmet -,<br />
muß das Christentum [...] die Ketten der westlichen Rationalität zerbrechen, die<br />
es in dieser Zivilisation des Symbols, wie es die des afrikanischen Menschen ist,<br />
wenig bedeutsam sein läßt. Ohne eine Art epistemologischen Bruch mit der<br />
Welt der Scholastik hat das Christentum wenig Chancen, dem Afrikaner wirklich<br />
etwas zu sagen. Ebensowenig wie Jesus von Nazareth, dessen Redeweise<br />
an die der Bauern und Hirten erinnert, spricht auch der schwarze Mensch nicht<br />
die Sprache des Aristoteles [...]. 56<br />
54<br />
55<br />
56<br />
aktuelles Motiv, die Bibel zu befragen - und seine Gewichtung des Kontextes der InterpretInnen und ihres<br />
aktiven Beitrages zur Produktion des Sinns eines Textes. Andererseits ist seine Beschränkung <strong>auf</strong><br />
Applikation im Sinn von Meditationen biblischer Texte doch zu eng gefaßt (<strong>auf</strong> professionelle TheologInnen<br />
begrenzt).<br />
„Ce qui nous parvient de l’Évangile est toujours un phénomène intérieur à l’histoire d’un peuple, en<br />
connexion étroite avec des médiations socioculturelles. Il ne s’agit pas ici d’une simple question de mots<br />
ou de concepts qui s’enracinent dans l’histoire des idées et des doctrines: la conscience qu’une société<br />
prend d’elle-même se traduit dans langage qu’une Église produit pour dire sa foi. A travers la formation<br />
des doctrines [...], les traités de théologie [...], nous sommes toujours renvoyés à une vision de l’homme<br />
et du monde, à une perception de l’espace et du temps, à un mode de rapports entre les hommes“; Ma<br />
foi d’Africain, S. 201 (Mein Glaube als Afrikaner, S. 180).<br />
Jean-Marc Ela wendet sich in diesem Zusammenhang vorrangig gegen die unkritische Übernahme der<br />
nordatlantischen Theologie, insbesondere in Gestalt römischer Orthodoxie. Nichtsdestotrotz gelten diese<br />
Überlegungen auch für die Bibel selbst.<br />
„Or, pour rejoindre l’Africain et parler à son cœur, à partir du sens et de l’espace où son âme respire, le<br />
christianisme doit [...] rompre les chaînes de la rationalité occidentale qui le rendent peu signifiant à<br />
cette civilisation du symbole qui est celle de l’homme africain. Sans une sorte de rupture<br />
épistémologique avec l’univers scolastique, le christianisme a peu de chances de dire quelque chose à<br />
l’Africain. Pas plus que Jésus de Nazareth lui-même, dont les façons de parler rappellent celles des<br />
paysans et des bergers, l’homme noir ne parle le langage d’Aristote [...]“; a.a.O., S. 68 (Mein Glaube als<br />
Afrikaner, S. 57f).
3 Hermeneutik und Methode der théologie sous l’arbre - Der epistemologische Bruch 141<br />
<strong>Das</strong> Anliegen, als AfrikanerIn den Bezug zu Jesus durch die Sprache der afrikanischen<br />
Kultur, die eine symbolische Sprache ist, auszudrücken, erfordert laut Jean-Marc Ela<br />
eine Art Ethik der Überschreitung (éthique de transgression), durch die wir uns<br />
erlauben, mit den Kategorien des Denkens [...] zu brechen, die, befrachtet mit<br />
dem ganzen Gewicht des griechisch-lateinischen Abendlandes, von außen her<br />
zu uns gekommen sind, um von unserem kulturellen Kontext her den Überschuß<br />
an Sinn (le surplus de sens), den das christliche Geheimnis hat, wiederzuentdecken.<br />
57<br />
In diesem Sinn ist die Erneuerung des christlichen Glaubens durch die Vermittlung der<br />
afrikanischen Kultur eine der wesentlichen Aufgaben der christlich-theologischen<br />
Reflexion in Afrika. Dies bedeutet konkret, die „kulturellen Voraussetzungen des westlichen<br />
Christentums, die da sind: der logos und die ratio [...], durch die Logik der afrikanischen<br />
Symbolik (zu) ersetzen.“ 58 Dies ist besonders auch deshalb so wichtig, weil<br />
wir „nicht wissen, was wir glauben, wenn wir es nicht in unserer eigenen Sprache<br />
sagen.“ 59 Die Legitimität dieses Unternehmens liegt vor allem darin begründet, daß<br />
„bis jetzt noch keine kirchliche Tradition den ganzen Schatz an Ausdruckskraft der<br />
göttlichen Offenbarung ausgeschöpft hat“ 60 , also im „Überschuß an Sinn“ bzw. im<br />
„Sinn-Vorrat“ der biblischen Texte.<br />
<strong>Das</strong> Symbol ist von zentraler Bedeutung für die Entwicklung einer für die AfrikanerInnen<br />
von heute bedeutsamen und relevanten Sprache des Glaubens, was im übrigen viel<br />
Zeit und Geduld braucht, da sie aus dem Leben der afrikanischen Evangeliums-<br />
Gemeinschaften selbst kommen muß. Diese Bedeutung des Symbols beruht dar<strong>auf</strong>, daß<br />
der Zugang zur Wirklichkeit im Kontext der afrikanischen Zivilisation ein symbolischer<br />
ist. 61 Dieser symbolische Bezug der AfrikanerInnen zur Wirklichkeit, der nicht<br />
,spiritualistisch‘ oder ,anti-materialistisch‘ mißverstanden werden darf, ist der Grund<br />
für ihren „ausgeprägten Sinn für die göttliche Transzendenz“ und trifft sich mit der<br />
57<br />
58<br />
59<br />
60<br />
61<br />
„[...] une sorte d’éthique de transgression, par laquelle nous osons rompre avec les catégories de pensée<br />
[...] qui nous sont venus de dehors, lestés de tout le poids de l’Occident gréco-latin, afin de retrouver, à<br />
partir de notre contexte culturel, le surplus de sens du mystère chrétien“; a.a.O., S. 69 (Mein Glaube als<br />
Afrikaner, S. 58).<br />
„Œuvre de reprise globale de la foi fondamentale par la médiation de la culture africaine, telle est l’une<br />
des tâches majeures de la réflexion chrétienne en Afrique noire. Aux présupposés culturels du<br />
christianisme occidental, que sont le logos et la ratio, nous devons, dès lors, substituer la logique de la<br />
symbolique africaine“; a.a.O., S. 71 (Mein Glaube als Afrikaner, S. 61).<br />
„Nous ne savons pas ce que nous croyons si nous ne le disons pas dans notre propre langage“; a.a.O., S.<br />
200 (Mein Glaube als Afrikaner, S. 179).<br />
„[...] aucune tradition ecclésiale n’a épuisé jusqu’ici le fonds d’expressivité de la Révélation divine“;<br />
a.a.O., S. 177 (Mein Glaube als Afrikaner, S. 157).<br />
Gotthold Hasenhüttl betont aus einer Perspektive, die versucht, sich der afrikanischen Kultur verstehend<br />
zu nähern: „Ohne die symbolische Sprechweise und Erfahrungsdimension zu verstehen, ist es nicht<br />
möglich, das Selbstverständnis des Schwarzafrikaners zu begreifen.“ Zugleich weist er dar<strong>auf</strong> hin, daß:<br />
„So wie es aber in Europa kein rein mathematisch-naturwissenschaftliches Selbstverständnis gibt, so<br />
auch in Afrika kein rein symbolisches“; GOTTHOLD HASENHÜTTL, Schwarz bin ich und schön. Der theologische<br />
Aufbruch Schwarzafrikas, Darmstadt (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), 1991, S. 25. Es ist<br />
insbesondere Heribert Rücker, der in seiner „Afrikanischen Theologie“ die Bedeutung des Symbols für<br />
die afrikanische Weltanschauung und die afrikanische Theologie betont - als einen wesentlichen<br />
Aspekt, den EuropäerInnen aus dem Dialog mit Afrika lernen können. -Zur Bedeutung des Symbols für<br />
den sozio-kulturellen Kontext Schwarz-Afrikas vgl. oben Kap. 2.5.
3 Hermeneutik und Methode der théologie sous l’arbre - Der epistemologische Bruch 142<br />
epistemologisch-theologischen Erkenntnis, daß über Gott, „der letztlich jenseits der<br />
Sprache bleibt, insofern er vom Menschen nicht benannt werden kann“ 62 , nicht anders<br />
als <strong>auf</strong> symbolische Weise gesprochen werden kann:<br />
Gott teilt sich dem Menschen unter dem Schleier der Symbole mit: Worte,<br />
Handlungen und Zeichen tragen dazu bei, Ihm Ausdruck zu geben. <strong>Das</strong> Wesen<br />
des christlichen Geheimnisses ist dergestalt, daß sich von ihm nur mit ‚blumigen‘<br />
Worten, in Bildern und Symbolen, reden läßt, weil es unaussprechlich ist. 63<br />
Außerdem gilt es, die orale Tradition der Theologie wiederzuentdecken. Auch in diesem<br />
Punkt trifft sich die afrikanische Kultur, die eine orale Kultur bzw. eine „Zivilisation<br />
des gesprochenen Wortes“ 64 ist, mit der biblischen Tradition, die ja ursprünglich<br />
mündlich überliefert <strong>wurde</strong>. Von daher legt die théologie sous l’arbre wenig Wert <strong>auf</strong><br />
die Sprache der Wissenschaftler und Philosophen:<br />
Hat nicht Gott, um sich den Menschen zu offenbaren, die Sprache der Bauern<br />
und Hirten gesprochen? Wir müssen zurückfinden zur mündlichen Dimension<br />
der Theologie, die von nicht geringerer Bedeutung ist als die theologischen<br />
Summen und großen Abhandlungen. Die christliche Theologie muß „befreit“<br />
werden aus <strong>einem</strong> kulturellen System, in dem man den Eindruck gewinnt, als ob<br />
das Wort zum Text geworden wäre. Warum kann die Sprache des Glaubens<br />
nicht auch die Poesie, der Gesang, das Spiel, die Kunst und der Tanz und <strong>auf</strong><br />
jeden Fall das Tun des Menschen sein, der sich erhebt und <strong>auf</strong> den Weg begibt<br />
in Situationen, in denen das Evangelium das befreiende Bemühen weckt und<br />
nährt? Wir müssen die afrikanische Anima wiederentdecken für eine dichterische<br />
Sprache des Glaubens, in der das Symbol uns vermittels der Metapher helfen<br />
kann, jenen Gott zum Ausdruck zu bringen, der die Niedrigen erhöht und<br />
die Hungernden nährt. 65<br />
Der Bezug <strong>auf</strong> die afrikanische Weltanschauung und Kultur kann jedoch kein unkritischer<br />
und unvermittelter sein, da sich Afrika im Wandel befindet und durch Konflikte<br />
hindurchgeht. Die Kultur ist demnach keine statische Größe, die von den aktuellen<br />
gesellschaftlichen Herausforderungen unberührt bliebe. Jean-Marc Ela spricht in diesem<br />
Zusammenhang nicht nur von einer Relektüre der Bibel aus der Perspektive der<br />
62<br />
63<br />
64<br />
65<br />
Wörtlich heißt es a.a.O., S. 72: „Il faut que nous disions le mystère chrétien dans un univers où Dieu se<br />
tient au-delà du langage, dans la mesure où il ne peut être nommé par l’homme. Un sens aigu de la<br />
transcendance divine s’affirme dans nos sociétés [...]“ (Mein Glaube als Afrikaner, S. 61).<br />
„Sous le voile des symboles, Dieu se communique à l’homme: paroles, gestions et signes concourent à Le<br />
manifester. Telle est l’essence du mystère chrétien dont on ne peut parler qu’à mots couverts, en images<br />
et en symboles, puisqu’il est ineffable“; a.a.O., S. 69 (Mein Glaube als Afrikaner, S. 59).<br />
Vgl. Ma foi d’Africain, S. 61 (Mein Glaube als Afrikaner, s. 50).<br />
„Pour se révéler à l’homme, Dieu n’a-t-il pas parlé de langage des paysans et des bergers? Nous devons<br />
retrouver la dimension orale de la théologie qui n’a pas moins d’importance que les sommes et les<br />
grands traités. La théologie chrétienne doit être ,libérée‘ d’un système culturel où l’on a parfois<br />
l’impression que le Verbe s’est fait texte. Pourquoi le langage de la foi ne serait-il pas aussi la poésie, le<br />
chant, le jeu, l’art et la danse, et, en définitive, le geste de l’homme qui se lève et marche, dans les<br />
situations où l’Évangile suscite et nourrit l’effort libérateur? Il nous faut retrouver l’Anima africaine<br />
pour une poétique de la foi où le symbole, faisant appel à la métaphore, peut nous aider à dire ce Dieu<br />
qui élève les humbles et nourrit les affamés“; Ma foi d’Africain, S. 216f (Mein Glaube als Afrikaner, S.<br />
195f). Vgl. a.a.O., S. 73f und S. 179 (Mein Glaube als Afrikaner, S. 62f und S. 159).
3 Hermeneutik und Methode der théologie sous l’arbre - Der epistemologische Bruch 143<br />
AfrikanerInnen, sondern ebenso von der Notwendigkeit einer „Relektüre der afrikanischen<br />
Kultur“. Hier erweisen sich auch die Grenzen eines primär kulturellen 66 Ansatzes<br />
der afrikanischen Theologie. 67<br />
Die Bibel muß <strong>auf</strong> dem Hintergrund ihres eigenen sozio-historischen Kontextes<br />
als Reflexion bestimmter (historischer) Erfahrungen verstanden werden. Ihre<br />
implizite Hermeneutik hat dabei für ein heutiges Glaubens- und Theologieverständnis<br />
einen paradigmatischen Charakter.<br />
Die hermeneutische Funktion der Theologie setzt einen methodischen Ansatz voraus,<br />
der „der gleiche ist wie derjenige der Bibel. Diese ist - im Leben des Volkes Gottes -<br />
eine un<strong>auf</strong>hörliche Reflexion, ein immer neues Wieder<strong>auf</strong>greifen des fundamentales<br />
Sinns der biblischen Botschaft und der Verheißung des Heils inmitten der vom Volk<br />
Gottes erlebten Ereignisse und Geschichte.“ 68 <strong>Das</strong> Paradigma par excellence für diesen<br />
„fundamentalen Sinn“ und seine (Re-)Interpretation im Rahmen der Geschichte stellt<br />
ohne Zweifel der Exodus dar - das zentrale Ereignis der „Heilsgeschichte“, durch das<br />
66<br />
67<br />
68<br />
A.a.O., S. 209, spricht Jean-Marc Ela im Hinblick <strong>auf</strong> den vorherrschenden - „kulturellen“ - Ansatz der<br />
afrikanischen Theologie, der sich primär um die Begegnung zwischen dem christlichen Glauben und<br />
den afrikanischen Kulturen bemüht, von <strong>einem</strong> „primat de l’approche anthropologique“ („Primat des<br />
anthropologischen Ansatzes“; Mein Glaube als Afrikaner, S. 188). Diese Terminologie darf jedoch keinesfalls<br />
mit derjenigen verwechselt werden, die Manas Buthelezi z.B. in seiner Heidelberger Vorlesung<br />
von 1972 gebraucht; vgl. MANAS BUTHELEZI, Ansätze afrikanischer Theologie im Kontext von Kirche in<br />
Südafrika, in: ILSE TÖDT (Hg.), Theologie im Konfliktfeld Südafrika. Dialog mit Manas Buthelezi (Studien<br />
zur Fiedensforschung; Bd. 15), Stuttgart (Ernst Klett) und München (Kösel), 1976, 33-132. Manas Buthelezi<br />
unterscheidet hier zwischen <strong>einem</strong> „ethnographischen“ (S. 111-121) und <strong>einem</strong> „anthropologischen“<br />
Ansatz (S. 121-129) afrikanischer Theologie, wobei er mit „ethnographischem Ansatz“ den von<br />
Jean-Marc Ela als „kulturell“ bzw. „anthropologisch“ charakterisierten Ansatz meint, insofern dieser<br />
„von Elementen der traditionellen afrikanischen Weltanschauung ausgeht, die literarisch als ethnographische<br />
Rekonstruktion vorliegt“ (S. 115). Der von Manas Buthelezi so genannte und für sich reklamierte<br />
„anthropologische Ansatz“ ist eher demjenigen von Jean-Marc Ela vergleichbar, insofern sein<br />
Ausgangspunkt „nicht eine ethnographisch rekonstruierte Weltanschauung, sondern der afrikanische<br />
Mensch selber“ ist (S. 121). Dieser Ansatz setzt ein „mit der Initiative des afrikanischen Menschen im<br />
Kontext seiner gegenwärtigen existentiellen Situation“ (S. 124). Manas Buthelezi sieht das „Grundproblem<br />
einheimischer Theologie in Afrika“ weniger darin, „welchen Inhalt eine solche Theologie haben<br />
müsse (ethnographischer Ansatz), sondern wer sie macht: das Problem ihrer causa efficiens, des afrikanischen<br />
Menschen selbst (anthropologischer Ansatz)“ (S. 129 [kursiv im Orig.]). In dieser Hinsicht besteht<br />
zwischen beiden Theologen eine große Verwandtschaft; mir ist aber nicht bekannt, daß sie sich<br />
<strong>auf</strong>einander beziehen würden. In Le rôle des Eglises dans la libération du continent africain, Bulletin de<br />
Théologie Africaine 6, Nr. 12 (1984), 281-302, S. 298, deutet Jean-Marc Ela an, daß es eigentlich unnötig<br />
sei, die „convergences profondes“ mit der theologischen Reflexion in Südafrika extra hervorzuheben.<br />
Als Beispiel „unter anderen“ nennt er jedoch ausschließlich „les travaux d’Albert Nolan et son<br />
équipe“.<br />
Der kulturelle Ansatz antwortet <strong>auf</strong> eine fundamentale Sorge afrikanischer ChristInnen: „Wie Christ<br />
sein ohne <strong>auf</strong>zuhören Afrikaner zu sein?“ („être chrétien sans cesser d’être africain“ ); ACHILLE MBEMBE,<br />
Un entretien avec Jean-Marc Ela, théologien camerounais, Spiritus 27, Nr. 104 (1986), 253-261; S.<br />
254. „Aber es müssen sehr wohl auch die Grenzen eines kulturellen Ansatzes für die Fragen des Glaubens<br />
gesehen werden, insofern dieser nicht die Herausforderungen eines Afrikas <strong>auf</strong>nimmt, das sich im<br />
Wandel befindet und durch Konflikte hindurchgeht, die zu einer Relektüre der afrikanischen Kultur<br />
selbst zwingen“; („Mais il faut bien tenir compte des limites d’une approche culturelle des questions de<br />
la foi qui n’assume pas les défis d’une Afrique en mutation et traversée par des conflits qui obligent à relire<br />
la culture africaine elle-même“); a.a.O., S. 255.<br />
„[...] que la démarche qu’elle présuppose est celle-là même de la Bible. Celle-ci n’a cessé d’être, dans la<br />
vie du peuple de Dieu, une réflexion, une reprise du sens fondamental du message biblique et de la<br />
Promesse de salut au sein des événements et de l’histoire vécu par le peuple de Dieu“; Le Cri de l’homme<br />
Africain, S. 41 (African Cry, S. 29).
3 Hermeneutik und Methode der théologie sous l’arbre - Der epistemologische Bruch 144<br />
sich Gott als ein Gott offenbart, der befreiend in die Geschichte seines Volkes eingreift<br />
- wobei sich aber menschliches Handeln und göttliche Initiative schwerlich dualistisch<br />
auseinanderdividieren lassen. Letztlich ist die ganze hebräische und - insofern Jesus<br />
das Handeln des Exodus-Gottes aktualisierte 69 , auch - die griechische Bibel tatsächlich<br />
„nichts anderes als eine Relektüre des Exodus“. 70<br />
Insofern Jesus die Inkarnation der Verheißungen der Vergangenheit verkörpert und<br />
sich die griechische Bibel nicht ohne die hebräische Bibel verstehen läßt, kann <strong>auf</strong><br />
diese nicht verzichtet werden. <strong>Das</strong>, was „durch die Propheten gesagt <strong>wurde</strong>“, ermöglicht<br />
erst den Zugang zu Jesus und zu s<strong>einem</strong> Verständnis; die hebräische Bibel ist<br />
daher nach wie vor aktuell.<br />
Die Aktualität der hebräischen Bibel liegt insbesondere auch in ihrer theologischen<br />
Erkenntnistheorie begründet, wonach Gerechtigkeit üben bereits Gott erkennen heißt:<br />
Er hat Recht und Wahrhaftigkeit getan,<br />
da war ihm gut!<br />
als Sachwalter waltete er<br />
für den Armen, Bedürftigen,<br />
da wars gut!<br />
Ist nicht dies das Mich-erkennen?!<br />
ist sein Erlauten. (Jer 22,15f) 71<br />
Die Praxis der Gerechtigkeit läßt sich in diesem Sinn als eine symbolische Handlung<br />
verstehen, durch die Mensch und Gott zusammenkommen, und die als symbolischer<br />
Akt selbst schon Erkenntnis Gottes ist - <strong>auf</strong> eine andere Weise als der symbolischen<br />
läßt sich Gott ohnehin nicht erkennen. Für die griechische Bibel gilt dies in ähnlicher<br />
Weise. So ist laut Mt 25 der Mensch in den Situationen, in denen seine grundlegenden<br />
Bedürfnisse (Nahrung, Trinkwasser, Kleidung, Wohnung, Gesundheit, Freiheit) bedroht<br />
sind, der Ort der Begegnung mit Gott 72 :<br />
Wenn aber der Menschensohn kommen wird in seiner Herrlichkeit ...<br />
werden alle Völker vor ihm versammelt werden.<br />
Und er wird sie voneinander scheiden ...<br />
Da wird der König sagen zu denen zu seiner Rechten:<br />
69<br />
70<br />
71<br />
72<br />
In Ma foi d’Africain, S. 189 (Mein Glaube als Afrikaner, S. 169), sagt Jean-Marc Ela, daß „Jésus-Christ<br />
[...] réactualise les gestes du Dieu de l’Exode“. An anderer Stelle schreibt er unter Bezugnahme <strong>auf</strong> Joh<br />
17,6, daß Jesus „den Menschen den wahren Namen des Exodus verkündet“ bzw. „offenbart“; Mein<br />
Glaube als Afrikaner, S. 148 bzw. S. 119 (Ma foi d’Africain, S. 167 bzw. S. 136).<br />
„[...] c’est toute la Bible qui n’est rien d’autre qu’une relecture de l’Exode“; Le Cri de l’homme Africain,<br />
S. 44 (African Cry, S. 32); vgl. unten das Kap. 4.2 über den Exodus.<br />
Jean-Marc Ela zitiert diesen Text in Ma foi d’Africain, S. 161 (Mein Glaube als Afrikaner, S. 142) in<br />
folgendem Wortlaut: „Il a fait justice aux pauvres et aux indigents et cela est vraiment me connaître (Jr<br />
22,16).“ In diesem Zusammenhang begründet Jean-Marc Ela die Aktualität der hebräischen Bibel insbesondere<br />
durch den Verweis <strong>auf</strong> das Gleichnis vom reichen Mann und dem armen Lazarus (Lk 16,19-<br />
31): „Sie haben Moses und die Propheten; <strong>auf</strong> sie sollen sie hören!“<br />
Vgl. Le Cri de l’homme Africain, S. 121f (African Cry, S. 99f). Jean-Marc Ela spricht in diesem Zusammenhang<br />
von der Welt als <strong>einem</strong> „Tempel, in dem der Mensch selbst zum Sakrament Jesu wird“<br />
(„l’univers est un temple où l’homme lui-même devient le sacrement de Jésus“; S: 122).
3 Hermeneutik und Methode der théologie sous l’arbre - Der epistemologische Bruch 145<br />
Kommt her, ihr Gesegneten meines Vaters, ererbt das Reich ...!<br />
Denn ich bin hungrig gewesen, und ihr habt mir zu essen gegeben.<br />
Ich bin durstig gewesen, und ihr habt mir zu trinken gegeben.<br />
Ich bin ein Fremder gewesen, und ihr habt mich <strong>auf</strong>genommen.<br />
Ich bin nackt gewesen, und ihr habt mich gekleidet<br />
Ich bin krank gewesen, und ihr habt mich besucht.<br />
Ich bin im Gefängnis gewesen, und ihr seid zu mir gekommen.<br />
Dann werden ihm die Gerechten antworten und sagen: Herr, wann ...?<br />
Und der König wird antworten und zu ihnen sagen:<br />
Wahrlich, ich sage euch:<br />
Was ihr getan habt <strong>einem</strong> von diesen meinen geringsten Brüdern und<br />
Schwestern,<br />
das habt ihr mir getan. (Mt 25,31-40)<br />
Wie für die hebräische Bibel der Exodus der zentrale hermeneutische Schlüssel für das<br />
Verstehen der Wirklichkeit und die Erkenntnis Gottes - und dessen, was Gott von den<br />
Menschen erwartet - ist, so ist dies für die griechische Bibel gleichermaßen das<br />
Kreuz 73 . Durch das Kreuz wird deutlich, daß Gott sich mit den Opfern eines Systems<br />
der Beherrschung und ihrem Kampf für Befreiung identifiziert. Daß diese herausragende<br />
Bedeutung des Kreuzes für die griechische Bibel in keiner Weise etwas mit<br />
Nekrophilie zu tun hat - wie es in diesem pervertierten Sinn im L<strong>auf</strong>e der Kirchen- und<br />
Theologiegeschichte oft (miß)verstanden <strong>wurde</strong> -, wird dadurch bestätigt, daß das<br />
Kreuz nicht von der Auferstehung getrennt werden kann.<br />
In der Perspektive der Auferstehung wird das Kreuz im Gegenteil geradezu zu <strong>einem</strong><br />
Werkzeug im Kampf gegen die „Mächte des Todes“. Ebensowenig wie das Kreuz von<br />
der Auferstehung getrennt werden kann, läßt es sich vom konkreten Leben Jesu und<br />
seiner Verkündigung und Lehre trennen, die seiner Kreuzigung vorausgingen. Es waren<br />
gerade seine subversive Praxis 74 und seine Verkündigung des Reiches Gottes 75 ,<br />
seine vorrangige Option für die Armen, die er durch seine Worte und durch sein Leben<br />
bezeugte 76 , was ihn zum offenen Konflikt mit der Gesellschaft seiner Zeit und schließlich<br />
ans Kreuz führte.<br />
Diesen Sachverhalt verkennt freilich eine spiritualisierende Lektüre der Bibel, die<br />
deren sozio-historische Dimension ausblendet. Von daher ist eine sozio-historische<br />
73<br />
74<br />
75<br />
76<br />
Vgl. unten das Kap. 4.3 über das Kreuz.<br />
„Letztlich ist das Evangelium von Jesus der schriftliche Niederschlag einer subversiven Praxis, die zu<br />
offenen Konflikten mit der Gesellschaft seiner Zeit führte“; Mein Glaube als Afrikaner, S. 148 („En définitive,<br />
l’Évangile de Jésus est la mise par écrit d’une pratique subversive qui a fait surgir des conflits<br />
avec la société de son temps“; Ma foi d’Africain, S. 167).<br />
Zum Reich Gottes vgl. das Kap. 4.6.<br />
Vgl. Voici le temps des héritiers, S. 225: „Jésus de Nazareth [...] a pris une option préférentielle pour les<br />
pauvres et les captifs (Lc 4,18-20), témoignant dans sa parole et sa vie d’une singulière indépendance<br />
d’esprit à l’égard des puissants de son temps, qu’il n’hésite pas à traiter de ,renards‘.“ Zu Jesu Option für<br />
die Armen (und Unterdrückten) vgl. auch Ma foi d’Africain, S. 137 und S. 140 (Mein Glaube als Afrikaner,<br />
S. 121 und S. 124).
3 Hermeneutik und Methode der théologie sous l’arbre - Der epistemologische Bruch 146<br />
Analyse der Bibel aus der Perspektive der Armen 77 unabdingbar. Die Armen sind es<br />
gerade, die uns in der Bibel das Wort eines Gottes erkennen lassen, der stört angesichts<br />
virulenter Ungerechtigkeiten. Sie stoßen uns <strong>auf</strong> einen Gott, der nicht neutral ist, sondern<br />
sich als derjenige offenbart, der den Unterdrückten Recht verschafft. 78<br />
3.3.4 Praktische Vermittlung: Revision und Strategie der Befreiung<br />
- ein relevanter Glaube<br />
Insofern wir also „vom Evangelium eine Botschaft der Befreiung der Unterdrückten<br />
empfangen“ 79 , ist - wie bereits erwähnt - „das Wesentliche, daß wir das Evangelium im<br />
Alltag <strong>auf</strong>nehmen, im Bewußtsein dessen, daß es als eine Botschaft der Befreiung zu<br />
leben ist.“ 80<br />
Hier schließt sich im übrigen wieder der „hermeneutische Zirkel“. Die théologie sous<br />
l’arbre geht aus von der konkreten und alltäglichen Erfahrung der christlichen Gemeinschaften<br />
in Afrika - die sie mit der Mehrheit der afrikanischen Bevölkerung teilen<br />
- und von ihrer befreienden Praxis im Namen des Evangeliums, und sie führt über die<br />
Analyse der Situation der Unterdrückung und Beherrschung und eine biblische Orientierung,<br />
die zugleich eine Relektüre der biblischen Texte aus der Perspektive der marginalisierten<br />
AfrikanerInnen beinhaltet, wiederum zur Praxis zurück. Die treibende<br />
Kraft für diese Bewegung ist der Glaube an den Gott der Offenbarung, an einen Gott,<br />
der sich in der Geschichte im Kontext von Knechtschaft und Beherrschung als ein<br />
befreiender Gott offenbart und von den Menschen das gleiche befreiende Engagement<br />
erwartet - auch insofern, als er sie zu MitschöpferInnen der Welt und ihrer selbst geschaffen<br />
hat. 81 Bildlich gesprochen führt die théologie sous l’arbre vom Palaverbaum<br />
unter den Baum des Kreuzes Jesu, und von hier aus unter den Baum des Kreuzes der<br />
Dritten Welt. Als Ziel des Weges steht fern am Horizont der Baum, dessen Blätter zur<br />
Heilung der Völker dienen. 82<br />
Indem die théologie sous l’arbre die Möglichkeit der Realisierung einer lebendigen<br />
Beziehung zu Gott in einer Praxis der Befreiung sieht und der christliche Glaube in<br />
diesem Sinn zu <strong>einem</strong> Faktor der Bewußtwerdung und der politischen Befreiung 83<br />
wird, ist die théologie sous l’arbre eine eminent politische und radikal „sozial-ethisch“<br />
77<br />
78<br />
79<br />
80<br />
81<br />
82<br />
83<br />
Zu einer solchen Analyse - am Beispiel des Markusevangeliums und aus koreanischer Perspektive - vgl.<br />
z.B. AHN BYUNG-MU, Jesus und das Minjung im Markusevangelium, in: JÜRGEN MOLTMANN (Hg.), Minjung.<br />
Theologie des Volkes Gottes in Südkorea, Neunkirchen-Vluyn (Neunkirchener), 1984, 110-132;<br />
DERS., <strong>Das</strong> Subjekt der Geschichte im Markusevangelium, in: a.a.O., 134-169.<br />
Vgl. Ma foi d’Africain, S. 126 und S. 136 (Mein Glaube als Afrikaner, S. 110 und S. 119). Aus dieser<br />
Perspektive wird insbesondere die „subversive Macht des Evangeliums“ („la puissance subversive de<br />
l’Évangile“) deutlich, von der Jean-Marc Ela in Anlehnung an Vincent Cosmao spricht; vgl. Voici le<br />
temps des héritiers, S. 207 und Ma foi d’Africain, 189 (Mein Glaube als Afrikaner, S. 169).<br />
Jean-Marc Ela formuliert in bezug <strong>auf</strong> die afrikanischen Kirchen, daß „elles reçoivent de l’Evangile un<br />
message de libération des opprimés“; Le Cri de l’homme Africain, S. 164 (African Cry, S. 138).<br />
Vgl. oben Anm. 24, S. 132.<br />
Zum Schöpfungsverständnis von Jean-Marc Ela vgl. unten Kap. 4.1.<br />
Zur Bedeutung des Begriffes „théologie sous l’arbre“ vgl. oben S. 27-31.<br />
„[...] un facteur de prise de conscience et de libération politique vraie“; Le Cri de l’homme Africain, S.<br />
125 (African Cry, S. 103).
3 Hermeneutik und Methode der théologie sous l’arbre - Der epistemologische Bruch 147<br />
ausgerichtete Theologie. Gleichwohl läßt sich für diese Theologie Glaube nicht <strong>auf</strong><br />
,Politik‘ reduzieren. Glaube bedeutet für die théologie sous l’arbre auch Spiritualität,<br />
Kontemplation, Gebet und insbesondere „Hören <strong>auf</strong> das Wort“. Es geht dabei jedoch<br />
um eine dialektische Verbindung von Theorie und Praxis, von „geistlichem Leben“<br />
und politischem Handeln, von Kampf und Kontemplation:<br />
In einer Praxis der Befreiung ist es möglich, die Beziehung zum lebendigen<br />
Gott zu (er)leben; in der Antwort <strong>auf</strong> die für die Zukunft des Menschen entscheidenden<br />
Fragen der Gesellschaft ist ein Hören des Wortes ebenso möglich<br />
wie demütiges Beten, Lob und Anbetung. Kurz, das Engagement des Glaubens<br />
im Prozeß der Befreiung wird der Ort, an dem sich Kampf und Gebet ineinanderfügen.<br />
84<br />
Angesichts dessen, daß ein solches Verständnis des Glaubens freilich nicht von der<br />
gesamten Kirche geteilt wird, betont Jean-Marc Ela nachdrücklich die Notwendigkeit,<br />
„sich in Beziehung zu dem Projekt der Befreiung zu definieren“, und hebt hervor, daß<br />
weder die christliche Reflexion noch die gottesdienstliche Feier der Geheimnisse<br />
diesem Projekt äußerlich bleiben können. In der Tat müssen das Verständnis<br />
des Glaubens, die Liturgie und die dem Evangelium entsprechende Praxis von<br />
dem her organisiert werden, was das wirkliche Problem der afrikanischen Völker<br />
ist. 85<br />
Seinen herausragendesten - symbolischen bzw. sakramentalen - Ausdruck findet diese<br />
dialektische Verbindung von Kampf und Kontemplation in der Feier der Eucharistie<br />
als der Erinnerung und Antizipation des befreienden Handeln Gottes. 86 Doch die liturgische<br />
Handlung allein genügt nicht, denn wenn die eucharistische Gemeinschaft gefeiert<br />
wird, ohne daß zugleich an der Schaffung besserer Lebensbedingungen gearbeitet<br />
wird, dann machen sich die ChristInnen unglaubwürdig. <strong>Das</strong> Christentum bliebe so<br />
letztlich doch irrelevant im und für den afrikanischen Kontext. Dies ist im übrigen ein<br />
Aspekt der „praktischen Vermittlung“, der für Jean-Marc Ela große Bedeutung hat: die<br />
Relevanz des christlichen Glaubens im Afrika von heute. 87 Seine Relevanz erweist sich<br />
insbesondere darin, welchen Beitrag er für den Kampf gegen Unterdrückung, Ausbeutung<br />
und Ungerechtigkeit leisten kann bzw. auch tatsächlich leistet:<br />
84<br />
85<br />
86<br />
87<br />
„C’est là, dans une praxis de libération, qu’il est possible de vivre la relation au Dieu vivant; dans la<br />
réponse aux questions décisives de la société sur l’avenir de l’homme, une écoute du Verbe est possible,<br />
ainsi que la supplication, la louange et l’adoration. Bref, l’engagement de la foi dans un processus de<br />
libération devient le lieu où s’articulent la lutte et la prière“; a.a.O., S. 122f (African Cry, S. 100). In<br />
Voici le temps des héritiers, S. 207, heißt es: „C’est à partir de cet engagement [i.e. pour la libération de<br />
l’homme] qu’une appropriation de l’Évangile est possible et que se cherche une expression de la foi où<br />
la prière et la lutte s’articulent dans l’expérience des communautés vivantes.“<br />
„[...] il faut se définir par rapport au projet de libération: ni la réflexion chrétienne ni la célébration des<br />
mystères du culte ne sauraient demeurer extérieurs à ce projet. En réalité, il faut organiser l’intelligence<br />
de la foi, la liturgie et la praxis évangélique à partir de ce qui est le problème actuel des peuples<br />
africains“; a.a.O., S. 108 (African Cry, S. 86f).<br />
Zur Eucharistie vgl. unten Kap. 4.4.<br />
In Ma foi d’Africain, S. 173, sagt dies Jean-Marc Ela selbst: „La pertinence de la foi et de la Évangile est<br />
le centre de convergence de notre recherche“ („Die Relevanz des Glaubens und des Evangeliums ist das<br />
Ziel, <strong>auf</strong> das all unser Suchen gerichtet ist“; Mein Glaube als Afrikaner, S. 152).
3 Hermeneutik und Methode der théologie sous l’arbre - Der epistemologische Bruch 148<br />
Genauer, das Spezifische im Erbe der christlichen Tradition wird von daher beurteilt,<br />
welche Aufmerksamkeit denjenigen entgegengebracht wird, die im afrikanischen<br />
Milieu in Verhältnissen der Unterdrückung und des Leidens unter der<br />
Ungerechtigkeit der ideologischen, sozialen, politischen und ökonomischen<br />
Strukturen leben. 88<br />
Sowohl um der Glaubwürdigkeit des Christentums und der Relevanz des christlichen<br />
Glaubens und des Evangeliums willen als auch <strong>auf</strong>grund der von uns geforderten<br />
Treue zum Evangelium als guter Nachricht für die Armen und zum Gott der Hoffnung<br />
und des Lebens „müssen wir heute in der Nachfolge des Gekreuzigten von Golgatha,<br />
der mit allem, was Gottes Plan entgegenstand, in Konflikt geraten ist, zu einer Strategie<br />
der Befreiung übergehen.“ 89 Der zentrale Aspekt dieser Strategie der Befreiung besteht<br />
darin, die Menschen dazu zu befähigen, zum Subjekt ihrer eigenen Geschichte zu werden,<br />
ihr Leben in die eigene Hand zu nehmen, sich „<strong>auf</strong>zurichten nach dem Bild des<br />
Auferstandenen“. 90 Dies ist jedoch kaum anders möglich als durch „kleine Schritte der<br />
Befreiung“. Solche ersten kleine Schritte <strong>auf</strong> dem - langen - Weg der Befreiung 91 werden<br />
da unternommen,<br />
wo die Solidarität vor allem die Sache der Armen selbst ist, die, in <strong>einem</strong> Dorf<br />
oder Stadtviertel, gemeinsam leben lernen, und, um ihre eigenen Probleme zu<br />
lösen, ihr Leben und ihre Kämpfe gemeinschaftlich anpacken, d.h. das, was für<br />
sie selbst und ihre tiefsten Bestrebungen das Wesentliche ist. 92<br />
Movens bzw. treibende Kraft hierfür - d.h. für die „Auferstehung des Menschen im<br />
hier und jetzt“, dafür daß der Mensch seinen Schöpfungs<strong>auf</strong>trag, selbst Schöpfer seiner<br />
88<br />
89<br />
90<br />
91<br />
92<br />
„Plus précisément, ce qu’il y a de spécifique dans l’héritage de la tradition chrétienne est questionné à<br />
partir de l’attention portée à ceux qui, en milieu africain, vivent en état d’oppression et de souffrance<br />
sous l’injustice des structures idéologiques, sociales, politiques et économiques“; a.a.O., S. 18 (Mein<br />
Glaube als Afrikaner, S. 11). An gleicher Stelle spricht Jean-Marc Ela von einer „question fondamentale<br />
de la crédibilité du christianisme“ und der „réflexion fondamentale sur la pertinence du ,christianisme<br />
africain‘ “. - Um dem Ernst dieser Frage, der in der Gefahr besteht, daß sich das Anliegen der Emanzipation<br />
gegen Gott und Kirche zu richten droht, Ausdruck zu verleihen, zitiert Jean-Marc Ela in Mein<br />
Glaube als Afrikaner, S. 116, CHEIKH HAMIDOU KANE, der in L’aventure ambiguë, Paris, 1961 (dtsch.: Der<br />
Zwiespalt des Samba Diallo, Frankfurt, 1985), den Meister einer Koranschule sagen läßt: „Lange haben<br />
die Diener Gottes die Welt regiert. Haben sie es aber s<strong>einem</strong> Gesetz gemäß getan? [...] Ich habe gehört,<br />
daß im Land der Weißen die Auflehnung gegen die Armut mit der Auflehnung gegen Gott gleichgesetzt<br />
wird. [...] Wie groß muß die Verfehlung derer sein, die an Gott glauben, wenn am Ende ihrer Weltherrschaft<br />
der Name Gottes den Haß der Hungrigen provoziert!“ (Ma foi d’Africain, S. 132).<br />
„Il faut aujourd’hui passer à une stratégie de libération à la suite du crucifié du Gologotha qui est entré<br />
en conflit avec tout ce qui n’était pas conforme au dessein de Dieu“; a.a.O., S. 129 (Mein Glaube als<br />
Afrikaner, S. 113).<br />
„[...] être debout à l’image du Ressuscité“; a.a.O., S. 132 (Mein Glaube als Afrikaner, S. 116).<br />
Vgl. Quand l’État pénètre en brousse, S. 134: „Le changement qui s’impose doit donc être rythmé par<br />
des petits pas de libération. Nous sommes sur une longue route, vers la destruction de la misère et<br />
l’émergence d’un homme africain délivré des formes renouvelées de l’exploitation néo-coloniale.“<br />
„[...] où la solidarité est d’abord l’affaire des pauvres eux-mêmes, apprenant à être ensemble, dans un<br />
village ou un quartier, pour résoudre leurs propres problèmes, mettre en commun la vie et la luttes,<br />
c’est-à-dire ce qui fait l’essentiel d’eux-mêmes et de leurs aspirations profondes“; Ma foi d’Africain, S.<br />
122 (Mein Glaube als Afrikaner, S. 106); vgl. auch die folgenden Seiten und L’Afrique des villages, 185-<br />
216 (Groupements populaires et luttes paysannes) und 217-228 (Pour un pouvoir paysan); außerdem<br />
Quand l’État pénètre en brousse, 128-134 (Une économie invisible), 155-159 (Une tradition de lutte),<br />
160-164 (Un contre-savoir), 164-170 (Les stratégies du pauvre) und 171-180 (L’art de banaliser le<br />
pouvoir).
3 Hermeneutik und Methode der théologie sous l’arbre - Der epistemologische Bruch 149<br />
selbst und der Welt zu sein, realisiert - ist der Geist Gottes: „Wo aber der Geist des<br />
Herrn ist, da ist Freiheit“. 93 Es ist der „Geist, der zu den Kirchen Afrikas spricht, daß<br />
sie den Armen ein Evangelium verkünden sollen, das sie befreit.“ 94 Zugleich ist er<br />
„eine Energiequelle für eine Welt im Prozeß der Schöpfung“. 95 Doch diese schöpferische<br />
Energie bzw. Lebenskraft muß in den Menschen erst einmal freigesetzt werden -<br />
sie ist zu „befreien“ (libérer), sagt Jean-Marc Ela. 96<br />
Aber es ist keineswegs nur der Geist, der befreit werden muß. Befreiung ist ein umfassendes,<br />
globales Projekt und umfaßt verschiedenste Aspekte und Dimensionen: das<br />
Evangelium bzw. das Wort Gottes, das (afrikanische) Christentum, den (afrikanischen)<br />
Menschen, die Armen, die Unterdrückten bzw. die unterdrückten Völker, den afrikanischen<br />
Kontinent, „die (Einzel-)Person, die Gesellschaft und die ganze materielle Welt“<br />
...:<br />
1.) <strong>Das</strong> Evangelium: Angesichts dessen, daß dem Evangelium im L<strong>auf</strong>e der Geschichte<br />
des öfteren Gewalt angetan <strong>wurde</strong>, stellt Jean-Marc Ela in Mein Glaube als Afrikaner,<br />
S. 127, die Frage: „Wie können wir das Evangelium ,befreien‘, damit es zum Ferment<br />
der Befreiung werden kann in <strong>einem</strong> sozio-religiösen Kontext, in dem man entdeckt,<br />
daß der Gott Jesu Christi die Rolle zurückweist, die man ihn hat spielen lassen<br />
bei der Sakralisierung jener Mächte, gegen die er protestiert?“ 97 An anderer Stelle<br />
fordert Jean-Marc Ela dazu <strong>auf</strong>, das Evangelium aus den Fesseln eines „verbürgerlichten“<br />
(„embourgeoisé“) Christentum zu befreien. 98<br />
93<br />
94<br />
95<br />
96<br />
97<br />
98<br />
Jean-Marc Ela zitiert diese Stelle aus 2 Kor 3,17 in Voici le temps des héritiers, S. 250.<br />
„[...] l’Esprit qui parle aux Églises d’Afrique pour annoncer aux pauvres un Évangile qui les libère“;<br />
a.a.O., S. 253.<br />
„[...] l’Esprit est une source d’énergie pour un monde en création“; Le Cri de l’homme Africain, S. 134f<br />
(African Cry, S. 111).<br />
„[...] ,libérer‘ les énergies mises par l’Esprit dans la vie des baptisés“; Voici le temps des héritiers, S. 165.<br />
Von den Get<strong>auf</strong>ten spricht Jean-Marc Ela in diesem Zusammenhang nicht etwa, weil nur sie es wären,<br />
in denen der Geist seine/ihre kreative Energie und Lebenskraft weckt, sondern weil insbesondere bei<br />
ihnen diese Energien durch die vorherrschenden kirchlichen Strukturen eher gezügelt als freigesetzt<br />
sind.<br />
„[...] comment ,libérer‘ l’Évangile pour lui permettre d’être ferment de libération dans un contexte<br />
socio-religieux où l’on découvre que le Dieu de Jésus Christ résiste au rôle qu’on lui a fait jouer en<br />
sacralisant les pouvoirs qu’il conteste?“; Ma foi d’Africain, S. 145.<br />
A.a.O., S. 69 (Ma foi d’Africain, S. 80). - Mit diesem Anliegen kommt Jean-Marc Ela dem Verständnis<br />
von Geschichte recht nahe, wie es Walter Benjamin in seinen Reflexionen über den Begriff der Geschichte<br />
formulierte: „Vergangenes historisch artikulieren heißt nicht, es erkennen ,wie es denn eigentlich<br />
gewesen ist‘. Es heißt, sich einer Erinnerung bemächtigen, wie sie im Augenblick einer Gefahr <strong>auf</strong>blitzt.<br />
[...] Die Gefahr droht sowohl dem Bestand der Tradition wie ihren Empfängern. Für beide ist sie<br />
ein und dieselbe: sich zum Werkzeug der herrschenden Klasse herzugeben. In jeder Epoche muß versucht<br />
werden, die Überlieferung von neuem dem Konformismus abzugewinnen, der im Begriff steht, sie<br />
zu überwältigen. Der Messias kommt ja nicht nur als der Erlöser; er kommt als der Überwinder des Antichrist.<br />
Nur dem Geschichtsschreiber wohnt die Gabe bei, im Vergangenen den Funken der Hoffnung<br />
anzufachen, der davon durchdrungen ist: auch die Toten werden vor dem Feind, wenn er siegt, nicht<br />
sicher sein. Und dieser Feind hat zu siegen nicht <strong>auf</strong>gehört“; WALTER BENJAMIN, Über den Begriff der Geschichte,<br />
in: Sprache und Geschichte. Philosophische Essays, Stuttgart (Reclam), 1992, 141-154, S. 144.<br />
In diesem Sinn gebraucht Jean-Marc Ela auch den von Johann Baptist Metz übernommenen Begriff eines<br />
„gefährlichen und subversiven Gedächtnisses“ Jesu Christi; Mein Glaube als Afrikaner, S. 143 (Ma<br />
foi d’Africain, S. 162). Im selben Sinn ist auch sein Interesse an der afrikanischen Geschichte zu verstehen;<br />
vgl. z.B. seine Analyse der prophetischen Bewegungen (siehe oben Kap. 2.3) oder seine Kritik eines<br />
„kulturellen Romantizismus“ (siehe unten Kap. 5).
3 Hermeneutik und Methode der théologie sous l’arbre - Der epistemologische Bruch 150<br />
2.) <strong>Das</strong> Wort Gottes: Die Erfahrung von Gemeinschaften, die ihre eigene Bewußtwerdung<br />
betreiben und sich selbst evangelisieren, die Solidarität <strong>auf</strong> der Graswurzelebene<br />
einüben lernen und (kleine) Schritte zu <strong>einem</strong> besseren Leben unternehmen,<br />
können nicht nur dazu beitragen, aus den Sackgassen einer exportorientierten Entwicklung<br />
herauszukommen, sondern vermitteln auch „eine Vorstellung von dem, was die<br />
Kraft des Wortes Gottes bewirken kann, wenn es - nach <strong>einem</strong> Wort von P. Cosmao -<br />
aus seiner ‚Zwangsjacke‘ befreit ist“. 99<br />
3.) <strong>Das</strong> afrikanische Christentum muß „befreit“ werden aus der (babylonischen)<br />
Gefangenschaft, in die es die westliche Dogmatik (Mein Glaube als Afrikaner, S. 58)<br />
bzw. die Aufoktroyierung europäischer Kirchenstrukturen und <strong>auf</strong> das Jenseits orientierter<br />
Frömmigkeitsformen, ein weltfremder Spiritualismus einheimischer Laien und<br />
ein korrupter afrikanischer Klerus (a.a.O., S. 170f) geführt haben. Mit Fabien Eboussi<br />
Boulaga geht Jean-Marc Ela davon aus, daß ein wirklich authentisches Christentum<br />
wohl „erst aus der Asche eines bourgeoisen Christentums erstehen“ wird. 100<br />
4.) Der Mensch: „Die gegenwärtige Herausforderung für die Kirche besteht“ - laut<br />
Jean-Marc Ela - „darin, den Glauben nicht nur an den Orten des Kultes um die sakramentalen<br />
Riten herum zu leben, sondern von den Kämpfen und Hoffnungen um die<br />
Befreiung des Menschen her“. 101 An anderer Stelle ist von einer Befreiung des Menschen<br />
von den „Mächten des Todes“ 102 die Rede.<br />
5.) Die Armen: Die Befreiung der Armen (la libération des pauvres) - das ist die,<br />
durch Jesu Tod <strong>auf</strong>erlegte, Verpflichtung der ChristInnen. <strong>Das</strong> Kreuz stellt die Frage<br />
nach unserer Solidarität mit denjenigen, die gegen die Mächte des Todes kämpfen.<br />
Nachfolge des Gekreuzigten bedeutet, seinen „subversiven Plan“ und seine „Parteilichkeit“<br />
bzw. „Option“ für die Armen zu „aktualisieren“; vgl. Mein Glaube als Afrikaner,<br />
S. 125 (Ma foi d’Africain, S. 141).<br />
6.) Die Unterdrückten: Im Vorwort von Mein Glaube als Afrikaner, S. 11, stellt Jean-<br />
Marc Ela die für ihn mit <strong>einem</strong> klaren „Ja“ zu beantwortende Frage, ob zu <strong>einem</strong> Zeitpunkt,<br />
da die AfrikanerInnen - wie andere Völker auch - mit dem „Schock der Modernität“<br />
(le choc de la modernité) konfrontiert sind, nicht „die Befreiung der Unterdrückten<br />
die wesentliche Bedingung jeder authentischen Inkulturation der christlichen Botschaft<br />
ist“. 103 Befreiung der Unterdrückten - das ist auch ein wesentlicher Aspekt der<br />
Bedeutung des Reiches Gottes; vgl. a.a.O., S. 123 (Ma foi d’Africain, S. 139).<br />
99<br />
Mein Glaube als Afrikaner, S. 110 („un aperçu de ce que peut être la force de la Parole de Dieu,<br />
lorsqu’elle est libérée, selon une expression du P. Cosmao, de ses ,carcans‘ “, Ma foi d’Africain, S. 126).<br />
100 Jean-Marc Ela zitiert hier FABIEN EBOUSSI BOULAGA, Christianisme sans fétiche. Révélation et domination,<br />
Paris, 1982 (S. 59): „Peut-être un christianisme dont l’Africain puisse répondre en son âme et<br />
conscience ne naîtra-t-il que des cendres du christianisme bourgeois“; Ma foi d’Africain, S. 169 (Mein<br />
Glaube als Afrikaner, S. 149f).<br />
101 Mein Glaube als Afrikaner, S. 69 („Le défi lancé actuellement à l’Église est celui de vivre la foi, non<br />
seulement autour des rites sacramentels, à l’intérieur des lieux de culte, mais à partir des luttes et des<br />
espoirs de la libération de l’homme“; Ma foi d’Africain, S. 80).<br />
102 A.a.O., S. 98 (Ma foi d’Africain, S. 113).<br />
103 „[...] la libération des opprimés n’est elle pas la condition majeure de toute inculturation authentique du<br />
message chrétien?“; Ma foi d’Africain, S. 17.
3 Hermeneutik und Methode der théologie sous l’arbre - Der epistemologische Bruch 151<br />
7.) Die unterdrückten Völker: Die fundamentale Herausforderung, vor die der Glaube<br />
die Kirchen stellt, ist nicht mehr wie im 19. Jahrhundert das Seelenheil der Ungläubigen,<br />
sondern „die Befreiung der unterdrückten Völker“ (la libération des peuples<br />
opprimés). 104<br />
8.) Der afrikanische Kontinent: Die Kirche hat eine wesentliche Rolle im Prozeß der<br />
Befreiung des afrikanischen Kontinents zu spielen - will sie wirklich(e) Kirche sein.<br />
Dafür muß sie ihre traditionellen Beziehungen zu den politischen Machthabern grundlegend<br />
in Frage stellen und sich der Basis zuwenden. 105<br />
9.) Die einzelne Person, die Gesellschaft und die ganze materielle Welt: Jean-Marc<br />
Ela zitiert in Mein Glaube als Afrikaner, S. 137, zustimmend den (weißen) südafrikanischen<br />
Theologen ALBERT NOLAN mit s<strong>einem</strong> Anliegen, eine Kirche zu schaffen, „deren<br />
vorrangiges Interesse das Heil und die totale Befreiung der Person, der Gesellschaft<br />
und der materiellen Welt ist“. 106<br />
Und zweifellos bedarf es, um „die Distanz (zu) überwinden, die uns vom einfachen<br />
Volk trennt“ und um „in einer nicht fiktiven Solidarität mit den Verlierern unserer<br />
Geschichte zu leben“ 107 , der „persönlichen Befreiung“ der TheologInnen, wie sie Jean-<br />
Marc Ela selbst als „in kleinen Schritten“ 108 vollzogene exemplarisch vorgelebt hat.<br />
Dann erst läßt sich auch erkennen, welches Befreiungs- und Widerstandspotential bei<br />
der unterdrückten und marginalisierten Bevölkerung selbst tatsächlich vorhanden ist 109<br />
und wie dieses realisiert werden kann - es kann ja nicht Sinn der Sache sein, die Armen<br />
und Unterdrückten auch noch hinsichtlich ihrer eigenen Befreiung paternalistisch zu<br />
bevormunden 110 , müssen sie doch selbst den „<strong>auf</strong>rechten Gang“ lernen, selbst <strong>auf</strong> ihren<br />
104 Le motif de la libération, S. 46.<br />
105 Le rôle des Eglises dans la libération du continent africain, Bulletin de Théologie Africaine 6, Nr. 12<br />
(1984), 281-302 [Hervorhebung im Titel von mir; R.K.-F.].<br />
106 „[...] une Église préoccupée du salut et de la libération totale de la personne, de la société et de l’univers<br />
matériel“; Ma foi d’Africain, S. 156 (Zitat aus <strong>einem</strong> Vortrag).<br />
107 „[...] il faut alors surmonter la distance qui nous sépare du petit peuple et [...] à vivre en solidarité non<br />
fictive avec les vaincus de notre histoire“; a.a.O., S. 162 (Mein Glaube als Afrikaner, S. 143).<br />
108 A.a.O., S. 19 (Mein Glaube als Afrikaner, S. 12), berichtet er davon, daß er in „petits pas de libération“<br />
zum „compagnon“ der marginalisierten Landbevölkerung in Kamerun geworden war; Ausführlicheres<br />
darüber im Einleitungskapitel (Un itinéraire), 23-34 (Mein Glaube als Afrikaner, 15-26).<br />
109 Vgl. z.B. Quand l’État pénètre en brousse, S. 130: „A côté des ,pannes‘ d’une Afrique bloqué, on découvre<br />
avec surprise dans les stratégies populaires de survie un réveil considérable de la mémoire des peuples<br />
qui se traduit par un ressurgissement de savoir-faire et la capacité collective à s’organiser“ („An der<br />
Seite der ,Pannen‘ eines blockierten Afrika entdeckt man überraschend in den populären Überlebensstrategien<br />
ein erstaunlich waches Gedächtnis des Volkes, das sich in <strong>einem</strong> Wieder<strong>auf</strong>tauchen von<br />
Know-how und der kollektiven Fähigkeit, sich zu organisieren, äußert“); oder S. 155: „Il existe bel et<br />
bien une résistance diffuse à l’égard des régimes où l’on ne s’attend pas à trouver de foyers de production<br />
de pouvoir autonome“ („Zweifellos existiert ein diffuser Widerstand selbst gegenüber Regimes, wo<br />
man nicht erwartet hätte, Orte der Produktion autonomer Macht zu finden“).<br />
110 In diesem Zusammenhang ist die Kritik interessant, die Johann Georg Hamann, Freund und Kritiker<br />
Immanuel Kants, an dessen berühmter Definition von „Aufklärung“ aus dem Jahr 1784 äußert. - „Aufklärung<br />
ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist<br />
das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist<br />
diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung<br />
und des Mutes liegt, sich seiner ohne der Leitung eines anderen zu bedienen. Sapere aude!<br />
[...] Faulheit und Feigheit sind die Ursachen, warum ein so großer Teil der Menschen, nachdem sie die<br />
Natur längst von fremder Leitung freigesprochen, dennoch gerne zeitlebens unmündig bleiben [...]“ - so
3 Hermeneutik und Methode der théologie sous l’arbre - Der epistemologische Bruch 152<br />
eigenen Beinen gehen und selbst ihr eigenes Leben leben. Die Funktion von Intellektuellen,<br />
die sich organisch in das Leben der Gemeinschaft einfügen, läßt sich am ehesten<br />
als eine „mäeutische“ charakterisieren. Des weiteren kann ihr Beitrag darin bestehen,<br />
bei der Analyse der Ursachen der Armut und des Elends und bei der Demaskierung<br />
ihrer ideologischen Verschleierung behilflich zu sein. Außerdem können sie Informationen<br />
über Erfahrungen aus anderen Kontexten einbringen.<br />
3.4 „Konkretionen“ - Praxisebenen<br />
Im folgenden versuche ich, verschiedene Ebenen der theologischen Praxis Jean-Marc Elas zu<br />
differenzieren. Es ist schwierig, wenn nicht gar unmöglich, Jean-Marc Elas theologische Methode<br />
von seiner missionarischen und pastoralen zu trennen. Zum einen vereinigt er in seiner Person<br />
sowohl den Theologen als auch den Missionar wie auch den Pastoralarbeiter, zum anderen sind<br />
seine theologischen Texte stark biographisch geprägte Reflexionen seiner pastoralen und missionarischen<br />
Praxis und der sich daraus ergebenden Einsichten und Problemstellungen. Wenn auch<br />
nicht zu trennen, so versuche ich dennoch folgende Differenzierung: Jean-Marc Ela als Missionar,<br />
als Pastoralarbeiter und als theologischer Schriftsteller.<br />
3.4.1 Jean-Marc Ela als Missionar<br />
Nicht Bekehrung der „Heiden“ ist das missionarische Anliegen von Jean-Marc Ela,<br />
sondern die Vermittlung des befreienden Impulses des Evangeliums, d.h. Verkündigung<br />
des Evangeliums als wirkliche gute Nachricht für die ganz konkreten Menschen,<br />
unter denen er wirkt. Dies impliziert, sich zuerst einmal völlig <strong>auf</strong> die Menschen vor<br />
Ort einzulassen, um sie, ihre Lebensweise, ihre Wertvorstellungen, ihre Weltanschauung,<br />
ihre Lebensbedingungen und ihre Probleme wirklich kennenzulernen - oder theologisch<br />
ausgedrückt: sich in ihre Welt zu inkarnieren.<br />
Missionarisches, aber auch pastorales, Ziel ist es, zur Entstehung von „Evangeliums-<br />
Gemeinschaften“ beizutragen, in denen die Menschen „ihr Leben und ihre Zukunft<br />
IMMANUEL KANT (Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?). JOHANN GEORG HAMANN äußert sich dazu<br />
in <strong>einem</strong> Brief v. 18. Dez. 1784 an (den gemeinsamen Freund) Christian Jakob Kraus u.a. folgendermaßen:<br />
„Nur liegt mir das πρωτον ψευδος [...] in dem vermaledeiten adjecto oder Beiworte: selbstverschuldet.<br />
[...] Wer ist aber der unbestimmte Andere [...]? Antwort: der leidige Vormund, der als das<br />
correlatum des Unmündigen implicite verstanden werden muß. Dies ist der Mann des Todes [Anspielung<br />
<strong>auf</strong> 2 Sam 12,7]. [...] Die Unmündigkeit ist also nicht weiter selbst verschuldet, als in so fern sie<br />
sich der Leitung eines blinden oder unsichtbaren [...] Vormundes und Führers überläßt. [...] Worin besteht<br />
nun das Unvermögen oder die Schuld des fälschlich angeklagten Unmündigen? In seiner eigenen<br />
Faulheit und Feigheit? Nein, in der Blindheit seines Vormundes, der sich sehend ausgibt, und eben deshalb<br />
alle Schuld verantworten muß. [...] Alles Geschwätz [...] der eximierten Unmündigen, die sich zu<br />
Vormündern der selbst unmündigen, aber mit couteaux de chasse und Dolchen versehenen, Vormündern<br />
<strong>auf</strong>zuwerfen, ein kaltes unfruchtbares Mondlicht ohne Aufklärung für den faulen Verstand und<br />
ohne Wärme für den feigen Willen [...] Meine Verklärung der Kantischen Erklärung läuft also dar<strong>auf</strong><br />
hinaus, daß wahre Aufklärung in <strong>einem</strong> Ausgang des unmündigen Menschen aus einer allerhöchst<br />
selbstverschuldeten Vormundschaft bestehe. [...] Freilich kommt es dar<strong>auf</strong> an, die beiden Naturen eines<br />
Unmündigen und eines Vormundes zu vereinigen [...] hier liegt eben der Knoten der ganzen politischen<br />
Aufgabe.“ Vgl. ELFRIEDE BÜCHSEL, Aufklärung und christliche Freiheit: J. G. Hamann contra I. Kant,<br />
NZSTh 4 (1962), 133-157.
3 Hermeneutik und Methode der théologie sous l’arbre - Der epistemologische Bruch 153<br />
selbst in die Hand nehmen“. 111 Als Beitrag hierzu kann die christliche Mission die<br />
subversive Kraft des Evangeliums vermitteln.<br />
Mission ist für Jean-Marc Ela im Grunde so etwas wie ein Dialog der Religionen <strong>auf</strong><br />
der Graswurzelebene, wobei sich die verschiedenen Religionen - in s<strong>einem</strong> Fall das<br />
Christentum, die traditionelle afrikanische Religion und der Islam - sich <strong>auf</strong> der Suche<br />
nach Wegen der Befreiung gegenseitig befruchten. Was zählt, sind nicht konfessionelle<br />
oder religiöse Unterschiede, sondern inwiefern die jeweilige Religion relevant ist, d.h.,<br />
was sie beitragen kann für den Kampf um ein besseres Leben und eine gerechtere Gesellschaft.<br />
3.4.2 Jean-Marc Ela als Pastoralarbeiter<br />
Zentral für Jean-Marc Elas pastorale Praxis ist die Stellung der Gemeinschaft. Die erste<br />
Frage, die jeder pastoralen Aktivität vorausgehen muß, ist: „Besteht hier eine Gemeinschaft?<br />
Was ist zu tun, um eine Gemeinschaft wachsen zu lassen? Bin ich fähig, durch<br />
meinen vom Glauben geprägten Lebensstil ein Mensch zu sein, der versammelt und<br />
verwurzelt? Welches sind die wesentlichen Fragen im Leben eines Dorfes, die für die<br />
Menschen dort zum Ort der Begegnung werden können?“ 112<br />
Die Betonung der Gemeinschaft hat einerseits theologische Gründe, andererseits soziologische:<br />
In Afrika bedeutet existieren immer auch zugleich ko-existieren. 113 Eine<br />
Änderung der Lebensweise gilt erst dann als akzeptabel, wenn sie durch die ganze<br />
Gruppe mitvollzogen wird. Von daher ist der Ausgangspunkt für eine Transformation<br />
bzw. Verbesserung der Lebensumstände immer die ganze jeweilige Gemeinschaft wie<br />
z.B. ein Dorf. 114<br />
Ein wesentlicher Aspekt von Jean-Marc Elas pastoraltheologischer Konzeption ist die<br />
Abweisung und Kritik des überlieferten Katechismusunterrichtes als lebensfremd und<br />
darum entfremdend. Die jeweilige Gemeinschaft ist Subjekt ihrer eigenen Theologie<br />
und Katechese.<br />
Jean-Marc Elas Alternative zum traditionellen Katechismusunterricht ist die von ihm<br />
so genannte pédagogie du regard (Pädagogik des Blicks), die eine bewußtseinsbildende<br />
Alphabetisierung zum Inhalt hat und von daher eine enge Verwandtschaft zu Paulo<br />
Freires Pädagogik der Befreiung <strong>auf</strong>weist.<br />
111 „Communautés d’Evangile où les hommes et les femmes prennent en main leur vie et leur avenir“ (Ma<br />
foi d’Africain, S. 28).<br />
112 Mein Glaube als Afrikaner, S. 19.<br />
113 Vgl. dazu z.B. den in Publik-Forum (9/95) als Vermächtnis abgedruckten Text des im April 1995 ermordeten<br />
kamerunischen Theologen Engelbert Mveng.<br />
114 Vgl. L’Afrique des villages, S. 188.
3 Hermeneutik und Methode der théologie sous l’arbre - Der epistemologische Bruch 154<br />
3.4.3 Jean-Marc Ela als Theologe bzw. als theologischer Schriftsteller<br />
Vorrang vor der Theologie im Sinn eines festumrissenen Lehr-, Lern- und Forschungsstoffes<br />
hat für Jean-Marc Ela das Theologietreiben 115 , die „theologische Praxis“.<br />
Nichtsdestotrotz nimmt er auch theologische Beiträge von anderen interessiert zur<br />
Kenntnis. Als eigenständiger theologischer Schriftsteller ist er im übrigen recht produktiv.<br />
Der für Jean-Marc Ela spezifische theologische Ansatz beginnt mit dem sich Einlassen<br />
<strong>auf</strong> das konkrete Leben konkreter Menschen in <strong>einem</strong> konkreten Kontext. Geleitet wird<br />
er dabei von der biblischen Option für die Armen und Gottes Parteinahme für die Unterdrückten<br />
und Ausgebeuteten. Seine Entscheidung dafür, das Leben marginalisierter<br />
Menschen zu teilen, ist theologisch motiviert: Wer Christus heute begegnen will, muß<br />
die Gemeinschaft mit den Menschen suchen, mit denen dieser sich nach dem biblischen<br />
Zeugnis identifiziert. Dies fordert Jean-Marc Ela nicht nur von seiner Kirche,<br />
sondern er hat damit selbst ernst gemacht - was sich im autobiographischen Charakter<br />
seiner Schriften widerspiegelt, die als solche einen Moment darstellen in <strong>einem</strong> dialektischen<br />
Prozeß von Praxis und Reflexion.<br />
Auf der einen Seite der intensive Bezug <strong>auf</strong> einen Gott, der mit dem Projekt der Befreiung<br />
und einer gerechten Gesellschaft assoziiert wird, <strong>auf</strong> der anderen Seite die<br />
Selbstpositionierung an die Seite der Unterdrückten, Ausgebeuteten und Marginalisierten:<br />
die logische Konsequenz der dialektischen Beziehung dieser beiden Momente ist<br />
Gesellschafts- und Ideologiekritik als konstitutiver Bestandteil der theologischen Praxis<br />
von Jean-Marc Ela - letztlich eine un<strong>auf</strong>gebbare Funktion von Theologie überhaupt,<br />
sofern sie tatsächlich Theologie ist und nicht in Wirklichkeit von etwas anderem<br />
redet.<br />
Die Suche nach Antworten <strong>auf</strong> die Herausforderungen des heutigen Afrikas ist ein<br />
zentraler Aspekt von Jean-Marc Elas Publikationen. Diese sind in der Regel so <strong>auf</strong>gebaut,<br />
daß sie ausgehend von einer Bestands<strong>auf</strong>nahme und Analyse drängender Probleme<br />
des afrikanischen Kontextes und im Licht einer biblisch-theologischen Orientierung<br />
scharfe Fragen an die afrikanischen ChristInnen, TheologInnen und Kirchen richten<br />
- als einen mit einer prophetischen Schau der Wirklichkeit verbundenen prophetischen<br />
Umkehrruf.<br />
3.5 Konsequenzen<br />
Abschließend benenne ich noch kurz einige Konsequenzen, die sich aus dem oben beschriebenen<br />
methodischen Ansatz der théologie sous l’arbre und der ihr zugrunde liegenden Hermeneutik in<br />
ökumenischer Perspektive ergeben.<br />
115 Für Immanuel Kant war, in vergleichbarer Weise, Philosophie in erster Linie Philosophieren - und nicht<br />
das Repetieren von „Philosophien“ bzw. der Philosophiegeschichte. Dies hing zusammen mit s<strong>einem</strong><br />
Verständnis von Aufklärung als „Ausgang aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit“. Philosophieren<br />
heißt in diesem Sinn: „lernen, seinen eigenen Verstand zu gebrauchen“, also in intellektueller Hinsicht<br />
mündig bzw. „Subjekt“ zu werden. Zu fragen wäre allerdings, wie „selbstverschuldet“ die von ihm so<br />
angeklagte „Unmündigkeit“ tatsächlich war (ist) und welche Rolle dabei die gesellschaftlichen (Macht-<br />
)Verhältnisse spiel(t)en („politische Vormünder“).
3 Hermeneutik und Methode der théologie sous l’arbre - Der epistemologische Bruch 155<br />
3.5.1 Ende des theologischen Monopols des Westens<br />
Entsprechend dem polyzentrischen Charakter der Weltkirche hat sich auch die theologische<br />
Produktion diversifiziert und dezentralisiert. Seit es ChristInnen in Afrika gibt,<br />
die eigenständig über ihren Glauben nachdenken, gibt es eine afrikanische Theologie.<br />
Und mit dem Erscheinen der Armen bzw. der Dritten Welt <strong>auf</strong> der Bühne der weltweiten<br />
Kirche, <strong>auf</strong> der sie eigene theologische Reflexionen geltend machen, beginnt das<br />
theologische Monopol des Westens zu bröckeln, auch wenn es ein recht festes Fundament<br />
hat in der - auch kirchlichen - Dominanz des Nordens über den Süden. Daß der<br />
Westen keinen Anspruch <strong>auf</strong> ein solches Monopol hat, auch wenn er vielleicht eine<br />
längere christliche Tradition hinter sich hat - war es nicht Kierkegaard, der im Zusammenhang<br />
seiner Erbsündenlehre dar<strong>auf</strong> verwiesen hat, daß jede Generation und jeder<br />
Mensch je neu unmittelbar zu Gott ist? -, sollte eigentlich eine selbstverständliche<br />
Einsicht auch westlicher TheologInnen sein.<br />
3.5.2 Hermeneutische Konflikte<br />
Seit deutlich geworden ist, daß Theologie immer nur partikulär und kontextspezifisch<br />
sein kann und ist, und daß die Universalisierung einer bestimmten regionalen Theologie<br />
nichts anderes bedeutet als die Manifestation von Dominanz einer bestimmten<br />
Region der Welt über die anderen, gilt es nun, sich den hermeneutischen Konflikten zu<br />
stellen, die sich bzgl. der Interpretation der Bibel und des Verständnisses des Glaubens<br />
ergeben <strong>auf</strong>grund der mit der Differenz der Kontexte und Kulturen zwangsläufig verbundenen<br />
Verschiedenheit kontextspezifischer Theologien und Sprachen des Glaubens.<br />
Dies setzt zum einen freilich die Kenntnisnahme und das Bemühen um ein Verstehen<br />
anderer theologischer Ansätze voraus, andererseits lassen sich die hermeneutischen<br />
Konflikte nur in <strong>einem</strong> gleichberechtigten und herrschaftsfreien Diskurs bzw.<br />
Dialog der verschiedenen Theologien - d.h. der TheologInnen, die diese Theologien<br />
jeweils vertreten - angemessen austragen. Ein noch grundlegender Schritt wäre es,<br />
zuerst einmal entsprechende Infrastrukturen zu schaffen, die die Partizipation marginalisierter<br />
Gruppen überhaupt erst ermöglichen.<br />
3.5.3 Dialog<br />
Da keine Kirche und keine Theologie den Anspruch erheben kann, den ganzen Schatz<br />
der Verstehensmöglichkeiten der biblischen Offenbarung erschöpft zu haben, ist der<br />
gegenseitige Austausch über die verschiedenen Interpretationen der Bibel und des<br />
christlichen Glaubens eine wertvolle Bereicherung. Kein Glied des weltweiten Leibes<br />
Christi kann sich <strong>auf</strong> Dauer der globalen kirchlichen Gemeinschaft, dem gegenseitigen<br />
Austausch und Dialog entziehen, ohne geistlich und theologisch zu vertrocknen. Es ist<br />
leicht ersichtlich, daß dies ein gleichberechtigter und herrschaftsfreier Dialog sein muß<br />
- im Sinn einer Gemeinschaft von sowohl hinsichtlich ihrer Theologie als auch in bezug<br />
<strong>auf</strong> ihre Organisationsform autonomen lokalen bzw. regionalen Kirchen.
4 Die biblisch-theologischen Grundlagen der<br />
théologie sous l’arbre<br />
Dieses Kapitel behandelt die zentralen biblisch-theologischen Themen der théologie sous<br />
l’arbre. Es sind zum einen diejenigen Themen, Inhalte und Aspekte, die sich für die Situation<br />
„unter dem <strong>Baum“</strong> als besonders relevant erweisen und zugleich den theologischen Reflexionen<br />
Jean-Marc Elas stets - implizit oder explizit - zugrunde liegen, zum anderen sind dies diejenigen<br />
theologischen „loci“, mit denen sich Jean-Marc Ela explizit auseinandergesetzt und denen er<br />
jeweils einen eigenen Text gewidmet hat (mit Ausnahme des Themas der Schöpfung). Es handelt<br />
sich hierbei um die Themen Schöpfung (4.1), Exodus (4.2), Kreuz (4.3), Eucharistie (4.4),<br />
(christliche) Gemeinschaft (4.5) und Reich Gottes (4.6). 1 Jean-Marc Ela hat jedoch selbst keine<br />
Systematisierung dieser für ihn und seine Theologie fundamentalen theologischen Themen<br />
vorgenommen. Eine solche soll ansatzweise am Ende dieses Kapitels versucht werden.<br />
4.1 Schöpfung<br />
Jean-Marc Ela hat zwar dem Thema der Schöpfung keinen eigenen Text gewidmet. Dennoch hat<br />
dieser theologische locus für seine Theologie eine große Bedeutung. 2 Die Inspiration, die sein<br />
gesamtes Denken aus einer Theologie der Schöpfung bezieht, ist nicht zu übersehen. Angesichts<br />
dessen, daß Jean-Marc Ela (auch) in diesem Bereich Aspekte anspricht, die bei anderen afrikanischen<br />
Theologen größtenteils nicht berücksichtigt sind, und daß er für eine Theologie der Schöpfung<br />
neue Wege des Denkens eröffnet 3 , erscheint eine gesonderte Darstellung dieses Themas<br />
1<br />
2<br />
3<br />
Rasolonjatovo Martial nennt „quatre piliers fondamentaux“, um die herum sich die théologie sous<br />
l’arbre strukturiert: „le thème de l’Exode; le mystère de la Croix du Christ; le mémorial de la Sainte<br />
Cène; la dimension de la communauté ecclésiale“ („vier wesentliche Pfeiler“: „das Thema des Exodus,<br />
das Geheimnis des Kreuzes Jesu, die Erinnerung an das hl. Abendmahl, die Dimension der kirchlichen<br />
Gemeinschaft“); RASOLONJATOVO MARTIAL, La théologie sous l’arbre ou une inculturation Camerounaise<br />
du révélé chrétien, Aspects du Christianisme à Madagascar 5 (1993), Nr. 3, 122-132, S. 131f. - Dianda<br />
Kabamba geht in s<strong>einem</strong> Text über das Motiv der Befreiung im Werk von Jean-Marc Ela <strong>auf</strong> drei<br />
„biblische Grundlagen des Denkens von Jean-Marc Ela“ ein (siehe dazu die folgende Anm. 2).- Die von<br />
mir vorgenommene Auswahl an Themen und deren Qualifizierung als fundamentale bleibt dennoch in<br />
gewisser Weise willkürlich - insofern es noch weitere Themen gibt, die den angeführten in ihrer Bedeutung<br />
kaum nachstehen. Ich denke hierbei insbesondere an die Themen: Geist, Sünde („Sünde der Welt“)<br />
und Heil (Heilung/Befreiung). Da Jean-Marc Ela diese Themen (bisher) jedoch nicht explizit thematisierte,<br />
tauchen sie auch hier nur am Rande <strong>auf</strong>.<br />
Dies bestätigt in gewissem Sinn auch Dianda Kabamba, der in <strong>einem</strong> Papier für die III e Assemblée<br />
Générale der AOTA „die Hauptlinien des theologischen Denkens von Jean-Marc Ela“ („les lignes maîtresses<br />
de la pensée théologique de J.M. Ela“) darstellt. Im ersten Teil, der „Die biblischen Grundlagen<br />
des Denkens von Jean-Marc Ela“ („Les fondements biblique de la pensée de J. M Ela“) behandelt, widmet<br />
Dianda Kabamba der „Theologie der Schöpfung“ („La théologie de la création“) neben Exodus:<br />
„Réhabiliter l’image de Dieu de l’Exode“ („<strong>Das</strong> Bild des Exodus-Gottes rehabilitieren“) und Kreuz: „Regarder<br />
le monde à partir de la croix“ („Die Welt vom Kreuz her betrachten“) einen eigenen Abschnitt;<br />
DIANDA KABAMBA, Le motif de la libération dans l’œuvre de Jean-Marc Ela (MS v. Dezember 1988).<br />
Dies deutet zumindest Gerard van ’t Spijker in s<strong>einem</strong> Überblick über die afrikanische Schöpfungstheologie<br />
an, wo er auch kurz Jean-Marc Ela anspricht; GERARD VAN ’T SPIJKER, Man’s Kinship with Nature -<br />
African Reflection on Creation, Exchange 23, Nr. 2, 89-148 (zu Jean-Marc Ela, s. S. 134.136.142).
4 Die biblisch-theologischen Grundlagen der théologie sous l’arbre 157<br />
gerechtfertigt. Ob es tatsächlich ein zentrales Thema der théologie sous l’arbre ist, muß die<br />
folgende Untersuchung erweisen.<br />
Jean-Marc Ela nimmt <strong>auf</strong> die Schöpfung im allgemeinen eher indirekt bezug. Etwas direkter und<br />
ausführlicher ist von der Schöpfung im 6. Kapitel von Le Cri de l’homme Africain 4 die Rede. So<br />
können die Reflexionen im Rahmen dieses Textes als Grundlage für die Darstellung von Jean-<br />
Marc Elas Theologie der Schöpfung dienen.<br />
Jean-Marc Elas Reflexionen über die Schöpfung gehen aus von seiner Einsicht, daß<br />
der christliche Glaube nicht <strong>auf</strong> eine Weise gelebt werden kann, als gebe es weder<br />
Raum noch Zeit oder als hätte der historische Kontext für ihn keine Relevanz - gerade<br />
eine solche Haltung ist es, die vielen AfrikanerInnen das Christentum in Afrika als<br />
irrelevant erscheinen läßt: <strong>„Der</strong> Glaube [...] muß sich in einen historischen Kontext<br />
eintragen und durch eine Praxis zum Ausdruck bringen, [...] er muß in verständlichen<br />
Zeichen die Botschaft von der Befreiung des Menschen in Jesus Christus zum Vorschein<br />
bringen.“ 5<br />
Der Kontext, an dem sich der Glaube orientieren muß, ist die konkrete Situation der<br />
Menschen in Afrika. Auf einen Nenner gebracht, ist diese „die Situation eines beherrschten<br />
Menschen, der für seine Befreiung kämpft“ 6 :<br />
Gegenwärtig haben Millionen Afrikaner das Gefühl, daß sie, um existieren zu<br />
können, sich aus den Fesseln der Abhängigkeit befreien müssen, in der sie seit<br />
dem Sklavenhandel leben. Die in unserer Gesellschaft existierenden dramatischen<br />
Ungerechtigkeiten rühren her von <strong>einem</strong> beherrschenden politischen,<br />
ökonomischen und sozialen System. 7<br />
Da diese Ungerechtigkeiten nicht von selbst verschwinden, muß ein radikaler Wandel<br />
vollzogen werden. Dieser darf sich jedoch nicht nur <strong>auf</strong> die sozio-ökonomischen und<br />
politischen Faktoren beschränken, sondern muß auch die Mentalitäten und das Werte-<br />
System mit einbeziehen. Es geht also in gewissem Sinn um die Durchführung einer<br />
„,Kulturrevolution‘, im weiteren Sinn des Wortes“ 8 . Die ChristInnen können gegenüber<br />
dieser Problematik nicht gleichgültig bleiben: „Nur wenn sie sich aktiv, aber demütig<br />
in die Dynamik der afrikanischen Gesellschaft hineinbegeben, können sie Jesus<br />
Christus als den endgültigen Befreier (er)leben und verkündigen.“ 9<br />
<strong>Das</strong> Bewußtwerden der Probleme, die sich mit der Entwicklung stellen, und das Bewußtsein<br />
dessen, daß es ohne den Bruch mit der Unterentwicklung, die <strong>auf</strong> einer Stra-<br />
4<br />
5<br />
6<br />
7<br />
8<br />
9<br />
„Pratique de la foi et libération de l’homme“ (Dtsch.: „Praxis des Glaubens und Befreiung des<br />
Menschen“); Le Cri de l’homme Africain, 101-127 (African Cry, 81-104).<br />
„La foi [...] doit s’inscrire dans un contexte historique et s’exprimer par une praxis, [...] elle doit faire<br />
apparaître en des signes compréhensibles le message de libération de l’homme en Jésus-Christ“; Le Cri<br />
de l’homme Africain, S. 108 (African Cry, S. 87).<br />
„Or cette situation est celle de l’homme dominé qui lutte pour sa libération“; ebd.<br />
„A l’heure actuelle, des millions d’hommes ont le sentiment que pour exister il leur faut se libérer des<br />
liens de dépendance dans lesquels ils vivent depuis la traite négrière. Des injustices dramatiques existant<br />
dans notre société découlent d’un système politique, économique et social dominant“; ebd.<br />
„[...] ,révolution culturelle‘, au sens large du mot“; a.a.O., S. 109.<br />
„Ce n’est qu’en s’inscrivant activement mais humblement dans la dynamique de la société africaine<br />
qu’ils pourront vivre et annoncer Jésus-Christ comme le libérateur ultime“; ebd.
4 Die biblisch-theologischen Grundlagen der théologie sous l’arbre 158<br />
tegie der Beherrschung beruht, keine Entwicklung geben kann, fordert die ChristInnen<br />
und die Kirchen zu einer tiefgreifenden Umkehr zum Evangelium heraus - „in einer<br />
neuen Situation, in der es die erste Pflicht des Menschen ist, völlig Mensch zu sein“ 10 .<br />
Die ChristInnen müssen deutlich machen, daß ihr Glaube an Christus „den Menschen<br />
nicht davon entbindet, ein freies und verantwortliches Subjekt zu sein“ 11 :<br />
Wir müssen Menschen sein, die ihr Schicksal meistern wollen, und nicht Menschen,<br />
die sich leben lassen und erwarten, daß die anderen an ihrer Stelle denken<br />
und handeln. In diesem Sinn handelt es sich darum, in unserem Kontext die<br />
permanente Neuheit des Christentums hervorzuheben, die nicht in erster Linie<br />
eine Doktrin ist, sondern eine Lebensweise, eine Bewegung, die den Menschen<br />
und die Geschichte verändert. 12<br />
Es genügt jedoch nicht, den AfrikanerInnen zu sagen, was Entwicklung aus der Perspektive<br />
des Glaubens bedeutet. Die Gläubigen müssen den AfrikanerInnen gleichzeitig<br />
demonstrieren, wie sie selbst sich von der Entwicklungsproblematik her in Frage<br />
stellen und sich „bekehren“. - Dies mag genügen als Skizzierung des theologischen<br />
und gesellschaftlichen Kontextes, in dem Jean-Marc Ela mit seinen schöpfungstheologischen<br />
Reflexionen ansetzt.<br />
Gott schuf den Menschen in s<strong>einem</strong> Bilde,<br />
im Bilde Gottes schuf er ihn,<br />
männlich, weiblich schuf er sie.<br />
Gott segnete sie,<br />
Gott sprach zu ihnen:<br />
Fruchtet und mehrt euch und füllet die Erde und bemächtigt<br />
euch ihrer!<br />
schaltet über das Fischvolk des Meeres, den Vogel des Himmels<br />
und alles Lebendige, das <strong>auf</strong> Erden sich regt! (Gen 1,27f)<br />
In bezug <strong>auf</strong> diesen Text aus der Schöpfungsgeschichte der Genesis - und im Hinblick<br />
<strong>auf</strong> die oben referierten Gedanken - hebt Jean-Marc Ela einen wesentlichen Aspekt der<br />
Schöpfung hervor: Dieser besteht darin, daß der Mensch von Gott als ein Schöpfer<br />
geschaffen <strong>wurde</strong>, dessen Aufgabe es ist, die Welt zu gestalten. Zugleich ist es seine<br />
kollektive, der Schöpfung gemäße Bestimmung, die gesellschaftlichen Verhältnisse<br />
frei und gerecht zu organisieren: „[...] die kollektive Meisterung des sozialen Wandels<br />
als Ausführung eines Projektes der Gerechtigkeit und der Freiheit ist eine Bestimmung<br />
10<br />
11<br />
12<br />
„[...] dans une situation nouvelle où le premier devoir de l’homme est d’être pl<strong>einem</strong>ent homme“; ebd.<br />
„[...] manifester une foi au Christ qui ne dispense pas l’homme d’être un sujet libre et responsable“; ebd.<br />
(African Cry, S. 87f).<br />
„Nous devons être des hommes qui veulent maîtriser leur destin et non des hommes qui se laissent vivre<br />
et attendent que les autres pensent et agissent à leur place. Dans ce sens, il s’agit de mettre en relief dans<br />
le contexte où nous sommes la permanente nouveauté du christianisme qui n’est pas d’abord une<br />
doctrine mais une vie, un mouvement transformateur de l’homme et de l’histoire“; ebd. (African Cry, S.<br />
88).
4 Die biblisch-theologischen Grundlagen der théologie sous l’arbre 159<br />
des Menschen, der von Gott geschaffen ist als Schöpfer, dessen Aufgabe es ist, die<br />
Welt zu verändern (Gen 1,27-28).“ 13<br />
Es geht dabei jedoch nicht nur um die bloße Gestaltung der Welt, nicht nur um den<br />
Prozeß der Entwicklung als solchen, sondern es geht auch um die „Selbstverwirklichung“<br />
des Menschen, um die Realisierung seines vollen Menschseins: „In den Aufgaben<br />
der Entwicklung geht es nicht nur um das Werk, das der Mensch vollbringt, sondern<br />
auch um das Werden des Menschen und um seine Genese. In der Umgestaltung<br />
der Lebensbedingungen wird der Mensch er selbst.“ 14<br />
Die Erschaffung des Menschen in Adam ist ausgerichtet <strong>auf</strong> ein kollektives „Projekt<br />
der Gemeinschaft und der Einheit“ 15 . Hier<strong>auf</strong> gründet sich auch die christliche Überzeugung,<br />
daß die Güter der Erde für alle Menschen bestimmt sind.<br />
Insofern die Gruppe der Ort ist, an dem sich die Personwerdung des Menschen vollzieht,<br />
kann - aus der Perspektive des Glaubens - Entwicklung nur als die Förderung<br />
aller verstanden werden: „Es gibt keine Entwicklung für mich, wenn ich nicht an der<br />
Entwicklung der anderen partizipiere.“ 16 Es ist also notwendig, nicht nur in Solidarität<br />
mit den Menschen zu arbeiten, sondern auch <strong>auf</strong> eine solidarische Entwicklung hinzuwirken,<br />
die Gerechtigkeit und Freiheit für alle bedeutet: <strong>„Der</strong> Glaube setzt eine Bewegung<br />
von Menschen voraus, die sich gemeinsam durch ein kollektives Schöpfungswerk<br />
(un travail collectif de création) begründen“ 17 - durch eine solidarische Arbeit für eine<br />
solidarische Entwicklung.<br />
Dementsprechend kann sich der Glaube nur in den Erfahrungen einer „kollektiven<br />
Förderung“ 18 konkret realisieren:<br />
In dieser Beziehung ist der Plan Gottes in seiner vollen Gesamtheit in die Hände<br />
der Menschen gelegt. Es handelt sich hier - wohlverstanden - um die Befreiung<br />
des Menschen, deren Haupthindernis jedwede Form von ‚Herrschaft/Beherrschung‘<br />
ist, die den Menschen an der Entfaltung seiner Kreativität<br />
(créativité humaine) hindert. 19<br />
13<br />
14<br />
15<br />
16<br />
17<br />
18<br />
19<br />
„[...] la maîtrise collective du changement social en fonction d’un projet de justice et de liberté est une<br />
vocation de l’homme créé par Dieu comme créateur dont la tâche est de transformer le monde (Gen 1,<br />
27-28)“ [Hervorhebung von mir; R.K.-F.]; a.a.O., S. 110.<br />
„Dans les tâches de développement, il ne s’agit pas seulement de l’œuvre de l’homme mais du devenir<br />
de l’homme et de sa genèse. C’est par la transformation des conditions de vie que l’homme redevient luimême“;<br />
ebd.<br />
„Or cette homme a été créé en Adam dans un projet de communion et d’unité“; ebd.<br />
„Il n’y a pas de développement pour moi si je ne participe pas au développement des autres“; ebd.<br />
(African Cry, S. 89).<br />
„La foi suppose le mouvement des hommes qui s’édifient ensemble par un travail collectif de création“<br />
[Hervorhebung von mir; R.K.-F.]; ebd.<br />
„[...] promotion collective“; a.a.O., S. 111.<br />
„C’est là que le dessein de Dieu est remis entre les mains des hommes dans son unité et sa totalité. Il<br />
s’agit ici, bien entendu, de la libération de l’homme, dont l’obstacle majeur est toute forme de<br />
,domination‘ qui empêche l’homme d’accéder à la créativité humaine“; ebd.
4 Die biblisch-theologischen Grundlagen der théologie sous l’arbre 160<br />
Im Sinne der Theologie der Schöpfung „ist konsequenterweise alles der Ingeniosität<br />
des Menschen unterworfen“ 20 . Nichts ist heilig oder unantastbar, „nichts ist jemals<br />
Gott, nicht einmal die Natur“. Deshalb „muß alles, was nicht Gott ist, radikal desakralisiert<br />
werden“ 21 :<br />
Der Glaube stellt Gott wieder an seinen Platz und entfernt von diesem alles, was<br />
nicht Gott ist. Darin liegt begründet, daß der Glaube eine Kraft der Befreiung<br />
für eine Menschheit ist, die sich bewußt wird, daß die Bedingung ihrer Existenz<br />
in ihrer Meisterung der Natur und ihrer eigenen Geschichte besteht. 22<br />
In letzter Konsequenz heißt dies, daß die Menschen „in ihrer Beziehung zu der Welt<br />
wie Götter zu sein haben“ - und ihr eigenes Handeln vermittelt ihnen ein Bewußtsein<br />
hiervon. 23 Die Welt ist so verstanden „eine Aufgabe des Menschen“, „ein Werk des<br />
Menschen, der durch seine Arbeit und seine Kämpfe das Werk des schöpferischen<br />
Wortes (la parole créatrice) fortsetzt“ 24 .<br />
Eine solche theologische Anthropologie hat auch gewisse Implikationen in bezug <strong>auf</strong><br />
traditionelle westliche Dualismen und das Verständnis des Heils. Daß diese Dualismen<br />
überwunden werden müssen, darin stimmt die Bibel mit der afrikanischen Anthropologie<br />
überein:<br />
Wie die Bibel, so bestätigt auch die afrikanische Anthropologie 25 die konkrete<br />
Einheit von Körper und Seele. Auch der nach dem Bild des Auferstandenen neu<br />
geschaffene Mensch ist kein rein innerlicher Mensch, sondern ein ganzer und<br />
sozialer. Deshalb ist das „Heil“, das für uns „Befreiung“ bedeutet, niemals „Heil<br />
der Seele“, sondern „Heil der Welt“; in der „Befreiung“ besteht das ganze große<br />
Projekt Gottes für den Menschen und die Gesellschaft. Dieses Projekt Gottes<br />
hat Jesus wieder in unsere Hände gelegt [...]. 26<br />
20<br />
21<br />
22<br />
23<br />
24<br />
25<br />
26<br />
„[...] tout, par conséquent, est soumis à l’ingéniosité de l’homme“; ebd.<br />
„Bref, rien n’est jamais Dieu, pas seulement la nature [...]. Tout ce qui n’est pas Dieu doit être<br />
radicalement désacralisé“; ebd.<br />
„La foi remet Dieu à sa place et évacue tout ce qui n’est pas lui. C’est en cela qu’elle est une force de<br />
libération pour une humanité qui prend conscience que la condition de son existence tient à sa maîtrise<br />
de la nature et de sa propre histoire“; ebd.<br />
„[...] tous prennent conscience, par leur action même, qu’ils ont à être, par rapport au monde, comme<br />
des dieux“; ebd.<br />
„[...] un univers qui est une tâche de l’homme [...] le monde [...] une œuvre de l’homme continuant par<br />
son travail et ses luttes l’œuvre de la parole créatrice“; ebd. (African Cry, S. 89f).<br />
Interessant ist in diesem Zusammenhang auch, daß es in Afrika zwischen Initiation und Schöpfung<br />
einen Zusammenhang gibt. Die Initiation läßt die großen Mythen der Schöpfung der Welt und des<br />
Menschen wieder neu lebendig werden, sie ist gar eine - symbolische - Aktualisierung des Schöpfungsprozesses:<br />
„Alle Ereignisse des Anfangs der Welt aktualisieren sich in diesem Ritual, durch das der<br />
Mensch teilnimmt an dem Drama, in dem das Leben den Tod besiegt“; Mein Glaube als Afrikaner, S. 57<br />
(„Tous les événements du début du monde s’actualisent en ce rituel par quoi l’homme participe au drame<br />
de la victoire de la vie sur la mort“; Le Cri de l’homme Africain, S. 68).<br />
„Comme la Bible, l’anthropologie africaine affirme l’unité concrète de l’âme et du corps. Or l’homme<br />
recréé à l’image du Ressuscité n’est pas un homme purement intérieur mais total et social. C’est<br />
pourquoi le ,salut‘, qui signifie pour nous ,libération‘, n’est jamais ,salut de l’âme‘ mais ,salut du<br />
monde‘; dans la ,libération‘, il y a tout le grand projet de Dieu sur l’homme et la société. C’est ce projet<br />
de Dieu que Jésus est venu remettre entre nos mains [...]“; a.a.O., S. 111f (African Cry, S. 90). - Wenn<br />
Gott also dem Menschen das „Heil der Welt“ als Aufgabe anvertraut, dann wird auch der Dualismus
4 Die biblisch-theologischen Grundlagen der théologie sous l’arbre 161<br />
Wenn der Mensch dazu geschaffen ist, das Werk der Schöpfung bzw. der Erschaffung<br />
der Welt und des Menschen fortzusetzen, dann geht ein <strong>auf</strong> die Innerlichkeit fixierter<br />
Glaube an der Intention der Bibel vorbei - so als ließen sich Leib und Seele trennen<br />
und würde das Heil sich <strong>auf</strong> den Bereich der Seele reduzieren lassen. Für die Bibel hat<br />
„Heil“ die Bedeutung einer umfassenden Befreiung:<br />
Für die Bibel, die von Gott und dem Menschen im selben Atemzug spricht,<br />
schließt die Befreiung des Volkes Gottes immer die politische, ökonomische<br />
und soziale Befreiung ein, ohne sich deswegen dar<strong>auf</strong> zu reduzieren. [...] der<br />
Glaube an den Gott der Offenbarung ist ein Zeugnis über jemanden, der nicht<br />
nur ein Projekt für den Menschen und die Welt hat, das sich schrittweise verwirklicht,<br />
in dem Maße, wie sich die Verheißung erfüllt, sondern der sich auch<br />
selbst als der alleinige Gott offenbart in dem Akt, durch den er eingreift, um den<br />
Menschen aus allen Situationen des Elends und der Gefangenschaft herauszuführen.<br />
27<br />
Dies ist die zentrale Aussage des Exodus. <strong>Das</strong> Exodus-Ereignis, das der Schlüssel zum<br />
Verständnis einer ganzen Reihe von „Relektüren“ der Bibel im L<strong>auf</strong>e der Geschichte<br />
ist, und in dem die Macht des Pantokrators bzw. des Gottes der Verheißung zum<br />
Durchbruch kam, eröffnet ein tieferes Verständnis des Aktes der Schöpfung. Denn in<br />
der Schöpfung offenbart sich nicht nur der Sieg Gottes über das Chaos:<br />
Hier offenbart Gott dem Menschen, daß „erlöst/gerettet“ sein bedeutet, schon<br />
jetzt von den Kräften der Entfremdung befreit zu sein. Es ist doch so, daß jede<br />
weisheitliche Reflexion über den Kosmos, die Ursprünge des Menschen und des<br />
Lebens sich in Israel in <strong>einem</strong> Glaubenskontext situiert, wo die Schöpfung der<br />
Welt und des Menschen deshalb erinnert werden, um das Vertrauen in die großen<br />
Taten zu wecken, die Gott in der Zukunft zum Heil der Menschheit vollenden<br />
wird. 28<br />
Der Gott, der den Menschen durch die Macht seines Wortes geschaffen hat, ist derselbe<br />
Gott, der alle Dinge neu machen und gleichsam in <strong>einem</strong> neuen Exodus seine Macht<br />
und Liebe erweisen wird. Es ist ein „Gott, der in die menschliche Geschichte eingreift<br />
als Schöpfer und Erlöser“ 29 . In diesem Sinn ist die Schöpfung zugleich „eine Vorwegnahme<br />
und eine Voraussage der künftigen Befreiung“:<br />
27<br />
28<br />
29<br />
zwischen „Heilsgeschichte“ und menschlicher Geschichte hinfällig: Die menschliche Geschichte selbst<br />
ist es, die zum Ort des Heils - zur Heilsgeschichte - werden muß.<br />
„Or, pour la Bible, qui parle de Dieu et de l’homme d’un même souffle, la libération du Peuple de Dieu<br />
inclut toujours la libération politique, économique et sociale sans pour autant s’y réduire. [...] la foi au<br />
Dieu de la Révélation est un témoignage rendu à Quelqu’un qui, non seulement a un projet de l’homme<br />
et du monde qui se réalise progressivement à mesure que s’accomplit la promesse, mais qui se manifeste<br />
lui-même comme Dieu unique dans l’acte par lequel il intervient pour faire sortir l’homme de toute<br />
situation de misère et de captivité“; a.a.O., S. 112.<br />
„Là, Dieu révèle à l’homme qu’être ,sauvé‘, c’est déjà, maintenant, être libéré des forces d’aliénation.<br />
Précisément, toute réflexion de type sapientiel sur le cosmos, les origines de l’homme et de la vie, se<br />
situe en Israël dans un contexte de foi où l’on rappelle la création du monde et de l’homme pour susciter<br />
la confiance dans les grandes œuvres que Dieu accomplira dans l’avenir pour le salut de l’humanité“;<br />
ebd.<br />
„[...] Dieu qui intervient dans l’histoire humaine comme créateur et sauveur“; ebd.
4 Die biblisch-theologischen Grundlagen der théologie sous l’arbre 162<br />
Die Schöpfung ist zugleich eine Antizipation und eine Prophezeiung der zukünftigen<br />
Befreiung. Der Schöpfungsbericht ist also keine Erinnerung der Vergangenheit,<br />
sondern eine Vorwegnahme der Zukunft, denn die Schöpfung ist<br />
eingerichtet in der Perspektive der Verheißung des Heils; die Genesis richtet die<br />
Hoffnung aus <strong>auf</strong> die herrliche Zukunft des Kosmos. 30<br />
Jean-Marc Ela zitiert in diesem Zusammenhang Röm 8,19-24:<br />
Denn die ganze Schöpfung wartet sehnsüchtig <strong>auf</strong> das Offenbarwerden der<br />
Söhne Gottes.<br />
Die Schöpfung ist der Vergänglichkeit unterworfen [...] durch den, der sie unterworfen<br />
hat;<br />
aber zugleich gab er ihr Hoffnung:<br />
Auch die Schöpfung soll von der Sklaverei und der Verlorenheit befreit werden<br />
zur Freiheit und Herrlichkeit der Kinder Gottes.<br />
Denn wir wissen, daß die gesamte Schöpfung bis zum heutigen Tag seufzt<br />
und in Geburtswehen liegt.<br />
Aber auch wir, obwohl wir als Erstlingsgabe den Geist haben, seufzen in unserem<br />
Herzen<br />
und warten dar<strong>auf</strong>, daß wir mit der Erlösung unseres Leibes als Söhne offenbar<br />
werden.<br />
Denn wir sind gerettet, doch in der Hoffnung.<br />
Was folgt aus einer solchen Theologie der Schöpfung, wonach der Gott der Offenbarung<br />
- der Schöpfer und Erlöser ist - den Prozeß der Schöpfung und der Menschwerdung<br />
des Menschen in die Hand des Menschen selbst gelegt hat als eine kollektiv und<br />
in Freiheit und Gerechtigkeit zu bewältigende Aufgabe, für die Beziehung des Menschen<br />
zu Gott?<br />
Der Glaube an den Gott der Offenbarung befreit uns aus einer Beziehung zu<br />
Gott, die gelebt wird im Absoluten und so, als stünde sie außerhalb der Ereignisse<br />
und Spannungen, die die Struktur unserer Existenz konstituieren. In den<br />
Kämpfen für die wirkliche Befreiung der Unterdrückten, in den Aufgaben der<br />
Schöpfung, in denen wir versuchen, wieder wahrhaft wir selbst zu werden, haben<br />
wir den Sinn der Offenbarung zu entziffern und Gott zu bekennen. Denn<br />
die Geschichte der Menschen ist der einzige Ort, an dem sich Gott sich offenbart;<br />
hier ist es, wo die Hoffnung in uns <strong>auf</strong> eine hervorzubringende Schöpfung<br />
und ein zu gründendes Reich Gottes konkret gelebt wird. 31<br />
30<br />
31<br />
„La création est à la foi une anticipation et une prophétie de la libération à venir. Le récit de la création<br />
n’est donc pas un rappel du passé mais une préfiguration de l’avenir. Car la création est ordonnée à la<br />
Promesse du salut; la Genèse oriente l’espérance vers la gloire future du Cosmos“; ebd. (African Cry, S.<br />
91).<br />
„Ainsi, la foi au Dieu de la Révélation nous libère d’une relation de Dieu vécu dans l’absolu et comme en<br />
dehors des événements qui constituent la trame de notre existence. C’est dans les luttes pour la<br />
libération effective des opprimés, dans les tâches de création où nous cherchons à redevenir<br />
véritablement nous-mêmes que nous avons à déchiffrer le sens de la Révélation et à confesser Dieu. Car<br />
l’histoire de l’hommes est le seul lieu où Dieu se manifeste; c’est là que se vit, concrètement, l’espérance<br />
en nous d’une création à susciter et d’un Royaume à faire naître“; a.a.O., S. 113. - Vgl. dazu, daß die<br />
Beziehung des Menschen zu Gott nur in der Beziehung zur Welt erfahren werden kann, insbesondere
4 Die biblisch-theologischen Grundlagen der théologie sous l’arbre 163<br />
Dieser Glaube ist es, der uns den Menschen und die Welt als eine unvollendete Aufgabe<br />
entdecken läßt, die der Mensch weiterzuführen hat - vor dem transzendenten Horizont<br />
einer neuen Schöpfung:<br />
[...] der Glaube läßt uns den Menschen und die Welt als eine Aufgabe erkennen,<br />
die Tag für Tag zu realisieren ist - bis alle Dinge in Jesus Christus vollendet<br />
sind. Denn das, was den christlichen Glauben belebt, ist die Wahrnehmung einer<br />
unfertigen Welt, die Gott in unsere Hände gelegt hat. [...] Der Glaube drängt<br />
uns gerade dazu, dafür zu arbeiten, daß die gesamte Wirklichkeit in Jesus Christus<br />
eine „neue Kreatur“ wird. Es ist das Anliegen, hier und jetzt, in der Aktualität<br />
der Menschen und der Geschichte, die Zeichen der zukünftigen Welt zu<br />
setzen, das dem christlichen Glauben seine Stoßkraft gibt. Der Glaube an den<br />
Gott der Hoffnung gibt dem Menschen die Energie 32 , die ihn dazu mobilisiert,<br />
den Anbruch der neuen Schöpfung vorzubereiten, die dem Menschen endlich<br />
wieder seine Würde geben wird. Der Mensch des Glaubens ist ein Mensch der<br />
Schöpfung. Seine Mission in der Welt ist es, eine nicht-entfremdete Gesellschaft<br />
<strong>auf</strong>zubauen, in der jeder Mensch leben kann. 33<br />
In schöpfungstheologischer Perspektive ist der Glaube also eine Kraft, die uns dazu<br />
motiviert, durch unser Engagement „für mehr Gerechtigkeit und Freiheit in der Welt<br />
den Anbruch der neuen Schöpfung voranzutreiben“ bzw. zu beschleunigen 34 :<strong>„Der</strong><br />
Glaube bewegt uns dazu, für eine neue Schöpfung zu arbeiten, in der das christliche<br />
Heil seinen vollen Sinn gewinnt. Er weckt im Menschen die Berufung zum Engagement<br />
für die Befreiung und die Veränderung von entfremdenden Strukturen.“ 35<br />
Ein solches Engagement macht „jeden Tag zu <strong>einem</strong> Moment der fortschreitenden<br />
Schöpfung (création en marche)“ 36 und setzt dabei an bei der alltäglichen Erfahrung<br />
32<br />
33<br />
34<br />
35<br />
36<br />
„da, wo wir zutiefst wir selber sind“, Mein Glaube als Afrikaner, S. 60 („là où nous sommes<br />
profondément nous-mêmes“; Ma foi d’Africain, S. 70f).<br />
In Le Cri de l’homme Africain, S. 134f (African Cry, S. 111), nennt Jean-Marc Ela den Heiligen Geist als<br />
die Quelle dieser Energie: <strong>„Der</strong> Geist ist eine Quelle der Energie für eine Welt im Prozeß der Schöpfung“<br />
(„l’Esprit est une source d’énergie pour une monde en création“). Dieser „Schöpfungsgeist“ („esprit<br />
de création“) gehört untrennbar zum christlichen Leben, so heißt es in Voici le temps des héritiers ,<br />
S. 216 („esprit de création inhérent à la vie chrétienne“).<br />
[...] la foi nous fait découvrir l’homme et le monde comme une tâche à réaliser au fil des jours, jusqu’à<br />
la stature parfaite de toutes choses en Jésus-Christ. Car, ce qui anime la foi du chrétien, c’est la<br />
perception d’un monde inachevé que Dieu remet entre nos mains. [...] Précisément, la foi nous pousse à<br />
travailler pour que toute réalité devienne, en Jésus-Christ, ,une créature nouvelle‘. C’est le souci<br />
d’inscrire ici et maintenant, dans l’actualité de l’homme et de l’histoire, les signes du monde à venir, qui<br />
donne son élan à la foi du chrétien. La foi au Dieu de l’espérance rend à l’homme l’énergie qui le<br />
mobilise pour préparer les matins neufs de la création nouvelle où l’homme serait enfin réinvesti de sa<br />
dignité. L’homme de foi est un homme de création: sa mission dans le monde est de bâtir une société<br />
désaliénée où tout homme peut vivre“; Le Cri de l’homme Africain, S. 115 (African Cry, S. 92f).<br />
„[...] hâter l’avènement de la création nouvelle par toutes les tâches et les efforts des hommes pour plus<br />
de justice et de liberté dans le monde“; a.a.O., S. 119 (African Cry, S. 97).<br />
„La foi nous fait travailler pour une création nouvelle où le salut chrétien prend son sens plénier. Elle<br />
réveille en l’homme l’appel à l’engagement pour la libération et la transformation des structures<br />
aliénantes“; ebd.<br />
„[...] faisant de chaque jour un moment de la création en marche“; a.a.O., S. 120 (African Cry, S. 98). In<br />
Le Cri de l’homme Africain, S. 179 (Mein Glaube als Afrikaner, S. 158), spricht Jean-Marc Ela davon,<br />
daß die afrikanischen ChristInnen <strong>auf</strong>gerufen sind, „den Glauben als ein Moment der fortschreitenden<br />
Schöpfung zu leben: Die uns obliegende Aufgabe ist es, den Sinn des Christentums zu erfahren, indem
4 Die biblisch-theologischen Grundlagen der théologie sous l’arbre 164<br />
der Menschen. Die alltäglichsten Sorgen sind der Ort, an dem sich dieser Glaube verwurzelt.<br />
Im afrikanischen Kontext bedeutet dies, daß „die Leiden dieses Lebens, die<br />
Ungerechtigkeiten und die Folter, die institutionalisierte Gewalt, die mystifizierenden<br />
Ideologien und die Angst, der Fatalismus und die Resignation“ nicht mehr toleriert<br />
werden können 37 : „Unsere Aufgabe ist klar: dem Menschen zu ermöglichen, zu <strong>einem</strong><br />
Leben in Freiheit und Gemeinschaft wiedergeboren zu werden.“ 38 Konkret geht es<br />
darum - in Anlehnung an Frantz Fanon -, „ein anderes Afrika <strong>auf</strong>zubauen, ausgehend<br />
von dem, was wir sind“. 39 Dieses kann jedoch keine Nachahmung Europas sein, sondern<br />
impliziert „ein Projekt des Menschen und der Gesellschaft, das uns <strong>auf</strong>erlegt, <strong>auf</strong><br />
Nachahmung zu verzichten, um etwas Neues zu schaffen.“ 40 Eine solche Neuschaffung<br />
Afrikas setzt Befreiung voraus: „die Befreiung aus dieser Situation der Beherrschung<br />
und Verstümmelung, in der - was auch immer man sagen möge - das Bündnis der ausländischen<br />
Mächte Schwarzafrika noch immer durch die Vermittlung der herrschenden<br />
Klassen hält.“ 41<br />
4.2 Exodus<br />
Wie für die lateinamerikanische Befreiungstheologie 42 , so ist auch für die afrikanische Befreiungstheologie,<br />
wie sie forciert durch Jean-Marc Ela vertreten wird, die Exodus-Erzählung von<br />
zentraler Bedeutung. Der Befreiungstheologie kommt damit das Verdienst zu, uns <strong>auf</strong> die fundamentale<br />
Stellung <strong>auf</strong>merksam gemacht zu haben, die der Exodus gerade auch in der Bibel<br />
selbst und für die biblische Gottesvorstellung hat. 43 Zugleich bestätigt Jean-Marc Elas Rekurs<br />
37<br />
38<br />
39<br />
40<br />
41<br />
42<br />
43<br />
wir seine Katholizität befreien, wie sie sich in der un<strong>auf</strong>hörlichen, durch die Dynamik des Geistes bewirkten<br />
Genese des Menschen und der Welt entfaltet“ („à vivre la foi comme un moment de la création<br />
en marche: c’est la tâche qui nous incombe d’éprouver le sens du christianisme, d’en libérer la catholicité<br />
telle qu’elle se déploie dans l’incessante genèse de l’homme et du monde soulevé par le dynamisme<br />
de l’Esprit“).<br />
„[...] croire, c’est [...] trouver intolérables les souffrances de cette vie, les injustices et la torture, la<br />
violence institutionnelle, les idéologies mystificatrices et la peur, le fatalisme et la résignation“; ebd.<br />
„Notre tâche est claire: permettre à l’homme de renaître à une vie de liberté et de communion“; ebd.<br />
„Il faut bâtir une autre Afrique à partir de ce que nous sommes“; a.a.O., S. 123 (African Cry, S. 101).<br />
Dieser Satz ist Teil einer Textpassage, die zwar als ein Zitat von Frantz Fanon gekennzeichnet ist, jedoch<br />
ohne Quellenangabe. Ich vermute, daß darin eine freie Wiedergabe der Intention des Schlußkapitels<br />
von FRANTZ FANONs Buch Les Damnés de la terre (Paris, 1961 1 ) zu sehen ist, <strong>auf</strong> den sich Jean-Marc Ela<br />
übrigens des öfteren zustimmend bezieht (mit Ausnahme der von Fanon postulierten „kathartischen<br />
Funktion der Gewalt“).<br />
„[...] un projet de l’homme et de la société où nous devons renoncer à imiter pour créer du neuf“; ebd.<br />
„[...] la libération de cette situation de domination et de mutilation dans laquelle, quoiqu’on dise, la<br />
coalition des puissances étrangères maintient encore l’Afrique Noire par le relais des classes<br />
dominantes“; a.a.O., S. 125 (African Cry, S. 102).<br />
Für die Interpretation des Exodus in der lateinamerikanischen Befreiungstheologie vgl. z.B. die Arbeit<br />
des argentinischen Alttestamentlers JOSÉ SEVERINO CROATTO, Exodus. A Hermeneutics of Freedom,<br />
Maryknoll, N.Y. (Orbis), 1981 (span. Orig.: Liberación y libertad. Pautas hermenéuticas, Buenos Aires,<br />
1973).<br />
Die Vernachlässigung des Exodus - als Schlüsseltext für das Verständnis der Bibel und als für die Offenbarung<br />
Gottes prototypisches bzw. paradigmatisches geschichtliches Ereignis - in der nordatlantischen<br />
Theologie und im westlichen Christentum, läßt gewisse Rückschlüsse zu <strong>auf</strong> deren gesellschaftliche<br />
Stellung, Interessen und Loyalitäten, was wiederum die Frage nach deren „Christlichkeit“ hervorruft -<br />
und zwar in gut protestantischer Manier, indem das real-existierende Christentum mit den Quellen, <strong>auf</strong><br />
die es vorgibt sich zu berufen, konfrontiert wird.
4 Die biblisch-theologischen Grundlagen der théologie sous l’arbre 165<br />
<strong>auf</strong> den Exodus die biblische Fundierung seiner Reflexionen. Er behandelt das Thema des Exodus<br />
im afrikanischen Kontext im 3. Kapitel von Le Cri de l’homme Africain 44 . Dieser Text soll<br />
im folgenden referiert werden.<br />
Jean-Marc Ela leitet seine Interpretation des Exodus ein mit einer Reflexion über die<br />
„hermeneutische Funktion der Theologie“, wobei er Theologie folgendermaßen definiert:<br />
Tatsächlich ist die Theologie nichts anderes als eine Reflexion <strong>auf</strong> der Grundlage<br />
lebendiger Erfahrungen. Es geht dabei darum, die aktuelle Bedeutung des<br />
Wortes Gottes von dem historischen Verständnis her zu verstehen, das die Menschen<br />
von sich selbst und der Welt haben. Die Theologie ist eine Arbeit des<br />
Entschlüsselns des Sinns der Offenbarung in dem historischen Kontext, in dem<br />
wir uns über uns selbst und über unsere Situation in der Welt bewußt werden. 45<br />
Jean-Marc Ela erinnert daran, daß die Bibel selbst nichts anderes ist als eine kontinuierliche<br />
Reflexion des Volkes Gottes über den fundamentalen Sinn der biblischen Botschaft<br />
und die Verheißung des Heils im Kontext seiner Geschichte und der Ereignisse,<br />
die sein Leben prägten.<br />
Ebenso können auch wir unseren Glauben nicht <strong>auf</strong> eine abstrakte und zeitlose Weise<br />
leben und begreifen. Der Glaube realisiert sich nur im Kontext der Ereignisse, die die<br />
Geschichte konstituieren. Dementsprechend muß der Sinn der Offenbarung in ihrer<br />
historischen Dimension gesucht und verstanden werden - in den Ereignissen und Erfahrungen,<br />
durch die sich das Wort Gottes mitteilt.<br />
Von daher ist es für Jean-Marc Ela unabdinglich, den eigenen Kontext bei der Interpretation<br />
des Exodus mit in Betracht zu ziehen und auszugehen von den historischen Erfahrungen<br />
und Fragen, die das Leben der afrikanischen Völker kennzeichnen. Diese<br />
sind der Ort, von dem aus die Distanz überwunden werden muß, die uns von der Zeit<br />
des Exodus trennt, und an dem der Sinn zu begreifen ist, den uns Gott durch dieses<br />
zentrale Ereignis der Heilsgeschichte mitteilen will.<br />
Jean-Marc Ela stellt seine Reflexionen über den Exodus unter folgende Leitfrage:<br />
Was bedeutet heute die Botschaft des Exodus für die Millionen von Afrikanern,<br />
die in bestimmten religiösen, kulturellen, politischen und sozio-ökonomischen<br />
Situationen leben? Was können die Menschen in Schwarzafrika, die frei sein<br />
44<br />
45<br />
Kap. 3: „Une lecture africaine de l’Exode“, Le Cri de l’homme Africain, 40-51 (African Cry, 28-38). Die<br />
engl. Übersetzung dieses Textes <strong>wurde</strong> nachgedruckt in Voices of the Third World 10, Nr. 2 (1987),<br />
76-85 („An African Reading of Exodus“) und in Auszügen unter dem Titel „Towards an African<br />
Liberation Theology“ im JCTR Bulletin 14 (1992), 10-12.<br />
„De fait, la théologie n’est pas autre chose qu’une réflexion à partir de l’expérience vécue. Il s’agit de<br />
dégager la signification actuelle de la Parole de Dieu à partir de l’intelligence historique que l’homme<br />
prend lui-même et du monde. La théologie est un travail de déchiffrage du sens de la Révélation dans le<br />
contexte historique où nous prenons conscience de nous-mêmes et de notre situation dans le monde“;<br />
Le Cri de l’homme Africain, S. 40f.
4 Die biblisch-theologischen Grundlagen der théologie sous l’arbre 166<br />
wollen von politischer und ökonomischer Unterdrückung, von einer Lektüre des<br />
Exodus erwarten? 46<br />
Zunächst konstatiert Jean-Marc Ela, daß für das durch die koloniale bzw. neo-koloniale<br />
Situation geprägte Christentum in Afrika das Buch des Exodus „schrecklich abwesend“<br />
ist. Er erklärt sich diese Abwesenheit dadurch, daß seine Botschaft „nicht nur<br />
eine gewisse Theologie in Frage stellt, sondern auch eine kirchliche Praxis, einen Gottesdienst<br />
und eine Spiritualität“. Der Gott, den die Missionare verkündeten, konnte<br />
schwerlich der Gott des Exodus sein - und damit stellt Jean-Marc Ela implizit die Frage<br />
des Götzendienstes 47 :<br />
Der Gott der missionarischen Predigt scheint so weit entfernt gewesen zu sein,<br />
so fremd gegenüber der Geschichte der Kolonisierten, der Ausgebeuteten und<br />
Unterdrückten, daß er kaum identisch gewesen sein konnte mit dem Gott des<br />
Exodus, der sich der Situation der Unterdrückung und Knechtschaft bewußt<br />
<strong>wurde</strong>, in der sich sein Volk befand. 48<br />
Etwas später präzisiert Jean-Marc Ela diese Feststellung:<br />
[...] der Gott, der den afrikanischen Menschen im konkreten Kontext der kolonialen<br />
Situation verkündigt <strong>wurde</strong>, ist ein Gott, der der Zeit ein Fremder ist, der<br />
indifferent ist gegenüber politischen, sozialen, ökonomischen und kulturellen<br />
Ereignissen und ohne Perspektive eines durch die Verheißung implizierten Engagements.<br />
Letztendlich ist der Gott der christlichen Kirchen zur Zeit der Kolonisierung<br />
ein Gott der Natur, der Anpassung an und Unterordnung unter die<br />
herrschende Ordnung befiehlt. 49<br />
46<br />
47<br />
48<br />
49<br />
„Que signifie aujourd’hui le message de l’Exode pour des millions d’Africains placés dans des situations<br />
religieuses, culturelles, politiques et socio-économiques déterminées? Que peuvent attendre d’une<br />
lecture de l’Exode les hommes qui, en Afrique Noire, veulent être délivrés de l’oppression politique et<br />
économique?“; a.a.O., S. 40.<br />
Bei <strong>einem</strong> Gespräch mit Achille Mbembé stellt Jean-Marc Ela explizit die Frage nach dem Götzendienst<br />
im Hinblick <strong>auf</strong> die heutigen afrikanischen Kirchen. Die Bemerkung von Achille Mbembé, daß Untersuchungen,<br />
die unter Jugendlichen durchgeführt <strong>wurde</strong>n, festgestellt haben, daß der Gott, der heute von<br />
den Kirchen verkündigt wird, nichts mit der Zeit und geschichtlichen Ereignissen zu tun hat, kommentiert<br />
Jean-Marc Ela wie folgt: „Die Ergebnisse dieser Untersuchungen fordern dazu heraus, sich die Frage<br />
nach dem Gott der afrikanischen Kirchen zu stellen. Ist dieser Gott der Gott der Offenbarung? Oder<br />
ist er wohl nichts als ein Götze, der vernichtet, ein Götze, der die Sakralisierung und Legitimierung von<br />
Situationen rechtfertigt, die nicht zu vereinbaren sind mit dem Glauben an den Gott der Bibel, der den<br />
Schrei der Notleidenden hört?“ („Les résultats de ces enquêtes amènent à se poser la question du Dieu<br />
des Eglises africaines. Ce Dieu est-il le Dieu de la révélation? Ou bien n’est-il qu’une idole à détruire,<br />
idole qui justifierait la sacralisation et la légitimation des situations incompatibles avec la foi au Dieu de<br />
la Bible qui entend le cri des malheureux?“; ACHILLE MBEMBE, Un entretien avec Jean-Marc Ela,<br />
théologien camerounais, Spiritus 27, Nr. 104 (1986), 253-261, S. 258).<br />
„Le Dieu de la prédication missionnaire semble avoir été un Dieu si lointain, si étranger à l’histoire des<br />
colonisés, des exploités et des opprimés qu’il s’identifie difficilement au Dieu de l’Exode qui prend<br />
conscience de la situation d’oppression et de servitude où se trouve son peuple“; Le Cri de l’homme<br />
Africain, S. 41.<br />
„[...] le Dieu qui a été annoncé à l’homme africain dans le contexte précis de la situation coloniale est un<br />
Dieu étranger au temps, indifférent aux événements politiques, sociaux, économiques et culturels, sans<br />
perspective d’engagement inhérente à la promesse. A la limite, le Dieu des Eglises chrétiennes au temps<br />
de la colonisation est un Dieu de la nature qui commande l’adaption et la soumission à l’ordre des<br />
choses“; a.a.O., S. 42.
4 Die biblisch-theologischen Grundlagen der théologie sous l’arbre 167<br />
Von daher ist es nicht erstaunlich, daß der biblische Begriff des Heils in der missionarischen<br />
Verkündigung nur sehr verzerrt und reduziert vorkommt. Die sozio-historische<br />
Dimension von Heil und Hoffnung spielte für die Missionare keine Rolle. Ihre religiöse<br />
Anthropologie sah den Menschen nur als Seele, die zu retten bzw. erlösen sei, wobei<br />
unter „gerettet“ bzw. „erlöst sein“ nichts anderes verstanden <strong>wurde</strong> als „in den Himmel<br />
kommen“. Es war keine Rede davon,<br />
daß in der Bibel der Begriff des Heils eng verbunden ist mit dem der Befreiung<br />
und das „Heil“ bzw. die „Befreiung“ zugleich als gegenwärtig und als zukünftig<br />
verstanden wird. Während das Heil ganz und gar Gegenstand der Hoffnung ist,<br />
so hat es gleichwohl eine gegenwärtige Dimension. Denn „erlöst/gerettet sein“<br />
bedeutet, schon jetzt befreit zu sein von den Mächten der Entfremdung, die den<br />
Menschen versklaven. 50<br />
Die Kirche hat es versäumt, die Heilsbotschaft in ihrer biblischen Bedeutung zu verkündigen,<br />
geschweige denn, daß sie diese <strong>auf</strong> den konkreten Kontext der kolonialen<br />
Situation der Beherrschung bezogen hätte. Im Gegenteil hat sie sogar die kolonisierten<br />
Menschen gelehrt, weltliche Werte zu verachten, und sie mit Tabus und Sanktionen<br />
überzogen - statt zuzulassen, daß sie sich ins historische Abenteuer der Befreiung stürzen,<br />
in dem Gott sich offenbart. Religion - das importierte, koloniale Christentum -<br />
wird so tatsächlich zum Opium für das Volk.<br />
Die zentrale Bedeutung des Exodus sieht Jean-Marc Ela darin, daß er „die lebendige<br />
Beziehung zwischen der Offenbarung und der Geschichte“ ans Licht bringt:<br />
<strong>Das</strong> zentrale Ereignis, durch das Gott sich offenbart, indem er in die Geschichte<br />
seines Volkes eingreift, ist der Exodus. Gott äußert sich <strong>auf</strong> entscheidende Weise<br />
in dem Akt, durch den er sein Volk aus der Knechtschaft in Ägypten herausbringt<br />
und es [...] in das Land der Verheißung führt, die Abraham empfangen<br />
hatte [...]. 51<br />
Jean-Marc Ela erinnert an die Bedeutung des Exodus im Judentum. Nicht nur, daß<br />
Israels Liturgie völlig vom Gedächtnis des Exodus durchdrungen ist - insbesondere ist<br />
hier das Passahfest als die Gedenkfeier an die Flucht aus Ägypten zu nennen -, auch<br />
die ganze (hebräische) Bibel - Jean-Marc Ela geht v.a. <strong>auf</strong> die Psalmen und die Propheten<br />
ein - zentriert sich um das Exodus-Ereignis: „Für Israel ist die ganze Bibel tatsächlich<br />
nichts anderes als eine Relektüre des Exodus, wo das Volk des Bundes sich des<br />
entscheidenden Momentes bewußt wird, in dem Gott es wirklich ,geschaffen‘ hat.“ 52<br />
50<br />
51<br />
52<br />
„[...] que dans la Bible, la notion de salut s’entremêle avec celle de libération et que le ,salut‘ ou<br />
,libération‘ est exprimé à la fois au présent et au futur. Tout en étant objet d’espérance, il a une<br />
dimension présente. Car, ,être sauvé‘, c’est déjà, maintenant, être libéré des forces d’aliénation qui<br />
asservissent l’homme“; a.a.O., S. 42f.<br />
„L’événement central par lequel Dieu se révèle lui-même en intervenant dans l’histoire de son peuple,<br />
c’est l’Exode. Dieu se dit d’une manière décisive dans l’acte par lequel il arrache son peuple à la<br />
servitude de l’Egypte et le conduit [...] au pays de la promesse qu’Abraham avait reçu [...]“; a.a.O., S. 43f.<br />
„Or pour Israël, c’est toute la Bible qui n’est rien d’autre qu’une relecture de l’Exode où le Peuple de<br />
l’Alliance prend conscience du moment décisif où Dieu l’a véritablement ,créé‘ “; a.a.O., S. 44.
4 Die biblisch-theologischen Grundlagen der théologie sous l’arbre 168<br />
Israel versteht die Befreiung aus Ägypten nicht als endgültige und vollkommene Erfüllung<br />
der Verheißungen Gottes, sondern als ein Ereignis, das die Aufmerksamkeit <strong>auf</strong><br />
ein zukünftiges Ereignis, einen neuen Exodus bzw. eine neue Schöpfung lenkt: <strong>auf</strong><br />
„eine Zukunft Gottes in der Geschichte“. <strong>Das</strong> Exodus-Ereignis bezieht sich<br />
nicht <strong>auf</strong> einen Gott, der ist, sondern <strong>auf</strong> einen Gott, der kommt, und dessen<br />
Verheißung sich niemals in ihren historischen Realisierungen erschöpft. Die<br />
fundamentale Bedeutung des Exodus besteht letztlich in der Offenbarung eines<br />
Gottes, dessen charakteristische Eigenschaft die Zukunft ist. Wenn die Offenbarung<br />
nicht in erster Linie eine Doktrin ist, sondern eine Verheißung, die sich<br />
durch ihre Verwirklichung in der Zukunft der Welt verifizieren muß, dann führt<br />
sie un<strong>auf</strong>hörlich hinaus <strong>auf</strong> die Zukunft einer neuen Schöpfung, eines neuen<br />
Exodus. Die Offenbarung Gottes in der Geschichte beinhaltet stets die Perspektive<br />
einer Zukunft, in der sich der Plan Gottes in seiner ganzen Fülle vollenden<br />
wird. 53<br />
Diese „Logik der Offenbarung“ bringt eine progressive Dynamik in die Geschichte -<br />
eine Hoffnung begründende und <strong>auf</strong> die Zukunft ausgerichtete historische Dynamik -,<br />
die quer steht zu dem Konzept einer mythischen Zeit bzw. der Vorstellung ewig wiederkehrender<br />
kosmischer Zyklen:<br />
Der Gott, der seinen Namen offenbart, erweist sich nicht als eine Naturgewalt,<br />
deren Epiphanie den ewigen Prozeß von Leben und Tod bedeuten würde. Er ist<br />
kein Gott, der den Menschen <strong>auf</strong> den ständigen Wiederbeginn des kosmischen<br />
Zyklus ausrichtet, sondern <strong>auf</strong> die Zukunft, <strong>auf</strong> die seine ganze Geschichte hinführt.<br />
Schließlich ist der Gott, der seinen Namen offenbart, der Gott der Hoffnung<br />
<strong>auf</strong> eine Zukunft einer unumkehrbaren Bewegung und einer radikalen<br />
Neuheit. Der Exodus ist das Ereignis par excellence, welches das Volk Gottes<br />
un<strong>auf</strong>hörlich neu liest und erinnert, während er zugleich Israel verstehen läßt,<br />
wer Gott ist. Indem er den Menschen <strong>auf</strong> eine Zukunft Gottes verweist, wird der<br />
göttliche Name des Exodus zu <strong>einem</strong> Aufruf zur Hoffnung. 54<br />
Da die Geschichte der Menschen nicht ohne Belang für Gott ist, der sich selbst ausdrücklich<br />
in der Geschichte offenbart und hier seine Verheißungen erfüllt, können das<br />
Glück der Menschen, Gerechtigkeit, Freiheit, Versöhnung und Frieden nicht in ein<br />
Jenseits verlagert werden, das mit der heutigen konkreten Realität nichts zu tun hat:<br />
53<br />
54<br />
„[...] il ne renvoie pas au Dieu qui est mais au Dieu qui vient et dont la promesse n’est jamais épuisée<br />
par ses réalisations historiques. A la limite, la signification fondamentale de l’Exode est donnée par la<br />
révélation d’un Dieu qui a le futur comme propriété de son être. Si la Révélation n’est pas d’abord une<br />
doctrine mais une promesse appelée à se vérifier dans sa réalisation dans l’avenir du monde, elle ouvre<br />
sans cesse sur l’avenir d’une nouvelle création, d’un nouvel exode. La Révélation de Dieu dans l’histoire<br />
comporte toujours un horizon d’avenir où s’accomplira en plénitude le dessein de Dieu“; a.a.O., S. 45.<br />
„Le Dieu qui révèle son nom montre donc qu’il n’est pas une force de la nature dont l’épiphanie<br />
signifierait l’éternel processus de vie et de mort. Il n’est pas un Dieu qui oriente l’homme vers le<br />
perpétuel recommencement du cycle cosmique, mais vers l’avenir où l’achemine toute son histoire. En<br />
définitive, le Dieu qui révèle son nom est le Dieu de l’espérance à l’avenir d’une mouvement irréversible<br />
et d’une radicale nouveauté. L’Exode est l’événement par excellence que le peuple de Dieu relit sans<br />
cesse et commémore dans l’exacte mesure où il fait comprendre à Israël qui est Dieu. Renvoyant<br />
l’homme à une avenir de Dieu, le nom divine de l’Exode devient un appel à l’espérance“; a.a.O., S. 46f.
4 Die biblisch-theologischen Grundlagen der théologie sous l’arbre 169<br />
Es ist unmöglich, von Hoffnung zu sprechen, ohne daran zu erinnern, daß der<br />
Ort von Gottes Eingreifen und seiner Offenbarung die soziale und zeitliche<br />
Wirklichkeit ist. Diese ist der Ort, wo Gott den Menschen ein kollektives Projekt<br />
der Gemeinschaft und der Einheit unterbreitet. In diesem Sinn sind nicht<br />
nur die Befreiungsbewegungen, die die kollektiven Aspirationen mobilisieren,<br />
der Ort, wo wir die Geschichte der Verheißung lesen müssen; darüber hinaus<br />
müssen wir begreifen, daß Gottes Offenbarung permanent die Transformation<br />
der Welt fordert. Als Trägerin einer Botschaft der Hoffnung protestiert die Offenbarung<br />
Gottes gegen die Gegenwart, um hier die Zukunft zur Gegenwart zu<br />
machen. 55<br />
Ein weiterer entscheidender Aspekt des Exodus ist, daß dabei ein Volk entsteht, das<br />
Zeuge für die Verheißung Gottes ist. Jean-Marc Ela spricht von einer „Exodus-<br />
Gemeinschaft“ (communauté en exode): „Die Offenbarung läßt letztlich eine<br />
,Gemeinschaft <strong>auf</strong> dem Weg des Exodus‘ entstehen, deren Mission es nicht nur ist, in<br />
Erwartung der Erfüllung der Verheißung zu leben, sondern auch die historische Transformation<br />
der Welt und des Lebens voranzubringen.“ 56<br />
In diesem Sinn ist der Exodus nicht nur typisch für das Handeln Gottes, sondern auch<br />
dafür, was er von s<strong>einem</strong> Volk erwartet. 57 Zugleich ermöglicht die Offenbarung Gottes<br />
ein neues Bewußtsein der Geschichte, indem sie uns die Bedeutung der Zukunft und<br />
die Tiefe des gegenwärtigen Augenblickes entdecken läßt. Wir können nicht über Zeit<br />
und Geschichte erhaben sein, sondern müssen die Geschichtlichkeit akzeptieren. Eine<br />
gerechte Wirtschaft - Jean-Marc Ela spricht von einer „Ökonomie der Solidarität“ - ist<br />
dann kein peripheres Thema mehr, sondern ein zentraler theologischer Topos, denn die<br />
Offenbarung des Exodus-Gottes<br />
zwingt uns, uns der geschichtlichen Wahrheit zu stellen, um die göttliche Botschaft<br />
neu zu überdenken in dem Raum, wo sich die Ökonomie der Solidarität<br />
realisiert, die den Plan Gottes für den Menschen und die Welt kennzeichnet. Im<br />
Gehorsam gegenüber der Verheißung Gottes geht es darum, die Wege der Zukunft<br />
zu erkunden und zu ebnen. [...] der Gott der Verheißung lädt dazu ein, die<br />
Geschichte zum Ort der fortschreitenden Erfüllung der Verheißungen zu machen.<br />
58<br />
55<br />
56<br />
57<br />
58<br />
„Il est impossible de parler de l’espérance sans rappeler que la réalité sociale et temporelle est le lieu des<br />
interventions de Dieu et de sa révélation. C’est là que Dieu propose aux hommes un projet collectif de<br />
communion et d’unité. Dans ce sens, non seulement les mouvements libérateurs qui mobilisent les<br />
aspirations collectives sont le lieu où il nous faut lire l’histoire de la promesse, mais nous devons savoir<br />
que la révélation de Dieu postule en permanence la transformation du monde. Chargée d’une message<br />
d’espérance, la Révélation de Dieu conteste le présent pour y rendre l’avenir présent“; a.a.O., S. 47.<br />
„A la limite, la Révélation suscite une ,communauté en exode‘ dont la mission n’est pas seulement de<br />
vivre dans l’attente de l’accomplissement de la promesse mais de promouvoir la transformation<br />
historique du monde et de la vie“; ebd.<br />
Siehe a.a.O., S. 51 (Anm. 1): „Or, pour les témoins de la Révélation, l’Exode était devenu le ,type‘ de<br />
l’action de Dieu et de celle qu’il attend de son peuple“ („Für die Zeugen der Offenbarung ist der Exodus<br />
zum ,Typus‘ des Handelns Gottes und dessen, was er von s<strong>einem</strong> Volk erwartet, geworden“).<br />
„[La Révélation du Dieu de l’Exode] nous fait retrouver l’importance de l’avenir et la profondeur de<br />
l’instant. Elle nous contraint à assumer historicité afin de repenser le message divin dans l’espace où se<br />
réalise l’économie de solidarité qui caractérise le dessin de Dieu sur l’homme et le monde. Dans<br />
l’obéissance à la promesse de Dieu, il s’agit de discerner et de préparer les voies de l’avenir. [...] le Dieu
4 Die biblisch-theologischen Grundlagen der théologie sous l’arbre 170<br />
59<br />
Infolgedessen hat die göttliche Offenbarung nicht nur den Zweck, die herrschende<br />
Realität zu erklären und zu interpretieren. Sie bringt in die gegenwärtige Realität zugleich<br />
einen Widerspruch hinein und eröffnet damit eine Dynamik, die <strong>auf</strong> eine definitive<br />
Verwirklichung der Verheißung abzielt. Dies macht es unmöglich, die Welt als ein<br />
in sich geschlossenes System, eine perfekte Ordnung oder eine bereits völlig vollendete<br />
Wirklichkeit zu betrachten. Jean-Marc Ela betont nachdrücklich:<br />
Aufgrund der Tatsache, daß das Ende der Geschichte noch nicht da ist, besteht<br />
die Geschichte noch immer in dem, was sich in der Spannung zwischen Verheißung<br />
und Erfüllung ereignet. Demzufolge bleibt die Kenntnis Gottes immer<br />
provisorisch, und sie ist unmöglich ohne eine Transformation der Welt. In anderen<br />
Worten: Wenn die Welt noch keine Theophanie ist, wenn die Realität immer<br />
<strong>auf</strong> die Zukunft hin offen bleibt, dann findet sich die wahre Situation der<br />
Menschen noch vor uns. Wir sind also zugleich <strong>auf</strong> dem Weg zu dem „Gott, der<br />
kommt“ und zu der Welt, wie sie sein soll, in Übereinstimmung mit der letzten<br />
Vollendung der Verheißung. Die vollkommene Offenbarung koinzidiert mit<br />
dem Ende des Prozesses der Transformation der Welt. Kurz: Die Erwartung einer<br />
anderen Welt verlangt eine Welt, die anders ist. 59<br />
Im letzten Abschnitt des Kapitels über eine „afrikanische Lektüre des Exodus“ bezieht<br />
Jean-Marc Ela die Ergebnisse seiner Analyse des Exodus-Ereignisses explizit <strong>auf</strong> den<br />
konkreten afrikanischen Kontext, wo es für die meisten Menschen mehr als evident ist,<br />
daß die Kirchen, die doch die jüdisch-christliche Tradition für sich reklamieren, in der<br />
die Botschaft des Exodus einen zentralen Platz einnimmt, sich kaum der Suche nach<br />
Freiheit und Gerechtigkeit anschließen.<br />
Jean-Marc Ela setzt insbesondere beim Problem des Analphabetismus ein, das sich<br />
jedoch nicht nur dar<strong>auf</strong> beschränkt, nicht schreiben und lesen zu können, sondern auch<br />
die Unkenntnis über das Funktionieren der politischen Institutionen, der ökonomischen<br />
Mechanismen und des Rechtssystems einschließt. In einer Gesellschaft, die ein elitäres<br />
Bildungssystem privilegiert, werden AnalphabetInnen durch diverse Ängste gelähmt.<br />
Selbst wenn sie ihre Rechte kennen, sind die Menschen handlungsunfähig <strong>auf</strong>grund<br />
ihrer Angst, sich selbst zu verteidigen:<br />
In dieser Hinsicht erscheint es als ein wesentlicher Schritt, das Bewußtsein einer<br />
aktiven Solidarität entstehen zu lassen, im völligen Bruch mit den Situationen<br />
der Knechtschaft. Außerdem kann dieses Bewußtsein nicht ohne die Bestimmung<br />
der Faktoren oder Mechanismen der Unterdrückung existieren: Ein Wande<br />
la Promesse invite à faire l’histoire le lieu de l’accomplissement progressif des promesses“; a.a.O., S.<br />
47.<br />
„Du fait que la fin de l’histoire n’est pas encore là, l’histoire est toujours ce qui advient dans la tension<br />
entre la promesse et l’accomplissement. Dès lors, la connaissance de Dieu est toujours provisoire et elle<br />
est impossible sans transformation du monde. En d’autre termes, si le monde n’est pas encore une<br />
théophanie, si la réalité demeure toujours ouverte à l’avenir, la vraie situation des hommes se trouve en<br />
avant de nous. Nous sommes donc à la fois en marche vers le ,Dieu qui vient‘ et vers le monde tel qu’il<br />
doit être, conformément à l’accomplissement ultime de la Promesse. La révélation plénière coïncide avec<br />
la fin du processus de la transformation du monde. Bref, l’attente de l’autre monde exige un monde<br />
autre“; a.a.O., S. 48.
4 Die biblisch-theologischen Grundlagen der théologie sous l’arbre 171<br />
del ist nicht möglich, wenn man den Menschen die Ungerechtigkeiten nicht so<br />
weit zu Bewußtsein bringt, bis sie ihnen unerträglich werden. 60<br />
Eine wichtige Rolle spielen dabei Menschen, die die Funktion von ProphetInnen ausüben.<br />
Durch sie erhält eine Gemeinschaft eine Stimme, aus der sie die Kraft schöpfen<br />
kann, um sich <strong>auf</strong> den Weg zu einer gerechteren Gesellschaft machen zu können.<br />
In diesem Kontext besteht die wichtigste Funktion einer Lektüre des Exodus darin, die<br />
afrikanischen ChristInnen von ihrer Unwissenheit über die Befreiungsgeschichte zu<br />
befreien. 61 Um nichts anderes nämlich geht es bei diesem Text: „Moses <strong>wurde</strong> nicht<br />
nach Ägypten gesandt, um eine spirituelle Bekehrung zu predigen, sondern um Israel<br />
aus dem ,Haus der Sklaverei‘ herauszubringen.“ 62 Gerade dieser Befreiungsakt war es,<br />
worin sich Gott offenbart hat als ein Gott, der einzigartig ist und nicht seinesgleichen<br />
hat. Auch heute gibt es Gemeinschaften, die für ihre Rechte kämpfen:<br />
Die Kenntnis der aktuellen Geschichte der Befreiungsbewegungen kann ein<br />
Stimulans sein für die Gemeinschaften, die dem Fatalismus und der Resignation<br />
erlegen sind. Hierbei ist es entscheidend, daran zu erinnern, daß durch diese Geschichte<br />
der Geist Gottes am Werk ist und in ihrem Innern an der Transformation<br />
der Welt arbeitet, in dem Maße, wie die Ungerechtigkeiten und die Beherrschung<br />
- mit der Verachtung des Menschen und der Gewalt, die sie erzeugen -<br />
einen entscheidenden Aspekt der Sünde der Welt konstituieren. 63<br />
Von daher bedeutet die Lektüre des Exodus für die Kirchen in Afrika, daß sie sich<br />
fragen, wie sie ihre Glaubensverkündigung und -erziehung mit solchen Projekten verbinden<br />
können, die es den örtlichen Gemeinschaften ermöglichen, sich zu befreien.<br />
Dies führt zu Fragen, <strong>auf</strong> die keine moralisierenden Antworten gegeben werden können:<br />
[...] in <strong>einem</strong> kulturellen Kontext, der durch das Thema des Rückzuges oder der<br />
Abwesenheit Gottes gekennzeichnet ist, wie es in den meisten mythischen Traditionen<br />
Afrikas berichtet wird, wie - von den Befreiungserfahrungen her -<br />
Raum schaffen für das Verlangen nach dem lebendigen Gott? Von welchem<br />
Ausgangspunkt aus das „Wort Gottes“ verkündigen <strong>einem</strong> Menschen in <strong>einem</strong><br />
60<br />
61<br />
62<br />
63<br />
„A cet égard, faire naître la conscience d’une solidarité active apparaît comme une démarche<br />
primordiale dans toute rupture avec les situations de servitude. Bien plus, cette conscience ne peut<br />
exister sans le repérage des facteurs ou des mécanismes de l’oppression: il n’y a pas de changement<br />
possible si l’on n’insère pas les injustices dans la conscience du peuple jusqu’à les rendre<br />
insupportables“; a.a.O., S. 49.<br />
„[...] l’intérêt premier d’une lecture de l’Exode, c’est de sortir la majorité des chrétiens africains de<br />
l’ignorance de l’histoire de la libération“; ebd.<br />
„Moïse n’est pas envoyé en Egypte pour prêcher la conversion spirituelle mais bien pour faire sortir<br />
Israël de ,la maison de servitude‘ “; ebd.<br />
„La connaissance de l’histoire contemporaine des mouvements de libération peut être un stimulant pour<br />
des communautés tentées par le fatalisme et la résignation. Ce qui est ici capital, c’est de rappeler qu’à<br />
travers cette histoire l’Esprit de Dieu est à l’œuvre, travaillant intérieurement à la transformation du<br />
monde, dans la mesure où les injustices et la domination, avec le mépris de l’homme et la violence<br />
qu’elles engendrent, constituent un aspect décisif du péché du monde“; ebd.
4 Die biblisch-theologischen Grundlagen der théologie sous l’arbre 172<br />
kulturellen Universum, wo, wie für die Kirdi in Nordkamerun, Gott schweigt<br />
und die Menschen dem Elend überläßt, dem Leiden und dem Tod? 64<br />
Diese Fragen und die zentrale Stellung des Exodus in der Bibel lassen die Art und<br />
Weise, wie in den Kirchen das Heil gefeiert wird, als zutiefst problematisch erscheinen.<br />
Glaube und Heil sind keine „rein religiösen Angelegenheiten“ (affaires purement<br />
religieuses). Deshalb kann sich das Christentum nicht <strong>auf</strong> eine „Religion des Jenseits“<br />
(religion de l’au-delà) reduzieren lassen. <strong>Das</strong> Heil, das von Gott kommt, muß in der<br />
konkreten Geschichte eines Volkes erfahrbar sein, in s<strong>einem</strong> konkreten Kontext. Deshalb<br />
muß die Kirche der schöpferischen Kraft des Volkes Rechnung tragen, mit der<br />
dieses an einer Zukunft arbeitet, die sich wesentlich von der Vergangenheit der Sklaverei<br />
und Beherrschung unterscheiden soll, die so sehr sein kollektives Gedächtnis prägt.<br />
Jean-Marc Ela stellt weitere Fragen:<br />
Müßten sich die Kirchen in dieser Hinsicht nicht an die Pharaonen von heute<br />
richten, damit sie dem Volk Gottes Stimme, Entscheidung und Freiheit zurückgeben?<br />
Genügt es, weiterhin Schulen und Krankenhäuser, Polikliniken oder<br />
Waisenhäuser zu führen - alles Formen karitativer Aktivitäten -, oder ist es nicht<br />
viel eher angebracht, sich vorrangig die neuen Hoffnungen all der Enterbten zu<br />
eigen zu machen und den Problemen der Menschen, die durch die Ungerechtigkeiten<br />
niedergedrückt werden, Zugang zu verschaffen in die Katechese, in den<br />
Unterricht und in das Gebet? 65<br />
Solidarität mit den Menschen, denen ihre menschliche Würde verweigert wird, bedeutet<br />
für Kirche zweierlei: Erstens muß sie ihre prophetische Funktion ausüben, indem<br />
sie kollektiv die schreiendsten Mißstände des herrschenden Systems anklagt. Zweitens<br />
muß sie <strong>auf</strong> allen Ebenen der Gesellschaft eingreifen, um die „Kleinen“ vor der Willkür<br />
der „Großen“ zu schützen. Dabei spielen die Laien, die im Prozeß der Transformation<br />
der Gesellschaft engagiert sind, eine wichtige Rolle, die von der Kirche nicht unterschätzt<br />
werden darf.<br />
Für die christlichen Gemeinden in Afrika ist heute die Lektüre des Exodus, der für die<br />
Unterdrückten aller Zeiten eine Quelle der Hoffnung war, unabdingbar. Ein christliches<br />
Selbstverständnis muß sich notwendigerweise <strong>auf</strong> diese Geschichte beziehen, so<br />
wie Jesus selbst sich in die Tradition des Exodus und der Propheten stellte. Wie bei<br />
Jesus, so geht es auch heute um eine „Aktualisierung des Exodus“ (actualisation de<br />
l’Exode) 66 .<br />
64<br />
65<br />
66<br />
„[...] dans un contexte culturel marqué par le thème de la retraite ou de l’éloignement de Dieu tel qu’il<br />
est rapporté dans la plupart des traditions mythique de l’Afrique, comment, à partir des expériences de<br />
libération créer un espace de désir du Dieu vivant? A partir de quoi annoncer la ,Parole de Dieu‘ à<br />
l’homme dans un univers culturel où, pour le Kirdi du Nord-Cameroun, Dieu s’est tu, abandonnant<br />
l’homme à la misère, à la souffrance et à la mort?“; a.a.O., S. 50.<br />
„Dans cette perspective, les Eglises ne devraient-elles pas s’adresser aux Pharaons d’aujourd’hui afin<br />
qu’ils rendent la parole, la décision et la liberté au peuple de Dieu? Suffit-il de continuer à gérer les<br />
écoles et les hôpitaux, les dispensaires ou les orphelinats, toutes les formes d’actions caritatives, ou bien<br />
convient-il, en priorité, d’assumer les nouvelles aspirations de tous les déshérités en faisant entrer dans<br />
la catéchèse, la formation et la prière les problèmes des hommes écrasés par les injustices?“; a.a.O., S.<br />
50f.<br />
Vgl. Anm. 69, S. 144.
4 Die biblisch-theologischen Grundlagen der théologie sous l’arbre 173<br />
4.3 Kreuz<br />
Klauspeter Blaser konstatiert für Afrika „ein neues Interesse an der Kreuzestheologie“ 67 und<br />
verweist als Beleg hierfür <strong>auf</strong> Jean-Marc Ela. In der Tat hat - neben dem Exodus - das Kreuz für<br />
Jean-Marc Elas Theologie eine konstitutive Bedeutung. Dies legt schon die Bezeichnung seiner<br />
Theologie als théologie sous l’arbre nahe - insofern, als der Begriff „<strong>Baum“</strong> u.a. „Baum des<br />
Kreuzes“ bedeutet. 68 Außerdem verweisen die Überschriften verschiedener Abschnitte in s<strong>einem</strong><br />
1985 erschienen Buch Ma foi d’Africain explizit <strong>auf</strong> das Kreuz: „La croix du Tiers monde“ 69 ;<br />
„Regarder le monde à partir de la croix“ 70 ; „Le calvaire d’un peuple“ 71 . Implizit - von der Begriffsbedeutung<br />
her - hat auch das Schlußkapitel („La théologie sous l’arbre“) 72 in seiner Überschrift<br />
einen Bezug zum Kreuz. Für die folgende Darstellung bildet der Abschnitt „Regarder le<br />
monde à partir de la croix“ die zentrale - jedoch nicht alleinige - Grundlage, da Jean-Marc Ela an<br />
dieser Stelle seine Kreuzesinterpretation am ausführlichsten darlegt.<br />
Grundlegend für Jean-Marc Elas Verständnis des Kreuzes ist seine Überzeugung, daß<br />
Jesu Tod weder von s<strong>einem</strong> konkreten Leben noch von seiner Auferstehung getrennt<br />
werden kann. Jesu Tod ist das tatsächliche Ende seines Lebens, das dadurch geprägt<br />
war, daß er „permanent mit den unterdrückerischen sozio-religiösen Mächten und<br />
Apparaten in Konflikt“ 73 geriet: „Als Opfer repressiver Gewalt bezahlt Jesus die<br />
Kühnheit seines subversiven Projektes mit s<strong>einem</strong> Leben.“ 74 Jesus stirbt in Jerusalem,<br />
dem Zentrum der politischen und religiösen Macht; hier war es auch, wo er das herrschende<br />
System angegriffen hatte. Jean-Marc Ela rekapituliert:<br />
In einer Gesellschaft, die zum Nachteil des Lebens und der Gerechtigkeit dem<br />
Kult und der Beobachtung des Gesetzes den Vorzug gibt, ist das, was Jesus zum<br />
Tode führt, seine Option für die Armen und Unterdrückten. Jesus wird als Gotteslästerer<br />
verurteilt, weil er den Armen den Gott des Exodus offenbart hat. 75<br />
Jean-Marc Ela versteht den Tod Jesu im Kontext historischer Konflikte - paradigmatisch<br />
hierfür ist die Knechtschaft in Ägypten bzw. der Exodus -, bei denen Gott nach<br />
biblischem Zeugnis immer Partei für die Schwachen ergreift 76 . In diesem Sinn macht<br />
67<br />
68<br />
69<br />
70<br />
71<br />
72<br />
73<br />
74<br />
75<br />
76<br />
KLAUSPETER BLASER, Volksideologie und Volkstheologie. Ökumenische Entwicklungen im Lichte der<br />
Barmer Theologischen Erklärung (Ökumenische Existenz heute; Bd. 7), München (Kaiser), 1991, S. 83.<br />
Zum Begriff der théologie sous l’arbre vgl. oben S. 27-31.<br />
Ma foi d’Africain, 130-132 (Mein Glaube als Afrikaner, 114-116).<br />
A.a.O., 140-144 (Mein Glaube als Afrikaner, 123-127).<br />
A.a.O., 156-160 (Mein Glaube als Afrikaner, 137-140).<br />
A.a.O., 215-218 (Mein Glaube als Afrikaner, 194-197).<br />
„Il s’agit de l’aboutissement d’un drame lié à toute la trame de la vie de Jésus sans cesse en conflit avec<br />
les forces et les appareils socio-religieux oppressifs“; Ma foi d’Africain, S. 140 (Mein Glaube als<br />
Afrikaner, S. 124).<br />
„Victime d’une violence répressive, Jésus paie de sa vie les audaces de son projet subversif“; ebd.<br />
„Dans une société qui privilégie le culte et l’observation de la loi, au détriment de la vie et de la justice,<br />
ce qui conduit Jésus à la mort, c’est son option pour les pauvres et les opprimés. Jésus est condamné<br />
comme blasphémateur pour avoir révélé aux pauvres le Dieu de l’Exode“; ebd.<br />
Ganz so eindeutig scheint diese Parteilichkeit Gottes nicht zu sein. Mir ist z.B. nicht bewußt, daß Gott<br />
für die bei der „Landnahme“ unterlegenen „KanaanäerInnen“ Partei ergriffen hätte; auch ist von einer<br />
göttlichen Unterstützung für die Emanzipationsbestrebungen von Frauen kaum die Rede. In der Tat lassen<br />
sich in der Bibel verschiedene theologische Strömungen identifizieren, die jeweils andere soziale
4 Die biblisch-theologischen Grundlagen der théologie sous l’arbre 174<br />
Jesus am Kreuz den „Schrei des Menschen“ - „von Abel (Gen 4,8) an bis zu dem Arbeiter,<br />
der seines Lohnes beraubt <strong>wurde</strong> (Jak 5,4)“ - zu s<strong>einem</strong> eigenen. Seine Solidarität<br />
mit den Armen und Unterdrückten geht so weit, daß er selbst zum Opfer der „Sünde<br />
der Welt“ 77 wird, die im Gegensatz steht zu dem von ihm verkündigten Reich der Gerechtigkeit<br />
und Freiheit.<br />
Jesu Tod bleibt jedoch nicht sinnlos. Er bekommt eine befreiende Bedeutung. Jean-<br />
Marc Ela faßt den Kern der evangelischen Botschaft mit <strong>einem</strong> Satz zusammen: „Jesus<br />
stirbt, damit der Mensch <strong>auf</strong>(er)stehe“ 78 . Diese Botschaft in ihrer ganzen Radikalität zu<br />
leben, bedeutet, die Augen nicht verschließen zu können vor den konkreten existentiellen<br />
und gesellschaftlichen Konflikten. Mehr noch: „,Nachfolge Jesu‘ bedeutet, sein<br />
subversives Projekt, seine Parteinahme für die Armen gegen die Situationen des Elends<br />
und der Unterdrückung, zu ,aktualisieren‘“. 79 Auf diese Weise wird das Kreuz, das<br />
primär ein Instrument der Erniedrigung ist, zu <strong>einem</strong> „Instrument des Kampfes gegen<br />
Knechtschaft und Tod“. Jean-Marc Ela resümiert:<br />
Die Befreiung der Armen ist also die entscheidende Frage des Todes Jesu an die<br />
Christen und an die Kirche, insofern sie sich an die Seite Jesu zu stellen haben<br />
für das Leben der Welt. Kurz: Die Hinrichtung Jesu stellt uns - mit dem Ernst<br />
des Leidens und des Todes - die Frage nach unserer Solidarität mit denen, die<br />
gegen die Mächte des Todes kämpfen, die in der Geschichte am Werk sind. 80<br />
Die Kreuzigung ist jedoch - so betont Jean-Marc Ela - weder der Höhepunkt von Jesu<br />
Leben noch unseres Glaubens. Dieser wird vielmehr erst durch die Auferstehung erreicht,<br />
ohne die im übrigen die Bibel nicht zu verstehen ist 81 :<br />
77<br />
78<br />
79<br />
80<br />
81<br />
und politische Interessen repräsentieren. Die stärkste Linie bzw. ein gewisser „roter Faden“ ist wohl<br />
aber dennoch diejenige Linie, die „Gott“ mit <strong>einem</strong> gesellschaftlichen Projekt assoziiert, das sich an der<br />
Gerechtigkeit - die primär das Recht der Schwachen ist - orientiert. Soweit ich dies beurteilen kann, ist<br />
die göttliche Gerechtigkeit für alle diese theologischen Richtungen das (gemeinsame) Kriterium. Die<br />
Unterschiede entzünden sich v.a. im Hinblick <strong>auf</strong> die reale Verwirklichung dieses Projektes. Und die<br />
Vorstellungen hierüber variieren je nach sozialem Standort und der damit verknüpften Perspektive und<br />
konkreten Interessenlage. Vgl. auch LUISE und WILLY SCHOTTROFF, Biblische Traditionen von „Staatstheologie,<br />
Kirchentheologie und Prophetischer Theologie“ nach dem KAIROS-Dokument, in: DIES., Die<br />
Macht der Auferstehung. Sozialgeschichtliche Bibelauslegungen, München (Kaiser), 1988, 49-71.<br />
Ma foi d’Africain, S. 141 (Mein Glaube als Afrikaner, S. 124) Die Situation der Unterdrückung und der<br />
Armut stellt einen grundlegenden Aspekt der „Sünde der Welt“ („péché du monde“) dar - ein für Jean-<br />
Marc Ela zentraler Begriff. In einer Gesellschaft, „in der Millionen von Kindern zur Unterernährung<br />
und Krankheit verurteilt sind“, und die deshalb dem „Plan Gottes“ widerspricht, erkennt Jean-Marc Ela<br />
„das schwarze Antlitz der ,Sünde der Welt‘, die das Lamm Gottes trägt und hinwegnimmt“; Mein Glaube<br />
als Afrikaner, S. 97 („Si Dieu a un dessein pour sur l’Afrique aujourd’hui, une société où des millions<br />
d’enfants sont condamnés à la malnutrition et à la maladie ne peut pas correspondre à ce dessein. Il y a<br />
là précisément, le visage noir du ,péché du monde‘ que porte et enlève l’Agneau de Dieu“; Ma foi<br />
d’Africain, S. 112).<br />
„Jésus meurt pour que l’homme soit debout“; Ma foi d’Africain, S. 141 (Mein Glaube als Afrikaner, S.<br />
124).<br />
„,Suivre Jésus‘, c’est ,actualiser‘ son projet subversif, c’est-à-dire son parti pris pour les pauvres contre<br />
les situations de misère et d’oppression“; ebd.<br />
„La libération des pauvres est donc la question majeure de la mort de Jésus aux chrétiens et à Église,<br />
dans la mesure où ils ont à se situer aux côtés de Jésus pour la vie du monde. Bref, l’exécution de Jésus<br />
nous pose, avec le sérieux de la souffrance et de la mort, la question de notre solidarité avec ceux qui<br />
luttent contre les forces de la mort à œuvre dans histoire“; ebd. (Mein Glaube als Afrikaner, S. 125).<br />
„Il n’y a pas d’intelligence de l’Écriture en dehors de la résurrection“; ebd.
4 Die biblisch-theologischen Grundlagen der théologie sous l’arbre 175<br />
Die Auferstehung Jesu ist der Gipfel der Offenbarung. Sie ist das zentrale Ereignis<br />
der Heilsgeschichte, durch das sich die Verheißung erfüllt, die dem Volk<br />
Gottes gegeben <strong>wurde</strong> [...]. Indem er aber Tote ein für allemal <strong>auf</strong>erweckt, verkündet<br />
Jesus den Sieg über die Mächte des Todes und eröffnet eine neue Welt. 82<br />
Hier setzen für Jean-Marc Ela die entscheidenden Fragen für Afrikas ChristInnen und<br />
Kirchen ein:<br />
Wie die Auferstehung feiern, da, wo Millionen Männer und Frauen in Leiden<br />
und Unterdrückung leben? Im Kampf für das Leben derer, die schwach und<br />
ohnmächtig sind - wie kann die Auferstehung Jesu hier eine historische Erfahrung<br />
werden? Auf welche Weise beginnt heute die Auferstehung der Erniedrigten?<br />
83<br />
Es ist deutlich, daß Jean-Marc Elas Reflexionen über das Kreuz sehr von dem Kontext<br />
geprägt sind, in dem er diese Reflexionen anstellt. In diesem Kontext versucht er ausdrücklich,<br />
den Sinn des Kreuzes zu erschließen. Wie der Exodus, so ist auch das Kreuz<br />
in seiner Bedeutung nicht restlos <strong>auf</strong> den ursprünglichen historischen Kontext reduzierbar.<br />
Diese Geschichten sind poly-semisch, sie haben eine Sinn-Reserve, die in<br />
neuen Kontexten stets <strong>auf</strong> eine neue Weise aktualisiert werden muß. Jean-Marc Ela<br />
formuliert dies so: „<strong>Das</strong> Kreuz enthält eine immense Reserve an kritischen und verändernden<br />
Kräften, die in jeder fundamentalen menschlichen Situation neu zur Geltung<br />
gebracht werden müssen. Dies bedeutet, daß nichts ein für allemal in festen Formen<br />
erstarrt ist.“ 84<br />
Auf der Grundlage dieser hermeneutischen Erkenntnis kann Jean-Marc Ela angesichts<br />
der Leiden der Völker der Dritten Welt sagen, daß „in <strong>einem</strong> gewissen Sinn das Kreuz<br />
Jesu Christi das Kreuz der Dritten Welt ist“ 85 . Im Schreien der Ausgebeuteten und<br />
Armen, insbesondere im „Schrei des afrikanischen Menschen“, läßt sich der Schrei des<br />
gekreuzigten Jesus vernehmen. 86 <strong>Das</strong> Leben der meisten Menschen in der Dritten Welt<br />
ist in der Tat zu <strong>einem</strong> wirklichen Kreuzweg geworden. Speziell in bezug <strong>auf</strong> Afrika<br />
schreibt Jean-Marc Ela, daß das Leben „for millions of Africans has become a Calvary,<br />
a never ending way of the cross lived in the rural areas, in the refugee camps [...].“ 87<br />
82<br />
83<br />
84<br />
85<br />
86<br />
87<br />
„La résurrection de Jésus est le sommet de la Révélation. C’est l’événement par lequel s’accomplit la<br />
promesse fait au peuple de Dieu [...]. Or en ressuscitant des morts une fois pour toutes, Jésus proclame<br />
la victoire sur les forces de la mort et inaugure un monde nouveau“; ebd.<br />
„Comment célébrer la Résurrection là où des millions d’hommes et de femmes vivent dans la passion et<br />
l’oppression? Dans la lutte pour la vie de ceux qui sont faibles et sans pouvoir, comment la résurrection<br />
de Jésus peut-elle devenir une expérience historique? De quelle manière commence aujourd’hui la<br />
résurrection des humiliés?“; ebd.<br />
„La croix comporte une immense réserve de forces critiques et de changement qui doit être mise en<br />
valeur dans chaque situation humaine fondamentale. Cela veut dire que rien n’est figé une fois pour<br />
toutes“; Ma foi d’Africain, S. 142 (Mein Glaube als Afrikaner, S. 126). Siehe auch S. 164 (Mein Glaube<br />
als Afrikaner, S. 145).<br />
„[...] en un sens, la croix de Jésus-Christ c’est la croix du Tiers monde“; Ma foi d’Africain, S. 130 (Mein<br />
Glaube als Afrikaner, S. 114).<br />
Vgl. dazu das Interview mit THOMAS SEITERICH-KREUZKAMP, S. 22.<br />
Poverty and Theology (S. 16); vgl. auch Ma foi d’Africain, S. 156 (Mein Glaube als Afrikaner, S. 137).
4 Die biblisch-theologischen Grundlagen der théologie sous l’arbre 176<br />
An anderer Stelle schreibt Jean-Marc Ela, daß die Menschen „von unten“ („d’en-bas“)<br />
in ihrer Situation, die eine Situation „anthropologischer Armut“ („pauvreté anthropologique“)<br />
88 ist, eine Verwandtschaft mit dem gekreuzigten Jesus wiedererkennen: „eine<br />
Art Verwandtschaft in der Erniedrigung mit dem Gekreuzigten von Golgatha“. Und er<br />
fährt fort: „In gewissem Sinn ist der unterdrückte Christus der Afrikaner von heute, der<br />
der größte Proletarier der gegenwärtigen Geschichte genannt werden kann.“ 89<br />
<strong>Das</strong> Kreuz fungiert hierbei - wie der Exodus - als Paradigma zur Interpretation der<br />
gegenwärtigen Wirklichkeit, als ein hermeneutischer Schlüssel zu ihrem Verständnis.<br />
Erkennen wir nun im „Kreuz der Dritten Welt“ das Kreuz Christi, dann heißt dies<br />
gleichzeitig, daß die Dritte Welt „in sich den verborgenen Christus trägt“ und von<br />
daher den „historischen Leib Jesu Christi heute“ darstellt 90 - womit zugleich - implizit -<br />
eine Antwort <strong>auf</strong> die Frage Jesu an seine Jünger: „Und ihr, wer bin ich für euch?“ (Mt<br />
16,15) gegeben wird.<br />
Diese kreuzestheologische Reflexion der konkreten Lebenswirklichkeit der Menschen<br />
- „die Welt vom Kreuz her zu betrachten“ - hat verschiedene Implikationen:<br />
Die Welt vom Kreuz her zu betrachten, das heißt, an den Tag zu bringen, daß<br />
das, was wir erleben, noch nicht der definitiven Verheißung Gottes und ihrer<br />
vollständigen Realisierung entspricht. 91 Jeder Bezug <strong>auf</strong> das Kreuz impliziert,<br />
daß wir in der Geschichte immer wieder nach dem suchen, was der Welt nahekommt,<br />
wie sie von Gott gewollt ist. Die Fülle des Lebens für die Armen ist also<br />
ein Projekt, das <strong>einem</strong> <strong>auf</strong>richtigen Bekenntnis des gekreuzigten Jesus inhärent<br />
ist. Wie der Wille Gottes durch die Neuschöpfung des Menschen und der<br />
88<br />
89<br />
90<br />
91<br />
JEAN-MARC ELA, Le rôle des Eglises dans la libération du continent africain, Bulletin de Théologie<br />
Africaine 6, Nr. 12 (1984), 281-302, S. 291. Der Begriff der „anthropologischen Armut geht zurück<br />
<strong>auf</strong> den ebenfalls aus Kamerun stammenden Theologen Engelbert Mveng. Er hat diesen Begriff wohl<br />
erstmals im Rahmen der EATWOT-Konferenz in New Delhi 1981 eingeführt; vgl. ENGELBERT MVENG,<br />
Third World Theology - What Theology? What Third World?: Evaluation by an African Delegate, in:<br />
Virginia Vabella und Sergio Torres (Hg.), Irruption of the Third World. Challenge to Theology, Papers<br />
from the Fifth International Conference of the Ecumenical Association of Third World Theologians, August<br />
17-29, 1981, New Delhi, India, Maryknoll, N.Y. (Orbis), 1983, 217-221.<br />
„[...] (les) gens ,d’en-bas‘ qui se reconnaissent une sorte de parenté dans l’humiliation avec le Crucifié<br />
du Golgotha. En un sens, le Christ opprimé, c’est l’Africain d’aujourd’hui dont on pourrait dire qu’il est<br />
le plus grand prolétaire de l’histoire contemporaine“, ebd. In Ma foi d’Africain, S. 193 heißt es kurz und<br />
bündig: „Aujourd’hui, Jésus-Christ, c’est l’opprimé“ („Jesus Christus ist heute der Unterdrückte“; Mein<br />
Glaube als Afrikaner, S. 173).<br />
„Le Tiers monde porte en lui-même le Christ caché: il est le corps historique de Jésus-Christ<br />
aujourd’hui“; Ma foi d’Africain, S. 130 (Mein Glaube als Afrikaner, S. 114). An anderer Stelle spricht<br />
Jean-Marc Ela davon, daß das Volk, dessen Passion Jesus in seiner eigenen Passion erfahren hat, „heute<br />
als der leidende Gottesknecht erscheint“ (Mein Glaube als Afrikaner, S. 126; „aujourd’hui, apparaît<br />
comme le Serviteur souffrant“; Ma foi d’Africain, S. 142). Er kann auch sagen, daß die „schwarzen Völker<br />
[...], nach einer langen Geschichte der Knechtschaft und des Leidens, heute die Zeichen des gekreuzigten<br />
Gottes tragen“ („peuples noirs [...], à travers une longue histoire de servitude et de souffrance,<br />
portent aujourd’hui les traits du Dieu crucifié“; Le motif de la libération, S. 47).<br />
In Ma foi d’Africain, S. 164 (Mein Glaube als Afrikaner, S. 145) formuliert Jean-Marc Ela diesen Aspekt<br />
noch etwas zugespitzter, wenn er proklamiert, daß das Kreuz „der radikalste und totalste Protest ist gegen<br />
diese Welt, wie sie ist“ („la contestation la plus radicale et la plus totale de ce monde tel qu’il est“).
4 Die biblisch-theologischen Grundlagen der théologie sous l’arbre 177<br />
Welt geschieht, so impliziert das Kreuz die Inkarnation des Wortes in den<br />
Schmerz unserer Völker und Gottes Engagement im Prozeß der Befreiung. 92<br />
Insofern sich im Leiden der Armen, Unterdrückten und Marginalisierten Jesu Passion<br />
<strong>auf</strong>s neue ereignet, wird auch die Auferstehung erst dann „wirksam und allumfassend,<br />
wenn der Arme vom Tod zum Leben gelangt“ 93 . Daß die Herrschaft des Todes tatsächlich<br />
gebrochen werden kann, daß sich die Verhältnisse wirklich ändern können und<br />
eine neue Welt real möglich ist, liegt für den Glauben in der Auferstehung Jesu begründet.<br />
Für die AfrikanerInnen, die in <strong>einem</strong> kulturellen Kontext leben, der tiefgreifend geprägt<br />
ist von dem fundamentalen Symbolismus von Leben und Tod, ist insbesondere<br />
die Symbolik des Kreuzes von entscheidender Bedeutung. Darin, daß durch das Kreuz<br />
die vier Himmelsrichtungen angedeutet werden, finden AfrikanerInnen den „Symbolismus<br />
der Ganzheit“ wieder. 94 Auf diese Weise ist für sie das Kreuz mit der „kosmischen<br />
Dimension des Heils“ verbunden: „<strong>Das</strong> Motiv des Kreuzes bereitet den Afrikaner<br />
dar<strong>auf</strong> vor, die kosmische Dimension des Heils durch den Baum des Kreuzes zu<br />
begreifen, dem das Neue Testament eine lebensspendende Kraft bescheinigt, in der<br />
Perspektive der neuen Schöpfung [...] (Offb 22,2-3).“ 95<br />
Diese eher theoretischen - aber gleichwohl durch Praxiserfahrungen inspirierten 96 -<br />
Reflexionen haben wiederum praktische Konsequenzen für die Theologie bzw. für das<br />
Theologietreiben. Angesichts dessen, daß das Leben der meisten AfrikanerInnen zu<br />
<strong>einem</strong> regelrechten Kreuzweg geworden ist, stehen die afrikanischen TheologInnen vor<br />
einer enormen Herausforderung:<br />
The African theologian is called to take part in the suffering of his people, trying<br />
to discover in this situation the power of life springing from the Resurrected<br />
Christ.<br />
92<br />
93<br />
94<br />
95<br />
96<br />
„Regarder le monde à partir de la Croix, c’est découvrir que ce que nous vivons ne correspond pas<br />
encore à la promesse définitive de Dieu et sa réalisation plénière. Toute référence à la Croix implique<br />
qu’on recherche dans l’histoire ce qui se rapproche du monde voulu par Dieu. Or la plénitude de vie<br />
pour les pauvres est un projet inhérent à une vraie confession de Jésus crucifié. Si la volonté de Dieu<br />
passe par une nouvelle genèse de l’homme et du monde, la croix implique l’incarnation du Verbe dans<br />
la douleur de nos peuples et l’engagement de Dieu dans un processus de libération“; Ma foi d’Africain,<br />
S. 142 (Mein Glaube als Afrikaner, S. 126).<br />
„[...] la résurrection est effective et totale lorsque le pauvre passe de la mort à la vie“; a.a.O., S. 143<br />
(Mein Glaube als Afrikaner, S. 126).<br />
Zur fundamentalen Bedeutung, die die symbolische Sprache sowohl für die afrikanische Kultur - die<br />
eine „Symbolkultur“ ist - als auch für die christliche Theologie - das Evangelium ist zutiefst „durchdrungen<br />
vom Symbolismus der Pflanzenwelt“ - hat, vgl. den Abschnitt „Réveiller les sources“ („Neues<br />
Leben aus den Quellen“) in Ma foi d’Africain, 68-72 (Mein Glaube als Afrikaner, 57-61). In diesem Zusammenhang<br />
spricht Jean-Marc Ela auch von <strong>einem</strong> epistemologischen Bruch mit der scholastischen<br />
Theologie, die „die Symbole zu einfachen Allegorien degenerieren ließ“ und deshalb den AfrikanerInnen<br />
nicht wirklich etwas zu sagen hat.<br />
„La motif crucifère prépare l’Africain à saisir la dimension cosmique du salut par l’arbre de la Croix,<br />
dont le Nouveau Testament atteste la vertu vivifiante, dans la perspective de la création nouvelle [...] (Ap<br />
22, 2-3)“; Ma foi d’Africain, S. 70 (Mein Glaube als Afrikaner, S. 59f).<br />
Vgl. dazu Ma foi d’Africain, S. 19f (Mein Glaube als Afrikaner, S. 12f).
4 Die biblisch-theologischen Grundlagen der théologie sous l’arbre 178<br />
For a theologian to fulfill this task he ought to be in solidarity with the poor and<br />
the little ones. In trying to root the Gospel in the culture and in the life of our<br />
people, the theologian must reveal the transforming power of Jesus’ Gospel. 97<br />
Theologietreiben kann dann freilich keine akademische Übung mehr bleiben. Unter<br />
dem „Baum des Kreuzes“, wo die Theologie von neuem begonnen werden muß, wohin<br />
sich also auch die TheologInnen begeben müssen, gibt es weder Bibliotheken noch<br />
klimatisierte Büros. In einer Umgebung, „wo das einfache Volk bis zu den Knöcheln<br />
im Schlamm steckt“ wird die Theologie zu <strong>einem</strong> spirituellen Wagnis 98 .<br />
Aber auch für das afrikanische Christentum insgesamt gilt - insofern es im afrikanischen<br />
Kontext glaubwürdig und relevant sein und eine Zukunft haben will:<br />
In der konkreten Situation unserer Gesellschaften müssen wir die Art und Weise<br />
aktualisieren, wie der Gekreuzigte von Golgatha die Welt s<strong>einem</strong> Urteil unterwirft<br />
und den Menschen wieder von neuem schafft durch die Macht seiner Auferstehung.<br />
Dies ist nur möglich, wenn die Kirchen es <strong>auf</strong> sich nehmen, sich mit<br />
den Kämpfen der Vergessenen der Erde gemein zu machen. 99<br />
Dies bedeutet, sich konsequenterweise von einer „Religion der billigen Gnade“ 100 und<br />
<strong>einem</strong> „bourgeoisen Christentum“ 101 zu verabschieden, bereit zu sein, sich ‚die Hände<br />
schmutzig zu machen‘ in praktischer Solidarität mit den Armen, Ausgeschlossenen,<br />
Unterdrückten, kurz: mit den „Verdammten der Erde“, und sich einzulassen <strong>auf</strong> „die<br />
Konflikte und Kämpfe, durch die sich das Reich Gottes <strong>auf</strong>baut“ 102 . Es bedeutet<br />
gleichzeitig aber auch die Möglichkeit einer lebendigen Gottesbeziehung, insofern die<br />
Armen und Unterdrückten „die Gegenwart des gekreuzigten Gottes“ 103 sind.<br />
97<br />
Poverty and Theology (S. 16); vgl. auch Ma foi d’Africain, S. 215ff (Mein Glaube als Afrikaner, S. 194f).<br />
98<br />
Vgl. dazu Ma foi d’Africain, S. 215f (Mein Glaube als Afrikaner, S. 194f).<br />
99<br />
„Dans la situation concrète de nos sociétés, il nous faut donc actualiser la manière dont le Crucifié du<br />
Golgotha soumet le monde en jugement et refait l’homme à neuf par la puissance de sa résurrection.<br />
Cela n’est possible que si les Eglises d’Afrique acceptent de se compromettre avec les luttes des oubliés<br />
de la terre“; Le motif de la libération, S. 50. Vgl. auch Ma foi d’Africain, S. 169: „le christianisme<br />
africain est appelé à faire corps avec les luttes des pauvres qui nous rendent actuelle la mémoire de<br />
Jésus crucifié“ („das afrikanische Christentum ist <strong>auf</strong>gerufen, sich zu vereinigen mit den Kämpfen der<br />
Armen, die uns den gekreuzigten Jesus vergegenwärtigen“; Mein Glaube als Afrikaner, S. 150).<br />
100 „Religion de la grâce à bon marché“; Ma foi d’Africain, S. 168 (Mein Glaube als Afrikaner, S. 149).<br />
101 „Christianisme bourgeois“; a.a.O., S. 169 (Mein Glaube als Afrikaner, S. 150). Jean-Marc Ela zitiert -<br />
nicht nur - in diesem Zusammenhang zustimmend seinen Landsmann FABIEN EBOUSSI BOULAGA (Christianisme<br />
sans fétiche. Révélation et domination, Paris, 1982). - Nach persönlichen Informationen von<br />
<strong>einem</strong> im Exil lebenden kamerunischen Studenten scheinen beide Theologen auch privat befreundet zu<br />
sein.<br />
102 „[...] les conflits et les luttes par lesquelles se crée le Royaume“; a.a.O., S. 168 (Mein Glaube als<br />
Afrikaner, S. 149).<br />
103 „[...] les pauvres et les opprimés sont la présence du Dieu crucifié“; a.a.O., S. 141 (Mein Glaube als<br />
Afrikaner, S. 125). Diese Erkenntnis hat auch Konsequenzen für die Lektüre der Bibel, die dann nicht<br />
umhin kann, „von den aktuellen Orten der Armut und Unterdrückung“ und den Fragen und Herausforderungen,<br />
die diese <strong>auf</strong>werfen, auszugehen. Dies führt zweifellos zu einer anderen Lektüre der Bibel<br />
als der einer Kirche, die „noch allzu oft von einer Welt her zu sprechen scheint, die nicht die Welt des<br />
täglichen Lebens der Armen und Unterdrückten ist“: „In allen Situationen, in denen die Landbevölkerung<br />
zu <strong>einem</strong> <strong>Das</strong>ein als Paria verdammt ist, oder in jedem Elendsquartier, das sich wie ein wahres<br />
Golgatha erhebt, ist in der Kirche eine andere Lektüre der Schrift gefordert“, eine Lektüre, die „das kritische<br />
und befreiende Potential des Evangeliums“ freisetzt; Mein Glaube als Afrikaner, S. 125 („Dans
4 Die biblisch-theologischen Grundlagen der théologie sous l’arbre 179<br />
4.4 Eucharistie - Feier des Heils in <strong>einem</strong> Kontext des Unheils<br />
Charakteristisch für Jean-Marc Ela ist seine sozio-ökonomische Interpretation der Eucharistie,<br />
während sich die Diskussion unter den afrikanischen TheologInnen ansonsten im wesentlichen<br />
um die Frage der eucharistischen Materie bewegt: Können Brot und Wein durch einheimische<br />
Erzeugnisse ersetzt werden oder sind diese für eine gültige Eucharistie-Feier unabdingbar? D.h.<br />
jedoch nicht, daß für Jean-Marc Ela diese kulturelle Frage keine Rolle spielte. Im Gegenteil:<br />
Während seiner Zeit in Tokombéré hatte er sich, wie bereits berichtet (siehe oben S. 49), für die<br />
Verwendung von Hirsebrot und Hirsebier als eucharistische Zeichen stark gemacht.<br />
Jean-Marc Ela widmet das Einleitungskapitel zu Le Cri de l’homme Africain einer kritischen -<br />
theologischen, kulturellen und sozio-ökonomischen - Analyse der Eucharistie, wie sie innerhalb<br />
der katholischen 104 christlichen Gemeinschaften in Afrika gefeiert wird. 105 Es klingt zuerst einmal<br />
befremdlich, wenn er die Studie über die Eucharistie unter der Frage: „Zeichen des Heils<br />
oder der Abhängigkeit?“ angeht, ist doch die Eucharistie „das höchste und die Zusammenfassung<br />
aller Sakramente“ 106 , insofern sie unsre Erlösung bzw. Befreiung durch Christus zum Ausdruck<br />
bringt. Wie kann von daher der Eucharistie eine ambivalente Funktion unterstellt werden?<br />
Im folgenden zeichne ich Jean-Marc Elas Argumentation im zuvor genannten Text nach, in<br />
deren Verl<strong>auf</strong> deutlich werden wird, daß eine rein „theologische“ und eine eurozentristische<br />
Auseinandersetzung mit theologischen Themen - zumal im afrikanischen Kontext - unzureichend,<br />
ja ,blauäugig‘ ist. Um die tatsächliche Bedeutung auch theologischer Sachverhalte zu<br />
ermessen, erweist sich ein kontextueller Zugang und eine sozio-ökonomische Analyse als unerläßlich.<br />
Jean-Marc Elas theologische Analyse der Eucharistie setzt ein mit einer Interpretation<br />
des Satzes: „Tut dies zu m<strong>einem</strong> Gedächtnis“ aus den Einsetzungsworten Jesu im<br />
Rahmen der Abendmahlsperikope 107 . Er betont, daß das Wort „Gedächtnis“ hier in<br />
<strong>einem</strong> umfassenden Sinn zu verstehen ist:<br />
Es handelt sich dabei nicht um eine Exhumierung der Vergangenheit, sondern<br />
vielmehr um die Aktualisierung eines Aktes und einer Realität, die sich durch<br />
alle Zeiten hindurchziehen, innerhalb der gegenwärtigen Situation. Es geht nicht<br />
um eine Vergegenwärtigung einer „Struktur“ des Heils, sondern um eine Realität,<br />
die ureigenst konstituiert wird durch konkrete, historisch erlebte Handluntoutes<br />
les situations où les paysans sont réduit à une condition de parias, ou dans chaque taudis qui se<br />
dresse comme une véritable calvaire, une autre lecture de l’Écriture se cherche dans l’Église“; Ma foi<br />
d’Africain, S. 142). Den Begriff eines „potentiel critique et libérateur du message de Jésus“ verwendet<br />
Jean-Marc Ela z.B. in Le motif de la libération, S. 48. Vgl. zu diesem Topos auch Ma foi d’Africain, S.<br />
142: das Kreuz hat eine „réserve de forces critiques“ u. S. 189: „puissance subversive de l’Évangile“<br />
(Mein Glaube als Afrikaner, S. 126 bzw. 169).<br />
104 Jean-Marc Elas Analyse der Praxis der Eucharistie in Afrika bezieht sich <strong>auf</strong> die römisch-katholische<br />
Kirche. Der Einfachheit halber ist im folgenden - in Anlehnung an den Sprachgebrauch des Katholiken<br />
Jean-Marc Ela - mit „Kirche“ bzw. „christlicher Gemeinschaft“ immer - sofern nicht anders vermerkt -<br />
die römisch-katholische gemeint. Für die protestantischen und insbesondere für die unabhängigen Kirchen<br />
sieht die Situation etwas anders aus - insofern hier das Problem der römischen Hierarchie entfällt.<br />
105 „L’eucharistie, signe de salut ou de dépendance dans les églises africaines?“, in: Jean-Marc Ela, Le Cri de<br />
l’homme Africain. Questions aux chrétiens et aux églises d’Afrique, 9-17 (African Cry, 1-8).<br />
106 „Les fidèles savent que l’eucharistie est le sommet et le résumé de tous les sacrements“; Le Cri de<br />
l’homme Africain, S. 9 (African Cry, S. 1).<br />
107 Mt 26,26-29; Mk 14,22-25; Lk 22,15-20; 1 Kor 11,23-26.
4 Die biblisch-theologischen Grundlagen der théologie sous l’arbre 180<br />
gen. Wir dürfen nicht ignorieren, daß wir <strong>auf</strong>gefordert sind, zu „tun“ und nicht<br />
bloß zu „reden“ oder verbal in Erinnerung zu rufen. 108<br />
Deshalb hat Jesus auch nicht einfach nur einen Ritus begründet. Was er von den Gläubigen<br />
erwartet, ist, daß sie tun, was er getan hat: Nach Lk 22,19 heißt dies, „sich selbst<br />
zu brechen in der Bereitschaft, sich selbst zu sterben und sich selbst unter ihnen zu<br />
teilen als praktische Danksagung gegenüber dem Vater“. Dies ist die „unumgängliche<br />
Bedingung dafür, daß in der Eucharistie das Volk Gottes zum Leib Christi wird“. 109<br />
Die Eucharistie realisiert und aktualisiert sich nur dadurch, daß Menschen, die untereinander<br />
uneins sind, zur „Einheit Christi“ (l’unité du Christ) gelangen. Ist die Gemeinschaft<br />
dazu bereit, dann kann sie die Eucharistie feiern und so „die Realität des<br />
einzigen Priesteramtes Christi“ in ihre Mitte eintreten lassen. Auf diese Weise werden<br />
alle innerhalb der Gemeinschaft zu Priestern. 110 Jesus hat nicht nur die Apostel dazu<br />
<strong>auf</strong>gerufen, seine Gesten neu zu tun und seine Worte neu zu sagen, sondern das ganze<br />
Volk Gottes, das durch den Geist am Amt Christi partizipiert.<br />
In diesem für den Glauben zentralen Akt der Feier der Eucharistie erfahren die afrikanischen<br />
ChristInnen das Heil in Jesus Christus. Diese Erfahrung steht jedoch im krassen<br />
Widerspruch zur Situation der Abhängigkeit, innerhalb der die Eucharistie in Afrika<br />
gefeiert wird.<br />
Eine erste Form der Abhängigkeit besteht im Auferlegen eines Modells, nach dem die<br />
Eucharistie nur von <strong>einem</strong> Priester zelebriert werden kann. Dieses verdammt die kleinen<br />
Gemeinschaften, die im Zentrum des pastoralen Interesses stehen, zu einer finanziellen<br />
und personellen Abhängigkeit vom Ausland, da die afrikanischen Kirchen nicht<br />
genügend Mittel haben, um die Ausbildung zum Priesteramt zu finanzieren. Der „Import<br />
von menschlichen und finanziellen Ressourcen“ birgt eine existentielle Gefahr für<br />
das Überleben der christlichen Gemeinschaften in Afrika: Nach über hundert Jahren<br />
funktionieren die afrikanischen Kirchen immer noch allein <strong>auf</strong>grund der massiven<br />
Präsenz eines Klerus, der nicht der einheimischen Bevölkerung entstammt. Aufgrund<br />
des Priestermangels müssen v.a. Gemeinschaften, die nicht in der Nähe von Missionsstationen<br />
leben, oft lange <strong>auf</strong> die Eucharistie warten, d.h. bis wieder einmal „zufällig“<br />
ein Priester vorbeikommt. 111<br />
108 „Car il n’est pas question d’exhumation du passé, mais bien d’une mise en situation présente d’un acte et<br />
d’une réalité qui dominent tous les temps. Il ne s’agit pas de rendre présente une ,structure‘ de salut<br />
mais une réalité constituée originairement par des actes concrets, historiquement vécus. Observons qu’il<br />
est demandé de ,faire‘ et non seulement de ,dire‘ ou de rappeler par parole“; ebd.<br />
109 „[...] se ,rompre eux-mêmes‘ en acceptant de mourir à eux-mêmes et à se ,partager entre eux‘ en action<br />
de grâce au Père [...], condition indispensable pour que, dans l’eucharistie, le peuple de Dieu devienne le<br />
,Corps du Christ‘“; ebd.<br />
110 „C’est ainsi que nous laissons enter en nous la réalité de l’unique sacerdoce du Christ et qu’en Eglise,<br />
nous devenons tout prêtres“; a.a.O., S. 10 (African Cry, S. 1f).<br />
111 Nicht ohne Ironie stellt Jean-Marc Ela in Ma foi d’Africain, S. 86 die Frage: „Ist nun das Mahl des Herrn<br />
ein konjunkturelles Zugeständnis der römischen Obrigkeit oder das Geschenk Gottes an sein Volk?“<br />
(Mein Glaube als Afrikaner, S. 74). Er fordert, daß weder der Zölibat noch die Restriktionen eines klerikalen<br />
Modells jegliche eucharistische Praxis verhindern dürfen. Deshalb müsse es darum gehen, „neue<br />
Formen des kirchlichen Lebens zu entwickeln (inventer), ohne diese morbide Notwendigkeit ausländischen<br />
Personals“ (Mein Glaube als Afrikaner, S. 74). <strong>Das</strong> institutionelle Priestertum in seinen klassischen<br />
Formen ist jedoch keine Lösung: „Tatsächlich ist das größte Problem für uns nicht, mehr ordinier-
4 Die biblisch-theologischen Grundlagen der théologie sous l’arbre 181<br />
In <strong>einem</strong> jüngeren Interview spricht Jean-Marc Ela bzgl. der Eucharistie von einer<br />
„wahren Hungersnot“ und betont als deren Ursache die klerikale Struktur der Kirche:<br />
[...] a purely clerical structure of ministries and a monolithic system of their exercise<br />
currently condemns the greater part of the communities that are being<br />
created to a veritable famine. This, because it is not permitted that the person<br />
who presides over the Sunday meeting focused on the Word of God should also<br />
preside over the Eucharist. 112<br />
Sollen die örtlichen Gemeinschaften fähig werden, sich aus der Abhängigkeit zu befreien,<br />
in die sie ein für ihre Situation völlig inadäquates klerikales System 113 geführt<br />
hat, dann bedarf es einer radikalen Revision der gegenwärtigen Praktiken und Konzeptionen.<br />
Ein entsprechendes Modell muß von der Basis her (à partir de la base) neu<br />
erfunden (été réinventé) werden.<br />
Die Privilegierung des klerikalen Modells der Eucharistie ist jedoch nicht die einzige<br />
Ursache, die im Zusammenhang mit diesem Sakrament zur Abhängigkeit führt; auch<br />
der eucharistische Ritus selbst trägt zur Abhängigkeit bzw. zur Entfremdung bei, insofern<br />
in allen christlichen Gemeinschaften in Afrika ausschließlich der römische Ritus<br />
anerkannt ist. Jean-Marc Ela erklärt dies so:<br />
[...] dieser Ritus, den wir befolgen, <strong>wurde</strong> von uns nicht gewählt; er trägt die<br />
Merkmale einer Kultur, die nicht die unsere ist; er <strong>wurde</strong> nicht entwickelt als<br />
eine Funktion unserer Personalität und des Genius unseres Volkes. In dieser<br />
Hinsicht ist die Eucharistie im Leben der Kirche der Ort unserer täglichen Entfremdung.<br />
114<br />
Im folgenden erläutert Jean-Marc Ela diese Feststellung im einzelnen, insbesondere die<br />
These, daß die Eucharistie, im ursprünglichen Sinn als Zeichen des Heils gedacht, im<br />
afrikanischen Kontext zu <strong>einem</strong> Instrument der Entfremdung geworden ist. Seine Anate<br />
Priester zu haben. Es geht vielmehr darum, jede Kirche in den Stand des Dienstes (état de service) zu<br />
versetzen, insofern jeder Christ der Diakon seines Bruders ist, nach dem Vorbild Christi, des Dieners<br />
Gottes und der Menschen. Letztlich geht es weniger darum, Männer zum Diakonat oder zum Priesteramt<br />
zu odinieren, als die den christlichen Laien eigene innere diakonische und priesterliche Veranlagung<br />
auszuschöpfen (exploiter les virtualités diaconales et sacerdotales du laïcat chrétien)“; Mein<br />
Glaube als Afrikaner, S. 78 (Ma foi d’Africain, S. 90).<br />
112 GIUSEPPE CAVALLINI, The Synod, a step towards the Council. „Nigrizia“ interviews Jean-Marc Ela, Idoc<br />
Internationale 1 (1994), 20-24, S. 20; vgl. Le Cri de l’homme Africain, S. 11 (African Cry, S. 3).<br />
113 <strong>Das</strong> Problem des klerikalen Systems und die Blockierungen, denen die Gemeinden ausgesetzt sind, wenn<br />
dar<strong>auf</strong> insistiert wird, die Frage der Ämter „von oben“ her zu „lösen“, behandelt Jean-Marc Ela ausführlich<br />
in Kap. 4 (L’avenir des communautés locales) von Ma foi d’Africain (S: 81-91). Er tritt dafür<br />
ein, daß eine Reflexion über die Ämter von der Situation und den Bedürfnissen der Gemeinden ausgehen<br />
muß, und daß insbesondere die Laien an dieser Reflexion beteiligt werden müssen. Unmißverständlich<br />
fordert er ein Ende der „klerikalen Alleinherrschaft“ bzw. des „klerikalen Imperialismus“. <strong>Das</strong> Ziel<br />
sind eigenständige, autonome Gemeinden, was unzweifelhaft enorme Dezentralisierungsbemühungen<br />
erfordert, aber „wenn man den Glauben in einer Kultur wirklich zum Ausdruck bringen will, dann<br />
muß man die Entscheidungszentren in den örtlichen Ortsgemeinden verwurzeln“ (Mein Glaube als<br />
Afrikaner, S. 75).<br />
114 „Or il faut rappeler que ce rite, que nous suivons, n’a pas été choisie par nous; il porte la marque d’une<br />
culture qui n’est pas la nôtre; il n’a pas été élaboré en fonction de notre personnalité et du génie de<br />
notre peuple. A ce niveau, l’eucharistie est dans la vie de l’Eglise le lieu de notre aliénation quotidienne“;<br />
Le Cri de l’homme Africain, S.12 (African Cry, S. 3f).
4 Die biblisch-theologischen Grundlagen der théologie sous l’arbre 182<br />
lyse konzentriert sich dabei <strong>auf</strong> den Gebrauch europäischer Produkte als eucharistische<br />
Materie: Scheinbar ein banales Problem, doch seine Brisanz wird sofort deutlich, sobald<br />
es im Kontext einer Zivilisation betrachtet wird, für die das Essen bzw. das Mahl<br />
(repas) ein menschliches und kulturelles Phänomen von entscheidender Bedeutung ist,<br />
sowohl was das soziale als auch was das religiöse Leben betrifft. Dies <strong>auf</strong>grund des<br />
Symbolismus, der mit einzelnen Elementen verbunden ist, aus denen eine Mahlzeit<br />
zusammengestellt wird. 115 In diesem Zusammenhang stellt sich für Jean-Marc Ela die<br />
Frage:<br />
Wie kann man Brot zur „Frucht der Erde und der Arbeit des Menschen“ machen<br />
in <strong>einem</strong> sozio-ökonomischen Kontext, wo der Anbau von Hirse so tiefgreifend<br />
das Leben der Bergbewohner in Nordkamerun prägt, die gelernt haben, ihr felsiges<br />
Land zu domestizieren, um überleben zu können? Warum sollte die Kirche<br />
die Freuden und Leiden der Kirdi ignorieren müssen, um in Solidarität mit<br />
den Bauern in Europa zu leben? 116<br />
Die Kirche ist so sehr mit einer Kultur des Anbaus von Weizen und Weinreben verbunden,<br />
daß sie ChristInnen aus anderen Kulturen als der mediterranen die Verwendung<br />
von einheimischen Nahrungsmitteln bei der Eucharistie nicht erlaubt. Die Kirche<br />
mißt somit den Früchten der afrikanischen Erde und der Arbeit der afrikanischen Menschen<br />
keinerlei Wert bei und zwingt so die afrikanischen Gemeinden zum kostspieligen<br />
Import von Wein und Brot aus dem Ausland. Für abgelegene Gemeinden sind<br />
diese Handelswaren im übrigen nur sehr schwer zu beziehen.<br />
Diese Privilegierung europäischer Arbeit und Produkte - und ganz allgemein: die Privilegierung<br />
europäischer Modelle und europäischer Kultur - bedeutet, daß<br />
die Präsenz der afrikanischen und asiatischen Völker in keinerlei Weise irgendeinen<br />
Einfluß <strong>auf</strong> die kirchlichen Bräuche und die kirchliche Disziplin haben<br />
darf. Diese fehlende Offenheit gegenüber nicht-okzidentalen Realitäten ist besonders<br />
erstaunlich in einer Kirche, welche die „Katholizität“ zu <strong>einem</strong> ihrer<br />
wesentlichen Kennzeichen gemacht hat. 117<br />
<strong>Das</strong>, was sich hinter dieser „Katholizität“ verbirgt, ist in Wirklichkeit die Erhebung<br />
eines partikulären Brauches, der <strong>auf</strong>s engste mit einer bestimmten Weltregion, ihrem<br />
Klima und den Produkten ihres Bodens verbunden ist, zu <strong>einem</strong> universalen, für alle<br />
Menschen und für alle Zeiten verbindlichen Modell. Jean-Marc Ela resümiert:<br />
115 Auf die Bedeutung der Symbolik des Mahls im Kontext der afrikanischen Kultur und ihre Relevanz für<br />
die Feier der Eucharistie in Afrika geht Jean-Marc Ela etwas ausführlicher ein in Mein Glaube als Afrikaner,<br />
S. 65-67.<br />
116 „Comment faire du pain le ,fruit de la terre et du travail des hommes‘ dans une contexte socio-économique<br />
où la culture du mil marque profondément la vie des montagnards du Nord-Cameroun qui ont su<br />
domestiquer leurs rochers pour tenter de survivre? Pourquoi l’Eglise devrait-elle ignorer les joies et les<br />
peines du Kirdi pour vivre en solidarité avec les paysans d’Europe?“; Le Cri de l’homme Africain, S. 12<br />
(African Cry, S. 4).<br />
117 „[...] la présence des peuples africains et asiatiques ne devrait jouer aucun rôle pour diversifier les<br />
usages et la discipline ecclésiastiques. Ce manque d’ouverture aux réalités non occidentales étonne<br />
singulièrement dans une Eglise qui fait de la ,catholicité‘ l’une de ses notes essentielles“; Le Cri de<br />
l’homme Africain, S. 13.
4 Die biblisch-theologischen Grundlagen der théologie sous l’arbre 183<br />
<strong>Das</strong> Dramatische ist, daß - in der Feier der Auferstehung Jesu - die Kirche in ihrer<br />
gegenwärtigen eucharistischen Praxis unsere Entfremdung durch eine Welt<br />
offenbart, die uns ihre Produkte <strong>auf</strong>zwingt, bis hinein in die Liturgie, in der sich<br />
unsere Erlösung aktualisiert. <strong>Das</strong> Christentum mißt den Dingen der Weißen so<br />
viel Wert bei, daß für die gesamte katholische Christenheit keine andere eucharistische<br />
Spezies in Frage kommt als Brot aus Weizen und Wein aus Trauben.<br />
<strong>Das</strong> importierte Brot und der importierte Wein sind nicht nur Lebensmittel, die<br />
zur Zusammensetzung des Menüs eines Europäers gehören, sondern auch kulturelle<br />
Elemente, die eine Bedeutung für ein Volk haben und mit seiner Geschichte<br />
verbunden sind. Von daher müssen wir eingestehen, daß die Kirche uns über<br />
die eucharistische Materie die okzidentale Kultur und ihre Symbolik <strong>auf</strong>zwingt.<br />
Im Fall der Eucharistie liegt somit im Herzen des Glaubens, wie er in Afrika gelebt<br />
wird, die Beherrschung offen zutage, inmitten eines Christentums, das es<br />
ablehnt, sich in die Lebenswirklichkeit unserer Völker zu inkarnieren. 118<br />
Jean-Marc Ela weist ferner dar<strong>auf</strong> hin, daß die Abhängigkeit von der mediterranen<br />
Kultur in <strong>einem</strong> Punkt festgeschrieben wird, der gerade nicht das Dogma tangiert,<br />
sondern nur eine Frage der „Disziplin“ ist. Dadurch, daß hier eine partikuläre Disziplin<br />
<strong>auf</strong>rechterhalten werden soll, wird die Eucharistie bedeutungslos, denn diese ethnozentrische<br />
Interpretation der Eucharistie geht an der Tatsache vorbei, daß das sakramentale<br />
Zeichen seinen Sinn nur von der symbolischen Struktur derjenigen Elemente bezieht,<br />
die zu den Grundnahrungsmitteln der jeweiligen Menschen gehören. Indem die<br />
Symbolik der Eucharistie mit dem kulturellen Universum der europäischen Welt untrennbar<br />
verknüpft ist, das jedoch keinen Bezug zum wirklichen und alltäglichen Leben<br />
der afrikanischen Gemeinschaften hat, entgeht diesen die tatsächliche Bedeutung<br />
der Eucharistie. Dies trifft besonders für jene Menschen zu, die in Savannen- und<br />
Waldgebieten leben und denen die Bedeutung von Brot aus Weizenmehl und Wein aus<br />
Trauben, die diese in der europäischen Kultur haben, nicht zugänglich ist. 119<br />
Für Jean-Marc Ela deutet die herrschende eucharistische Praxis der Kirche dar<strong>auf</strong> hin,<br />
daß ihr die Materialität der Produkte scheinbar wichtiger ist als ihr signifikativer Gehalt:<br />
„Alles geschieht so, als würde die Kirche der Materialität der autorisierten Produkte<br />
ein größeres Gewicht beimessen als der ,Bedeutung‘ derjenigen Elemente, die in<br />
die Feier des Sakramentes der Eucharistie eingehen.“ 120<br />
118 „Le drame, c’est qu’en célébrant la résurrection de Jésus, l’Eglise, dans sa pratique eucharistique actuelle,<br />
révèle notre aliénation par un monde qui nous impose ses produits jusque dans la liturgie où s’actualise<br />
notre rédemption. Le christianisme valorise à ce point les choses des Blancs que le pain de froment et le<br />
vin de la vigne doivent être les seules espèces eucharistiques concevables pour l’ensemble de la<br />
catholicité. Si le pain et le vin importés ne sont pas seulement les éléments nutritifs qui entrent dans la<br />
composition du menu d’un européen mais des éléments culturels qui ont un sens pour un peuple et sont<br />
liés à son histoire, il faut admettre qu’à travers la matière eucharistique, l’Eglise nous impose la culture<br />
occidentale et sa symbolique. Le cas de l’Eucharistie révèle donc la domination au cœur de la foi vécu en<br />
Afrique, au sein d’une christianisme qui se refuse à s’incarner dans l’existence de nos peuples“; ebd.<br />
(African Cry, S. 5).<br />
119 In Ma foi d’Africain, S. 77 spricht Jean-Marc Ela von einer „misère symbolique de la eucharistie“ und<br />
von einer „extraversion de la liturgie eucharistique“.<br />
120 „Tout se passe comme si l’Eglise tenait plus à la matérialité des produits autorisés qu’à la ,signification‘<br />
des éléments qui entrent dans la célébration du sacrement de l’eucharistie“; Le Cri de l’homme Africain,<br />
S. 14 (African Cry, S. 5).
4 Die biblisch-theologischen Grundlagen der théologie sous l’arbre 184<br />
Dies ist zwar noch etwas vorsichtig formuliert, aber genaugenommen besagt dies, daß<br />
die Kirche <strong>auf</strong>grund ihres vorrangigen Interesses für die Materialität der eucharistischen<br />
„Materie“ das Evangelium zugunsten einer partikulären Kultur preisgibt. Insbesondere<br />
Jesu Lehre über den Sabbat - <strong>„Der</strong> Sabbat ist für den Menschen da, nicht der<br />
Mensch für den Sabbat“ (Mk 2, 27) - scheint für sie irrelevant zu sein. 121<br />
Die Universalisierung eines bestimmten Modells der Eucharistie, das nur von regional<br />
begrenzter Relevanz ist - die Erklärung scheinbar so banaler Dinge wie Brot und Wein<br />
zur allgemein verbindlichen eucharistischen Materie -, stellt sich heraus als „ein konkretes<br />
Beispiel dafür, wie sich eine Form des Kolonialismus <strong>auf</strong> subtile Weise im<br />
christlichen Leben einrichtet.“ Jean-Marc Ela kontrastiert das Evangelium mit der<br />
herrschenden Praxis der Kirche:<br />
Während das Evangelium keinen Imperialismus rechtfertigt, entgeht die Kirche<br />
Afrikas der Beherrschung nicht einmal innerhalb der Eucharistie, durch die die<br />
Gläubigen die Befreiung des Menschen in Jesus Christus feiern. Die Kirche<br />
nimmt nur wenig Rücksicht <strong>auf</strong> die Sprache unserer Völker, <strong>auf</strong> ihre (mühevolle)<br />
Arbeit und <strong>auf</strong> ihre Symbole. 122<br />
Jean-Marc Ela legt jedoch Wert dar<strong>auf</strong>, daß diese Beherrschung nicht einfach in einer<br />
„ekklesiozentrischen“ Weise betrachtet werden darf, denn wenn die Kirche sich zu<br />
sehr <strong>auf</strong> ihre internen Probleme und ihre Identität konzentriert, dann läuft sie Gefahr,<br />
zu vergessen, welches die Realität ist, in der Millionen von Menschen ihr Leben fristen<br />
müssen. Es ist dies<br />
die Beherrschung Afrikas durch vielfältige Formen des Weltimperialismus. Eine<br />
abhängige Kirche unter unterdrückten Völkern - dies ist der globale Kontext,<br />
in dem heute das Evangelium neu gelesen werden muß und die neuen Aufgaben<br />
des Christentums in Schwarzafrika zu definieren sind. 123<br />
In diesem Sinne sei in Afrika ein „Bruch mit der nordatlantischen Theologie“ zu beobachten,<br />
und zwar insofern, als die afrikanische Theologie ein Produkt von Befreiungsprojekten ist, die<br />
die Geistesströmungen in der Dritten Welt beherrschen. Jean-Marc Ela weist dar<strong>auf</strong> hin, daß<br />
diese Bewegung innerhalb der Theologie <strong>auf</strong> der EATWOT-Konferenz in Daressalam in Gang<br />
gesetzt worden und <strong>auf</strong> der Konferenz in Accra zu <strong>einem</strong> lebendigen Ausdruck gekommen sei. 124<br />
121 Jean-Marc Ela zitiert in diesem Zusammenhang CHRISTIAN DUQUOC (Théologie de l’Eglise et crise du<br />
ministère, in: Etudes, janvier 1979), der die Konsequenzen der Vernachlässigung der symbolischen Bedeutung<br />
des Mahles durch die Kirche in dieser Schärfe anspricht; vgl. ebd.<br />
122 „Nous sommes devant un exemple concret où une forme de colonialisme s’installe subtilement dans la<br />
vie chrétienne. Bien que l’Evangile n’autorise aucun impérialisme, l’Eglise d’Afrique n’échappe pas à la<br />
domination jusque dans l’eucharistie où le croyants célèbrent la libération de l’homme en Jésus-Christ.<br />
Elle tient peu compte du langage de nos peuples, de leur labeur et de leurs symboles“; Le Cri de l’homme<br />
Africain, S. 15 (African Cry, S. 6).<br />
123 „[...] la domination de l’Afrique par les formes multiples de l’impérialisme mondial. Une Eglise<br />
dépendante parmi les peuples opprimés: tel est le contexte global où il convient aujourd’hui de relire<br />
l’Evangile et de définir les nouvelles tâches du christianisme en Afrique Noire“; ebd.<br />
124 Ebd. (Anm. 3); zu diesen EATWOT-Konferenzen vgl. Herausgefordert durch die Armen (Kap. I u. II).
4 Die biblisch-theologischen Grundlagen der théologie sous l’arbre 185<br />
Die afrikanische Kirche muß also mehr Freiheit e<strong>info</strong>rdern, um die Eucharistie mit<br />
lokalen Produkten feiern zu können, die für die jeweilige Kultur Bedeutung haben. 125<br />
Dies bedeutet für die Kirche, daß sie sich <strong>auf</strong> die konkrete Lebenswirklichkeit der<br />
Menschen in Afrika einlassen und <strong>auf</strong> den Schrei der Unterdrückten hören muß, die<br />
<strong>auf</strong> der Suche nach Freiheit und Gerechtigkeit sind. Im afrikanischen Kontext, in dem<br />
die Menschenrechte mit Füßen getreten werden, kann sich die Kirche nicht mit der<br />
Freiheit zufrieden geben, Gotteshäuser bauen zu dürfen, Katechismusunterricht zu<br />
geben und „Visa für die Ewigkeit“ auszuteilen. Sie muß der Gefahr widerstehen, sich<br />
<strong>auf</strong>grund dieser „Freiheiten“ den herrschenden Systemen anzupassen und erst dann zu<br />
protestieren, wenn diese bedroht sind. Die Notwendigkeit der Verwurzelung der christlichen<br />
Botschaft in der afrikanischen Lebenswirklichkeit verlangt von der Kirche Solidarität<br />
mit den Opfern der ungleichen Entwicklung und die Absage an jeglichen Kompromiß<br />
und an jede Komplizenschaft mit den herrschenden Regimes. 126<br />
Die Eucharistie wird also in <strong>einem</strong> Kontext der Beherrschung, der Abhängigkeit und<br />
der Verletzung der Menschenrechte gefeiert. Dieser Kontext impliziert zugleich eine<br />
Situation, „in der ganze Völker von der Getreidewaffe bedroht und dazu verdammt<br />
sind, vom Import zu leben“. Diesen Aspekt der Eucharistie - die Frage der Ernährung,<br />
die durch ihren Bezug zur „Frucht der Erde und der Arbeit des Menschen“ unmittelbar<br />
mit der Eucharistie verbunden ist - hebt Jean-Marc Ela in Ma foi d’Africain hervor. 127<br />
Er warnt:<br />
Wo immer eucharistische Gemeinschaft gefeiert und nicht gleichzeitig an der<br />
Schaffung von Lebensbedingungen gearbeitet wird, die es dem hungernden<br />
Volk ermöglichen, sich ausreichend zu ernähren, da setzen wir uns in den Kirchen<br />
heute der Gefahr des Atheismus aus. 128<br />
125 In Ma foi d’Africain, S. 77 stellt Jean-Marc Ela die Frage: „Wenn Hirse- und Sorghofeld zur Ehre Gottes<br />
keimen - wann kommt dann der Tag, an dem diese bescheidenen Früchte der Erde Afrikas als eucharistische<br />
Materie dienen dürfen?“ (Mein Glaube als Afrikaner, S. 67). Er betont, daß eine Übersetzung des<br />
Glaubens nicht genüge, vielmehr müsse es zu einer „Übermittlung des gleichen Glaubens durch andersartige<br />
Zeichen“ kommen („transmission de la même foi, à travers des signes différentes“; Ma foi<br />
d’Africain, S. 78).<br />
126 In Ma foi d’Africain, S. 52 betont Jean-Marc Ela mehr den kulturellen und liturgischen Aspekt der Feier<br />
der Eucharistie. Er situiert sie konkret in den Rahmen der afrikanischen Familie, in der u.a. die Ahnen<br />
wichtige Mitglieder sind. Die Verehrung der Ahnen hat dabei eine wichtige gesellschaftliche, kulturelle<br />
und religiöse Bedeutung. Die Familie stellt in diesem Kontext eine Gemeinschaft von Lebenden und Toten<br />
dar. „Eine in diesem Rahmen gefeierte Eucharistie würde das Geheimnis des Glaubens durch Zeichen<br />
ausdrücken, die von dem Ort geprägt sind, an dem sie entstehen. Da wäre es nicht mehr möglich,<br />
vorfabrizierte Gebete zu lesen, da würde man vielmehr die Struktur des afrikanischen Gebetes mit s<strong>einem</strong><br />
eigenen Rhythmus wiederentdecken. Und man könnte auch seine Augen nicht mehr nur <strong>auf</strong> das<br />
Jenseits richten, und unberührt bleiben von den Realitäten hienieden“ (Mein Glaube als Afrikaner, S.<br />
42).<br />
127 „Les chrétiens célèbrent l’Eucharistie dans cette situation où des peuples entiers sont exposés à l’arme<br />
des céréales, condamnés à vivre à partir du bateau. Comment la question alimentaire ne serait-elle pas<br />
ici un question essentielle à la foi? L’Eucharistie est-elle seulement pensable sans le travail paysan qui<br />
permet de relier l’agriculture et la célébration de l’histoire du salut à travers les produits de la terre?“;<br />
Ma foi d’Africain, S. 117.<br />
128 Mein Glaube als Afrikaner, S. 102; „Nous sommes exposés aujourd’hui, dans les Églises, à des risques<br />
d’athéisme chaque fois que la communion eucharistique est célébrée là où l’on ne travaille pas à créer<br />
les conditions permettant aux peuples affamés de se nourrir“ (Ma foi d’Africain, S. 118).
4 Die biblisch-theologischen Grundlagen der théologie sous l’arbre 186<br />
Angesichts der sozialen Probleme, die <strong>auf</strong> allen Ebenen der afrikanischen Gesellschaft<br />
virulent sind, stellen sich für die Kirche gewichtige Fragen, denen sie sich nicht entziehen<br />
kann:<br />
Wie Kirche Christi sein in diesen Ländern, in denen blutige Tyrannen zahllose<br />
Morde und wiederholt die Vernichtung ungefährlicher Menschen, die nichts zu<br />
sagen haben, zelebrieren? Wie zurückkehren zu denjenigen, die ganz unten<br />
sind, die gänzlich enterbt sind, so wie es Christus selbst getan hat, der gekreuzigt<br />
<strong>wurde</strong>, weil er seine Liebe zu den Menschen, seinen Brüdern, bezeugte? In<br />
einer Situation, wo jedweder Bürger jeden Moment inhaftiert und gefoltert werden<br />
kann wegen einer banalen Reflexion oder wegen seiner Meinung - wie sich<br />
distanzieren von den Kräften, die mitschuldig sind an der Ungerechtigkeit, unter<br />
der die waffenlosen Massen <strong>auf</strong> dem Land und in den Slums in Afrika zu leiden<br />
haben? Kurz und bündig: In <strong>einem</strong> Moment, wo die Privilegierten des Systems<br />
ihr Gewissen unterdrücken, um ihre Situation zu schützen - wer wird es wagen,<br />
sich gegen die Mächte der Unterdrückung zu wehren, die Männer, Frauen und<br />
Kinder dazu verdammen, unter grausamen Lebensbedingungen leiden zu müssen<br />
und in den Gefängnissen fast zu verhungern? 129<br />
Angesichts dieser drängenden Fragen muß die Kirche ein neues Selbstverständnis<br />
entwickeln. Es genügt nicht, sich in dieser Situation zufrieden zu geben mit netten<br />
Sonntagsgottesdiensten und scheinbar lebendigen Liturgien, die einheimische Sprachen<br />
oder Musikinstrumente integrieren. Die Kirche<br />
muß es wagen, die christliche Botschaft als eine Herausforderung für die Beherrschung<br />
in Schwarzafrika zu verkündigen. Ebenso ist die Befreiung von der<br />
Unterdrückung der Ort, an dem wir den „evangelischen“ Charakter der Kirche<br />
wiederentdecken müssen: daß sie ein integraler Teil der „Verdammten der Erde“<br />
ist. 130<br />
Die Eucharistie, insofern sie ein „Zeichen des Austausches“ und ein „politischer Gestus“<br />
ist, bedeutet, daß wir uns mit einer Welt der Beherrschung und der Ungerechtigkeit,<br />
in der es kein Teilen gibt, nicht arrangieren können. Dadurch, daß in der Euchari-<br />
129 „Comment être l’Eglise du Christ dans ces pays où des tyrans sanguinaires célèbrent les assassinats<br />
innombrables et les exterminations répétées des populations inoffensives et sans voix? Comment revenir<br />
aux plus humbles, aux plus déshérités, comme le fit le Christ lui-même qui est mort crucifié pour<br />
témoigner son amour aux hommes, ses frères? Dans une situation où n’importe quel citoyen peut<br />
devenir à tout moment prisonnier et être torturé pour une réflexion banale ou pour une opinion,<br />
comment éviter d’être confondu avec les forces complices des injustices subies par les masses désarmées<br />
des campagnes et des bidonvilles d’Afrique? Bref, au moment où les privilégiés du système étouffent<br />
leur conscience pour protéger leur situation, qui osera faire face aux forces d’oppression qui<br />
condamnent des hommes, des femmes et des jeunes à subir des conditions de vie atroces et à mourir<br />
presque de faim dans les prisons?“; Le Cri de l’homme Africain, S. 16 (African Cry, S. 7).<br />
130 „Dans la mesure où il faut oser proclamer le message chrétien comme un défi à la domination en<br />
Afrique Noire, la libération de l’oppression est le lieu où il nous faut redécouvrir le caractère<br />
,évangélique‘ de l’Eglise: celle-ci fait partie intégrante des ,Damnés de la terre‘ “; Le Cri de l’homme<br />
Africain, S. 17 (African Cry, S. 8).
4 Die biblisch-theologischen Grundlagen der théologie sous l’arbre 187<br />
stie die von Gott gewollte Gemeinschaftsbeziehung unter den Menschen gefeiert und<br />
antizipiert wird, ist sie eine radikale Infragestellung aller Unrechtsstrukturen. 131<br />
4.5 Gemeinschaft<br />
„Gemeinschaft“ ist der Dreh- und Angelpunkt von Jean-Marc Elas theologischen - und auch<br />
soziologischen - Reflexionen. Dies hat verschiedene Gründe, biographische, sozio-kulturelle und<br />
theologische: Zuerst einmal ist die dörfliche Gemeinschaft, das „Afrika der Dörfer“, der Kontext,<br />
in dem Jean-Marc Ela jahrelang als Missionar arbeitete, und wo er „die wirklichen Probleme<br />
Afrikas entdeckt“ hat. 132 Sein missionarisches Ziel war es in diesem Zusammenhang jedoch<br />
nicht, ein parochiales Kirchenmodell nach europäischem Muster zu implantieren, sondern die<br />
Leute anzuregen, von ihren eigenen sozio-kulturellen Voraussetzungen und Bedürfnissen her<br />
und in Verbindung mit <strong>einem</strong> eigenen Verständnis des Evangeliums, eigene Formen kirchlicher<br />
Gemeinschaft zu entwickeln - quasi „von unten“. Die so entstehenden Basisgemeinden, die<br />
versuchen, die Probleme, mit denen sie konfrontiert sind, gemeinsam zu bewältigen, ihr Leben in<br />
die eigene Hand zu nehmen und von diesem Kontext her die Bibel mit ihren eigenen - „afrikanischen“<br />
- Augen zu lesen, sind der Ort, an dem ein echtes Glaubensverständnis bzw. ein wirklich<br />
authentisches afrikanisches Christentum entsteht. Hier steht denn auch der Baum, unter dem die<br />
théologie sous l’arbre entstanden ist. 133<br />
<strong>Das</strong> „Afrika der Dörfer“ ist insbesondere durch ein sozio-kulturelles System gekennzeichnet, für<br />
das existieren gleichbedeutend ist mit ko-existieren. In diesem Kontext sind für ein Individuum<br />
Veränderungen, seien sie ökonomischer, sozialer oder kultureller Art, nur akzeptabel, wenn sie<br />
von der ganzen Gruppe mitvollzogen werden. Von daher ist die Dorfgemeinschaft Ausgangsund<br />
Zielpunkt für jegliche Transformation der ländlichen Lebensbedingungen, und insofern auch<br />
für ein befreiendes christliches Engagement. 134<br />
Theologisch sind es in erster Linie zwei Aspekte, die die Bedeutung der Gemeinschaft verdeutlichen.<br />
Zum einen intendiert die Offenbarung des Exodus-Gottes die Entstehung einer „Gemeinschaft<br />
<strong>auf</strong> dem Weg des Exodus“, deren ,Mission‘ es ist, an der Transformation der Welt mitzuarbeiten,<br />
an der Schaffung einer neuen Welt, die <strong>auf</strong> einer „Ökonomie der Solidarität“ begründet<br />
ist. 135 Zum anderen ist es ein wesentlicher Aspekt der Eucharistie - Gedächtnis des Lebens, des<br />
131 Vgl. Ma foi d’Africain, S. 129 (Mein Glaube als Afrikaner, S.113): „L’Eucharistie elle-même, dans la<br />
mesure où on pourrait l’envisager comme un signe d’échange et un geste politique, nous rend<br />
insupportable un monde où il n’y a pas de partage. C’est un appel à remettre radicalement en cause les<br />
structures d’injustice, dans la mesure où l’Eucharistie célèbre et anticipe le rapport de communion<br />
voulu par Dieu, entre les hommes.“<br />
132 Vgl. Poverty and Theologie (S. 16)<br />
133 Vgl. Ma foi d’Africain, S. 33: „Sous l’arbre où chaque communauté se retrouve pour entendre la parole<br />
de Dieu et se demande comment les gens du peuple peuvent devenir les penseurs et les ingénieurs de<br />
leur avenir, se développe une véritable intelligence de la foi à partir des problèmes quotidiens“ (Mein<br />
Glaube als Afrikaner, S. 25).<br />
134 Jean-Marc Ela schreibt im Zusammenhang: „Dans les villages où tant de fils relient les hommes les uns<br />
aux autres, sortir du groupe, c’est à la fois mettre en cause l’équilibre de l’ensemble et compromettre sa<br />
propre sécurité. Dans un système socio-culturel où exister, c’est coexister [Hervorhebung von mir; R.K.-<br />
F.], il n’y a de changement admissible pour l’individu qu’à partir du changement du groupe. C’est<br />
pourquoi le village doit être considéré dans sa totalité comme le point de départ et d’arrivée de toute<br />
problématique de transformation des conditions de vie des paysans d’Afrique“; L’Afrique des villages, S.<br />
188.<br />
135 Vgl. oben S. 169 (Abschnitt 4.2 über Exodus).
4 Die biblisch-theologischen Grundlagen der théologie sous l’arbre 188<br />
Leidens und der Auferstehung Jesu, der den Exodus-Gott verkündigte -, daß sie die von Gott<br />
gewollte Gemeinschaftsbeziehung der Menschen gemeinschaftlich feiert und vorwegnimmt. 136<br />
<strong>Das</strong> Thema der „Gemeinschaft“ hat Jean-Marc Ela an verschiedenen Stellen seiner Publikationen<br />
unter verschiedenen Aspekten expliziert. Ebenso thematisiert er auch unterschiedliche Dimensionen<br />
oder Ebenen von Gemeinschaft (z.B. katholische Kirche als ganze, Ortskirchen,<br />
Gemeinschaft mit Gott, ...). Sein Fokus und sein vorrangiges Interesse liegt jedoch unverkennbar<br />
<strong>auf</strong> den kleinen christlichen Basisgemeinschaften in Afrika. Seine Reflexionen gehen aus von<br />
seiner eigenen Arbeit und seinen eigenen Erfahrungen im Norden Kameruns. Eine abstrakttheoretische<br />
Auseinandersetzung mit dem Thema findet dagegen nicht statt, ebensowenig wie<br />
eine systematische Darstellung seiner Vorstellungen und Gedanken.<br />
Folgende Texte bzw. Abschnitte verweisen bereits mit ihrer Überschrift <strong>auf</strong> einen Aspekt bzw.<br />
eine Dimension von Gemeinschaft:<br />
• Aus Ma foi d’Africain: Le sacrement de la communauté (27-31) 137 ; Vivre en Christ la<br />
relation aux défunts (41-48) 138 ; Pour une relation vivante de l’homme à Dieu (72-78) 139 ; Un<br />
problème de communion (87-91) 140 .<br />
• Aus Voici le temps des héritiers: Les communautés de base dans les Églises africaines (161-<br />
183) 141 .<br />
<strong>Das</strong> Thema der Gemeinschaft ist jedoch keineswegs <strong>auf</strong> diese Texte beschränkt. Auch an anderen<br />
Stellen wird dieses Thema des öfteren angeschnitten, abgesehen davon, daß der Bezug zur<br />
Gemeinschaft (im Sinne von christlichen Basisgemeinschaften) bei allen Reflexionen von Jean-<br />
Marc Ela im Hintergrund steht - Gemeinschaft ist quasi der Boden, <strong>auf</strong> dem seine Reflexionen<br />
erwachsen und wor<strong>auf</strong> sie wiederum ausgerichtet sind. Die Schlüsselrolle, welche die Basisgemeinden<br />
für Jean-Marc Elas Reflexionen innehaben, rechtfertigt es, seinen letztgenannten Artikel<br />
über die Basisgemeinden in den afrikanischen Kirchen als Grundlage für die Darstellung der<br />
Bedeutung von Gemeinschaft für seine Theologie heranzuziehen.<br />
Im ersten Teil des genannten Artikels gibt Jean-Marc Ela einen Überblick über in ganz<br />
Afrika anzutreffende Experimente an der Basis. In diesen Experimenten drückt sich<br />
der Wunsch vieler afrikanischer ChristInnen aus, „den christlichen Glauben in Zellen<br />
menschlichen Zuschnitts zu leben“ 142 , also in kleinen Gruppen, die von ihrer Größe her<br />
tatsächlich das Entstehen von Gemeinschaft erlauben. Die so entstehenden christlichen<br />
Basisgemeinschaften sind Hoffnungsträger vieler ChristInnen in Afrika. Sie sind kein<br />
neues Kirchenmodell, das von der Hierarchie verordnet wäre, sondern beruhen <strong>auf</strong> der<br />
Initiative von ChristInnen <strong>auf</strong> der „Graswurzelebene“. Gleichwohl hat sich der afrikanische<br />
Klerus, angefangen mit den Bischöfen von Zaire, seit den siebziger Jahren die<br />
Option der Förderung kleiner Gemeinschaften zu eigen gemacht. Inzwischen entwik-<br />
136 Vgl. oben S. 186 (Abschnitt 4.4 über Eucharistie).<br />
137 <strong>Das</strong> Sakrament der Gemeinschaft (Mein Glaube als Afrikaner, 19-23).<br />
138 Die Beziehungen zu den Verstorbenen in Christus leben (Mein Glaube als Afrikaner, 31-38).<br />
139 Für eine lebendige Beziehung des Menschen zu Gott (Mein Glaube als Afrikaner, 61-67).<br />
140 Ein Problem der Gemeinschaft (Mein Glaube als Afrikaner, 75-79).<br />
141 JEAN-MARC ELA, Les communautés de base dans les Églises africaines, in: Voici le temps des héritiers,<br />
1981, 161-183. Diesen Text hat Jean-Marc Ela teilweise und in überarbeiteter Form an verschiedenen<br />
Stellen von Ma foi d’Africain wieder <strong>auf</strong>genommen, v.a. jedoch im Abschnitt „Le sacrement de la communauté“<br />
(27-31) („<strong>Das</strong> Sakrament der Gemeinschaft“; Mein Glaube als Afrikaner, 19-23).<br />
142 „[...] le désir de vivre la foi chrétienne en cellules à taille humaine“; a.a.O., S. 162.
4 Die biblisch-theologischen Grundlagen der théologie sous l’arbre 189<br />
kelt sich der Wunsch, kleine Gemeinschaften zu bilden, zu „<strong>einem</strong> wahren Leitmotiv<br />
der meisten Kirchen Afrikas“ 143 .<br />
Diesem Perspektivenwechsel innerhalb der afrikanischen Kirchen liegen soziologische<br />
Faktoren zugrunde. Die Pfarrgemeinden, Zentrum des vom Norden übernommenen<br />
Kirchenmodells, sind zu groß, als daß sie wirkliche Gemeinschaften darstellen könnten.<br />
Zwar haben auch die Missionare schon früh ihre Missionen in kleine Einheiten<br />
<strong>auf</strong>geteilt, aber es war nicht ihr Interesse, einen Gemeinschaftsgeist (esprit communautaire)<br />
zu fördern. Es ging dabei allein darum, die Arbeit des Priesters zu erleichtern, der<br />
als das einzige aktive Subjekt innerhalb des Kirchenkörpers betrachtet <strong>wurde</strong>. Demgegenüber<br />
waren die Katechisten nur ausführende Organe (exécutants) und die Gläubigen<br />
alles in allem bloße EmpfängerInnen von „Wohltaten“ (bénéficiaires). Wo die<br />
Kirche in erster Linie als Institution präsent ist, da ist nicht nur echte Gemeinschaft nur<br />
schwer möglich, da können sich auch die Energien, die der Geist im Leben der Get<strong>auf</strong>ten<br />
weckt, kaum frei entfalten. Jean-Marc Ela stellt fest:<br />
Die gesamte pastorale Praxis der ersten Jahre der Evangelisierung war gekennzeichnet<br />
durch eine defiziente Ekklesiologie. Dadurch, daß sie - in der ganzen<br />
Christenheit - die Kirche <strong>auf</strong> die Hierarchie und den Klerus reduzierte, hatte sie<br />
zur Folge, daß sich die Laien wie eine „Klientel“ verhielten, wenn nicht gar als<br />
minderwertige Mitglieder. <strong>Das</strong> vorrangige Interesse, das diese Erscheinung <strong>auf</strong>drängt,<br />
ist nicht, Gemeinschaften <strong>auf</strong>zubauen, sondern Individuen zu retten. So<br />
präsentierte sich die Religion in den Augen der Laien wie eine Reihe von Praktiken,<br />
in keiner Weise jedoch als Orientierung für das Leben, welche die gesamte<br />
individuelle und soziale Existenz zu durchdringen hätte. 144<br />
In diesem Kontext ist das Entstehen kleiner Gemeinschaften Zeichen einer pastoralen<br />
Erneuerung. Diese bewegt sich im Rahmen der ekklesiologischen Beiträge des Zweiten<br />
Vatikanischen Konzils, für das die Kirche eine Gemeinschaft ist, in der alle ihre Mitglieder<br />
<strong>auf</strong>grund der verschiedenen Gaben und Ämter, die der Geist unter ihnen hervorbringt,<br />
eine unersetzliche Rolle innehaben (Lumen Gentium). Jean-Marc Ela weist<br />
dar<strong>auf</strong> hin, daß die Veränderungen, die sich in den afrikanischen Kirchen vollziehen,<br />
daran erinnern, daß das Verständnis des Glaubens und des Evangeliums keine statische<br />
Größe ist, sondern angesichts der je neuen Herausforderungen stets vor die Aufgabe<br />
einer permanenten Erneuerung gestellt ist:<br />
Die gegenwärtigen Veränderungen in den afrikanischen Kirchen erinnern daran,<br />
daß die Mission ein ständiges Durchdenken des Glaubens und des Evangeliums<br />
erfordert: Wir sind in jedem Augenblick in Frage gestellt, mit unseren Mentalitäten,<br />
unserem Verhalten und unseren Einstellungen, mit unseren Praktiken und<br />
143 „[...] un véritable leit-motiv de la plupart des Églises d’Afrique“; a.a.O., S. 161.<br />
144 „Toute la pratique pastorale des premières années d’évangélisation a été marquée par une ecclésiologie<br />
déficiente, celle qui, à travers la chrétienté, réduisant l’Église à la hiérarchie et au clergé, faisait que les<br />
laïcs se comportaient comme une ,clientèle‘ sinon en membres inférieurs. La préoccupation qu’impose<br />
cette vision n’est pas de construire des communautés mais de sauver des individus. Et, aux yeux des<br />
laïcs, la religion se présente comme une ,série‘ de pratiques, nullement comme une orientation de vie<br />
devant imprégner le tout de l’existence individuelle et sociale“; a.a.O., S. 165f.
4 Die biblisch-theologischen Grundlagen der théologie sous l’arbre 190<br />
unseren Institutionen. Es gibt keine pastorale Erneuerung, wenn man sich nicht<br />
durch die heutigen Forderungen des Evangeliums in Frage stellen läßt. 145<br />
Angesichts dessen, daß die katholische Kirche bis heute in riesigen Einrichtungen<br />
residiert und von ihrer Basis - den „Gemeinschaften in einer humanen Größe“ - abgeschnitten<br />
war, konstatiert Jean-Marc Ela die Präsenz einer Art „kopernikanischer Revolution“:<br />
Wir finden zurück zur Quelle einer jeden Form von Kirche: da, wo sich zwei<br />
oder drei im Namen Jesu zusammenfinden. <strong>Das</strong>, was den gegenwärtigen ekklesiologischen<br />
Zeitpunkt kennzeichnet, ist die Bewußtwerdung darüber, daß die<br />
Kirche an der Basis entsteht, aus einer „Volksbewegung“ [...]. 146<br />
In den folgenden Teilen des Textes geht Jean-Marc Ela explizit von seinen Erfahrungen<br />
als Missionar in Nordkamerun aus. Gleich einleitend weist er dar<strong>auf</strong> hin, daß in<br />
einer Siedlung wie Tokombéré, das im strengen Sinn des Wortes kein „Dorf“ ist, sondern<br />
eine weiträumige, über viele Hügel verstreute Ansiedlung von Haus- und Hofanlagen,<br />
die Menschen in erster Linie durch die Integration in eine Wohnviertel-<br />
Gemeinschaft (l’intégration à une communauté de quartier) Zugang zum christlichen<br />
Leben haben. Für die Menschen, die hier leben, so Jean-Marc Ela, ist „gemeinsames<br />
Leben“ (être ensemble) Charakteristikum eines dem Evangelium gemäßen Lebens 147 .<br />
In diesem Kontext ist „das Sakrament der Gemeinschaft“ Ausgangspunkt einer „neuen<br />
Logik der Existenz“, einer neuen Lebensweise 148 : „Was zuerst zählt, ist, die Beziehung<br />
zu einer Gemeinschaft zu leben.“ 149 Von daher lehnte Jean-Marc Ela „die falsche Sicherheit<br />
desjenigen, der sich im Haus eines anderen niederläßt“, ab. Er erkannte, daß es<br />
unabdingbar ist, stets offen zu sein für „das Säuseln des Geistes, der zur Kirche spricht<br />
durch den Kontext des Kirdi-Gebirges“ 150 .<br />
Dies bedeutete für den Missionar, sich ganz und gar <strong>auf</strong> die Menschen und ihren Kontext<br />
einzulassen, anstatt einfach ein vorgefertigtes Kirchenmodell zu implantieren.<br />
Seine Rolle verstand Jean-Marc Ela als die eines Menschen, der fähig ist, Gemeinschaft<br />
zu stiften durch seinen Lebensstil. Denn das Wesentliche ist nicht die Institution<br />
Kirche, sondern „daß das Evangelium ein Ort der Begegnung, der geschwisterlichen<br />
145 „Les mutations en cours dans les Églises d’Afrique rappellent que la mission exige un approfondissement<br />
perpétuel de la foi et de l’Évangile: nous sommes remis en question, à tout moment, avec nos mentalités,<br />
nos comportements et nos attitudes, nos pratiques et nos institutions. Il n’y a de renouveau pastoral que<br />
si l’on se laisse mettre en cause par les appels de l’Évangile aujourd’hui“; a.a.O., S. 166.<br />
146 „Nous retrouvons la source de toute forme d’Église, celle où deux ou trois se retrouvent au nom de Jésus.<br />
Ce qui caractérise le moment ecclésiologique actuel, c’est la prise de conscience que l’Église naît de la<br />
base, d’,un mouvement populaire‘ [...]“; a.a.O., S. 167.<br />
147 „[...] ,être ensemble‘ est une caractéristique de la vie selon l’Évangile“; ebd. Auf S. 172 heißt es:<br />
„l’Évangile est un appel à vivre ensemble“ („das Evangelium ist ein Aufruf zu <strong>einem</strong> gemeinsamen Leben“)<br />
148 „[...] le sacrement de la communauté est le point de départ d’une nouvelle logique de l’exigence“; ebd.<br />
149 „Ce qui compte d’abord, c’est de vivre la relation à une communauté“; ebd.<br />
150 „[...] les murmures de l’Esprit qui parle à l’Église par le contexte de la montagne kirdi“; a.a.O., S. 168.
4 Die biblisch-theologischen Grundlagen der théologie sous l’arbre 191<br />
Gemeinschaft, des Teilens und der Versammlung der Menschen jenseits der Differenzen<br />
und Konflikte wird.“ 151<br />
Außerdem ist, innerhalb der vorherrschenden kirchlichen Strukturen, die Gemeinschaft<br />
das einzige Sakrament, an dem die Menschen, die das Wort Gottes entdeckt haben,<br />
immer partizipieren können 152 - was bzgl. T<strong>auf</strong>e und Eucharistie <strong>auf</strong>grund der klerikalen<br />
Struktur der Kirche nicht möglich ist. 153 Deshalb ist es für Jean-Marc Ela ein Grund<br />
zur Freude,<br />
wenn Evangeliums-Gemeinschaften entstehen, wo Männer und Frauen ihr Leben<br />
in die Hand nehmen, ihre Erfahrungen austauschen und gemeinsam die Initiative<br />
ergreifen, um die Zukunft zu gestalten. [...] Denn es stellt sich heraus,<br />
daß sie der Ort sind, an dem eine Lektüre der Bibel stattfindet und sich neue Liturgien<br />
entwickeln. 154<br />
In dieser Perspektive bedeutet Mission nicht mehr, den Menschen beizubringen, „was<br />
ich über Gott und sein Wort denke“, sondern ihnen zu ermöglichen, daß sie „Gott <strong>auf</strong><br />
ihre Weise begegnen“ und über ihn „mit eigenen Worten reden“ können, daß sie „ihren<br />
eigenen Weg zu Gott finden“. Genau dies ist es, was in den kleinen Gemeinschaften<br />
geschieht. 155<br />
Im übrigen bedeutet in einer oralen Kultur Lernen eben nicht, etwas passiv zu rezipieren,<br />
sondern dahin zu kommen, es mit neuen, eigenen Worten sagen zu können, es sich<br />
zu eigen zu machen in seiner eigenen Sprache und in s<strong>einem</strong> eigenen Stil. Lernen geschieht<br />
hier durch Austausch und Konversation - wie überhaupt das gesamte afrikanische<br />
Denken ein eher dialogisches ist 156 . Die bevorzugte Zeit hierfür sind die Abend-<br />
151 „[...] l’essentiel [...] c’est que l’évangile devienne un lieu de rencontre, de communion fraternelle, de<br />
partage, et de rassemblement des hommes au-delà des différences et des affrontements“; a.a.O., S. 169.<br />
152 In Ma foi d’Africain, S. 28 fügt Jean-Marc Ela hinzu, daß die Gemeinschaft außerdem der Ort ist, an<br />
dem „ils sont appelés à vivre les valeurs du Royaume“ („sie sind <strong>auf</strong>gerufen, die Werte des Reiches Gottes<br />
zu (er)leben“; Mein Glaube als Afrikaner, S. 20).<br />
153 Vgl. oben, S. 180 (Abschnitt 4.4 über Eucharistie).<br />
154 „Nous nous réjouissons lorsque naissent les communautés d’Évangile où les hommes et les femmes<br />
prennent leur vie en main, mettent en commun leurs expériences et leurs initiatives pour construire<br />
l’avenir. [...] Car, elles apparaissent comme le lieu où une lecture de la Bible se cherche et où des<br />
liturgies s’inventent“; Voici le temps des héritiers, S. 169.<br />
155 Dies ist natürlich primär im Hinblick <strong>auf</strong> die traditionelle Mission zu verstehen. Ich denke aber, daß<br />
Jean-Marc Ela dabei auch seine Kollegen innerhalb der afrikanischen Theologie im Blick hat, insofern<br />
diese den Menschen etwas vermitteln wollen, was sie für diese entwickelt haben - und mag dies noch so<br />
sehr einen afrikanischen ,Stallgeruch‘ haben -, anstatt diese Menschen selbst zu befähigen, ihre eigene<br />
Theologie zu entwickeln. Vgl. dazu CÉCÉ KOLIÉ, Jésus Guérisseur?, a.a.O., S. 137: Der Erfolg der Evangelisierung<br />
der afrikanischen Völker wird „von der Fähigkeit der Theologie abhängen, diesen Menschen<br />
zu helfen, sich <strong>auf</strong>zurichten und zu sich selbst zu finden. Wir müssen dar<strong>auf</strong> hinwirken, daß diejenigen,<br />
die Jesus bei sich <strong>auf</strong>genommen haben, ihm auch von sich aus einen Namen geben. Dann wird dieser<br />
Jesus für sie wirklich der Heiler, der große Initiationsmeister, der Ahne par excellence oder der<br />
Häuptling der Häuptlinge, und zwar nicht, weil ich als Theologe ihn als solchen erklärt habe, sondern<br />
weil er Heilungen bewirkt, Initiationen vermittelt und einen freien Menschen hat erstehen lassen. Seine<br />
Anhänger werden an ihn glauben, nicht <strong>auf</strong> meine Aussagen hin, sondern weil sie selbst ihn gesehen<br />
und gehört haben, weil sie die Befreiung, die er bringt, und den Exodus, den er bewirkt, erfahren haben.“<br />
Dies ist - so denke ich - auch im Sinn von Jean-Marc Ela, der in den Basisgemeinden den Ort par<br />
excellence sieht, an dem eine wirklich authentische afrikanische Theologie entsteht.<br />
156 Jean-Marc Ela spricht von „une pensée orale et dialoguée“ („ein orales/mündliches und dialogisches<br />
Denken“) bzw. von „une pensée en spirale qui progresse par approfondissement, et non, de manière li-
4 Die biblisch-theologischen Grundlagen der théologie sous l’arbre 192<br />
stunden im Dorf. Wie Jean-Marc Ela bei den Kirdi herausgefunden hat, ist für das<br />
„ancestrale Afrika“ die „Nacht“<br />
nicht nur der Moment, wo die Mächte des Unsichtbaren im Universum am<br />
Werk sind, sondern auch die Zeit der Kommunikation und des Mysteriums, wo<br />
das Wort und das Schweigen eine wesentliche Rolle spielen. Es ist der Augenblick,<br />
wo man den wesentlichen Problemen des Lebens des Dorfes und des<br />
Stadtviertels begegnet. 157<br />
In den kleinen Gemeinschaften geschieht Katechese nicht mehr <strong>auf</strong> traditionelle Weise<br />
als Reproduktion von bestimmten Doktrinen, sondern „es sind die Gläubigen, die der<br />
Botschaft Jesu von den Realitäten ihres Milieus her begegnen und denen sie Rechnung<br />
tragen bei ihrer Antwort <strong>auf</strong> die Forderungen des Evangeliums.“ 158 Hier sind alle Mitglieder<br />
einer Gruppe gleichermaßen verantwortlich gegenüber dem Wort Gottes:<br />
Insofern die Basisgemeinschaft die grundlegende Garantie für die Fortsetzung<br />
der Vermittlung des Evangeliums ist, ist die Katechese nicht mehr ausschließlich<br />
die Arbeit von „Spezialisten“ - ausgehend vom Leben einer Gemeinschaft<br />
wird sie zur Betätigung aller. Außerdem beschränkt sie sich nicht mehr <strong>auf</strong> einen<br />
Kursus in Religion, <strong>auf</strong> die Vorbereitung <strong>auf</strong> die T<strong>auf</strong>e oder die Firmung<br />
[...]; sie muß nicht mehr notwendigerweise an <strong>einem</strong> religiösen Ort stattfinden,<br />
sondern kann dies überall da, wo sich zwei oder drei begegnen und unterhalten<br />
können [...]. 159<br />
In den Basisgemeinschaften, wo jede und jeder die Möglichkeit hat, sein bzw. ihr Verständnis<br />
des Glaubens und des Evangeliums in eigenen Worten und Formen auszudrücken,<br />
entsteht eine neue Sprache des Evangeliums, die tatsächlich von den Menschen<br />
selbst kommt:<br />
Hier entwickeln die Leute ihre Art und Weise, die Gleichnisse zu erzählen, ausgehend<br />
von dem Stoff, den sie aus ihrem Milieu und ihrer Kultur beziehen. Die<br />
Gemeinschaft ist der Ort par excellence, an dem die Christen die nie vollendete<br />
Aufgabe übernehmen, <strong>auf</strong> kreative Weise die Erzählungen des Evangeliums neu<br />
<strong>auf</strong>zunehmen, um von ihrem Glauben an Jesus zu erzählen. 160<br />
néaire et discursive“ („ein spiralförmiges Denken, das durch Vertiefung voranschreitet und nicht <strong>auf</strong><br />
lineare und diskursive Weise“); Voici le temps des héritiers, S. 168.<br />
157 „Au Nord-Cameroun, parmi les montagnards Kirdi, nous avons redécouvert ce qu’est la ,Nuit‘ pour<br />
l’Afrique ancestrale: non seulement le moment où les forces de l’invisible sont à l’œuvre dans l’univers,<br />
mais aussi le temps de la communication et du mystère où la parole et le silence jouent un rôle essentiel.<br />
C’est le moment où l’on retrouve les problèmes essentiels de la vie du village et du quartier“; a.a.O., S.<br />
171.<br />
158 „[...] ce sont les fidèles qui retrouvent le message de Jésus à partir des réalités de leur milieu, compte<br />
tenu de leur réponse aux appels évangéliques“; a.a.O., S. 172.<br />
159 „Si la communauté de base est la garantie fondamentale de la continuation de la transmission de<br />
l’Évangile, c’est dans la mesure où la catéchèse n’est plus exclusivement le travail de ,spécialistes‘: à<br />
partir de la vie d’une communauté, elle devient une occupation pour chacun. Bien plus, elle n’est plus<br />
limitée à un cours de religion, à la préparation au baptême ou la confirmation [...]; il n’est plus<br />
nécessaire d’être dans un lieu de culte, mais partout où deux ou trois peuvent se rencontrer et se parler<br />
[...]“; a.a.O., S. 173.<br />
160 „Il arrive que les gens inventent leur manière de raconter les paraboles à partir des matériaux tirés de<br />
leur milieu et de leur culture. La communauté est le lieu par excellence où les chrétiens assument la
4 Die biblisch-theologischen Grundlagen der théologie sous l’arbre 193<br />
Auf diese Weise geschieht eine echte „Afrikanisierung“ der Sprache des Glaubens: „So<br />
schickt sich Gott an, afrikanisch zu den Afrikanern zu sprechen, mit den Vorstellungen<br />
ihrer Kultur und ihren Mitteln, sich auszudrücken.“ 161 Diese beschränken sich jedoch<br />
nicht nur <strong>auf</strong> verbale Formen. In Afrika, wo die Mehrheit der Menschen die Kunst des<br />
Lesens und Schreibens nicht beherrscht, prägen sich die Menschen die biblischen Geschichten<br />
hauptsächlich durch Lieder und Gesänge ein. So haben auch AnalphabetInnen<br />
einen Zugang zur Bibel - ohne die Vermittlung durch ein Buch: „In einer Kultur,<br />
wo der Sinn für das Fest sehr stark weiterbesteht, finden die Basisgemeinschaften zurück<br />
zu der Stimme der Sänger, die inspiriert sind zum Lob des Herrn im Rhythmus<br />
der Tam-Tams, während eines jeden großen Abschnittes der Feier des Heilsgeheimnisses.“<br />
162 Aber auch ganz alltägliche Tätigkeiten (wie z.B. das Hirsestampfen, ...) werden<br />
vom Singen biblischer Texte begleitet. Jean-Marc Ela stellt fest:<br />
Für die afrikanischen Kirchen ist die beste Art, für die Verbreitung der Bibel zu<br />
sorgen, sich in den Rahmen des alltäglichen Lebens hineinzubegeben; z.B. zur<br />
Zeit der Abendstunden, wenn die Geste, das Lied und der Rhythmus des Körpers<br />
das Memorieren der heiligen Geschichte begünstigen. 163<br />
Im Kontext der christlichen Basisgemeinschaften entstehen auch neue Formen des<br />
Gebetes, während für viele Gemeinden Beten immer noch das Rezitieren auswendig<br />
gelernter Formeln oder Katechismus-Lektionen bedeutet: z.B. das Gebet mit dem ganzen<br />
Körper, durch den Tanz - in Afrika „das privilegierte Ausdrucksmittel des Menschen“<br />
und „der Höhepunkt der Kommunikation zwischen den Menschen“. 164 Jean-<br />
Marc Ela beurteilt diese Initiativen im Bereich der Symbolik der Gesten und der religiösen<br />
Musik als einen Beitrag zur Vitalität des afrikanischen Christentums. 165<br />
In den Basisgruppen verbinden sich also Oralität und Lied, Rhythmus und Gebet im<br />
Ausdruck des Glaubens. Hier nimmt die christliche Gemeinschaft in der Tat ihre Verantwortung<br />
wahr, eine eigene Weise des Betens und Tanzens, des Bekennens und<br />
Bezeugens des Glaubens zu finden. Auf diese Weise geschieht die reale und konkrete<br />
Verwurzelung des Glaubens in der afrikanischen Kultur. 166<br />
tâche inachevée de reprendre de façon créative les récits de l’Évangile pour raconter leur foi en Jésus“;<br />
ebd.<br />
161 „Alors Dieu se met à parler africainement à des Africains, avec les images de leur culture et leurs<br />
ressources d’expression“; a.a.O., S. 174.<br />
162 „Dans une culture où le sens de la fête reste très fort, les communautés de base retrouveraient la voix des<br />
chantres inspirés pour louer le Seigneur, au rythme des tam-tams à chaque grande étape de célébration<br />
du mystère du salut“; a.a.O., S. 175.<br />
163 „La meilleure façon d’assurer la diffusion de la Bible, c’est, pour les Églises africaines, de s’insérer dans<br />
le cadre de la vie quotidienne, au moment des veillées, par exemple, où la parole et le geste, le chant et<br />
le rythme du corps favorisent la mémorisation de l’histoire sainte“; ebd.<br />
164 „En Afrique Noir [...] la danse est l’expression privilégiée de l’homme et marque le point culminant de<br />
communication entre les êtres“, a.a.O., S. 178.<br />
165 „[...] les initiatives dans le domaine de la symbolique gestuelle et de la musique religieuse contribuent à<br />
la vitalité du christianisme africain“; a.a.O., S. 176.<br />
166 In Ma foi d’Africain, S. 28 schreibt Jean-Marc Ela, daß die „communautés d’Évangile [...] constituent le<br />
lieu où la foi s’enracine dans le vécu d’un peuple“ (die „Evangeliums-Gemeinschaften“ „sind der Ort,<br />
an dem sich der Glaube im Leben eines Volkes verwurzelt“; Mein Glaube als Afrikaner, S. 20).
4 Die biblisch-theologischen Grundlagen der théologie sous l’arbre 194<br />
Die kleinen Gemeinschaften sind jedoch nicht nur der Ort einer kulturellen Verwurzelung<br />
des Glaubens bzw. des Evangeliums. In ihnen und durch sie geschieht auch eine<br />
,soziale Verwurzelung‘. Dieser Aspekt der kleinen Gemeinschaften kommt in den<br />
anderen Texten Jean-Marc Elas aus Voici le temps des héritiers 167 und in Ma foi<br />
d’Africain 168 deutlicher zur Sprache. So betont Jean-Marc Ela in Ma foi d’Africain, daß<br />
die<br />
kleinen Gemeinschaften [...] durch ihr Engagement für die Armen und Erniedrigten<br />
beweisen, daß die Erfahrung des Glaubens nicht eingeschränkt wird <strong>auf</strong><br />
eine Gegenüberstellung mit den Initiationsriten, der unsichtbaren Welt, dem<br />
Ahnenkult, der Bedeutung des Opfers, kurz, <strong>auf</strong> alles, was zur Indigenisierung<br />
des Christentums zählt. 169<br />
Jean-Marc Ela spricht in diesem Kontext sogar davon, daß „die Kirche aus den beherrschten<br />
und unterdrückten Klassen neu geboren wird“ 170 , denn es sind die Armen<br />
selbst, die in und durch die Gemeinschaften „zu den Akteuren der Umwandlung ihrer<br />
eigenen Existenzbedingungen werden“:<br />
Hier geschieht die Neuaneignung des Wortes Gottes und die Veränderung der<br />
Strukturen einer mit Gottes Plan nicht zu vereinbarenden Welt durch die historische<br />
Dynamik, in der die vom Evangelium vor radikale Fragen gestellten Armen<br />
selbst zu den Akteuren der Umwandlung ihrer eigenen Lebensbedingungen<br />
werden. [...] Es geht hier um eine entscheidende Glaubenserfahrung, in der die<br />
Solidarität vor allem Sache der Armen ist 171 , die lernen, gemeinsam zu leben, in<br />
<strong>einem</strong> Dorf oder in <strong>einem</strong> Stadtviertel, um ihre Probleme zu lösen, ihr Leben<br />
und ihre Kämpfe miteinander zu teilen, d.h. das, was für sie und ihre tiefsten<br />
Bestrebungen das Wesentliche ist. Was hierbei <strong>auf</strong>fällt, ist der offenkundige<br />
Wille, gemeinsame Sache zu machen, in einer Dynamik, die dar<strong>auf</strong> abzielt, eine<br />
andere Gesellschaft zu schaffen. 172<br />
167 Comment vivre notre foi dans l’Afrique des années 80 (184-211, insbes. der Abschnitt La voix des sansvoix,<br />
203-211); On n’hérite pas de l’avenir: on le crée (229-253, insbes. der Abschnitt Le risque d’être<br />
nous-mêmes, 251-253).<br />
168 Affrontement des cultures et irruption des pauvres (120-123; Mein Glaube als Afrikaner, 104-107);<br />
Une „pastoral du grenier“ (123-128; Mein Glaube als Afrikaner, 107-112); Pour un christianisme<br />
crédible (165-170, insbes. 165f; Mein Glaube als Afrikaner, 145-150).<br />
169 Les „petites communautés [...] prouvent par leur engagement envers les pauvres et les humiliés que<br />
l’expérience de la foi n’est pas enfermée dans une confrontation avec les rites d’initiation, le monde<br />
invisible, le culte des ancêtres, la valeur du sacrifice, bref, tout ce qui rendrait compte de<br />
l’indigénisation du christianisme“; Ma foi d’Africain, S. 121 (Mein Glaube als Afrikaner, S. 105).<br />
170 „[...] l’Église renaît à partir des classes dominées et exploitées“; a.a.O., S. 122 (Mein Glaube als<br />
Afrikaner, S. 106).<br />
171 Vgl. Comment vivre notre foi dans l’Afrique des années 80, a.a.O., S. 209: „Il appartient aux pauvres<br />
eux-mêmes de réaliser leur propre promotion“ („Es ist Sache der Armen selbst, ihr eigenes<br />
Vorwärtskommen zu realisieren“).<br />
172 „Ici, réappropriation de la Parole de Dieu et changement des structures d’une monde incompatible avec<br />
le dessein de Dieu s’opèrent à travers des dynamiques historiques par lesquelles les pauvres, confrontés<br />
par l’Évangile à des interrogations radicales, deviennent les acteurs de transformation de leurs propres<br />
conditions d’existence. [...] Il s’agit d’une expérience décisive de foi, où la solidarité est d’abord l’affaire<br />
des pauvres eux-mêmes, apprenant à être ensemble, dans un village ou un quartier, pour résoudre leurs<br />
propres problèmes, mettre en commun la vie et les luttes, c’est-à-dire ce qui fait l’essentiel d’eux-mêmes<br />
et de leurs aspirations profondes. Ce qui frappe ici, c’est manifestement la volonté de faire cause
4 Die biblisch-theologischen Grundlagen der théologie sous l’arbre 195<br />
Laut Jean-Marc Ela entwickelt sich in diesen Gemeinschaften, die gemeinsame Initiativen<br />
und Projekte entwickeln und ihre konkreten ökonomischen und sozialen Alltagsprobleme<br />
gemeinsam anpacken (die Verwendung von Geld, die Selbstverwaltung von<br />
Medikamenten, Getreidebanken, das Graben von Brunnen ...) „eine Praxis des Evangeliums,<br />
die der afrikanischen Realität näherkommt“ 173 .<br />
Diese Basisgemeinschaften sind so ein Zeichen der Hoffnung „in <strong>einem</strong> Kontext, in<br />
dem das einzige, über das man frei reden kann, der Fußball ist“. Sie „sind echte Instanzen<br />
der freien Rede, und <strong>auf</strong>grund dieser Tatsache vermögen sie die Energien eines<br />
paralysierten Afrikas freizusetzen“. 174 Möglicherweise sind ihre Aktionen und Initiativen<br />
ein echter Ausweg aus den Sackgassen, in denen die meisten afrikanischen Länder<br />
stecken.<br />
In diesen Gemeinschaften treten die wirklichen Schwierigkeiten des heutigen Afrika<br />
klar und deutlich an den Tag: die wachsenden Ungleichheiten, die zunehmende Verschlechterung<br />
der Lebensbedingungen und die sich immer weiter vergrößernde Abhängigkeit<br />
vom Ausland. Jean-Marc Ela präzisiert dies, wenn er sagt, daß in den Basisgemeinschaften<br />
das zum Ausdruck gebracht wird, „was die Leute aus dem Volk zu<br />
<strong>einem</strong> Produktionsmodell sagen, <strong>auf</strong> dessen Basis sich eine Elite herausbildet, die der<br />
Landbevölkerung den Anbau von Exportprodukten <strong>auf</strong>zwingt, und zwar im Namen der<br />
Entwicklung und des Aufbaus einer nationalen Ökonomie.“ 175<br />
Es ist dies der „stumme Diskurs“ der untersten Schichten der afrikanischen Gesellschaften:<br />
In den Dorfgemeinschaften bringt die Analyse der Ursachen des Elends den<br />
stummen Diskurs der am stärksten ausgebeuteten Schichten unserer Gesellschaften<br />
an den Tag. Die Basisgemeinschaften befreien heute diesen Diskurs,<br />
der aus den Dörfern kommt, deren Struktur durch die Exportkulturen zerstört<br />
<strong>wurde</strong>, und die von den Mächtigen mit Hilfe aller ideologischen Apparate - das<br />
Radio, das Fernsehen, da, wo es dieses gibt, die Parteipresse - entvölkert werden;<br />
die Extravertiertheit, Basis und Faktor der Abhängigkeit, mit ihren Folgen<br />
der Ungleichheiten und des Elends - dies ist die Sackgasse, die von unseren<br />
Landbewohnern angeklagt wird, die <strong>auf</strong> Hirse aus sind. 176<br />
commune, dans une dynamique visant à créer une autre société“; Ma foi d’Africain, S. 122 (Mein<br />
Glaube als Afrikaner, S. 106).<br />
173 „Ainsi, une pratique d’Évangile se fait plus proche de la réalité africaine“; ebd.<br />
174 „Les communautés où les gens se retrouvent à partir des conflits socio-économiques qu’ils vivent<br />
concrètement sont de véritables instances de paroles et de ce fait mettent en valeur les énergies d’une<br />
Afrique paralysée“; a.a.O., S. 127 (Mein Glaube als Afrikaner, S. 111).<br />
175 „[...] c’est une parole de gens du peuple sur le modèle de production à partir duquel se constitue une<br />
élite qui impose aux paysans les mêmes produits d’exportation, cette foi-ci au nom du développement et<br />
de la construction d’une économie nationale“; a.a.O., S. 127 (Mein Glaube als Afrikaner, S. 111).<br />
176 „Au sein des communautés des villages, l’analyse des causes de la misère met à jour le discours muet des<br />
couches les plus exploitées de nos sociétés. Les communautés de base libèrent aujourd’hui ce discours<br />
issu des villages déstructurés par les cultures d’exportation et qu’évacuent les pouvoirs avec tous les<br />
appareils idéologiques: la radio, la télévision là où elle existe, la presse du parti; l’extraversion, base et<br />
facteur de la dépendance, avec son cortège d’inégalités, de misères, telle est l’impasse que dénoncent les<br />
paysans en quête de mil“; a.a.O., S. 127f (Mein Glaube als Afrikaner, S. 112).
4 Die biblisch-theologischen Grundlagen der théologie sous l’arbre 196<br />
Der Konflikt, der hier zugrunde liegt, ist in der gesamten Dritten Welt derselbe: „Es ist<br />
ein Konflikt zwischen extravertierter Wirtschaft und sich selbst genügender Versorgung“<br />
177 , wobei die herrschende Entwicklungsideologie die Exportorientierung propagiert,<br />
zum Nachteil der einheimischen Landbevölkerung. Die verheißenen Devisenrückflüsse<br />
kommen nur dem „Club der Reichen“ zugute, während das Volk zum Hungern<br />
verdammt wird.<br />
Durch ihren Kampf für die Transformation der afrikanischen Gesellschaft, für Gerechtigkeit<br />
und Befreiung aktualisieren die Basisgemeinschaften die traditionellen afrikanischen<br />
Werte der Gemeinschaft bzw. den traditionellen afrikanischen Kommunitarismus.<br />
Gleichzeitig trägt ihre Solidarität gegen Armut und Elend die Zeichen des Reiches<br />
Gottes:<br />
In <strong>einem</strong> sozio-historischen Kontext, in dem die kommunitären Traditionen in<br />
der Krise sind, kann der Kampf für Gerechtigkeit die ancestralen Werte der<br />
Gemeinschaft „befreien“. Genau deshalb erübrigt sich die Sorge der Kirche, archaische<br />
Strukturen ausgraben zu müssen, um sie wiederzubeleben; im aktuellen<br />
Kontext der afrikanischen Realität läßt der Kampf gegen die Unterdrückung<br />
- in einer konkreten Praxis - eine Gemeinschaft zu neuem Leben erwachen, die<br />
durch die gegenwärtige Ungerechtigkeit zerstört ist. Kurz, die traditionelle Gemeinschaft<br />
aktualisiert sich ausgehend von <strong>einem</strong> neuen Kontext, in dem sie<br />
sich ausweitet zu einer Geschwisterschaft von Menschen, welche die Zeichen<br />
des Reiches Gottes tragen durch die Erfahrungen der Solidarität gegen die Armut<br />
und das Elend. Solche Gemeinschaften sind vielleicht die Chance der Kirchen<br />
in Afrika. Sie tragen dazu bei, Bedingungen zu schaffen, die den Menschen<br />
befreien und es ihm ermöglichen, sich in Übereinstimmung mit Jesus<br />
Christus zu entfalten. 178<br />
Diese kleinen Gemeinschaften, „in deren Schoß die Christen die Sicherheit des kollektiven<br />
Angenommenseins aller Dimensionen ihres Seins wiederfinden“ 179 und „wo der<br />
177 „Le conflit est celui de l’extraversion et de l’auto-suffisance alimentaire“; a.a.O., S. 127 (Mein Glaube als<br />
Afrikaner, S. 111).<br />
178 „Dans un contexte socio-historique où les traditions communautaires sont en crise, la lutte pour la<br />
justice peut ,libérer‘ les valeurs ancestrales de la communauté. Aussi bien, le souci de l’Église n’est-il<br />
plus d’aller exhumer des structures archaïques pour les revivifier; dans le contexte actuel de la réalité<br />
africaine, la lutte contre l’oppression fait revivre, dans les pratiques concrètes, une communauté qui est<br />
brisée par les injustices actuelles. Bref, la communauté traditionnelle s’actualise à partir d’une contexte<br />
nouveau, où elle s’élargit en une fraternité d’hommes qui posent des signes du Royaume de Dieu à<br />
travers les expériences de solidarité contre la pauvreté et la misère. De telles communautés constituent<br />
peut-être la chance des Églises en Afrique. Elles contribuent à créer les conditions qui libèrent l’homme<br />
et lui permettent de grandir selon Jésus-Christ“; Comment vivre notre foi dans l’Afrique des années 80,<br />
a.a.O., S. 210.<br />
179 „[...] petites communautés au sein desquelles les chrétiens retrouvent la sécurité de la prise en charge<br />
collective de toutes les dimensions de leur être“; Ma foi d’Africain, S. 182 (Mein Glaube als Afrikaner, S.<br />
161). In „Comment vivre notre foi dans l’Afrique des années 80“, a.a.O., S. 201 schreibt Jean-Marc Ela:<br />
„Les communautés de base constituent l’unité sociale à l’intérieur de laquelle existent des relations<br />
personnelles et permanentes entre les individus et qui devient pour eux le point de l’intégration dans la<br />
société globale. C’est à partir de ce point de référence que les fidèles se donnent une nouvelle vision du<br />
monde qui se prolonge dans la pratique quotidienne. [...] L’engagement total dans la vie de la<br />
communauté crée un climat d’échange et de partage. Là, l’homme retrouve de nouvelle racines qui lui<br />
donnent une assurance dans la vie“ („Die Basisgemeinschaften stellen eine soziale Einheit dar, innerhalb<br />
der persönliche und dauerhafte Beziehungen zwischen den Individuen existieren, und die für sie
4 Die biblisch-theologischen Grundlagen der théologie sous l’arbre 197<br />
Glaube die afrikanischen Werte von Gemeinschaft und Solidarität annimmt, um sie mit<br />
ihren konkreten Bedingungen und Folgerungen zu leben“ 180 sind „der privilegierte Ort,<br />
an dem sich die Kirche neu strukturiert“ 181 . Die Relektüre des Evangeliums im konkreten<br />
afrikanischen Kontext und der Geist drängen dazu, die Kirche <strong>auf</strong> der Grundlage<br />
der Basisgemeinschaften neu zu organisieren. 182 Mehr noch: „Die Basisgemeinschaften<br />
sind die Kirche“ 183 .<br />
Für die Kirchen in Afrika kann es also „immer weniger darum gehen, große kirchliche<br />
Komplexe zu errichten“ bzw. „große Scharen von Kirchgängern zu versammeln“; ihr<br />
missionarischer Auftrag im heutigen afrikanischen Kontext besteht vielmehr darin,<br />
Evangeliums-Gemeinschaften ins Leben zu rufen, die untereinander lebendige<br />
Gemeinschaftsbeziehungen unterhalten, und die getragen sind von der Sorge,<br />
die Herausforderung anzunehmen, die die gesellschaftlichen Probleme für die<br />
Glaubenspraxis darstellen - angestoßen durch den Schwung, der die Kirche dazu<br />
bewegt, in Hoffnung das Reich Gottes <strong>auf</strong>zubauen in den Aufgaben der<br />
Transformation der Welt. 184 4.6 Reich Gottes<br />
Und Jesus zog umher in ganz Galiläa,<br />
lehrend in ihren Synagogen,<br />
predigend das Evangelium vom Reich<br />
und heilend alle Krankheiten und alle Gebrechen im Volk. (Mt 4,23)<br />
Dieses Zitat aus dem Matthäusevangelium, das die Verkündigung des Reiches Gottes und Jesu<br />
Praxis als Heiler in einer Linie nennt, veranschaulicht, wie wenig abwegig es ist, wenn Jean-<br />
Marc Ela das Reich Gottes im Zusammenhang mit den Kämpfen für die Gesundheit thematisiert.<br />
Luttes pour la santé de l’homme et Royaume de Dieu dans l’Afrique d’aujourd’hui (Kämpfe für<br />
zum Ort der Integration in die globale Gesellschaft wird. Von diesem Bezugspunkt her entwickeln sie<br />
eine neue Sicht der Welt, die sich in die alltägliche Praxis verlängert. [...] <strong>Das</strong> allumfassende Engagement<br />
im Leben der Gemeinschaft schafft ein Klima des Austausches und des Teilens. Hier finden die<br />
Menschen neue Wurzeln, die ihnen im Leben Zuversicht geben“).<br />
180 „[...] là où la foi assume les valeurs africaines de communion et de solidarité pour les vivre, avec leurs<br />
conditions et leurs implications concrètes“; Ma foi d’Africain, S. 182 (Mein Glaube als Afrikaner, S.<br />
162).<br />
181 Jean-Marc Ela schreibt zusammenhängend: „Les communautés sont le lieu privilégié où l’Église se<br />
restructure dans tous les domaines, où les chrétiens, en des lieux divers, apprennent à se passer des<br />
génies protecteurs et à perdre le goût et l’habitude de la servitude“; On n’hérite pas de l’avenir: on le<br />
crée, a.a.O., S. 252.<br />
182 Ebd. stellt Jean-Marc Ela die rhetorische Frage: „En relisant l’Évangile [...], ne sommes-nous poussés par<br />
l’Esprit à rejeter tout modèle clérical et sacral pour réorganiser l’Église à partir des communautés?“<br />
183 „Les communautés de base sont l’Église“; Comment vivre notre foi dans l’Afrique des années 80, a.a.O.,<br />
S. 201.<br />
184 „Il s’agit de moins et moins de bâtir de grands ensembles ecclésiastiques que de susciter des fraternités<br />
d’Evangile vivant entre elles des rapports de communion, avec le souci de relever le défi que les<br />
problèmes de la société posent à l’engagement de la foi, à partir de l’élan qui pousse l’Eglise, dans<br />
l’espérance, à construire le Royaume de Dieu dans les tâches de transformation du monde“; Le Cri de<br />
l’homme Africain, S. 35 (African Cry, S. 23).
4 Die biblisch-theologischen Grundlagen der théologie sous l’arbre 198<br />
die Gesundheit des Menschen und Reich Gottes im Afrika von heute), so lautet der Titel eines<br />
Textes von Jean-Marc Ela, der 1983 im Bulletin de Théologie Africaine veröffentlicht <strong>wurde</strong> 185<br />
und in dem er <strong>auf</strong> der Grundlage einer sozio-ökonomischen Analyse des medizinischen Systems<br />
in Afrika 186 und im Licht des Glaubens und der Bibel den Kampf für die Gesundheit - verstanden<br />
als ein Kampf, der letztendlich <strong>auf</strong> eine andere, gerechtere Gesellschaft zielen muß - als eine<br />
gravierende Herausforderung für die Kirche in Afrika darstellt. Wie aber sieht Jean-Marc Ela die<br />
Beziehung zwischen dem Kampf für Gesundheit und dem Reich Gottes? Welches Verständnis<br />
von „Reich Gottes“ äußert sich in dieser Verbindung?<br />
Zunächst ist jedoch festzuhalten, daß Jean-Marc Ela das Thema des „Reiches Gottes“ nicht<br />
abstrakt angeht. Auch eine systematisch-theologische Darstellung dieses theologischen locus<br />
suchen wir bei ihm vergeblich. <strong>Das</strong> Reich Gottes erscheint bei ihm explizit im Zusammenhang<br />
seiner Auseinandersetzung mit den Gesundheitsproblemen in Afrika als eine Vorstellung, an der<br />
sich eine Antwort der Kirche <strong>auf</strong> diese Probleme - im Sinne eines gesellschaftspolitischen Engagements<br />
- orientieren muß. Dies wird deutlich, wenn er im Anschluß an seine Analyse des Gesundheitssystems<br />
die Frage stellt, ob „der Bruch mit dem medizinischen System, das eine Elite<br />
begünstigt, <strong>auf</strong> der Linie des Reiches Gottes“ liegt. 187 Um eine Antwort <strong>auf</strong> diese Frage zu finden,<br />
untersucht Jean-Marc Ela die biblische Vorstellung von Krankheit und Sünde.<br />
Bei der Lektüre der Bibel fällt <strong>auf</strong>, daß sich in ihr eine in der Welt des Altertums übliche<br />
und auch zur Zeit Jesu im Judentum verbreitete Auffassung widerspiegelt, „die<br />
eine unmittelbare Verbindung zwischen Sünde und physischen Gebrechen sah“ 188 . <strong>Das</strong><br />
Neue Testament sieht darüber hinaus einen Zusammenhang zwischen Krankheit und<br />
Dämonen: „Jesus heilt die Kranken und vertreibt zugleich die Dämonen, um den Sieg<br />
über die Sünde <strong>auf</strong>zuzeigen“ 189 . Der Dienst der Heilung hat im Rahmen der Mission<br />
Jesu eine zentrale Stellung. Die Heilungen haben die Intention, diejenigen Menschen<br />
und sozialen Gruppen, die aus der Gemeinschaft ausgeschlossen sind, in die Gesellschaft<br />
zu reintegrieren. In dieser Perspektive stellen die Heilungsgeschichten die Ursachen<br />
für diese Ausgrenzung bestimmter sozialer Gruppen vehement in Frage (besonders<br />
das „Gesetz von rein und unrein“). In ihrer ganzen Tragweite sind die Heilungen<br />
Jesu jedoch erst vom Gottesknecht des Jesaja her zu verstehen:<br />
In Jesus, dem Heiler, offenbart sich der Gottesknecht, von dem Jesaja spricht<br />
(Mt 8,16-17; 12,15-21). In anderen Worten, die Lieder vom Gottesknecht sind<br />
der Ort, an dem die Heilungen der Evangelien verständlich werden. Indem er<br />
„im Volk alle Krankheiten und Leiden heilte“ (Mt 4,23), präsentiert sich Jesus<br />
185 JEAN-MARC ELA, Luttes pour la santé de l’homme et Royaume de Dieu dans l’Afrique d’aujourd’hui,<br />
Bulletin de Théologie Africaine 5, Nr. 9 (1983), 65-84 [zitiert als: Luttes pour la santé; zuerst<br />
erschienen in Foi et Développement Nr. 90 (1981) und später in gekürzter Fassung (leider fielen<br />
insbesondere die Reflexionen zum Reich Gottes der Kürzung zum Opfer) <strong>auf</strong>genommen in Ma foi<br />
d’Africain (Kap. 5: La santé des „sans dignité“).<br />
186 Vgl. dazu oben, S. 109-116.<br />
187 „Bref, la rupture avec le système médical qui favorise une élite se situe-t-elle dans la ligne du Royaume<br />
de Dieu [...]?“; Luttes pour la santé, S. 73 (Mein Glaube als Afrikaner, S. 91).<br />
188 „[...] une conception courante dans le monde ancien qui voit le lien entre le péché et les infirmités<br />
physiques“; a.a.O., S. 74 (Mein Glaube als Afrikaner, S. 91). Diese Vorstellung drückt sich deutlich aus<br />
in der Frage der Jünger Jesu angesichts eines Blindgeborenen: „Meister, wer hat gesündigt, dieser oder<br />
seine Eltern, daß er blind geboren ist?“ (Joh 9,1f).<br />
189 „Inséparablement, Jésus guérit les malades et chasse les démons pour marquer la victoire sur le péché“;<br />
ebd. (Mein Glaube als Afrikaner, S. 92). Jean-Marc Ela nennt u.a. Lk 13,32, wo Jesus Herodes mitteilen<br />
läßt: „Siehe, ich treibe Dämonen aus und wirke Heilungen“.
4 Die biblisch-theologischen Grundlagen der théologie sous l’arbre 199<br />
als der neue Moses (Apg 7,37; 3,22; Dt 18,15): als der von den Propheten verkündete<br />
und von den Armen und Unterdrückten erwartete Messias. 190<br />
Die neu entstehenden christlichen Gemeinschaften haben die Heilungsgeschichten aus<br />
der Perspektive der Auferstehung gelesen und interpretiert. Die Aufrichtung der Gelähmten<br />
und Verkrüppelten und die Auferweckung der Toten durch Jesus bedeuten,<br />
daß die Auferstehung - für den Jüngsten Tag erwartet - schon jetzt in dieser Welt möglich<br />
ist. In den von Jesus gewirkten Zeichen wird die Gegenwart des Reiches Gottes in<br />
der Welt sichtbar:<br />
Die durch Jesus vollbrachten Zeichen lassen sich nicht <strong>auf</strong> den Beweis seiner<br />
Göttlichkeit reduzieren [...]. Sie sind als die Gegenwart des Reiches Gottes in<br />
der Welt zu deuten. Sie eröffnen ein neues Zeitalter und erfüllen die messianische<br />
Hoffnung. 191 Jesus ist kein Wundertäter, dessen Macht die Naturgesetze<br />
umstößt, sondern derjenige, der das Heil im Kontext der Geschichte verwurzelt,<br />
und dessen Fülle Gegenstand der Erwartung der Kirche ist. Dort, wo ein<br />
Mensch dem Leben neu geschenkt wird [...], ist das Heil, das „leiblich“ geschenkt<br />
wird. Denn für Jesus bedeutet „heilen“, dem Menschen in der Diesseitigkeit<br />
seines Leibes jene Welt zu offenbaren, wo „nicht mehr sein wird Trauer,<br />
noch Schrei, noch Schmerz“ (Offb 21,4). Mit der Heilung der Kranken befindet<br />
sich Jesus innerhalb der messianischen Tradition, in der der Gerechte die allumfassende<br />
und universale Erlösung erwartet. Er verkündet und antizipiert die<br />
Neuschöpfung des Kosmos; er eröffnet dem Menschen die Aussicht <strong>auf</strong> eine<br />
Zeit, in welcher der Tod besiegt sein wird (1 Kor 15,52-55). 192<br />
Jean-Marc Ela erinnert mit Nachdruck daran, daß die Dimension der „Leiblichkeit“ für<br />
die Bibel von grundlegender Bedeutung ist: „Die wesentliche Botschaft des Evangeliums<br />
ist die Erlösung unseres Leibes (Röm 8,23).“ 193 Die Erlösung des Menschen geschieht<br />
jedoch nicht unabhängig von derjenigen der Welt. Sie umfaßt den ganzen<br />
Kosmos. Dabei ist es ein wesentliches Charakteristikum des christlichen Glaubens, daß<br />
190 „En Jésus guérisseur, c’est le Serviteur dont a parlé Isaïe qui se révèle (Mt 8,16-17; 12,15-21). En<br />
d’autres termes, les chants du Serviteur constituent le lieu d’intelligibilité des guérisons des évangiles. En<br />
,guérissant toute langueur parmi le peuple‘ (Mt 4,23), Jésus se présente comme le Nouveau Moïse (Ac<br />
7,37; 3,22; Dt 18,15), le Messie annoncé par les prophètes et attendu par les pauvres et les opprimés“;<br />
a.a.O., S. 74f (Mein Glaube als Afrikaner, S. 92f).<br />
191 Hier ließe sich Lk 7,22 bzw. Mt 11,5 anführen: „Blinde sehen, Lahme gehen, Aussätzige werden rein,<br />
Taube hören, Tote stehen <strong>auf</strong>, Armen wird das Evangelium verkündigt.“<br />
192 „Les signes accomplis par Jésus ne sauraient se réduire à des preuves de sa divinité [...]. Il faut y lire la<br />
présence du Royaume dans le monde. Ils inaugurent les temps nouveaux et accomplissent l’espérance<br />
messianique. Jésus n’est pas un thaumaturge dont la puissance bouleverse les lois de la nature mais celui<br />
qui enracine dans la trame de l’histoire le salut dont la plénitude est l’objet de l’attente de l’Eglise. Là où<br />
un homme renaît à la vie [...], c’est le salut qui est donné ,corporellement‘. Car, pour Jésus, ,guérir‘, c’est<br />
révéler à l’homme dans l’ici-bas de son corps le monde où ,il n’y aura plus ni deuil, ni cri, ni souffrance‘<br />
(Ap 21, 4). En guérissant les malades, Jésus se situe dans la tradition messianique où le juste attend une<br />
rédemption totale et universelle. Il annonce et anticipe la recréation du cosmos; il ouvre à l’homme la<br />
perspective des temps où la mort sera vaincu (1 Cor 15,52-55)“; a.a.O., S. 75 (Mein Glaube als<br />
Afrikaner, S. 93).<br />
193 „Rappelons-le avec force: le message fondamental de l’Evangile, c’est la rédemption de notre corps (Rm<br />
8,23)“; ebd.
4 Die biblisch-theologischen Grundlagen der théologie sous l’arbre 200<br />
er die Erlösung <strong>auf</strong> die materielle Welt bezieht, <strong>auf</strong> die „Leiblichkeit“, für die insbesondere<br />
die Gesundheit eine wichtige Qualität ist:<br />
Die Gesundheit tritt hier hervor als eine Dimension des Heils, dessen volle<br />
Verwirklichung wir in herrlichen zukünftigen Verhältnissen erwarten. Im strengen<br />
Sinn des Wortes bedeutet „geheilt“ sein, das heißt „vom Übel befreit“ sein:<br />
bereits „gerettet/erlöst“ sein. Der Mensch ist <strong>auf</strong>gerufen, in den durch die heilbringende<br />
Kraft der Auferstehung markierten Status der Schöpfung einzutreten.<br />
194<br />
Die durch das Kommen Jesu eröffnete Nähe des Reiches Gottes wirft ein neues Licht<br />
<strong>auf</strong> die Krankheit. Sie wird nunmehr verstanden aus der Perspektive der „Hoffnung <strong>auf</strong><br />
eine leibliche Neuschöpfung, welche die Elemente, aber auch den einzelnen Menschen<br />
selbst in seiner Beziehung zu den anderen und zu Gott einbezieht“ 195 :<br />
Durch die von Jesus gewirkten Heilungen eröffnet sich die Perspektive einer<br />
Neuschöpfung des gesamten Universums innerhalb der Geschichte, in der der<br />
Mensch lebt. Es ist nicht von der Hand zu weisen: Die Gegenwart des messianischen<br />
Heils wird bezeugt durch die Heilungen, die das Zeichen des Reiches<br />
Gottes in der Aktualität der Geschichte des Menschen sind [...] (Mt 11,3-5). 196<br />
Die Realitäten dieser Welt sind also nicht belanglos im Hinblick <strong>auf</strong> das Reich Gottes.<br />
Die Heilungen - „Zeichen des Reiches Gottes in der Aktualität der Geschichte des<br />
Menschen“ - lassen „die Befreiung des Menschen in Jesus Christus“ 197 in konkreten<br />
Formen erfahrbar werden. Sie veranschaulichen „die befreiende Praxis des Messias der<br />
Armen und Unterdrückten“ 198 . Diese befreiende Praxis charakterisiert die Zeit der<br />
Inkarnation: „Die Inkarnation ist die Zeit Gottes, in der die Befreiung der Gefangenen<br />
die entscheidende Verkündigung des Evangeliums ist (Lk 4,18-19).“ 199<br />
Angesichts der Frage, „wie sich diese Zeit - ausgehend von den Gesundheitsproblemen<br />
- im Heute der afrikanischen Gesellschaft aktualisiert“ 200 , geht es darum, zu wissen,<br />
worin heute der Zusammenhang zwischen Krankheit und Schuld besteht, denn das<br />
„Drama der Sünde“ 201 kann aus unserer Sicht der Situation des Menschen in der Welt<br />
194 „La santé de l’homme apparaît ici comme une dimension du salut dont nous attendons la plénitude de<br />
ses effets dans l’état futur glorieux. En rigueur de termes, être ,guéri‘, c’est-à-dire, être ,délivré du mal‘,<br />
c’est déjà être ,sauvé‘. L’homme est appelé à entrer dans l’état de la création marqué par la puissance<br />
salvifique de la Résurrection“; ebd. (Mein Glaube als Afrikaner, S. 94).<br />
195 „[...] l’espérance d’une re-création corporelle qui engage les éléments mais aussi l’individu lui-même<br />
dans sa relation aux autres et à Dieu“; ebd.<br />
196 „A travers les guérisons opérées par Jésus, s’ouvre la perspective d’une re-création de l’univers tout<br />
entier dans l’histoire où l’homme vit. En définitive, la présence du Salut messianique est attestée par les<br />
guérisons qui sont le signe du Royaume de Dieu dans l’actualité de l’histoire des hommes [...] (Mt 11,3-<br />
5)“; a.a.O., S. 75f (Mein Glaube als Afrikaner, S. 94).<br />
197 „[...] la libération de l’homme en Jésus Christ“; a.a.O., S. 76 (Mein Glaube als Afrikaner, S. 94).<br />
198 „[...] la pratique libératrice du Messie des pauvres et opprimés“; ebd.<br />
199 „L’incarnation est le temps de Dieu où la libération des captifs est l’annonce décisive de l’Evangile (Lc<br />
4,18-19)“; ebd.<br />
200 „Comment ce temps s’actualise-t-il, à partir des problèmes de santé, dans l’aujourd’hui de la société<br />
africaine?“; ebd.<br />
201 „[...] le drame du péché“; ebd. (Mein Glaube als Afrikaner, S. 95).
4 Die biblisch-theologischen Grundlagen der théologie sous l’arbre 201<br />
nicht ausgeklammert werden. Jean-Marc Ela sieht „die Dynamik der sozio-religiösen<br />
Zusammenhänge im Drama von Sünde und Heil“ 202 folgendermaßen:<br />
Die Bibel legt nahe, daß <strong>auf</strong>grund der zwischen dem Individuum und der Gesellschaft<br />
bestehenden Wechselwirkungen das Individuum durch seine Vergehen<br />
die Gemeinschaft gefährdet und die kollektive Sünde sich wiederum durch<br />
Krankheiten im Körper des Individuums auswirkt. 203<br />
Diese Einsicht in die Reziprozität zwischen individueller und kollektiver Sünde und in<br />
deren Auswirkungen verdeutlicht, welche Gefahren verbunden sind mit einer Spiritualisierung<br />
der Sünde bzw. der Gewalt, die uns in den Verhältnissen, in denen wir leben,<br />
angetan wird. Diese Gewalt in die unsichtbare Beziehung zwischen der Seele und Gott<br />
zu verlegen - also ein mythisches Verständnis von Sünde - bedeutet letztendlich ihre<br />
Sakralisierung.<br />
Die Umwelt Jesu identifizierte die Krankheit mit der Beherrschung durch böse Mächte.<br />
Heilung <strong>wurde</strong> dementsprechend als Befreiung von ihrer Macht verstanden. Auch das<br />
Evangelium konstatiert eine besondere Verbindung zwischen Krankheit und Besessenheit.<br />
Für Jean-Marc Ela stellt sich in diesem Zusammenhang die Frage, ob es „da nicht<br />
eine ,Figur‘ des Bösen und der Gewalt gibt, deren geschichtliche und kulturelle Formel<br />
wir in den Widersprüchen unserer Gesellschaft wiederfinden können“ 204 . Wir müssen<br />
daher die Allgegenwart der Sünde in ihren konkreten historischen Dimensionen erfassen:<br />
Aufgerufen, die Hoffnung des Reiches Gottes in den Bedrängnissen dieses Lebens<br />
zu bezeugen, müssen wir das „Nein“ des Menschen gegenüber Gott in den<br />
historischen, sozialen und ökonomischen, politischen und kulturellen Verhältnissen<br />
neu begreifen. Die Strukturen einer mißgestalteten Welt müssen ins Visier<br />
genommen werden, Strukturen, die sich im Widerspruch befinden zum Willen<br />
Gottes hinsichtlich des Menschen und der Welt - <strong>auf</strong>grund der verheerenden<br />
Schäden, die diese bei den einzelnen Menschen und bei Gruppen anrichten. 205<br />
Eine sozio-ökonomische Analyse der Gesundheitsprobleme deckt „die Mechanismen“<br />
<strong>auf</strong>, „die die Menschen im Teufelskreis von Elend und Krankheit gefangenhalten“ 206 .<br />
Dabei stellt sich heraus, daß die Fragen der Ernährung, der Krankheit und der Gesundheit<br />
untrennbar mit dem ökonomischen und sozialen System verbunden sind:<br />
202 „[...] la dynamique des rapports socio-religieux dans le drame du péché et du salut“; ebd.<br />
203 „Ce que suggère la Bible, c’est que, dans la mesure où il y a une réciprocité entre l’individu et la société,<br />
l’individu met la communauté en danger par ses fautes et le péché collectif retentit en maladies dans le<br />
corps de l’individu“; ebd.<br />
204 „[...] n’y a-t-il pas là une ,figure‘ du mal et de la violence dont nous pouvons retrouver la formule<br />
historique et culturelle dans les contradictions de notre société?“; a.a.O., S. 77 (Mein Glaube als<br />
Afrikaner, S. 96).<br />
205 „Appelés à témoigner de l’espérance du Royaume dans les détresses de cette vie, nous avons besoin de<br />
ressaisir le ,Non‘ de l’homme à Dieu dans les conditions historiques, sociales et économiques, politiques<br />
et culturelles. Il faut repérer les structures d’un monde mal fait et qui se trouvent en contradiction avec<br />
la volonté de Dieu sur l’homme et sur le monde, dans le ravages que ces structures font sur les individus<br />
et les groupes humains“; ebd.<br />
206 „[...] les mécanismes qui enferment l’homme dans le cercle de la misère et de la maladie“; ebd.
4 Die biblisch-theologischen Grundlagen der théologie sous l’arbre 202<br />
Krankheiten und Ernährung sind hier niemals „Dinge an sich“, sondern Auswirkungen<br />
einer gesellschaftlichen Organisation und „ihrer Produkte“. [...] Es<br />
gibt hier keine unglückliche Fügung des Schicksals: Der Gesundheitszustand ist<br />
das Symptom einer „Krankheit“, deren Ursache politisch ist. Der Prozeß der<br />
Krankheit fügt sich ein in eine Reihe von Faktoren, die [...] zusammenhängen<br />
mit der Unterentwicklung, die nichts anderes ist als das Produkt der Entwicklung<br />
der anderen [...]. 207<br />
Die Krankheit ist von daher im Kontext der allumfassenden und alles durchdringenden<br />
„Tatsache der Beherrschung“ zu verstehen - „die bestimmende Realität unserer Zeit<br />
und unserer geschichtlichen Situation“ 208 . Sie resultiert aus den Aggressionen von<br />
Menschen gegenüber anderen, aus <strong>einem</strong> System der Gewalt, daraus, daß eine Minderheit<br />
die Mittel für ein Leben in Würde mit Beschlag belegt. Sie geht einher mit der<br />
Unterentwicklung, d.h. mit Enteignung, Ausbeutung und Abhängigkeit.<br />
<strong>Das</strong> Wesentliche für Jean-Marc Ela ist nun, daß eine „Organisation der Welt“, die<br />
„notwendig Unterentwicklung, Ungerechtigkeit und Elend produziert“ 209 , in keiner<br />
Weise vereinbar ist mit der Anerkennung Gottes als Gott. Angesichts dieser Tatsache<br />
offenbart sich„ihre radikale Unvereinbarkeit mit dem Plan Gottes oder der Anerkennung<br />
Gottes als Gott. Wenn Gott für das heutige Afrika einen Plan hat, dann kann eine<br />
Gesellschaft, in der Millionen von Kindern zu Unterernährung und Krankheit verdammt<br />
sind, diesem Plan nicht entsprechen.“ 210<br />
Genau in dieser Situation sieht Jean-Marc Ela „das schwarze Antlitz der ,Sünde der<br />
Welt‘, die das Lamm Gottes trägt und hinwegnimmt“ 211 . Dieser offenkundige Widerspruch<br />
zu Gott verpflichtet „zur Teilnahme an der Transformation dieser mißgestalteten<br />
Welt. Dies ist heute die Bedingung einer jeden Bekehrung zu einer echten Beziehung<br />
zu Gott“ 212 :<br />
Wir müssen von nun an das Wort Gottes von der Unterentwicklung und ihren<br />
Folgen her neu verstehen und zugleich seine eindeutige Ausrichtung deutlich<br />
zum Vorschein bringen, die nicht mehr verheimlicht werden kann: <strong>Das</strong> Hinnehmen<br />
der Ungerechtigkeit, die erzeugt wird von <strong>einem</strong> medizinischen System,<br />
das die sozio-ökonomischen Strukturen des heutigen Afrikas widerspiegelt, ist -<br />
207 Car, maladies et nutrition ne sont jamais ici ,choses en soi‘ mais effets d’une organisation sociale et de<br />
,ses produits‘. [...] Il n’y a ici aucune fatalité: l’état sanitaire est un symptôme dont l’étiologie est<br />
politique. Les processus de la maladie s’intègrent dans une série de facteurs qui [...] sont liés au sousdéveloppement<br />
qui n’est pas autre chose que le produit du développement des autres [...]“; a.a.O., S. 77<br />
(nur hier).<br />
208 „[...]la réalité déterminante de notre temps et de notre condition historique; c’est la fait de la<br />
domination“; a.a.O., S. 78 (Mein Glaube als Afrikaner, S. 96).<br />
209<br />
„[...] l’organisation du monde dont l’analyse montre qu’elle produit nécessairement le sousdéveloppement,<br />
l’injustice et la misère“; ebd. (Mein Glaube als Afrikaner, S. 97).<br />
210 „[...] son incompatibilité radicale avec le Dessein de Dieu ou la reconnaissance de Dieu comme Dieu. Si<br />
Dieu a un dessein sur l’Afrique d’aujourd’hui, une société où des millions d’enfants sont condamnés à<br />
malnutrition et à la maladie ne peut correspondre à ce Dessein“; ebd.<br />
211 „[...] le visage noir du ,péché du monde‘ que porte et enlève l’Agneau de Dieu“; ebd.<br />
212 „[...] à participer à la transformation de ce monde mal fait. Telle est, aujourd’hui, la condition de toute<br />
conversion à une relation vraie avec Dieu“; ebd.
4 Die biblisch-theologischen Grundlagen der théologie sous l’arbre 203<br />
ebenso selbstverständlich wie der Götzendienst - unvereinbar mit der Verehrung,<br />
die Gott gebührt. Mit anderen Worten, der aktive, von den Gesundheitsproblemen<br />
der Menschen ausgehende Widerstand gegen die Strukturierung der<br />
afrikanischen Gesellschaft in Ungleichheit ist konstitutiv für die Praxis des<br />
Glaubens. 213<br />
Dieser Widerstand impliziert die Überwindung überkommener Vorstellungen und von<br />
Praktiken, die den Menschen seiner Verantwortlichkeit gegenüber seinen Lebensbedingungen<br />
berauben. Dies gilt insbesondere für die Kirche:<br />
In einer missionarischen Situation, in welcher der Kampf für die Gerechtigkeit<br />
eine wesentliche Dimension der Verkündigung des Evangeliums ist, verpflichtet<br />
die Suche nach <strong>einem</strong> Gesundheitssystem zugunsten der Vergessenen der Unabhängigkeit<br />
die gesundheitsmedizinischen Einrichtungen zu einer Überprüfung<br />
ihrer Konzepte und ihrer Praxis. 214<br />
Eine Praxis jedoch, die nur <strong>auf</strong> die „Krankheit an sich“ zielt, die nicht bis zu den Wurzeln<br />
des Prozesses der Krankheit vordringt, wird der Suche nach <strong>einem</strong> gerechten<br />
Gesundheitssystem nicht gerecht. Es kommt vielmehr <strong>auf</strong> die radikale Umgestaltung<br />
der sozialen Lebensbedingungen an; letztendlich geht es dabei um das umfassende<br />
Projekt der „Befreiung des Menschen von den Mächten des Todes“. Insofern der Dienst<br />
an der Gesundheit hierzu beiträgt, übernimmt er „eine spezifisch pastorale Aufgabe“. 215<br />
Dafür ist es aber notwendig, sich den Menschen dort anzuschließen, wo sie sind: „mit<br />
den Füßen im Dreck“ 216 .<br />
Für die Gesundheit der Menschen, die im Teufelskreis von Unterentwicklung und<br />
Krankheit gefangen sind, zu arbeiten, das heißt aber auch, dahin zu wirken, daß sie aus<br />
ihrem Schweigen ausbrechen, daß sie ihre Bedürfnisse und Aspirationen formulieren<br />
und ihre Situation von den gesundheitlichen Problemen her analysieren und verstehen<br />
lernen, und daß sie ihrem „Status als Parias“ entfliehen. Jean-Marc Ela sieht darin<br />
einen ausdrücklichen Bezug zum Reich Gottes: „<strong>Das</strong> Ergreifen des Wortes und der<br />
Gebrauch der Macht des Widerstandes gegen alle Formen von Fatalismus in bezug <strong>auf</strong><br />
213 „Il nous faut désormais réentendre la Parole de Dieu à partir du sous-développement et de ses<br />
conséquences en y faisant apparaître une véritable ligne de force qu’il n’est plus possible d’occulter:<br />
l’acceptation de l’injustice engendrée par un système médical qui est le reflet des structures socioéconomiques<br />
de l’Afrique actuelle est incompatible, au même titre que l’idolâtrie, avec le culte à rendre<br />
à Dieu. En d’autres termes, la résistance active, à partir des problèmes de santé de l’homme, à la<br />
structuration de la société africaine dans inégalité est constitutive de la pratique de la foi“; ebd.<br />
214 „Dans un conjoncture missionnaire où le combat pour la justice est une dimension constitutive de la<br />
prédication de l’Evangile, la recherche d’un système de santé pour les oubliés de l’indépendance oblige<br />
les institutions médico-sanitaires à réévaluer leurs conceptions et leurs pratiques“; a.a.O., S. 79 (Mein<br />
Glaube als Afrikaner, S. 98).<br />
215 „Les services de santé assument ici une action proprement pastorale dès lors qu’ils contribuent à créer<br />
une situation irréversible qui libère l’homme des forces de mort“; ebd.<br />
216 „[...] il nous faut rejoindre l’homme là où il est, les pieds dans la boue“; ebd. (Mein Glaube als Afrikaner,<br />
S. 99).
4 Die biblisch-theologischen Grundlagen der théologie sous l’arbre 204<br />
die Umwelt, gehört zu der Suche nach den Zeichen des Reiches Gottes im Konkreten<br />
des täglichen Lebens.“ 217<br />
Jean-Marc Ela stellt die Frage, was es heißt, das Evangelium zu leben „in einer Situation,<br />
in der die Krankenhäuser Zentren der Ausbeutung und Korruption sind“, in der es<br />
fast unmöglich ist, in <strong>einem</strong> öffentlichen Krankenhaus <strong>auf</strong>genommen und den Notwendigkeiten<br />
entsprechend behandelt zu werden; in einer Situation, in der „Spezialisten<br />
mobilisiert werden, um den Schnupfen der Geschäftsleute oder die Verstopfung<br />
des Herrn Ministers zu behandeln, während die Kinder der Armen und der Macht- und<br />
Mittellosen ringsum sterben“; „in einer Gesellschaft, in der nicht der Kranke untersucht<br />
wird, sondern der Reichtum, das heißt die Klasse, die Machtposition, die man in der<br />
Dynamik der sozialen Beziehungen einnimmt“, in der die Hunde, welche die Villen der<br />
Reichen bewachen, besser ernährt sind als die Kinder <strong>auf</strong> dem Land oder die Kirdi in<br />
Nordkamerun. 218 Ohne Zweifel ist die Frage nicht, ob sich diese Situation ändern muß,<br />
sondern wie sie geändert werden kann. In dieser Hinsicht drängt sich die Erkenntnis<br />
<strong>auf</strong>, daß das Engagement für die Gesundheit der Menschen heute nur Sinn macht im<br />
Rahmen eines globalen Projektes:<br />
[...] der Kampf gegen die Krankheit muß sich nunmehr einordnen in den Rahmen<br />
des Kampfes für eine andere Gesellschaft, einen anderen Menschen, ein<br />
anderes Produktionssystem, eine andere Lebensweise unter den Menschen, im<br />
Kreis der Familie wie in der Gesamtgesellschaft. Es ist notwendig, sowohl gegen<br />
die entfremdenden Kräfte zu kämpfen und dem Menschen seine Verantwortung<br />
gegenüber sich selbst und seinen Körper wiederzugeben, als auch zugleich<br />
all das in Frage zu stellen, was <strong>auf</strong> Willkür und dem Schicksal beruht. 219<br />
In Frage zu stellen ist insbesondere eine Medizin, die „riskiert, die herrschende Unordnung<br />
zu sakralisieren und benutzt zu werden gegen die Armen“ 220 - „eine kostspielige<br />
Medizin, die den Menschen zum Konsumenten pharmazeutischer Produkte reduziert<br />
und seine Fähigkeit, selbständig Schmerz und Gebrechen zu meistern, gefährdet“ 221 .<br />
Vor allem die Kirche ist <strong>auf</strong>gefordert, sich selbst in Frage zu stellen und zu brechen mit<br />
217 „La prise de la parole et la mise en œuvre des forces de résistance à toute formes de fatalité dans ce qui<br />
se rapporte à l’environnement appartiennent à la recherche des signes du Royaume dans le concret de la<br />
vie quotidienne“; ebd.<br />
218 „[...] dans une situation où les hôpitaux sont les centres d’exploitation et de corruption [...]. On mobilise<br />
des spécialistes pour soigner le rhume des hommes d’affaires, pour soigner la constipation de Mr le<br />
Ministre, pendant que les enfants des pauvres et des hommes sans pouvoir et sans appui meurent<br />
alentour [...]. Nous vivons dans une société où l’on n’examine pas le malade, mais la richesse, c’est-àdire<br />
la classe, la position de pouvoir qu’on occupe dans la dynamique des rapports sociaux. [...] Les<br />
chiens qui gardent les villas des quartiers résidentiels sont mieux nourris que les Kirdis du Nord-<br />
Cameroun“; a.a.O., S. 80 (Mein Glaube als Afrikaner, S. 99).<br />
219 „[...] la lutte contre la maladie doit désormais se placer dans le cadre de la lutte pour une autre société,<br />
un autre homme, un autre système de production, une autre manière de vivre entre les hommes, au sein<br />
de la famille comme dans la société globale. Il faut à la fois lutter contre les forces aliénantes et rendre à<br />
l’homme sa responsabilité vis-à-vis de lui-même et de son corps, mettre en cause ce qui relève de<br />
l’arbitraire et du destin“; ebd. (Mein Glaube als Afrikaner, S. 99f).<br />
220 „La médecine elle-même doit être ,soupçonnée‘ dans la mesure où elle risque de sacraliser le désordre<br />
établi, d’être utilisée contre les pauvres et les plus démunis“; ebd. (nur hier).<br />
221 „[...] une médecine coûteuse qui réduit l’homme en consommateur de produits pharmaceutiques et<br />
compromet sa capacité autonome à faire face à la douleur et à l’infirmité“; a.a.O., S. 81 (nur hier).
4 Die biblisch-theologischen Grundlagen der théologie sous l’arbre 205<br />
<strong>einem</strong> „medizinischen System, das in sich selbst schon eine Entfremdung des Menschen<br />
ist, eine Konfiszierung des Wissens und der Macht, und letztlich ein Apparat eines<br />
Systems der Beherrschung“ 222 .<br />
Der Kampf für die Gesundheit erfordert eine völlige Umkehr, die sowohl eine Umorientierung<br />
der gesamten Praxis und Strukturen als auch eine Änderung der Mentalitäten<br />
einschließen muß. Nur so kann die Kirche mit einer Klassenmedizin brechen und zur<br />
wirklichen Gefährtin der Armen werden. Denn: „Wie kann man sich einer Klassenmedizin<br />
widersetzen, wenn man nicht das in Angriff nimmt, was Cabral den ‚Klassensuizid‘<br />
nennt, und was in christlicher Sprache ‚Bekehrung‘ heißt?“ 223<br />
Angesichts dessen, daß die Tätigkeit im Bereich des Gesundheitswesens sehr oft mit<br />
dem Nimbus der Nächstenliebe und Wohltätigkeit umgeben ist, fordert uns Jean-Marc<br />
Ela mit Nachdruck dazu <strong>auf</strong>, uns selbst und unseren guten Absichten zu mißtrauen:<br />
Man kann in der vollen Überzeugung, Gutes zu tun, und durchaus in der Gesinnung<br />
des Dienens und der Sorge um die Armen ein System der Beherrschung<br />
triumphieren lassen, indem man seine Wirksamkeit demonstriert und letztlich<br />
diejenigen, die seine Opfer sind, dazu bringt, dieses System zu akzeptieren und<br />
zu internalisieren. 224<br />
Jean-Marc Ela nennt den Beitrag der Kirche zur Schaffung von „Bedingungen, die den<br />
Menschen befreien“, und wozu sie das Evangelium <strong>auf</strong>fordert, die „Pastoral der<br />
schmutzigen Hände“:<br />
[...] eine Pastoral, die uns <strong>auf</strong> der Basis der Solidarität mit den Armen und Unterdrückten<br />
vom Bewußtwerden der Sünde der Welt, an der wir teilhaben, zur<br />
Veränderung der Welt und von uns selbst führen muß - dahin, wo uns der Glaube<br />
die Gegenwart und das Handeln Gottes entdecken läßt: in den Hoffnungen<br />
und Kämpfen für Freiheit und Gerechtigkeit. 225<br />
Die wirklich für die Gesundheit und die Ernährung der Menschen engagierten ÄrztInnen,<br />
Krankenschwestern und -pfleger und all die Leute, die versuchen, in diesem Sinne<br />
an der Basis etwas zu bewirken, „spielen Tag für Tag, in ihrer alltäglichen Arbeit, eine<br />
222 „[...] un système médical qui est lui-même une aliénation de l’homme, une confiscation du savoir et du<br />
pouvoir et, en définitive, un appareil d’un système de domination“; ebd. (nur hier).<br />
223 „Comment résister à une médecine de classe si l’on ne procède pas à ce que Cabral appelait le ,suicide de<br />
classe‘, ce qui, en langage chrétien, s’appelle la ,conversion‘?“; a.a.O., S. 81f (Mein Glaube als<br />
Afrikaner, S. 100).<br />
224 „On peut, avec une parfaite conscience de faire le bien, avec l’esprit de service et le souci des pauvres,<br />
faire triompher un système de domination, en démontrer l’efficacité et, à la limite, amener ceux qui en<br />
sont les victimes à l’accepter et à l’intérioriser“; a.a.O., S. 82 (Mein Glaube als Afrikaner, S. 101).<br />
225 „[...] la ,pastorale des mains sales‘, celle qui, à partir de notre solidarité avec les pauvres et les opprimés,<br />
doit nous conduire de la prise de conscience du péché du monde dont nous faisant partie, à la<br />
transformation du monde et de nous-mêmes, là où, dans les espoirs et les luttes pour la liberté et la<br />
justice, la foi nous fait découvrir Dieu présent et agissant“; ebd.
4 Die biblisch-theologischen Grundlagen der théologie sous l’arbre 206<br />
wichtige evangelische Rolle, die von ihnen ein ausgeprägtes prophetisches Bewußtsein<br />
erfordert“ 226 .<br />
Im letzten Abschnitt 227 des referierten Textes über den Kampf für die Gesundheit der<br />
Menschen und das Reich Gottes hebt Jean-Marc Ela noch einmal hervor, daß das „Engagement<br />
im Bereich der Gesundheit, das sich <strong>auf</strong> das Evangelium begründet, sich<br />
nicht <strong>auf</strong> die Herrschaft der Besitzenden einlassen kann, die sich seit Beginn der Unabhängigkeit<br />
fest eingenistet hat“ 228 :<br />
Der Glaube ist eine Kraft der Veränderung des Menschen und der Welt. Er<br />
drängt uns hier zu Gesten der Solidarität mit den vom medizinischen Fortschritt<br />
Ausgeschlossenen und zum Bruch mit einer entfremdenden Klassenmedizin, um<br />
die Gesundheit im Dienst des Menschen, und ganz besonders der am meisten<br />
Beraubten, zu fördern. 229<br />
Es geht hierbei jedoch nicht um eine bloß profane Aktivität. Die Kirche steht angesichts<br />
der Gesundheit der „Würdelosen“ vor einer Herausforderung und einer Aufgabe,<br />
bei der es letzten Endes um „die Konkretisierung der Zeichen des Reiches Gottes im<br />
Afrika von heute“ geht: „Wir sind also mit einer Herausforderung konfrontiert, bei der<br />
letztlich die Konkretisierung der Zeichen des Reiches Gottes im Afrika von heute <strong>auf</strong><br />
dem Spiel steht.“ 230 Jean-Marc Ela erinnert in diesem Zusammenhang daran, daß „sich<br />
226 „Le médecin, l’infirmier, l’animateur de base, engagé dans les problèmes de santé et nutrition, jouent,<br />
jour après jour, dans leur travail quotidien, un rôle évangélique important, qui exige d’eux une<br />
conscience prophétique élevée“; ebd. (nur hier).<br />
227 Dieser Abschnitt (La santé des „sans dignité“: un défi pour les Eglises) fehlt in der Fassung, die in Ma foi<br />
d’Africain <strong>auf</strong>genommen <strong>wurde</strong>, hat für diese aber immerhin den Titel geliefert.<br />
228 „Un engagement dans le domaine de la santé à partir de l’Evangile ne saurait se compromettre avec le<br />
règne des possédants qui s’est implanté avec l’avènement des indépendances“; a.a.O., S. 83.<br />
229 „La foi est une force de transformation de l’homme et du monde. Elle nous pousse ici à poser des gestes<br />
de solidarité avec les exclus de la croissance médicale pour promouvoir la santé au service de l’homme,<br />
et particulièrement des plus démunis“; ebd.<br />
230 „Nous sommes donc confrontés à un défi où l’enjeu ultime est la concrétisation des signes du Royaume<br />
de Dieu dans l’Afrique d’aujourd’hui“; ebd. - In Voici le temps des héritiers wird deutlich, daß Jean-<br />
Marc Ela die „Konkretisierung der Zeichen des Reiches Gottes“ v.a. in den Basisgemeinschaften verortet,<br />
in denen Menschen im Kampf gegen die Unterdrückung die kommunitären Traditionen Afrikas zu<br />
neuem Leben erwecken und „durch die Erfahrungen der Solidarität gegen die Armut und das Elend<br />
Zeichen des Reiches Gottes setzen“ („une fraternité d’hommes qui posent des signes du Royaume de<br />
Dieu à travers les expériences de solidarité contre la pauvreté et la misère“; S. 210). Die von Jean-Marc<br />
Ela so genannten „Evangeliums-Gemeinschaften“ sind der Ort, an dem Menschen - für die „die Gemeinschaft<br />
vielleicht das einzige Sakrament ist, an dem sie partizipieren können“ - „berufen sind, die<br />
Werte des Reiches Gottes zu leben und erleben“ („la communauté est peut-être l’unique sacrement auquel<br />
ils peuvent participer. En elle et autour d’elle, ils ont appelés à vivre les valeurs du Royaume“; Ma<br />
foi d’Africain, S. 28). An einer anderen Stelle geht Jean-Marc Ela noch weiter, wenn er im Zusammenhang<br />
mit den für die Armen engagierten kleinen Gemeinschaften die „Graswurzelebene“ den Ort<br />
nennt, „wo das Reich Gottes im Alltag <strong>auf</strong>gebaut wird“ („au ras du sol, là où se construit le royaume de<br />
Dieu dans le quotidien“; Ma foi d’Africain, S. 121). Für die Mission stellt sich in diesem Zusammenhang<br />
die Aufgabe, „die Entstehung von Evangeliums-Gemeinschaften anzuregen, in denen Gemeinschaftsbeziehungen<br />
gelebt und erlebt werden, und die sich der Herausforderung stellen, die die Probleme der<br />
Gesellschaft für einen verbindlichen Glauben darstellen, der sich <strong>auf</strong> den Impuls gründet, der die Kirche<br />
dazu bewegt - in Hoffnung -, das Reich Gottes in den Aufgaben der Veränderung der Welt <strong>auf</strong>zubauen“<br />
(„de susciter des fraternités d’Evangile vivant entre elles des rapports de communion, avec le<br />
souci de relever le défi que les problèmes de la société posent à l’engagement de la foi, à partir de l’élan<br />
qui pousse l’Eglise, dans l’espérance, à construire le Royaume de Dieu dans les tâches de transformation<br />
du monde“; Le Cri de l’homme Africain, S. 35/African Cry, S. 23).
4 Die biblisch-theologischen Grundlagen der théologie sous l’arbre 207<br />
die ganze Verkündigung Jesu um das Reich Gottes dreht“ 231 . Es wäre nun absurd, das<br />
Reich Gottes völlig von den Kämpfen für die Gesundheit und die Verwirklichung der<br />
Gerechtigkeit 232 zu trennen, so „als ob sich das Reich Gottes <strong>auf</strong> eine andere Welt<br />
beziehen würde, gleichgültig gegenüber der Unordnung dieser Welt, in der wir leben“<br />
233 :<br />
<strong>Das</strong>, worum es bei den Bemühungen zur Förderung der Gesundheit geht, ist<br />
nicht nur die Heilung eines Körpers, der durch die Krankheit beschädigt ist, es<br />
geht dabei auch um Freiheit und Gerechtigkeit, um eine neue Beziehung des<br />
Menschen zu sich selbst und zur Welt. Wenn die Christen keine Brüderschaft<br />
von Abwesenden sind, sondern <strong>auf</strong>gefordert, zu verstehen, daß glauben bedeutet,<br />
sich an der Seite der Armen und Unterdrückten zu engagieren, dann ist die<br />
Gesundheit des Menschen nunmehr der Ort des Kampfes für eine Gesellschaft,<br />
in der das Reich Gottes Gestalt annimmt und sich <strong>auf</strong>baut. 234<br />
Dabei ist sich Jean-Marc Ela jedoch bewußt, daß „keine historische Realisierung als<br />
das letzte Ziel betrachtet werden kann“ 235 . Der Mensch und die Welt sind eine Aufgabe,<br />
die auch in Zukunft zu bewältigen sein wird. Selbst eine Gesellschaft, die von Ausbeutung<br />
und Sklaverei befreit ist, sieht noch ihrer endgültigen Befreiung entgegen.<br />
Dies ist um so mehr Anlaß dafür, „eine aktive Hoffnung zu neuem Leben zu erwecken,<br />
um in der Aktualität der Geschichte die Zeichen der zukünftigen Welt einzuschrei-<br />
231 „[...] toute la prédication de Jésus est centrée sur le Règne de Dieu“; ebd., mit <strong>einem</strong> Hinweis <strong>auf</strong> Mt 4,23<br />
und 9,35. - In Ma foi d’Africain, S. 138, schreibt Jean-Marc Ela, daß „das Reich Gottes zugunsten der<br />
Armen das Zentrum der Predigt und des Handelns Jesu ist“ („le Règne de Dieu au profit de pauvres est<br />
le centre de la prédication et de l’agir de Jésus“ [Hervorhebung von mir]).<br />
232 Eine Lektüre der Seligpreisungen (Mt 5,3-12 u. Lk 6,20-23) bestätigt, daß das Reich Gottes wesentlich<br />
ein „Reich der Gerechtigkeit“ ist: „In dem Maße, wie die Seligpreisungen konkrete Leidenssituationen<br />
voraussetzen, rufen sie ins Gedächtnis zurück, daß das Reich Gottes nur das Reich einer Gerechtigkeit<br />
sein kann, die all den Enterbten der Erde zugute kommt [...]. [...] das Reich Gottes bedeutet daher auch<br />
Befreiung der Unterdrückten, Gute Nachricht für die Armen [...]“; Mein Glaube als Afrikaner, S. 123<br />
(„Dans la mesure où elles supposent des situations concrètes de souffrance, les Béatitudes rappellent que<br />
le Règne de Dieu ne peut pas ne pas être celui d’une justice dont bénéficient tous les déshérités de la<br />
terre [...]. [...] le règne de Dieu signifie aussi libération des opprimés, la Bonne Nouvelle aux pauvres<br />
[...]“; Ma foi d’Africain, S. 139); vgl. auch Le Cri de l’homme Africain, S. 115 (African Cry, S. 93).<br />
233 „[...] comme si le Règne de Dieu se situait dans un autre monde, indifférent aux désordres de ce monde<br />
où nous vivons“; ebd. - In Le Cri de l’homme Africain, S. 68 (African Cry, S. 53), betont Jean-Marc Ela,<br />
daß das Reich Gottes bzw. die neue Welt „nicht das Jenseits ist, sondern eine anders gestaltete Welt, die<br />
schon hier im Alltag vorbereitet wird“. Wo dies geschieht, da schreitet der Prozeß der Schöpfung voran<br />
- wobei die Kirche „ihren Teil der Verantwortung zu übernehmen“ hat („L’Eglise est donc poussée à<br />
prendre sa part de responsabilité partout où la création est en marche, là où le Royaume de Dieu se<br />
cherche et où se construit l’univers nouveau qui n’est pas l’au-delà, mais un monde autre, déjà là, en<br />
gestation dans le quotidien“). Interessant ist die Gleichsetzung des Prozesses der Realisierung des Reiches<br />
Gottes (der neuen Welt) mit dem Prozeß der fortschreitenden Schöpfung; vgl. auch a.a.O., S. 113<br />
(African Cry, S. 91)<br />
234 „Or ce qui se joue dans les efforts de promotion de la santé, ce n’est pas seulement la guérison d’un<br />
corps abîmé par la maladie, mais la liberté et la justice, une nouvelle relation de l’homme à lui-même et<br />
au monde. Si les chrétiens ne forment pas une confrérie des absents mais sont appelés à comprendre<br />
que croire, c’est s’engager aux côtes des pauvres et des opprimés, la santé de l’homme est désormais le<br />
lieu de la lutte pour une société où le Royaume de Dieu se cherche et se construit“; ebd. - Im übrigen<br />
„ist die Geschichte der alleinige Ort, wo das Reich Gottes Gestalt anzunehmen sucht und sich <strong>auf</strong>baut“;<br />
Mein Glaube als Afrikaner, S. 165 („l’histoire est le seul lieu où le royaume de Dieu se cherche et se<br />
construit“; Ma foi d’Africain, S. 186).<br />
235 „Certes, aucune réalisation historique ne peut être considérée comme fin ultime“; ebd.
4 Die biblisch-theologischen Grundlagen der théologie sous l’arbre 208<br />
ben“ 236 . Dies begründet schließlich die Dringlichkeit, Schluß zu machen mit dem neokolonialen<br />
System, das „hauptverantwortlich ist für das Elend und für die Unterentwicklung,<br />
welche die Krankheiten im afrikanischen Milieu begünstigt“ 237 . Für die<br />
Männer und Frauen, die innerhalb der afrikanischen Kirchen an Gesundheitsprojekten<br />
beteiligt sind, kommt es dar<strong>auf</strong> an, daß sie fähig sein werden, „in diesem vitalen Bereich<br />
eine Alternative zu entwickeln, die fähig ist, in der aktuellen Situation unserer<br />
Gesellschaft den Armen ihre Würde zurückzugeben“ 238 .<br />
4.7 Die theologischen Grundlagen der théologie sous l’arbre<br />
in ihrem Zusammenhang - Versuch einer Systematisierung<br />
Wie bereits erwähnt 239 , besteht für Jean-Marc Ela die Aufgabe der Theologie weniger in der<br />
Ausarbeitung einer Dogmatik, als vielmehr im „Entziffern des Sinns der Offenbarung“ im und<br />
für den gegenwärtigen konkreten historischen Kontext. Darin, daß diese Aufgabe primär <strong>auf</strong> eine<br />
an der Bibel orientierte gesellschaftliche Praxis ausgerichtet ist, liegt der spezifisch ethische<br />
bzw. sozial-ethische Charakter der Theologie begründet - und insbesondere derjenige der théologie<br />
sous l’arbre. „Dogmatik“ bzw. die Systematisierung theologischer Grundgedanken kann von<br />
daher nicht mehr sein als eine „Moment<strong>auf</strong>nahme“ in <strong>einem</strong> fortdauernden Prozeß der theologischen<br />
Durchdringung der Wirklichkeit. Sie kann jedoch niemals universale und zeitlose Gültigkeit<br />
beanspruchen, da jede Generation immer wieder neu vor die Aufgabe der Interpretation des<br />
Evangeliums in ihrem je spezifischen Kontext gestellt ist.<br />
Die Differenz der Kulturen und der jeweiligen Kontexte - „Bedingung sine qua non jeder theologischen<br />
Reflexion“ - bedingt notwendigerweise eine „Pluralität der Sprachen des Glaubens“,<br />
eine Vielzahl kontextspezifischer Theologien. <strong>Das</strong> „Risiko der Interpretation“ läßt sich nicht<br />
umgehen. Theologie kann tatsächlich immer nur kontextuelle Theologie sein. 240 In dieser Perspektive<br />
ist die Universalisierung einer partikulären Theologie einer bestimmten Weltregion -<br />
oder ganz konkret: das theologische Monopol der Kirchen der nördlichen Hemisphäre - Teil des<br />
globalen Herrschaftssystems bzw. der weltweiten Dominanzverhältnisse, von denen die Kirchen<br />
und ihre theologische Produktion nicht ausgenommen sind.<br />
Im Bewußtsein dieses Sachverhaltes und im Bewußtsein dessen, daß dies für die théologie sous<br />
l’arbre kein „Thema“ ist, versuche ich dennoch, den inhaltlichen Zusammenhang der für Jean-<br />
Marc Ela fundamentalen biblisch-theologischen Themen ansatzweise zu rekonstruieren.<br />
236 „Cela nous invite à raviver une espérance active pour inscrire dans l’actualité de l’histoire les signes du<br />
monde à venir“; ebd.<br />
237 „[...] le principal responsable de la misère et du sous-développement qui favorise les maladies en milieu<br />
africaine“; ebd.<br />
238 „[...] dans ce domaine vital, une alternative capable de rendre aux pauvres leur dignité dans la situation<br />
actuelle de notre société“; a.a.O., S. 84.<br />
239 Siehe oben S. 165.<br />
240 Dies schließt jedoch keineswegs aus, daß die verschiedenen Theologien miteinander ins Gespräch kommen<br />
und voneinander lernen können - vielleicht sogar müssen, denn keine Theologie kann für sich in<br />
Anspruch nehmen, den gesamten „Sinn-Vorrat“ der Offenbarung erschöpft zu haben. Von daher ist<br />
aber auch klar, daß keine partikuläre Theologie einen Anspruch <strong>auf</strong> „Vorherrschaft“ geltend machen<br />
kann, selbst wenn sie <strong>auf</strong> eine Jahrtausende alte Tradition zurückblicken kann - die vielleicht sogar eher<br />
als ein ,Klotz am Bein‘ zu betrachten ist ... So kommt in der Tat nur ein gleichberechtigter Dialog bzw.<br />
ein herrschaftsfreier Diskurs in Frage.
4 Die biblisch-theologischen Grundlagen der théologie sous l’arbre 209<br />
Der primäre Zusammenhang der biblisch-theologischen Themen der théologie sous<br />
l’arbre besteht darin, daß sie alle um die „semantische Achse“ der - sich in der Spannung<br />
zwischen Verheißung und Erfüllung bewegenden - „Offenbarung Gottes in der<br />
Geschichte“ zentriert sind. Dieser historische Charakter der Offenbarung bedeutet<br />
zugleich, daß der Ort der „Heilsgeschichte“ die profane Geschichte selbst ist 241 , daß<br />
also das verheißene „Heil“ im Kontext der Geschichte ganz konkret Befreiung von<br />
jeglicher Form der Beherrschung bzw. Befreiung von Herrschaft überhaupt bedeutet.<br />
Eucharistie und Gemeinschaft scheinen <strong>auf</strong> den ersten Blick etwas aus der Reihe zu<br />
fallen. Aber dies ist tatsächlich nur scheinbar so, denn die Gemeinschaft - „die Gemeinschaft<br />
<strong>auf</strong> dem Weg des Exodus“, das „Volk Gottes“, die Kirche als „Leib Christi“<br />
... - ist sozialer Träger dieser Offenbarung und der Ort, an dem die bereits geschehenen<br />
„heilsgeschichtlichen“ Ereignisse (Schöpfung, Exodus, Kreuz und Auferstehung)<br />
erinnert und die erwarteten antizipiert werden (Reich Gottes). Diese Antizipation<br />
geschieht sowohl durch die (befreiende) Praxis der (Basis-)Gemeinschaften als auch -<br />
<strong>auf</strong> symbolische Weise - in der Feier der Eucharistie, dem „höchsten“ der Sakramente.<br />
<strong>Das</strong> zentrale Ereignis für die hebräische - aber auch für die griechische - Bibel ist ohne<br />
Zweifel der Exodus. Von ihm her wird deutlich, daß schon die Schöpfung mit dem<br />
Plan Gottes für eine freie und gerechte Welt verbunden ist, wobei der Mensch hierbei<br />
nicht ‚die Hände in den Schoß legen‘ und <strong>auf</strong> Wunder warten kann, sondern diese<br />
Verhältnisse selbst schaffen und gestalten muß, insofern ihn Gott als Schöpfer geschaffen<br />
hat und diese „Kreativität“ - und damit auch die eigene Verantwortung für die<br />
Gestaltung der sozialen Verhältnisse - ein wesentliches Moment seiner Menschlichkeit<br />
ist. Jesus wiederum hat mit seiner Option für die Armen und Unterdrückten und seiner<br />
Verkündigung des Reiches Gottes und seiner Gerechtigkeit für diese Welt das Handeln<br />
des Exodus-Gottes in seiner Zeit aktualisiert, wofür er denn auch als Konsequenz dieses<br />
Handelns das Kreuz <strong>auf</strong> sich nehmen mußte. Seine Auferstehung begründet die<br />
Hoffnung seiner NachfolgerInnen, daß die herrschenden Verhältnisse, die den Tod und<br />
die Knechtschaft von Millionen von Menschen bedeuten, nicht das „Ende der Geschichte“<br />
sind, daß der Tod - wie es die Auferstehung antizipiert - einmal endgültig<br />
besiegt sein wird. Die ChristInnen stehen heute vor der Aufgabe und der Herausforderung,<br />
dieses „subversive Handeln“ Jesu in ihrer gegenwärtigen Geschichte in ihrem<br />
konkreten Kontext <strong>auf</strong>s neue zu aktualisieren. - In diesem Sinn ist, so denke ich, der<br />
inhaltliche Zusammenhang der verschiedenen zentralen theologischen Themen von<br />
Jean-Marc Elas Theologie nachvollziehbar. Was diese Themen jedoch ganz fundamental<br />
zusammenhält und wodurch sie ihre spezifische Bedeutung erlangen, ist ihr Ort:<br />
Theologie entsteht „unter dem <strong>Baum“</strong> - unter dem Baum des Kreuzes Jesu und der<br />
241 Die Erkenntnis, daß es keinen Dualismus zwischen dem Heiligen und dem Profanen gibt, sondern daß<br />
zwischen beiden eine wechselseitige, dialektische Beziehung besteht, ist sowohl biblisch inspiriert (z.B.<br />
durch die Bedeutung des Exodus) als auch durch die traditionelle afrikanische Sicht von Gott und Welt.<br />
Vgl. z.B. die Feststellung der EATWOT-Konferenz von Accra in Herausgefordert durch die Armen, S. 58:<br />
„Im alten Afrika gab es keine Trennung zwischen heilig und profan. Vielmehr <strong>wurde</strong> das Heilige im<br />
Kontext des Profanen erfahren.“ Im deutsch(sprachig)en Kontext gibt es ähnliche Vorstellungen z.B. bei<br />
Dietrich Bonhoeffer („Gott ist mitten im Leben jenseitig“) oder bei den Religiösen SozialistInnen (Leonhard<br />
Ragaz: „<strong>Das</strong> Reich Gottes ist nicht von der Welt, aber für die Welt“; Paul Tillich: „Offenbarung bedeutet<br />
Manifestation von etwas, das innerhalb des Zusammenhangs der alltäglichen Erfahrung begegnet<br />
und doch den gewöhnlichen Erfahrungszusammenhang transzendiert“, vgl. seine Methode der<br />
„Korrelation“ und seine Theologie des „Kairos“).
4 Die biblisch-theologischen Grundlagen der théologie sous l’arbre 210<br />
Dritten Welt, unter dem Palaver-Baum Afrikas und unter dem Baum, der für Heil und<br />
Heilung steht. Dieser Ort, zugleich ein ganz realer als auch ein symbolischer Ort, ist<br />
ein fundamentaler theologischer - ein „fundamentaltheologischer“ - „locus“, der bei<br />
der theologischen Reflexion nicht ignoriert werden kann.
5 Die Praxis der théologie sous l’arbre am<br />
Beispiel von Jean-Marc Elas Analyse und Kritik<br />
des „kulturellen Romantizismus“<br />
I have discovered the real problems of Africa living for fourteen years in an African<br />
village, with the farmers, with men and women who every day had to face the problems<br />
of the lack of daily food, of the lack of health care, of injustice and oppression.<br />
During that time of my life I also had the great fortune of living with one of the first<br />
Cameroonian priests, known as „Baba Simon“. He was for me like a spiritual father,<br />
and he opened my eyes on the real life of the rural people.<br />
The sufferings of the African rural people have become worse in the last 30 years, the<br />
first 30 years of African „independence“. We have seen that everything done in these<br />
years for the development of Africa has miserably failed. Africa is now poorer than in<br />
1960. All the models of development imposed on us by the „experts“ have collapsed.<br />
There are precise reasons and responsibilities for this situation. In the first instance<br />
one has to point the finger to the politicians. 1 In the majority of the regimes which took<br />
power after independence the main objective was the accumulation of wealth by those<br />
who had taken any part of the political power. The desperate situation in which we live<br />
is the result of the actions of these people who have usurped power. They have used<br />
naked force, making violence an instrument of government. In that way they used the<br />
riches of their own countries at their will, without any kind of control on their actions.<br />
It must be said also that these regimes have been supported by the international powers.<br />
We have seen totally corrupted governments survive only because of the „international<br />
cooperation“. This made the situation more serious.<br />
What is even more crucial is that now Africa is strangled by organizations like the<br />
International Monetary Fund and the World Bank. The real power in Africa belongs to<br />
these two international institutions. The great majority of the African governments<br />
have in their financial and economic ministries some experts appointed by the IMF and<br />
the World Bank. We see a coming back of a form of colonization. Our countries are<br />
tutored, the real decisions affecting us are taken by the great economic powers.<br />
Our poverty is not due to laziness. We are not afraid of work. Our poverty is imposed<br />
to our men, women, youth: they are victims of the international structures of power,<br />
and bring as a consequence misery and hunger. We experience this daily.<br />
1<br />
Dazu, was es in Afrika bedeuten kann, mit dem Zeigefinger <strong>auf</strong> einen anderen Menschen zu zeigen, vgl.<br />
GABRIEL MOLEHE SETILOANE, Heil und Welt aus der Perspektive afrikanischer Theologie, in: DERS., Der<br />
Gott meiner Väter und mein Gott. Afrikanische Theologie im Kontext der Apartheid, Wuppertal (Hammer),<br />
1988, 97-109, insbes. S. 97ff. Er beschreibt diese (rituelle) Geste als eine Art „Waffe“ in den<br />
Händen von Menschen, denen Unrecht widerfahren ist. Sie wird verstanden als ein „böser Wunsch“<br />
oder eine Art „Verfluchung“, die nicht ohne Wirkungen <strong>auf</strong> die Unrechttäter bleibt.
5 Die Praxis der théologie sous l’arbre am Beispiel von Jean-Marc Elas Analyse und Kritik des<br />
„kulturellen Romantizismus“ 212<br />
The so-called Structural Adjustment Programmes (SAP) are geared, first of all, to the<br />
repayment of the external debt. The right to health and education, everything which is<br />
social and human does not count in front of the perverse logic of money. Nobody in<br />
Africa does dare to speak any more about „development“: they speak of debt, of adjustment<br />
...<br />
One cannot help but ask himself if the international powers have decided to keep Africa<br />
under a kind of geo-political apartheid?<br />
Especially the women and the youth are forgotten. The new generation is without hope.<br />
Life for millions of Africans has become a Calvary, a never ending way of the cross<br />
lived in the rural areas, in the refugee camps, in the shanty towns mushrooming everywhere.<br />
In front of these facts, as a theologian, I have to ask myself a very serious question:<br />
how to speak of God to those people trapped in a kind of hell?<br />
I feel to listen to what I have called „the cry of the African person“. The African theologian<br />
is called to take part in the sufferings of his people, trying to discover in this<br />
situation the power of life springing from the Resurrected Christ.<br />
For a theologian to fulfill this task he ought to be in solidarity with the poor and the<br />
little ones. In trying to root the Gospel in the culture and in the life of our people, the<br />
theologian must reveal the transforming power of Jesus’s Gospel. For many men and<br />
women of Africa, the church is the only remaining hope, the only opportunity. They<br />
believe that in the words of Jesus they can find the reasons for living.<br />
On the other side, the theologian who is treading this path has the need of freedom.<br />
The church must recognize the ministry of the theologian. Sometimes it seems that<br />
some bishops do not see that theology has any use. They do not send anybody to study<br />
theology, they think they need only more pastors and agents of development. They<br />
think that theology is a luxury Africa cannot afford. As a consequence there is the<br />
danger that African theology will not develop. Instead I think that in Africa we must<br />
open a great space for reflection and research if we want to advance in the fields of<br />
evangelization and development.<br />
We must have more confidence in the spirit of God who speaks through the humble and<br />
poor people. Only in this way we will be able to answer the challenges facing us at the<br />
end of this century. 2<br />
Jean-Marc Elas theologische Methode - Konfrontation des Evangeliums und seiner vorrangigen<br />
Option für die Armen und Unterdrückten mit dem eigenen Kontext - führt ihn unmittelbar zur<br />
(theologischen) Kritik der herrschenden Verhältnisse. Der Perspektive „von unten“ kommt hierbei<br />
erkenntnistheoretische Bedeutung zu. Leitender Maßstab ist das Kriterium der Gerechtigkeit,<br />
2<br />
JEAN-MARC ELA, Poverty and Theology, New People Nr. 31 (1994), 16. - Warum dokumentiere ich hier<br />
diesen kurzen und bisher jüngsten Text von Jean-Marc Ela? Ich denke, er veranschaulicht klar und<br />
deutlich die Struktur der theologischen Reflexionen Jean-Marc Elas: Gleich eingangs benennt er den<br />
Hintergrund seiner Erfahrung und die Situation, <strong>auf</strong> die er sich bezieht. Es folgen eine Analyse dieser<br />
Situation und eine theologische Beurteilung. Auf dieser Grundlage zieht Jean-Marc Ela dann die Konsequenzen<br />
für die weitere Praxis. Gleichzeitig spricht dieser Text ein für die théologie sous l’arbre charakteristisches<br />
Anliegen aus: daß sich die TheologInnen solidarisch an die Seite der armen und kleingemachten<br />
Menschen begeben, um hier die in der Tat gesellschaftskritische und verwandelnde Kraft des<br />
Evangeliums von Jesus an den Tag zu bringen.
5 Die Praxis der théologie sous l’arbre am Beispiel von Jean-Marc Elas Analyse und Kritik des<br />
„kulturellen Romantizismus“ 213<br />
das gleichzeitig für die Utopie einer Welt des Friedens und der Gerechtigkeit steht. 3 Damit reiht<br />
sich Jean-Marc Ela ein in die Tradition einer prophetischen Theologie, die in der hebräischen<br />
Bibel ihren Anfang nimmt und in der Gegenwart z.B. in der Schwarzen Theologie im Südafrika<br />
der Apartheid 4 oder in den verschiedenen Kairos-Dokumenten 5 prononciert zum Ausdruck<br />
kommt. Die unmittelbare Intention seiner theologischen Arbeit ist die Benennung des Unrechts,<br />
die Aufdeckung seiner Verschleierung und die Bewußtwerdung der Opfer des Unrechts als<br />
<strong>einem</strong> ersten wichtigen Schritt für dessen Überwindung.<br />
Die théologie sous l’arbre kann sich von daher nie <strong>auf</strong> die bloße Entfaltung rein „theologischer“<br />
Themen beschränken. Sie besteht vielmehr in der theologischen Reflexion von Problemen, mit<br />
denen die Menschen „unter dem <strong>Baum“</strong> alltäglich und konkret konfrontiert sind. Die Situation<br />
dieser Menschen ist für die théologie sous l’arbre ein theologischer „locus“ insofern, als die<br />
Offenbarung ihrem Wesen nach historisch ist und Gott sich in erster Linie mit den Armen und<br />
Unterdrückten identifiziert (z.B. Mt 25). Die Probleme, mit denen die Menschen in dieser Situation<br />
tagtäglich konfrontiert sind, begreift die théologie sous l’arbre als eine Herausforderung für<br />
Theologie und Kirche. Die sich aus diesem Kontext ergebenden Herausforderungen sind eigentlich<br />
erst die tatsächlichen und spezifischen Reflexionsfelder der théologie sous l’arbre. Zu solchen<br />
„Reflexionsfeldern“ können - entsprechend ihrer mehrdimensionalen Natur - prinzipiell alle<br />
Dimensionen der menschlichen Lebenswirklichkeit werden. Konkret heißt dies: eine im Licht<br />
der Bibel und des Glaubens praktizierte Kritik und Revision all jener Bereiche und Aspekte der<br />
konkreten Lebenswirklichkeit der Menschen, insofern sie zum „Plan Gottes“ für die Menschen<br />
und die Welt im Widerspruch stehen. 6<br />
Bisher <strong>wurde</strong>n einerseits die einzelnen Momente des Prozesses der theologischen Reflexion<br />
Jean-Marc Elas aus ,darstellungstechnischen‘ Gründen ,auseinandergerissen‘ und <strong>auf</strong> verschiedene<br />
Kapitel verteilt (Kap. 2 über den Kontext und Kap. 4 über die theologischen Grundlagen),<br />
während andererseits versucht <strong>wurde</strong>, die diesem zugrunde liegende Methode und Hermeneutik -<br />
<strong>auf</strong> einer Meta-Ebene - zu rekonstruieren (Kap. 3). Dieses Kapitel ist nun der Ort, an dem dieser<br />
Prozeß in s<strong>einem</strong> Zusammenhang, bzw. so wie Jean-Marc Ela ihn in seinen Publikationen präsentiert,<br />
anhand eines ausgewählten Beispiels dargestellt werden soll:<br />
3<br />
4<br />
5<br />
6<br />
Jean-Marc Ela spricht u.a. von „<strong>einem</strong> konkreten Glück im Schatten der Ahnen und im Licht des Evangeliums“;<br />
Mein Glaube als Afrikaner, S. 157 („un bonheur concret à l’ombre des Ancêtres et à la lumière<br />
de l’Évangile“; Ma foi d’Africain, S. 177).<br />
Zu den namhaftesten Vertretern der Schwarzen Theologie zählen u.a. Allan Boesak, Manas Buthelezi,<br />
Frank Chikane, Bonganjalo Goba, Simon Maimela, Takatso Mofokeng, Itumeleng Mosala, Mokgethi<br />
Motlhabi, Albert Nolan, Gabriel Setiloane, Buti Tlhagale und Desmond Tutu. - Obwohl Jean-Marc Elas<br />
Theologie viel Ähnlichkeiten mit der südafrikanischen Schwarzen Theologie <strong>auf</strong>weist, so bleibt Albert<br />
Nolan nichtsdestotrotz der einzige Theologe aus diesem Land, <strong>auf</strong> den er sich explizit bezieht.<br />
<strong>Das</strong> KAIROS-Dokument. Eine Herausforderung an die Kirche. Ein theologischer Kommentar zur politischen<br />
Krise in Südafrika (EMW-Informationen Nr. 64), Hamburg, 1985 (erweiterte Neu<strong>auf</strong>lage 1986);<br />
eine zweite revidierte Fassung ist enthalten in: Christliches Bekenntnis in Südafrika (Weltmission heute,<br />
Nr. 1), Hamburg, 1987, 3-39. - DER ZENTRALAMERIKANISCHE KAIROS. Eine Herausforderung an die<br />
Kirchen und an die Welt (EMW-Informationen Nr. 82), Hamburg, 1988. - DER WEG NACH<br />
DAMASKUS. Kairos und Bekehrung (EMW-Informationen Nr. 84), Hamburg, 1989. - Vgl. dazu auch<br />
LUISE und WILLY SCHOTTROFF, Biblische Traditionen von „Staatstheologie, Kirchentheologie und Prophetischer<br />
Theologie“ nach dem KAIROS-Dokument (a.a.O.).<br />
Die Tatsache, daß hier einerseits der Kontext der Gegenstand der theologischen Reflexion ist, und daß<br />
andererseits der Versuch unternommen wird, die Bibel und den Glauben mit afrikanischen „Augen“ zu<br />
verstehen, macht die théologie sous l’arbre zu einer kontextuellen Theologie. Die Betonung des befreienden<br />
Charakters der biblischen Botschaft und ihrer (kontext-)kritischen Kraft, der sozio-historischen<br />
Dimension des Heils, das in <strong>einem</strong> Kontext der Beherrschung primär Befreiung bedeutet, und der Macht<br />
der Auferstehung, die darin besteht, daß sie die Armen und Unterdrückten wieder <strong>auf</strong>richtet und zu<br />
Subjekten ihrer eigenen (Befreiungs-)Geschichte werden läßt - dies qualifiziert die théologie sous<br />
l’arbre darüber hinaus als eine Befreiungstheologie.
5 Die Praxis der théologie sous l’arbre am Beispiel von Jean-Marc Elas Analyse und Kritik des<br />
„kulturellen Romantizismus“ 214<br />
Die „Krise der Négritude“:<br />
Jean-Marc Elas Analyse und Kritik des „kulturellen Romantizismus“<br />
In diesem Abschnitt ist insbesondere Jean-Marc Elas Kritik der „Négritude“ und die Konsequenzen,<br />
die er aus dieser Kritik für die afrikanische Kirche zieht, hervorzuheben. - Die Négritude ist<br />
eine in den dreißiger Jahren von afrikanischen und westindischen Intellektuellen ins Leben<br />
gerufene Bewegung, die als Reaktion <strong>auf</strong> die rigorosen Assimilationsversuche insbesondere der<br />
französischen Kolonialmacht die Rückbesinnung <strong>auf</strong> die Werte der afrikanischen Kulturen propagiert.<br />
Es geht dabei v.a. um eine kulturelle Identitätsfindung und die Wiedergewinnung der<br />
Selbstachtung des afrikanischen Menschen. Die abendländisch-westliche Zivilisation erfährt<br />
hierbei eine kritische Relativierung. Diese kulturelle Rückbesinnung ist u.a. getragen von der<br />
Erkenntnis, daß ohne eine kulturelle Befreiung auch keine politische möglich ist. Ethnologische<br />
Erkenntnisse spielen dabei eine große Rolle, insofern sie überhaupt erst das erforderliche Material<br />
zur Rekonstruktion der afrikanischen Traditionen bereitstellen. Prominenteste Vertreter der<br />
Négritude-Bewegung bzw. deren Mitbegründer sind Léon-Gontran Damas (1912-1978; geb. in<br />
Frz.-Guayana), Aimé Césaire (geb. 1913 in Martinique) und Léopold Sédar Senghor (geb. 1906<br />
in Senegal). Diese drei Lyriker, Schriftsteller und/oder Politiker gründeten als Studenten 1934 in<br />
Paris die Zeitschrift L’Étudiant Noir: das „Sprachrohr“ der Négritude-Bewegung.<br />
Jean-Marc Elas Auseinandersetzung mit der Négritude im 8. Kapitel von Le Cri de l’homme<br />
Africain („Authenticité et aliénation“; 145-160) 7 ist ein exzellentes Beispiel für die ideologiekritische<br />
Funktion der Theologie. Dieser Text bzw. seine Argumentation soll im folgenden rekonstruiert<br />
werden.<br />
Jean-Marc Ela beginnt seine Ausführungen mit <strong>einem</strong> Hinweis <strong>auf</strong> den Ersten Kongreß<br />
schwarzer Schriftsteller und Künstler, den er „ein wirkliches Bandung der schwarzen<br />
Kultur“ 8 nennt. Seit dieser Zeit „haben die afrikanischen Christen nicht <strong>auf</strong>gehört,<br />
ihrem Wunsch Ausdruck zu verleihen, daß die Kirche die Werte der afrikanischen<br />
Tradition berücksichtigen und sich die Ausdrucksformen des schwarzen Menschen zu<br />
eigen machen möge“ 9 . Spätestens mit der Veröffentlichung des Buches Des Prêtres<br />
noirs s’interrogent 10 zieht die Idee einer „Indigenisierung“ („indigénisation“) des<br />
Glaubens die Aufmerksamkeit weiter christlicher Kreise in Afrika <strong>auf</strong> sich. Auch wenn<br />
die afrikanischen Bischöfe <strong>auf</strong> dem Zweiten Vatikanischen Konzil „die Stimme Afrikas<br />
zu den Problemen hinsichtlich der Beziehungen zwischen Glaube und Kultur“<br />
einbringen konnten, so muß doch zugleich festgehalten werden, daß sich im konkreten<br />
Leben vieler Gemeinden kaum etwas geändert hat, insofern „man sogar in verschiedenen<br />
Kirchen dabei ist, zu vorkonziliaren Denkweisen und pastoralen Optionen zurück-<br />
7<br />
8<br />
9<br />
10<br />
„Authenticity and Alienation“; African Cry, 121-134.<br />
„[...] un véritable Bandoeng de la culture noire“; Ma foi d’Africain, S. 145 (African Cry, S. 121). - Auf<br />
diesem Ersten Kongreß schwarzer Schriftsteller und Künstler 1956 in Rom hatte Frantz Fanon seine<br />
vielbeachtete Rede über „Rassismus und Kultur“ gehalten (zuerst veröffentlicht in der Sondernummer<br />
von Présence Africaine, Juni/Nov. 1956; dtsch. u.a. in: FRANTZ FANON, <strong>Das</strong> kolonisierte Ding wird<br />
Mensch. Ausgewählte Schriften, Leipzig (Reclam), 1986, 134-148).<br />
„[...] les chrétiens d’Afrique n’ont cessé d’exprimer le désir de voir l’Eglise prendre en considération les<br />
valeurs de la tradition africaine et d’assumer les formes d’expression de l’homme noir“; Le Cri de<br />
l’homme Africain, S. 145 (African Cry, S. 121).<br />
Des Prêtres noirs s’interrogent, Brüssel, 1956 (dtsch.: Schwarze Priester melden sich, Frankfurt, 1960).
5 Die Praxis der théologie sous l’arbre am Beispiel von Jean-Marc Elas Analyse und Kritik des<br />
„kulturellen Romantizismus“ 215<br />
zukehren“ 11 : „An vielen Orten findet man sich wieder in einer Kirche, wie sie vor dem<br />
Vatikanum II war - ungeachtet der kühnen Öffnungen des Konzils.“ 12 Von daher sehen<br />
sich heute viele ChristInnen oft genug noch mit denselben Problemen wie schon „die<br />
schwarzen Priester, die sich zu Wort meldeten“, konfrontiert.<br />
Welches sind die Antworten, die heute <strong>auf</strong> diese bleibenden Probleme gegeben werden,<br />
und was sind sie wert? - so fragt Jean-Marc Ela und stellt fest: „Während der<br />
Klerus seine Ressourcen in der Rhetorik der ,Indigenisierung‘ erschöpft, rühmen die<br />
afrikanischen Führer die Rückkehr zu den Quellen, was nicht verfehlt, die Kirchen in<br />
Schwarzafrika herauszufordern.“ 13 Wenn die Kirchen aber etwas anderes sein wollen<br />
als „eine Eingangstür zur westlichen Zivilisation“ 14 , erfordert ihre Bejahung der „Authentizität“<br />
(authenticité) dann nicht „eine Relektüre des Evangeliums und die Suche<br />
nach einer Sprache des Glaubens innerhalb der afrikanischen Gesellschaft?“ 15 , so fragt<br />
Jean-Marc Ela weiter. Mehr noch: Vor dem Hintergrund dessen, daß das Christentum<br />
als „eine Religion der Weißen“ (une religion des Blancs) zu verstehen ist, „muß sich<br />
die Kirche die Infragestellung der Herrschaft des Westens als ein historisches Programm<br />
zu eigen machen.“ 16 Von daher ist es wichtig, sich <strong>auf</strong> die Auseinandersetzung<br />
mit den sozialen Bewegungen und geistigen Strömungen einzulassen, die sowohl den<br />
Prozeß der Bewußtwerdung der AfrikanerInnen verkörpern als auch „den Willen, die<br />
Geschichte <strong>auf</strong> eine verantwortliche Weise zu lesen, ausgehend bei sich selbst/mit den<br />
eigenen Augen (à partir de soi)“ 17 .<br />
In diesem Zusammenhang unterstreicht Jean-Marc Ela „die Krise der Bewegung, die<br />
diejenige der ‚Négritude‘ genannt wird und seit 1930 eine ganze Generation schwarzer<br />
Intellektueller und Schriftsteller geprägt hat“ 18 . Lange Zeit bestimmten die durch die<br />
Négritude <strong>auf</strong>geworfenen Fragen die Reflexionen der afrikanischen ChristInnen über<br />
die Probleme des Glaubens und seiner Sprache. Doch inzwischen wird diese Bewegung<br />
von einer neuen Generation heftig in Frage gestellt:<br />
Für eine große Zahl heutiger schwarzer Intellektueller ist die Négritude nicht<br />
einfach nur überholt, sie stellt vielmehr sogar ein Hindernis dar für die Befreiung<br />
Afrikas insofern sie als eine Ideologie funktioniert, die die Entfremdung<br />
11<br />
12<br />
13<br />
14<br />
15<br />
16<br />
17<br />
18<br />
„[...] en plusieurs Eglises on en revienne à des modes de pensée et à des options pastorales préconciliaires“;<br />
Le Cri de l’homme Africain, S. 145 (African Cry, S. 121).<br />
„En beaucoup d’endroits, on se retrouve dans une Eglise d’avant Vatican II malgré les ouvertures<br />
audacieuses du concile“; a.a.O., S. 145f.<br />
„Tandis que les clercs épuisent leurs ressources dans la rhétorique de l’,indigenisation‘, les dirigeants<br />
africains prônent un retour aux sources qui ne manque pas d’interpeller les Eglises en Afrique Noire“;<br />
a.a.O., S. 146 (African Cry, S. 122).<br />
„[...] une porte d’entrée dans la civilisation occidentale“; ebd.<br />
„L’affirmation de ,l’authenticité‘ n’impose-t-elle pas une relecture de l’Evangile et la recherche d’un<br />
langage de la foi dans la société africaine?“; ebd.<br />
„[...] l’Eglise doit assumer la remise en cause de la domination de l’Occident comme programme<br />
historique“; ebd.<br />
„[...] une volonté de lire l’histoire de manière responsable, à partir de soi“; ebd.<br />
„[...] la crise du mouvement dit de la ,Négritude‘ qui, depuis 1930, a marqué une génération<br />
d’intellectuels et d’écrivains noirs“; ebd.
5 Die Praxis der théologie sous l’arbre am Beispiel von Jean-Marc Elas Analyse und Kritik des<br />
„kulturellen Romantizismus“ 216<br />
des Afrikaners verschleiert. Laut Marcien Towa 19 , der Werk und Denken Senghors<br />
einer genauen Prüfung unterzogen hat, führt die Négritude zur Knechtschaft.<br />
20<br />
Dies führt Jean-Marc Ela zu der Frage, wie das afrikanische Christentum die Werte der<br />
afrikanischen Tradition annehmen kann „zu <strong>einem</strong> Zeitpunkt, wo jede Begeisterung für<br />
diese Werte suspekt erscheint“ 21 . Er erläutert dieses Problem wie folgt:<br />
Die Theoretiker der Négritude haben die innige Gemeinschaft des Menschen<br />
mit der Natur, die Gruppe, die Intuition, die Emotion, das Gedächtnis, das Gefühl<br />
für den Rhythmus, den Sinn für das Bild und das Symbol, die Vorliebe für<br />
den Tanz und den nicht-technischen Charakter (la non-technicité) als „Werte<br />
der Zivilisation der schwarzen Welt“ gefeiert. Man wird feststellen, daß die<br />
Merkmale, durch die die afrikanische Identität definiert wird, zu einer Vorstellungswelt<br />
gehören, die ein Erbe der westlichen Kultur ist. In gewissem Sinn sind<br />
die Quellen der „Négritude“ europäische. Senghors Portrait des Negers gründet<br />
im westlichen Denken des 18. und 19. Jahrhunderts: Man trifft hier <strong>auf</strong> Rousseaus<br />
Edlen Wilden, <strong>auf</strong> den Neger, wie er von Kant gesehen wird, und <strong>auf</strong> den<br />
Afrikaner, wie er durch Hegel und Gobineau beschrieben ist, schließlich begegnet<br />
man den üblen Auslassungen von Levy-Bruhl über die primitive Mentalität<br />
[...]. All dies wird vollständig übernommen, so, wie Césaire 22 seine „Tänze eines<br />
schlechten Negers“ vor sich rechtfertigte: „Ich schäme mich nicht mehr dafür,<br />
der Primitive zu sein, den du mich nanntest“ - so ließe sich der wesentliche<br />
Inhalt der Theorie der Négritude zusammenfassen. 23<br />
Jean-Marc Ela weist dar<strong>auf</strong> hin, daß diese Theorie kaum je die afrikanischen Massen<br />
wirklich beeinflußt hat, die die Négritude vielfach überhaupt nicht einmal kennen. Er<br />
fragt sich, ob diese Theorie nicht in einer Art „Utopismus“ wurzelt, denn bei der Lektüre<br />
der Werke von Schriftstellern der Négritude entsteht der Eindruck, daß<br />
19<br />
20<br />
21<br />
22<br />
23<br />
MARCIEN TOWA, Léopold Sédar Senghor. Négritude ou servitude?, Yaoundé (CLE), 1971.<br />
„Pour un grand nombre d’intellectuels noirs d’aujourd’hui, non seulement la Négritude est dépassée,<br />
mais elle constitue un obstacle à la libération de l’Afrique dans mesure où elle fonctionne comme une<br />
idéologie masquant l’aliénation de l’Africain. Selon Marcien Towa, qui passe au crible l’œuvre et la<br />
pensée de Senghor, la Négritude conduit à la servitude“; Le Cri de l’homme Africain, S. 146f (African<br />
Cry, S. 122).<br />
„[...] au moment où toute exaltation de ces valeurs paraît suspecte“; a.a.O., S. 147 (African Cry, S.<br />
122f).<br />
AIME CESAIRE, Cahier d’un retour au pays natal, Paris (Présence Africaine), 1956 (dtsch.-franz. Ausg.:<br />
Zurück ins Land der Geburt, Frankfurt am Main (Insel), 1962).<br />
„Les théoriciens de la Négritude ont célébré la communion intime de l’homme avec la nature et le<br />
groupe, l’intuition, l’émotion, la mémoire, le sens du rythme, de l’image et du symbole, le goût de la<br />
danse et la non-technicité comme des ,valeurs de civilisation du monde noir‘. On retiendra que les traits<br />
par lesquels l’identité africaine est ici définie appartiennent à un héritage d’idées transmis dans la<br />
culture occidentale. En un sens, les sources de la ,Négritude‘ sont européennes. Le portrait senghorien<br />
du Nègre plonge dans la pensée occidentale du XVIII e et du XIX e siècle: on y retrouve le Bon Sauvage de<br />
Rousseau, le Nègre vu par Kant et l’Africain décrit par Hegel et Gobineau, enfin les formalisations de<br />
Levy-Bruhl sur la mentalité primitive [...]. Tout cela est intégralement assumé, comme Césaire reprend à<br />
son compte ses ,danses de mauvais nègre‘: ,Je n’ai plus honte d’être le primitif que tu as dit‘: ainsi<br />
pourrait-on résumer l’essentiel de la théorie de la Négritude“; ebd. (African Cry, S. 123) (Mit diesem<br />
letzten Satz deutet Jean-Marc Ela an, daß der Bezug <strong>auf</strong> Aimé Césaire wohl nicht als wörtliches Zitat zu<br />
verstehen ist; der Begriff der „danses de mauvaise nègre“ findet sich bei AIMÉ CÉSAIRE [1962], S. 86).
5 Die Praxis der théologie sous l’arbre am Beispiel von Jean-Marc Elas Analyse und Kritik des<br />
„kulturellen Romantizismus“ 217<br />
das präkoloniale Afrika ein ideales Land gewesen sei, in dem Rousseaus Edler<br />
Wilde eine idyllische Existenz geführt habe in <strong>einem</strong> sozialen System, in dem<br />
der Mensch im Rhythmus des Universums Gemeinschaft praktiziert - jede Vorstellung<br />
von Spannung und Konflikt ist hierbei ausgeschlossen. 24<br />
Die „Rückkehr zur Mutter Erde“ oder die Suche nach dem „Land der Geburt“ ist insbesondere<br />
für die entwurzelten Intellektuellen charakteristisch. Von daher aber erweist<br />
sich die Négritude als eine „kleinbürgerliche“ Bewegung (un mouvement „petit bourgeois“)<br />
von Intellektuellen, die zwischen ihrer afrikanischen Tradition und der europäischen<br />
Kultur hin und her gerissen sind:<br />
Die Négritude [...] offenbart das Drama der von der wirklichen afrikanischen<br />
Welt getrennten Eliten. Nun, mehr noch als einen veralteten Romantizismus<br />
präsentiert sie sich als eine Ideologie, die unter dem Deckmantel der Restauration<br />
und der Würdigung (illustration) der schwarzen Kultur die Entfremdung des<br />
Afrikaners verhüllt. 25<br />
Daß die Négritude einige ihrer Wortführer nicht davon abhält, „ein neo-koloniales<br />
System zu rühmen, in dem alle Afrikaner zukünftig Französisch sprechen sollen“ 26 ,<br />
demonstriert Jean-Marc Ela am Fall von Senegal, dessen Präsident von 1960-1980<br />
Senghor war. Die Négritude behindert auch nicht die „Kooperation“ mit dem westlichen<br />
Kapital, die für den Westen sehr vorteilhaft ist. Aber wie das Beispiel einer vom<br />
Ausland finanzierten riesigen landwirtschaftlichen Unternehmung in den Vororten von<br />
Dakar - „Hauptstadt der Frankophonie“ - belegt, die den Ruin der traditionellen GemüseanbauerInnen<br />
zur Folge hatte, trifft dies nicht im gleichen Maße für die AfrikanerInnen<br />
zu.<br />
Es wird suggeriert, die Négritude sei „das grundlegende Problem der immensen Mehrheit<br />
der Bevölkerung, die zwar frankophon genannt wird, jedoch die französische<br />
Sprache nicht einmal kennt und auch ihre Sitten und Gebräuche niemals <strong>auf</strong>gegeben<br />
hat“ 27 . Dies hat insbesondere auch für das Bildungssystem einschneidende Konsequenzen:<br />
Abgesehen davon, daß die Textbücher für den Schulunterricht die französische<br />
Zensur und die französischen Verlagshäuser passieren müssen, werden die jungen<br />
AfrikanerInnen unter dem Vorwand der „Afrikanisierung des Unterrichts“ 28 in ein<br />
kulturelles System integriert, „das sich - genaugenommen - <strong>auf</strong> der Basis eines sehr<br />
beträchtlichen Grabens zwischen den Schriftstellern der Négritude und den ländlichen<br />
24<br />
25<br />
26<br />
27<br />
28<br />
„[...] l’Afrique précoloniale était une terre idéale où le Bon Sauvage de Rousseau aurait vécu une<br />
existence idyllique, dans un système social où l’homme communie au rythme de l’univers, toute idée de<br />
tension et de conflit étant exclue“; a.a.O., S. 147f.<br />
„La négritude [...] révèle le drame des élites en rupture avec le monde africain réel. Or, plus qu’un<br />
romanticisme désuet, elle se présente comme une idéologie qui, sous couvert de restauration et<br />
d’illustration de la culture noire, masque l’aliénation de l’Africain“; a.a.O., S. 148.<br />
„[...] prôner un système néocolonial selon lequel tous les Africains devront parler demain la langue<br />
française“; ebd. (African Cry, S. 124).<br />
„[...] le problème fondamental que se pose l’immense majorité de la population dite francophone qui ne<br />
connaît même pas la langue française et n’a jamais abandonnée ses coutumes“; a.a.O., S. 149.<br />
„[...] l’africanisation de l’enseignement“; ebd.
5 Die Praxis der théologie sous l’arbre am Beispiel von Jean-Marc Elas Analyse und Kritik des<br />
„kulturellen Romantizismus“ 218<br />
Massen konstituiert“ 29 . Die Gefahr dabei ist, daß die afrikanischen SchülerInnen eine<br />
völlig verquere Sicht der Situation der Menschen in Schwarzafrika mitbekommen, und<br />
daß durch „eine idyllische und pittoreske Präsentation des traditionellen Lebens“ 30 -<br />
<strong>auf</strong> der Basis von Texten, die ausländischen LeserInnen die „exotischen“ Sitten der<br />
schwarzen Völker erklären sollen - „die wirklichen Kämpfe gegen den Imperialismus“<br />
31 verschleiert werden:<br />
Im Namen einer sozio-kulturellen Spezifität favorisiert die Négritude die Werte<br />
der Vergangenheit; sie läuft Gefahr, eine retrovertierte Sicht der Gesellschaft zu<br />
begünstigen, eine abwartende und passive Haltung zu schaffen und die Revolte<br />
der ausgehungerten Massen zu kontrollieren, die man einzulullen versucht. 32<br />
In <strong>einem</strong> Kontext, in dem die Bildung einer örtlichen Bourgeoisie ermöglicht wird und<br />
man - wider besseres Wissen - die Existenz sozialer Klassen leugnet,<br />
ist die Négritude - wie jede Apologie der afrikanischen Traditionen - nichts anderes<br />
als eine heimtückische Ideologie der herrschenden Bourgeoisie, objektive<br />
Verbündete des Imperialismus und des internationalen Kapitals, eine Verschleierung<br />
der Verteidigung seiner Hegemonie und der Betreibung seiner Interessen.<br />
Die Négritude wird - in verschiedener Gestalt - von den Regimes vor<br />
Ort dazu benutzt, die wahre Natur des kolonialen Staates zu verschleiern. Sie ist<br />
kennzeichnend für die sozialen Beziehungen, die die traditionellen Hierarchien<br />
abgelöst haben. 33<br />
Die Theorie der Négritude ist also nicht von der Basis her entstanden, wo die Menschen<br />
unter dem Elend und der Ungerechtigkeit leiden, sondern <strong>wurde</strong> von einer bourgeoisen<br />
Elite - bzw. von Intellektuellen in ihrer Studierstube - ausgearbeitet. Auch „die<br />
Rhetorik vom Beitrag Afrikas zu einer ‚universalen Zivilisation‘“ 34 kann nicht verbergen,<br />
daß sie ein System bemäntelt, in dem die Menschen dazu verdammt sind, Parolen<br />
und nichtssagende Begriffe zu rezitieren:<br />
Es ist denn auch bequemer, den neuen Generationen eine mystifizierende Theorie<br />
anzubieten, die sie der Reproduktion von Elementen der Tradition unterwirft,<br />
als ihnen die Möglichkeit zu geben, <strong>auf</strong> kritische Weise eine Situation zu<br />
29<br />
30<br />
31<br />
32<br />
33<br />
34<br />
„[...] un système culturel qui se constitue, précisément, à partir d’une coupure très importante entre les<br />
écrivains de la Négritude et les masses paysannes“; ebd.<br />
„[...] une présentation idyllique et pittoresque de la vie traditionnelle“; ebd.<br />
„[...] les luttes réelles contre l’impérialisme“; ebd.<br />
„Au nom d’une spécificité socio-culturelle, la Négritude favorise les valeurs du passé; elle risque de<br />
faciliter une vision passéiste de la société, de créer l’attentisme et de contrôler la révolte des masses<br />
affamées que l’on s’efforce d’endormir“; ebd. (African Cry, S. 125).<br />
„[...] la Négritude, comme toute apologie des traditions africaines, n’est qu’une idéologie sournoise de la<br />
bourgeoisie dirigeante, allié objectif de l’impérialisme et du capital international pour masquer la<br />
défense de son hégémonie et de la poursuite de ses intérêts. La Négritude a été récupérée par les régimes<br />
en place, sous des formes diverses, afin de masquer la nature réelle de l’Etat colonial. Elle est révélatrice<br />
des rapports sociaux qui se sont substitués aux hiérarchies traditionnelles“; ebd.<br />
„[...] la rhétorique sur la contribution de l’Afrique à la ,civilisation de l’universel‘ “; a.a.O., S. 150.
5 Die Praxis der théologie sous l’arbre am Beispiel von Jean-Marc Elas Analyse und Kritik des<br />
„kulturellen Romantizismus“ 219<br />
untersuchen, die eine radikale Veränderung ihrer Strukturen und Institutionen<br />
erfordert. 35<br />
Genau umgekehrt wird gerade ein freies Denken unterbunden, denn dies würde eine<br />
öffentliche Debatte und Auseinandersetzung in allen Bereichen der Gesellschaft implizieren.<br />
Um die AfrikanerInnen von einer kritischen Analyse der wirklichen Probleme,<br />
mit denen die beherrschten Gesellschaften heute konfrontiert sind, abzulenken, wird<br />
<strong>auf</strong> eine Theorie zurückgegriffen, die sie <strong>auf</strong> ihre Vergangenheit fixiert. Sie sollen ihre<br />
Identität als AfrikanerInnen in einer mythischen Vergangenheit suchen - in einer Vergangenheit,<br />
die mensch meist nur aus den Werken europäischer Ethnologen kennt.<br />
Jean-Marc Ela geht insbesondere <strong>auf</strong> Mobutus Politik der „Authentizität“ in Zaire ein,<br />
für die unter anderem die Rückkehr zu den ancestralen bzw. traditionellen Namen ein<br />
integraler Bestandteil ist. Ist es ohne Zweifel legitim, wenn ein afrikanisches Land den<br />
Namen, den ihm der Kolonisator gegeben hatte, durch einen afrikanischen ersetzen<br />
will, so ist Mobutus Praxis dennoch entlarvend; denn während „Congo“ durchaus ein<br />
afrikanischer Name ist, so stammt „Zaire“ tatsächlich von den Portugiesen. Solche<br />
Beispiele meint Jean-Marc Ela zur Genüge anführen zu können, die belegen, wie weit<br />
her es mit einer wirklichen „Authentizität“ ist:<br />
Mehr und mehr stellt sich diese als eine ideologische Maske heraus, deren<br />
Funktion es ist, ein Regime zu stützen, das jede Opposition ausschließt. Die<br />
„Authentizität“ zu predigen, bedeutet, eine Art Monokephalismus zu konsolidieren,<br />
der die Inbesitznahme der Macht durch einen absoluten Führer (chef)<br />
zur Folge hat. Letztendlich ist die „Authentizität“ die Theorie einer persönlichen<br />
Diktatur. 36<br />
In diesem Sinn bedeutet, den Massen ihr „authentisches“ Wesen zurückzugeben,<br />
selbstverständlich nicht, ihnen die eigene Kontrolle über ihre Entwicklung zu ermöglichen.<br />
Dies würde „eine Kritik des Systems der Ausbeutung implizieren, durch das sie<br />
beherrscht werden“ 37 . Demgegenüber bringt die „Authentizität“ die Menschen vielmehr<br />
ab von „einer lebendigen kulturellen Kritik ihres gegenwärtigen Zustandes“ 38 und<br />
von einer Bewußtwerdung der neo-kolonialen Herrschaft:<br />
Der kulturelle Traditionalismus, der die Rhetorik der Authentizität nährt, verhindert<br />
eine klare Wahrnehmung der grundlegenden ökonomischen Ausbeutung,<br />
die das System der kolonialen Ökonomie konstituiert, das durch die Proklamation<br />
einer Scheinunabhängigkeit nicht zerstört <strong>wurde</strong>. Wenn man nicht<br />
imstande ist, ein unabhängiges kulturelles System <strong>auf</strong>zubauen, das die Massen<br />
im Paradies der Authentizität bewahren würde, ohne die afrikanische Ökonomie<br />
35<br />
36<br />
37<br />
38<br />
„Car il est commode d’offrir aux nouvelles générations une théorie mystificatrice qui les soumet à la<br />
reproduction des éléments de la tradition sans leur donner la possibilité d’examiner de façon critique<br />
une situation qui exige des transformations radicales de structures et d’institutions“; ebd.<br />
„Celle-ci [i.e. l’,authenticité‘] apparaît de plus en plus comme une idéologie-masque dont la fonction est<br />
de garantir un régime qui exclut toute opposition. Prêcher ,l’authenticité‘, c’est consolider une sorte de<br />
monocéphalisme qui entraîne la confiscation du pouvoir au profit d’un chef absolu. A la limite,<br />
l’,authenticité‘ est une théorie de la dictature personnelle“; a.a.O., S. 150f (African Cry, S. 126).<br />
„[...] une critique du système d’exploitation qui les domine“; a.a.O., S. 151.<br />
„[...] une critique culturelle vivante de leur état présent“; ebd.
5 Die Praxis der théologie sous l’arbre am Beispiel von Jean-Marc Elas Analyse und Kritik des<br />
„kulturellen Romantizismus“ 220<br />
der Herrschaft des internationalen Kapitalismus auszuliefern, dann ist die Ablehnung<br />
importierter Ideologien nichts als eine pure Mystifizierung, denn sie<br />
läßt die neo-koloniale Ausbeutung intakt. 39<br />
Die Politik der „Authentizität“ erweckt den Eindruck, als ginge es ihr nur darum, daß<br />
die Massen nichts über ihre reale Situation erfahren. Dadurch, daß sie vor jeglicher<br />
revolutionären Kritik des herrschenden Systems ‚behütet‘ werden sollen, wird es ihnen<br />
tatsächlich aber verwehrt, zu <strong>einem</strong> Wissen und Bewußtsein um ihre faktische Entfremdung<br />
zu kommen und ihre wirkliche Authentizität zu erringen. Die Ideologie der<br />
„Authentizität“ schreckt auch nicht davor zurück, für ihre Zwecke die Geschichte zu<br />
fälschen, indem sie den Massen weismacht, daß „das Afrika der Ahnen keine internen<br />
Gegensätze und Konflikte gekannt hätte“ 40 , so als „sei in der Vergangenheit alles nur<br />
Ordnung und Stabilität, Einstimmigkeit und Harmonie gewesen.“ 41 Auf diese Weise<br />
„will man im Namen der Tradition die bedingungslose Unterwerfung unter eine absolute<br />
Herrschaft rechtfertigen, die zu Repression und Folter führt, wie auch zum Verschwinden<br />
jeder Opposition.“ 42<br />
In Anlehnung an Frantz Fanon, der skeptisch war in bezug <strong>auf</strong> den Nutzen einer systematischen<br />
Glorifizierung der Vergangenheit für den Aufbau einer gerechten Zukunft,<br />
proklamiert Jean-Marc Ela das Ende der „Zeit des schwarzen Orpheus“ 43 :<br />
Angesichts der großen Finanz- und Industrieimperien - uneinnehmbare Zitadellen<br />
des Kapitals - braucht es etwas anderes als Musik und Tanz, Masken und<br />
Lächeln. Die Suche nach der Authentizität durch den Rhythmus kann für das<br />
heutige Afrika eine Gefahr sein. Dem Neger zu sagen, daß er zuvörderst ganz<br />
39<br />
40<br />
41<br />
42<br />
43<br />
„Le traditionalisme culturel qui alimente la rhétorique de l’authenticité masque la perception claire de<br />
l’exploitation économique fondamentale que constitue le système d’économie coloniale qui n’a pas été<br />
détruit par la proclamation des indépendances bidons. Si l’on ne peut édifier un système culturel<br />
indépendant qui abriterait les masses dans le paradis de l’authenticité sans renoncer à livrer l’économie<br />
de l’Afrique à la domination du capitalisme international, le rejet des idéologies importées est une pure<br />
mystification, car il laisse intacte l’exploitation néocoloniale“; ebd.<br />
„[...] l’Afrique ancestrale aurait ignoré les oppositions et conflits internes“; a.a.O., S. 152 (African Cry, S.<br />
127).<br />
„Tout n’aurait été dans le passé qu’ordre et stabilité, unanimité et harmonie“; ebd. - Jean-Marc Ela geht<br />
also umgekehrt davon aus, daß die ancestrale Kultur ökonomische und politische Komponenten enthält,<br />
die von den „Ethnophilosophen“ und den Vertretern einer Politik der „Authentizität“ nicht zur Sprache<br />
gebracht werden. <strong>Das</strong> kulturelle Erbe ist in Wirklichkeit die Frucht von Machtkämpfen und spiegelt die<br />
Position der Sieger dieser Kämpfe wieder. Im Erbe der Väter, d.h. dem Diskurs der Sieger, sind von daher<br />
Unterdrückungsmechanismen und Gewalt verborgen. - Mit dieser Einsicht befindet sich Jean-Marc<br />
Ela <strong>auf</strong> einer Linie mit dem in Benin lebenden Philosophen Paulin J. Hountondji (* 1942 in Abidjan), der<br />
bzgl. des Umgangs mit der mündlichen Literatur im ethnophilosophischen Diskurs Kritik übt an der<br />
Abstrahierung von deren konkretem Kontext: „In diesem Prozeß geht der ursprüngliche Geschmack<br />
dieser Texte, ihr Sinn und letztlich ihre theoretische Bedeutung verloren. Schlimmer noch: Es verstellt<br />
ihre historische Relativität als Texte, die zu bestimmten Zeiten von <strong>einem</strong> einzelnen oder einer Gruppe<br />
von Individuen hervorgebracht worden sind, welche von bestimmten Interessen motiviert waren, die<br />
ihn oder sie in Gegensatz zu anderen Gruppen oder Individuen oder Gruppen von Individuen gebracht<br />
haben mögen“; PAULIN J. HOUNTONDJI, Afrikanische Philosophie. Mythos und Realität, Berlin (Dietz),<br />
1993 (franz. Orig.: 1977), S. 212f.<br />
„C’est au nom de la tradition qu’on voudrait justifier la soumission inconditionnelle au pouvoir absolu<br />
qui conduit à la répression et à la torture, ainsi qu’à la disparition de toute opposition“; Le Cri de<br />
l’homme Africain, S. 152.<br />
„[...] le temps des Orphées noirs est fini“; ebd.
5 Die Praxis der théologie sous l’arbre am Beispiel von Jean-Marc Elas Analyse und Kritik des<br />
„kulturellen Romantizismus“ 221<br />
Gefühl sei - insbesondere wenn man Gefühl als „ein plötzliches Eintauchen<br />
(une chute brusque) des Bewußtseins in die Welt der Magie“ definiert -, bedeutet,<br />
den Schwarzen daran zu hindern, zu begreifen, daß der Weg der Hoffnung<br />
über die Ausübung kritischen Denkens führt, das eine radikale Infragestellung<br />
des Systems der neo-kolonialen Herrschaft impliziert. 44<br />
Die Schwächen und Fehler des traditionellen Afrikas zu verschweigen, führt laut Jean-<br />
Marc Ela in eine Sackgasse. Der Rekurs <strong>auf</strong> die Vergangenheit darf vor allem aber<br />
nicht davon abhalten, ganz im hier und heute zu leben:<br />
Wir müssen uns um eine neue Art und Weise des Seins in der Welt bemühen -<br />
in einer Situation, in der das Zutagetreten der städtischen Zentren, der Industriegebiete,<br />
des ländlichen Exodus, etc. die Fundamente der Familie, des traditionellen<br />
kulturellen Zentrums, untergraben und zugleich die Einführung einer<br />
extravertierten und entfremdenden Massenkultur begünstigen, die sich anschickt,<br />
eine hegemoniale Rolle zu spielen. Dies um so mehr, als sie die - von<br />
außen manipulierten - neuen Kommunikationstechniken darin unterstützen. Die<br />
afrikanischen Gesellschaften stehen vor der Aufgabe, sich im ganzen neu zu<br />
überdenken, um - ausgehend von den aktuellen Herausforderungen, die sie zu<br />
einer kulturellen Erfindung herausfordern - eine neue Kultur zu erarbeiten. 45<br />
Die Exhumierung einer vermeintlich „originalen afrikanischen Weltanschauung“ (philosophie<br />
africaine originale) ist weder eine Lösung der aktuellen Probleme noch eine<br />
Hilfe dafür, in der modernen Welt bestehen zu können. Es geht nicht mehr um das<br />
Recht der AfrikanerInnen <strong>auf</strong> die Anerkennung ihrer Würde, ihrer Originalität und<br />
ihrer Werte, sondern darum, diese heute in die Praxis umsetzen, um ihre Aktualisierung,<br />
ihre Verwirklichung in der Gegenwart. Im übrigen gilt es, die alten Konzeptionen<br />
des Lebens zu entmystifizieren, denn außer daß die Welt der Ahnen nicht mehr die<br />
Welt der AfrikanerInnen von heute ist, verkörpern diese auch deren Schwäche angesichts<br />
des Kolonialismus. Die wirkliche Geschichte Afrikas ist nicht nur die seiner<br />
Kämpfe und Siege, sondern gerade auch die seiner Ausbeutung und Niederlagen. Im<br />
übrigen bleibt die kulturelle Befreiung so lange eine Illusion, wie „das koloniale Kapital<br />
vor Ort weiterhin einen bestimmenden Einfluß ausübt“ 46 .<br />
Der Kampf für die Kultur - so sagt Jean-Marc Ela im Anschluß an Frantz Fanon - impliziert<br />
den Kampf für die nationale Befreiung. Diese ist die materielle Grundlage, <strong>auf</strong><br />
44<br />
45<br />
46<br />
„Face aux grands empires de la finance et de l’industrie, citadelles inexpugnables du capital, il faut<br />
autre chose que la musique et la danse, les masques et le sourire. La recherche de l’authenticité à travers<br />
le rythme peut être un danger pour l’Afrique actuelle. Dire au Nègre qu’il est avant tout émotion,<br />
surtout si l’on définit l’émotion comme ,une chute brusque de la conscience dans le monde magique‘,<br />
c’est empêcher le Noir de comprendre que le chemin de l’espoir passe par la mise en œuvre de la pensée<br />
critique qui conduit à la mise en question radicale du système de domination néo-coloniale“; ebd.<br />
„Nous devons chercher une nouvelle manière d’être au monde dans une conjoncture où l’émergence de<br />
centres urbains, de zones industrielles, l’exode rural, etc., affaiblissent les fondements des foyers<br />
culturels traditionnels, au moment où ils favorisent l’implantation d’une culture de masse, extravertie et<br />
aliénante, qui se propose de jouer un rôle hégémonique d’autant plus que les nouvelles techniques de<br />
communication, manipulées de l’extérieur, lui servent de support. Les sociétés africaines se trouvent<br />
sommées de se repenser globalement pour élaborer une nouvelle culture à partir des défis actuels qui<br />
les provoquent à l’invention culturelle“; a.a.O., S. 152f (African Cry, S. 127f).<br />
„[...] sur le terrain, le capital colonial mène le jeu“; a.a.O., S. 153 (African Cry, S. 128).
5 Die Praxis der théologie sous l’arbre am Beispiel von Jean-Marc Elas Analyse und Kritik des<br />
„kulturellen Romantizismus“ 222<br />
der eine nationale Kultur erst möglich wird. Darüber hinaus „ist die afrikanische Identität<br />
kein Erbe, das man weitergibt, sondern das Werk eines historischen Subjekts, das<br />
sich selbst verändert, indem es die Welt verändert, in der es lebt“ 47 . Diese Erkenntnis<br />
führt zur Einsicht in die Notwendigkeit dessen, „daß sich Menschen erheben und sich<br />
um einen Neuanfang bemühen, um Afrika durch ihren Mut und ihre Initiative ein neues<br />
Bild von sich selbst zu geben“ 48 :<br />
Demzufolge müssen wir uns selbst <strong>auf</strong>geben (mourir à soi), um uns selbst wiederzugewinnen.<br />
Selbstbejahung (l’affirmation de soi) geschieht über Selbstverneinung<br />
(la négation de soi); sie erfordert die Mühe einer kontinuierlichen<br />
(Selbst-)Überschreitung (dépassement) - was die gleiche Bewegung wie die der<br />
Freiheit ist. Die traditionelle Kultur muß von Grund <strong>auf</strong> revolutioniert werden,<br />
um in ihrem schöpferischen Elan übernommen werden zu können. 49<br />
Jean-Marc Ela betont nun, daß die Suche nach einer afrikanischen Sprache des Glaubens<br />
und die Bemühungen um die Indigenisierung des Christentums in Afrika von den<br />
Kirchen in genau dieser Perspektive <strong>auf</strong>genommen werden müssen:<br />
Zu <strong>einem</strong> Zeitpunkt, wo der „Rekurs <strong>auf</strong> die Tradition“ zumeist nur als Alibi<br />
dient, um eine ideologische Ausbeutung <strong>auf</strong>rechtzuerhalten, deren Kosten die<br />
ausgehungerten Massen zahlen, kann die Inkarnation in ein afrikanisches Milieu<br />
für das Christentum nicht eine einfache Folklorisierung der Ausdrucksweisen<br />
des Glaubens beinhalten. [...] Die Kirche kann nicht nur nicht die afrikanischen<br />
Realitäten ohne Unterschied und unkritisch übernehmen, sie kann dies auch<br />
nicht tun, ohne ihren Blick freizumachen und zu öffnen für den explosiven Zustand,<br />
den die entfremdeten Beziehungen angenommen haben. <strong>Das</strong> Problem der<br />
Akkulturation des Christentums muß integriert werden in das Koordinatensystem<br />
einer Strategie einer bewußt befreienden Evangelisierung, und dies<br />
schließt jegliche Konzessionen gegenüber einer Politik der Authentizität aus,<br />
die ein aristokratisches Mißtrauen hinsichtlich der Fähigkeit der Massen, schöpferische<br />
Intelligenz zu beweisen, impliziert. 50<br />
Die von der Kirche angestrebte Begegnung zwischen dem christlichen Glauben und<br />
der afrikanischen Kultur vollzieht sich in <strong>einem</strong> Kontext, in dem die Kultur im wesent-<br />
47<br />
48<br />
49<br />
50<br />
„[...] l’identité africaine n’est pas un héritage que l’on transmet, mais l’œuvre d’un sujet historique qui<br />
se transforme lui-même en transformant le monde où il vit“; a.a.O., S. 154 (African Cry, S. 129).<br />
„[...] il faut que se lèvent des hommes s’astreignant à des commencements nouveaux, pour donner à<br />
l’Afrique un autre visage d’elle-même à force de courage et d’initiatives“; ebd.<br />
„Dès lors, il faut mourir à soi pour se retrouver: l’affirmation de soi passe par la négation de soi; elle<br />
exige un effort de dépassement continu qui est le mouvement même de la liberté. La culture<br />
traditionnelle doit être révolutionnée de fond en comble pour être assumée en son élan créateur“; ebd.<br />
„Au moment où le ,recours à la tradition‘ ne sert, le plus souvent, que d’alibi pour alimenter une<br />
exploitation idéologique dont les masses affamées payent les frais, s’incarner en milieu africain ne<br />
saurait impliquer pour le christianisme une folklorisation facile des expressions de la foi. [...] Non<br />
seulement l’Eglise ne peut assumer les réalités africaines sans discernement, mais elle ne peut le faire<br />
sans débloquer ni ouvrir la perspective d’un éclatement assumé des rapports aliénants. Il faut intégrer le<br />
problème de l’acculturation du christianisme dans l’axe d’une stratégie d’évangélisation délibérément<br />
libératrice, ce qui ne correspond nullement à des concessions faites à une politique d’authenticité qui<br />
implique une méfiance aristocratique à l’égard de la capacité des masses à faire preuve d’intelligence<br />
créatrice“; a.a.O., S. 154f (African Cry, S. 129f).
5 Die Praxis der théologie sous l’arbre am Beispiel von Jean-Marc Elas Analyse und Kritik des<br />
„kulturellen Romantizismus“ 223<br />
lichen um den Begriff der „Herausforderung“ (défi) herum definiert werden muß. Es<br />
geht nicht mehr um den Gegensatz von Modernismus und Tradition, sondern um die<br />
im Befreiungskampf erhobene Forderung nach der Geburt einer neuen Kultur innerhalb<br />
der beherrschten Gesellschaften. Insofern die afrikanischen Massen noch einen<br />
engen Bezug zu ihrer traditionellen Kultur haben, muß die Kirche also genau dort nach<br />
Ausdrucksformen für ihren Glauben suchen, wo sich die Kultur und die Befreiung des<br />
Volkes ursprünglich miteinander verbinden. Allen Angriffen zum Trotz hat die afrikanische<br />
Kultur in den „Buschdörfern“ überlebt. „Diese Kultur hat es nötig, durch den<br />
Einsatz der Massen des Volkes für die Inbesitznahme der Früchte ihrer Arbeit, zu neuem<br />
Leben zu erwachen“ 51 :<br />
Wenn sich für die afrikanische Landbevölkerung das Problem eines „zurück zu<br />
den Quellen“ insofern nicht stellt, als sie ihre Kultur haben und leben, dann ist<br />
das fundamentale Problem demgegenüber die Befreiung der Massen als Basis<br />
dafür, daß die Kultur des Volkes eine lebendige Kultur werden kann, die ihren<br />
Platz in der zeitgenössischen Geschichte hat. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist<br />
die Landbevölkerung die Quelle der afrikanischen Kultur; in all den Aufgaben,<br />
durch die diese Bevölkerung fähig wird, eine neue Kultur zu schaffen und Geschichte<br />
zu machen, findet die Kirche den Ort par excellence, um die kulturelle<br />
Distanz zwischen Afrika und dem christlichen Glauben zu überwinden. 52<br />
Um die Aufgaben der Kirche in bezug <strong>auf</strong> die Sprache des Glaubens sachgemäß formulieren<br />
zu können, muß laut Jean-Marc Ela „unterschieden werden zwischen der<br />
Situation der Massen des Volkes, die die Kultur bewahren, aber es nötig haben, befreit<br />
zu sein, und derjenigen einer Minderheit von Privilegierten, die mehr oder weniger<br />
assimiliert und kulturell entfremdet und entwurzelt sind“ 53 . Die Notwendigkeit, den<br />
Glauben und das Evangelium von dem Prozeß her auszusagen, durch den die Massen<br />
für ihre Befreiung kämpfen, bedeutet keineswegs, daß die Kirche nicht auch eine für<br />
die Eliten und politischen Entscheidungsträger verständliche Sprache ihrer Botschaft<br />
suchen muß, die diese dort erreicht, wo sie über das Schicksal der Massen entscheiden:<br />
„Einen dem Evangelium gemäßen Lebensstil entstehen zu lassen, der für die Situation<br />
von Führungspersonen angemessen ist, die sich für die Umgestaltung der Gesellschaft<br />
engagieren, ist eine ernste Frage für die Pastoral in Afrika.“ 54<br />
51<br />
52<br />
53<br />
54<br />
„Cette culture a besoin de reprendre vie grâce à l’effort des masses populaires pour prendre possession<br />
du fruit de leur labeur“; a.a.O., S. 155 (African Cry, S. 130).<br />
„Si le problème d’un ,retour aux sources‘ ne se pose pour les paysans africains, dans la mesure où ils<br />
portent et vivent leur culture, par contre la libération des masses est le problème fondamental à partir<br />
duquel la culture populaire peut devenir une culture vivante, ayant sa place dans l’histoire<br />
contemporaine. A l’heure actuelle, les populations rurales sont la source de la culture africaine; dans<br />
toutes les tâches par lesquelles ces populations deviennent aptes à créer une nouvelle culture et à faire<br />
l’histoire, l’Eglise trouve le lieu privilégié pour vaincre la distance culturelle entre l’Afrique et la foi<br />
chrétienne“; ebd.<br />
„[...] il faut donc faire une distinction entre la situation des masses populaires, qui préservent la culture<br />
mais ont besoin d’être libérées, et celle d’une minorité de privilégiés, plus ou moins assimilés et<br />
culturellement aliénés et déracinés“; ebd.<br />
„Susciter un style de vie évangélique qui corresponde à la situation des cadres qui s’engagent dans les<br />
transformations de la société est une grave question pour la pastorale en Afrique“; a.a.O., S. 156<br />
(African Cry, S. 131).
5 Die Praxis der théologie sous l’arbre am Beispiel von Jean-Marc Elas Analyse und Kritik des<br />
„kulturellen Romantizismus“ 224<br />
Wenn „die Hoffnungen <strong>auf</strong> Befreiung der Ort der Ausarbeitung einer Sprache des<br />
Glaubens sind, der einer Gesellschaft im Werden Rechnung trägt“ 55 , dann dürften die<br />
traditionellen Gebräuche, Riten und Glaubensformen - wie z.B. die Ahnenverehrung<br />
oder die Eheformen - den Kirchen keine Probleme mehr bereiten. Es sind vielmehr der<br />
Lebensstil und der Typus des Menschen und der Gesellschaft, wie sie durch die herrschenden<br />
Institutionen und Entwicklungsprojekte hervorgebracht werden, die mit dem<br />
Evangelium und dem Glauben konfrontiert werden müssen. Von daher sind die entscheidenden<br />
Fragen und Probleme, <strong>auf</strong> welche die Kirche in diesem Sinn eine Antwort<br />
finden muß, diejenigen, die Jean-Marc Ela wie folgt formuliert:<br />
Wie ist vom Heil zu sprechen in einer Situation, in der sich Afrika im Kampf<br />
gegen den Imperialismus befindet? Wie kann die Kirche die kulturelle Identität<br />
Afrikas dort respektieren, wo der beherrschende Einfluß der ausländischen Gesellschaften<br />
jegliche Identität in Frage stellt? Ist die Scheinunabhängigkeit nicht<br />
ein Hindernis für die Bejahung des afrikanischen Menschen und die Anerkennung<br />
seiner wirklichen Identität?<br />
Konkreter: Wie ist das Evangelium in Gesellschaften zu bezeugen, wo sich -<br />
ungeachtet des offiziellen Geschwätzes über die nationale Einheit - eine bürokratisierte<br />
Elite einrichtet, die den beraubten Massen einen großen Teil des<br />
Volkseinkommens entreißt? Darf die Kirche ihre Energie für die Aufrechterhaltung<br />
irgendwelcher kanonischer Regeln verschwenden, während sie so die Probleme<br />
der Gewalt vernachlässigt, die Millionen von Menschen ihrer Menschlichkeit<br />
beraubt? 56<br />
Jean-Marc Ela fügt dem hinzu, daß nichts besser den Abstand demonstrieren könnte,<br />
der die Kirche in Afrika von den Massen der Bevölkerung trennt, als das Nichtvorhandensein<br />
einer Sprache des Glaubens, die eine Antwort <strong>auf</strong> das Problem ungerechter<br />
Verhältnisse zu geben vermag. Für manche ist gar die Verweigerung der Sakramente<br />
für Polygamisten ein sehr viel wichtigeres Problem als das Engagement der Kirche im<br />
Kampf gegen die soziale Ungerechtigkeit. Eine „Inkarnation des Evangeliums im<br />
Fleisch des Afrika von heute“ 57 ist aber nur dann möglich, wenn sich die Kirche in die<br />
Slums und unter die Massen der Ausgebeuteten und Unterdrückten begibt. Nicht zuletzt<br />
hängt die Vitalität des afrikanischen Christentums von der Partizipation der Kirche<br />
an den Kämpfen der afrikanischen Massen ab, die aus der ihnen <strong>auf</strong>gezwungenen<br />
Unterentwicklung und aus Verhältnissen, die ihre menschliche Freiheit negieren, he-<br />
55<br />
56<br />
57<br />
„Les espoirs de libération sont le lieu d’élaboration d’un langage de la foi qui tient compte d’une société<br />
en devenir“; ebd.<br />
„Comment parler du salut dans la situation d’une Afrique en lutte contre l’impérialisme? Comment<br />
l’Eglise peut-elle respecter l’identité culturelle africaine là où l’emprise des sociétés étrangères met en<br />
cause toute identité? Les indépendances de façade ne sont-elles pas un obstacle à l’affirmation de<br />
l’homme africain et à la reconnaissance de son identité véritable?<br />
Plus concrètement, comment témoigner de l’Evangile dans les sociétés où, malgré les bavardages<br />
officiels sur l’unité nationale, s’installe une élite bureaucratisée qui arrache aux masses démunies une<br />
grande part du revenu national? L’Eglise doit-elle dépenser ses énergies pour le maintien de quelques<br />
règles canoniques en négligeant ainsi les problèmes de violence qui dépouillent des millions d’hommes<br />
de leur humanité?“; ebd.<br />
„[...] une incarnation de l’Evangile dans la chair de l’Afrique d’aujourd’hui“; a.a.O., S. 157 (African Cry,<br />
S. 132).
5 Die Praxis der théologie sous l’arbre am Beispiel von Jean-Marc Elas Analyse und Kritik des<br />
„kulturellen Romantizismus“ 225<br />
rauskommen wollen. Nur <strong>auf</strong> der Grundlage der Involvierung der Kirche in diese<br />
Kämpfe gewinnen die Ausdrucksformen des Glaubens ihren Sinn. Die „Partizipation<br />
der Kirche an diesen Kämpfen wird zur Bedingung der Möglichkeit jeglicher Liturgie,<br />
jeglicher Katechese und jeglicher Theologie in Afrika“ 58 :<br />
Die Lebenserfahrung der Gemeinschaften und ihre Aktionen für ein Leben in<br />
Freiheit und Gerechtigkeit sind der Ausgangspunkt, von dem her der Bezug <strong>auf</strong><br />
Jesus und seine Mission, die verbunden ist mit der Befreiung der Unterdrückten,<br />
zu s<strong>einem</strong> wirklichen Sinn kommt. Die Kirche findet demnach zu ihrem wahren<br />
und nicht nur folkloristischen afrikanischen Gesicht in all den Risiken und Initiativen,<br />
die sie mitträgt, um eine Gesellschaft zu fördern, die es den Armen<br />
ermöglicht, daß sie arbeiten und sich angemessen ernähren können. [...] die Kirche<br />
muß dar<strong>auf</strong> verzichten, von Gott <strong>auf</strong> eine absolute Weise (dans l’absolu) zu<br />
reden, damit sie sich wiederfindet an der Seite der Gruppen und all derjenigen,<br />
die für eine gerechtere und menschlichere Gesellschaft kämpfen. 59<br />
Die Erarbeitung einer afrikanischen Ausdrucksweise der christlichen Botschaft, die<br />
sich insbesondere <strong>auf</strong> die Erfahrungen der kleinen Gemeinschaften gründet, ist jedoch<br />
nur dann möglich, wenn sich die AfrikanerInnen auch tatsächlich im Leben der Kirche<br />
<strong>auf</strong> ihre Weise ausdrücken können. Aber zum gegenwärtigen Zeitpunkt scheint ein<br />
solches Anliegen <strong>auf</strong> allen Ebenen blockiert zu werden, insbesondere im Bereich der<br />
Liturgie, wo Afrika nichts außer einigen geringfügigen Konzessionen erreicht hat, „die<br />
nur Liebhaber einer Negerfolklore befriedigen können“ 60 . Aber die Möglichkeit, im<br />
Gottesdienst afrikanische Musikinstrumente (z.B. Tam-Tams und Balafons) benutzen<br />
und dazu tanzen zu können, erlaubt es noch nicht, von einer afrikanischen Liturgie zu<br />
sprechen:<br />
Hier haben wir alles von Grund <strong>auf</strong> neu zu erfinden. Wenn es nun einmal so ist,<br />
daß „wir unsere Zukunft nicht in der Vergangenheit anderer haben können“,<br />
wie uns F. Eboussi erinnert, dann müssen wir begreifen, daß es die Geschichte<br />
ist, die wir selbst gestalten - und nicht die der anderen -, die der Ort unseres<br />
Fragens nach dem Glauben und seiner Bedeutung ist. 61<br />
Aus einer solchen Perspektive, für die es von grundlegender Bedeutung ist, die Praxis<br />
und das Verständnis des Glaubens einer „historischen Verifizierung“ (l’épreuve de<br />
l’histoire) auszusetzen, muß jede individuelle und zeitlose Problematik des Glaubens<br />
als sehr beschränkt erscheinen, stehen doch ganz fundamentale Fragen zur Debatte, <strong>auf</strong><br />
58<br />
„[...] la participation de l’Eglise à ces combats devient la condition de la possibilité de toute liturgie, de<br />
toute catéchèse et de toute théologie en Afrique“; ebd.<br />
59<br />
„C’est en partant de l’expérience de vie des communautés et de leur action pour une vie de liberté et de<br />
justice que la référence à Jésus et à sa mission liée à la libération des opprimés trouve son sens véritable.<br />
L’Eglise se cherche donc son visage réel et non folkloriquement africain dans tous les risques et les<br />
initiatives où elle intervient pour promouvoir une société permettant aux pauvres de pouvoir travailler<br />
et se nourrir convenablement. [...] l’Eglise doit renoncer à parler de Dieu dans l’absolu pour se retrouver<br />
du côté des groupes en lutte et de tous ceux qui aspirent à une société plus juste et plus humaine“; ebd.<br />
60 „[...] qui ne peuvent satisfaire que les amateurs de folklore nègre“; a.a.O., S. 158 (African Cry, S. 133).<br />
61<br />
„Ici, nous avons tout à inventer. Seulement, si, comme le rappelle F. Eboussi, ,nous ne pouvons avoir<br />
notre avenir dans le passé des autres‘, il nous faut comprendre que c’est l’histoire que nous faisons, non<br />
celle des autres, qui est le lieu de notre interrogation sur la foi et son sens“; ebd.
5 Die Praxis der théologie sous l’arbre am Beispiel von Jean-Marc Elas Analyse und Kritik des<br />
„kulturellen Romantizismus“ 226<br />
die „eine um den Altar herum zentrierte nette Versammlung“ 62 keine Antwort geben<br />
kann:<br />
Wie läßt sich über den Akademismus hinauskommen, um wirklich überzeugend<br />
zu Jugendlichen von Gott reden zu können, die Aimé Césaire oder Mongo Beti<br />
63 lesen, oder auch zu Gruppen, die gegen all die verschiedenen Formen der<br />
Unterdrückung und Ungerechtigkeit kämpfen? Wie kann die Mission der Kirche<br />
neu gedacht werden, so daß die Menschen - langfristig gesehen - die „Missionen“<br />
vielleicht gar nicht mehr nötig hätten für Schule, Gesundheit und Kultur?<br />
[...] 64<br />
Zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist es jedoch noch weitestgehend so, daß - trotz einiger<br />
oberflächlicher Veränderungen - der Glaube in Afrika seinen Ausdruck in Formulierungen<br />
findet, die <strong>auf</strong> historischen Erfahrungen beruhen, die nicht die der AfrikanerInnen<br />
sind. Dies verhindert in der Tat das Entstehen eines lebendigen Glaubens, „der die<br />
Antwort des Evangeliums <strong>auf</strong> die Fragen der afrikanischen Gesellschaften wäre“ 65 .<br />
Mehr noch: Gerade in dieser Hinsicht „erscheint das Christentum als ein mächtiger<br />
Faktor der Entfremdung des schwarzen Menschen“ 66 :<br />
Um aus dieser Sackgasse und tiefgreifenden Notlage herauszukommen, in der<br />
zahlreiche Christen leben, muß eine afrikanische Ausdrucksweise des Glaubens<br />
gefördert werden, die aus unserer Sicht der Welt und aus unserer eigenen historischen<br />
Erfahrung hervorgeht. Aber wenn es verschiedene Weisen gibt, den<br />
gemeinsamen Glauben auszudrücken, dann muß sich die Kirche <strong>auf</strong> die Suche<br />
nach ihrer Sprache des Glaubens begeben - ausgehend vom Leben der Gemeinschaften,<br />
die sich bemühen, <strong>auf</strong> die Fragen, die sich durch unseren historischen<br />
Kontext und die aktuelle Entwicklung unserer Gesellschaften stellen, eine Antwort<br />
zu geben. 67<br />
62<br />
63<br />
64<br />
65<br />
66<br />
67<br />
„[...] une gentille assemblée centrée autour de l’autel“; ebd.<br />
MONGO BETI (* 1932) ist ein kamerunischer Schriftsteller, der lange Zeit im Exil lebte, und Verfasser<br />
von verschiedenen (histor.-polit.) Romanen und kritischen Schriften über die politische Situation in<br />
Kamerun. Dazu gehören u.a.: Der arme Christ von Bomba (ein historischer Roman über die katholische<br />
Missionsgeschichte in Kamerun), Wuppertal (Hammer), 1980 (franz. Orig.: Le pauvre Christ de<br />
Bomba, Paris (Présence Africaine), 1956 1 , 1976 2 ); Main basse sur le Cameroun. Autopsie d’une<br />
décolonisation, Paris (Maspéro), 1972 1 , 1984 2 ; La France contre l’Afrique, Paris (La Découverte), 1993;<br />
L’histoire du fou (Roman über die Geschichte einer afrikanischen Bananenrepublik), Paris (Juillard),<br />
1994.<br />
„Comment sortir de l’académisme pour parler valablement de Dieu aux jeunes qui lisent Aimé Césaire<br />
ou Mongo Beti ou bien aux groupes en lutte contre toutes les formes multiples d’oppression et<br />
d’injustice? Comment repenser la mission de l’Eglise dans une conjoncture où, à longs termes, les gens<br />
n’auront peut-être plus besoin des ,missions‘ pour l’école, la santé, la culture? [...]; Le Cri de l’homme<br />
Africain, S. 158 (African Cry, S. 133).<br />
„[...] une foi vivante qui soit la réponse de l’Evangile aux interrogations des sociétés africains“; a.a.O., S.<br />
158f.<br />
„[...] le christianisme n’apparaisse comme un puissant facteur d’aliénation de l’homme noir“; a.a.O., S.<br />
159.<br />
„Pour sortir de cette impasse et du malaise profond dans lequel vivent de nombreux chrétiens, il faut<br />
alors promouvoir une expression africaine de la foi surgie de notre vision du monde et de notre<br />
expérience historique propre. Mais s’il y a plusieurs façons d’exprimer la foi commune, l’Eglise doit se<br />
mettre en quête de son langage en Afrique à partir de la vie des communautés qui s’efforcent de
5 Die Praxis der théologie sous l’arbre am Beispiel von Jean-Marc Elas Analyse und Kritik des<br />
„kulturellen Romantizismus“ 227<br />
Wenn die christliche Botschaft in Afrika relevant sein soll, dann müssen sich die Kirchen<br />
von jeder Form der Beherrschung freimachen. Dies impliziert grundlegende und<br />
strukturelle Reformen:<br />
Denn solange die Pastoral in Afrika weiterhin von der ökonomischen und finanziellen<br />
Macht der Kirchen des Zentrums abhängt, werden die Afrikaner den<br />
Glauben nicht <strong>auf</strong> ihre Weise leben können. Die Projekte einer Pastoral, die dar<strong>auf</strong><br />
abzielen, den Glauben in den Ausdrucksformen der afrikanischen Kultur zu<br />
verwurzeln, können nur dann zustande kommen, wenn die christlichen Gemeinschaften<br />
die Kontrolle wiedererlangen über ihre mutigen und beherzten Entscheidungen<br />
und Orientierungen. In der Welt, in der wir leben, gibt es keine Autonomie<br />
im Bereich der Kultur ohne Autonomie im Bereich der Ökonomie. Um<br />
den Glauben <strong>auf</strong> eine „authentische“ Weise auszusagen, muß die Kirche in<br />
Afrika - wie die Gesellschaften, in denen sie neue Wege der Präsenz und der<br />
Aktion sucht - sich von der ökonomischen Entfremdung freimachen. Kurz, die<br />
Suche nach einer afrikanischen Sprache des Glaubens findet nur in Gemeinschaften,<br />
die fähig sind, <strong>auf</strong> ihren eigenen Füßen voranzuschreiten, eine Antwort.<br />
68<br />
Die afrikanische Kirche steht von daher vor einer entscheidenden und unabwendbaren<br />
Alternative: entweder <strong>einem</strong> Anachronismus verfallen zu bleiben, dadurch, daß ihr die<br />
wirklichen Fragen des heutigen Afrika fremd bleiben, oder aber „prophetisch und<br />
mutig zu werden - jedoch um den Preis einer Reevaluierung ihrer gesamten Sprache,<br />
Formen und Institutionen, um so ein afrikanisches Gesicht des Menschen anzunehmen“<br />
69 :<br />
Wenn die Kirche dem heutigen Afrika das Evangelium bringen will, muß sie es<br />
wagen, radikale Fragen zu stellen, und die erste Frage ist diejenige nach ihrer<br />
eigenen Veränderung und Reform im Namen des Evangeliums. Dies ist es, was<br />
es ihr erlaubt, <strong>auf</strong> die Probleme und Bestrebungen eines Afrikas im Werden zu<br />
antworten. Im gegenwärtigen Kontext sind diese Antworten unter einer Bedingung<br />
möglich, die uns wesentlich erscheint: die Autonomie der Ortskirchen.<br />
Wir müssen die ausgetretenen Pfade und vorgezeichneten Wege verlassen, um<br />
die christliche Freiheit zu erlernen [...]. 70<br />
68<br />
69<br />
70<br />
répondre aux questions posées par nos contextes historiques et l’évolution actuelle de nos sociétés“; ebd.<br />
(African Cry, S. 133f).<br />
„Car, tant que la pastorale en Afrique reste liée au pouvoir économique et financier des églises du<br />
centre, les Africains ne peuvent vivre la foi à leur manière. Les projets d’une pastorale visant à enraciner<br />
la foi dans les formes d’expression de la culture africaine ne peuvent aboutir que si les communautés<br />
chrétiennes retrouvent le contrôle de décisions et d’orientations courageuses et hardies. Dans le monde<br />
où nous vivons, il n’y a pas d’autonomie dans le domaine de la culture sans l’autonomie dans le domaine<br />
de l’économie. Pour dire la foi de manière ,authentique‘, l’Eglise d’Afrique doit, comme les sociétés dans<br />
lesquelles elle cherche de nouveaux modes de présence et d’action, échapper à l’aliénation économique.<br />
Bref, la quête d’un langage africain de la foi ne trouve de réponse que dans les communautés capables<br />
de marcher sur leurs propres pieds“; ebd. (African Cry, S. 134).<br />
„[...] devenir prophétique et audacieuse mais au prix d’une réévaluation de tout son langage, de toutes<br />
ses formes et de toutes ses institutions afin d’assumer le visage africain de l’homme“; ebd.<br />
„Un fait est clair: si l’Eglise veut apporter l’Evangile à l’Afrique d’aujourd’hui, elle doit se risquer à poser<br />
des questions radicales, et d’abord celles de sa propre mutation et de sa reforme au nom de l’Evangile.
5 Die Praxis der théologie sous l’arbre am Beispiel von Jean-Marc Elas Analyse und Kritik des<br />
„kulturellen Romantizismus“ 228<br />
Exkurs: Aimé Césaires Kritik der „Bantu-Philosophie“<br />
In s<strong>einem</strong> 1955 veröffentlichten Discours sur le Colonialisme übt Aimé Césaire, aus<br />
Martinique stammender Mitbegründer der Négritude-Bewegung, scharfe Kritik an der<br />
„Bantu-Philosophie“ des flämischen Franziskanerpater Placide Tempels 71 :<br />
„Mag man plündern, mag man foltern im Kongo, mag der belgische Kolonialherr alle<br />
Reichtümer beschlagnahmen, mag er jegliche Freiheit ersticken, jeden Stolz unterdrükken<br />
- er gehe hin in Frieden, Hochwürden Tempels pflichtet ihm bei. Doch halt! Sie<br />
gehen in den Kongo? Respektieren Sie, ich sage nicht das Eigentum der Eingeborenen<br />
(die großen belgischen Gesellschaften könnten das für ein Haar in ihrer Suppe halten),<br />
ich sage nicht die Freiheit der Eingeborenen (die belgischen Kolonisten könnten darin<br />
subversive Meinungen sehen), ich sage nicht das kongolesische Vaterland (die belgische<br />
Regierung könnte die Sache sehr übel nehmen), ich sage: Sie gehen in den Kongo;<br />
respektieren sie die Bantuphilosophie!<br />
,Es wäre wirklich unerhört‘, schreibt Pater Tempels, ,wenn der weiße Erzieher dar<strong>auf</strong><br />
bestehen wollte, im schwarzen Menschen den ihm eigenen menschlichen Geist zu<br />
töten, diese einzige Wirklichkeit, die uns hindert, ihn für ein niedrigeres Wesen zu<br />
halten! Es wäre ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit, wollte der Kolonisator die<br />
primitiven Rassen von dem emanzipieren, was wertvoll ist, was einen Kern von Wahrheit<br />
in ihrem überlieferten Denken bildet, etc.‘<br />
Welche Großherzigkeit, Hochwürden! Und welch ein Eifer!<br />
Gleichwohl, Sie erfahren weiter, daß das Bantudenken ein essentiell ontologisches ist;<br />
daß die Bantu-Ontologie sich gründet <strong>auf</strong> die wirklich essentiell vitalkräftigen und<br />
hierarchisch nach Vitalkräften gestuften Nationen; daß für den Bantu schließlich die<br />
ontologische Weltordnung von Gott stammt 72 und, nach göttlichem Erlaß, respektiert<br />
werden muß.<br />
Großartig! Jeder gewinnt dabei: Konzerne, Kolonisten, Regierung; nur nicht der Bantu,<br />
versteht sich.<br />
Da das Denken der Bantus ontologisch ist, verlangen die Bantus nichts weiter als ontologische<br />
Zufriedenstellung. Anständige Löhnung! Komfortable Wohnungen! Nahrung!<br />
Diese Bantus sind reinen Geistes, sage ich! ,Was sie neben und vor allem verlangen, ist<br />
nicht die Verbesserung ihrer wirtschaftlichen oder materiellen Lage, sondern vielmehr<br />
die Anerkennung durch die Weißen und seinen Respekt vor ihrer Menschenwürde, vor<br />
ihrer vollen Menschenwürde.‘<br />
71<br />
72<br />
C’est cela qui lui permettra de répondre aux problèmes et aux aspirations de l’Afrique en devenir. Dans<br />
le contexte actuel, ces réponses sont possibles à une condition qui nous paraît capitale: l’autonomie des<br />
Eglises locales. Il nous faut sortir des sentiers battus, des chemins tracés d’avance, pour faire<br />
l’apprentissage de la liberté chrétienne avec ce qu’elle comporte de risques et d’audace“; a.a.O., S. 159f.<br />
PLACIDE TEMPELS, Bantu-Philosophie. Ontologie und Ethik, Heidelberg (Wolfgang Rothe), 1956 (Erstveröffentlichung:<br />
La philosophie bantoue, Elisabethville (Lovania), 1945; niederländischer Originaltext:<br />
Bantoe-filosofie, Antwerpen, 1946; danach diverse Übersetzungen und Auflagen).<br />
Aimé Césaire fügt hier folgende Anmerkung ein: „Es liegt <strong>auf</strong> der Hand, daß hier nicht von der Bantuphilosophie<br />
die Rede ist, sondern vom Gebrauch, den gewisse Leute in politischer Absicht von ihr machen.“
5 Die Praxis der théologie sous l’arbre am Beispiel von Jean-Marc Elas Analyse und Kritik des<br />
„kulturellen Romantizismus“ 229<br />
Summa summarum, einmal den Hut lüften vor der Vitalkraft der Bantus, ein Augenzwinkern<br />
zur unsterblichen Bantuseele, und Sie sind quitt. Sie müssen zugeben, daß<br />
Sie dabei ein gutes Geschäft machen!<br />
Was die Regierung betrifft, worüber sollte sie sich beklagen, da, wie Pater Tempels mit<br />
offensichtlicher Genugtuung notiert: ,... die Bantus uns, die Weißen, und das seit den<br />
ersten Kontakten, von dem ihnen möglichem Gesichtspunkt, dem ihrer Bantuphilosophie<br />
aus betrachtet‘ und ,uns in ihrer Hierarchie eine sehr hohe Stufe zugewiesen haben.‘<br />
Anders gesagt: bringen Sie es zuwege, daß an der Spitze der Hierarchie der Bantu-<br />
Vitalkräfte der Weiße seinen Platz einnimmt und speziell der Belgier, und noch spezieller<br />
Albert oder Leopold, und die Sache ist perfekt. Man wird folgendes Wunder<br />
zuwege bringen: Der Bantugott ist Garant der kolonialistischen Ordnung, und jeder<br />
Bantu wäre ein Gotteslästerer, der wagte, Hand daran zu legen.“ 73<br />
Ungeachtet dieser Kritik hat das Buch von Placide Tempels dazu beigetragen, afrikanische<br />
Kultur philosophisch <strong>auf</strong>zuwerten - freilich <strong>auf</strong> ambivalente Weise, da der Maßstab<br />
der Bewertung europäische Werte sind und eine einseitige Konzentrierung <strong>auf</strong><br />
„Kultur“ dominiert. Es gab der Debatte um die Entwicklung einer afrikanischen Theologie<br />
im frankophonen Afrika Auftrieb, wenn nicht gar den Anstoß. Sein Impuls <strong>wurde</strong><br />
von verschiedenen katholischen Theologen aus Afrika <strong>auf</strong>genommen und weiterentwickelt<br />
(z.B. von Alexis Kagame, Vincent Mulago, Francois-Marie Lufuluabo). Placide<br />
Tempels gilt wegen dieser seiner Bedeutung als eine Art Vaterfigur der afrikanischen<br />
Theologie. 74<br />
Ich habe dieses Zitat deshalb angeführt, weil Aimé Césaire darin in zugespitzter Form Jean-Marc<br />
Elas Kritik an der afrikanischen Theologie vorwegnimmt. 75 Jean-Marc Ela selbst erwähnt Placide<br />
Tempels jedoch nirgendwo direkt, sondern nur indirekt an der Stelle, wo er <strong>auf</strong> Aimé Césaires<br />
Kritik an dessen berühmtem Werk anspielt. 76<br />
Einerseits kritisiert Jean-Marc Ela die Inkulturationsbemühungen anderer afrikanischer Theologen<br />
<strong>auf</strong>grund deren Vernachlässigung der politischen, sozialen und ökonomischen Implikationen<br />
73<br />
74<br />
75<br />
76<br />
AIMÉ CÉSAIRE, Über den Kolonialismus, Berlin, 1968, S. 45-47 [kursiv im Orig.; R.K.-F.].<br />
Zur Einschätzung von Placide Tempels und insbesondere seiner „Bantu-Philosophie“ vgl. neben der in<br />
den Arbeiten zu afrikanischer Theologie zumeist unberücksichtigten Kritik von Aimé Césaire: BÉNÉZET<br />
BUJO, Afrikanische Theologie in ihrem gesellschaftlichen Kontext (Theologie interkulturell; Bd. 1), Düsseldorf<br />
(Patmos), 1986, S. 61-63; ULRIKE LINK-WIECZOREK, Reden von Gott in Afrika und Asien, S. 64-67;<br />
HERIBERT RÜCKER, „Afrikanische Theologie“, S. 32f.; PAULIN J. HOUNTONDJI, Afrikanische Philosophie. Mythos<br />
und Realität, a.a.O., S. 23-30.<br />
Daß Jean-Marc Ela diesen Text kennt, belegt das Zitat in Ma foi d’Africain, S. 183 (Mein Glaube als<br />
Afrikaner, S. 163). Überhaupt scheint Aimé Césaire für Jean-Marc Ela von grundlegender Bedeutung zu<br />
sein. So hat er z.B. in Tokombéré einen Jugendtreff eingerichtet, den er „Foyer Aimé Césaire“ nannte<br />
und der noch heute existiert. Hier finden „die Schüler und Studenten von Tokombéré einen Lebensraum<br />
und die Möglichkeit zur Reflexion“; Mein Glaube als Afrikaner, S. 24 (Anm. 3) („offrir aux élèves et<br />
étudiants de Tokombéré un espace de vie et de réflexions“; Ma foi d’Africain, S. 32). - Jean-Marc Elas<br />
Auseinandersetzung mit der afrikanischen Theologie - v.a. mit ihrer Hauptströmung in Gestalt eines<br />
„ethnographischen“ (Manas Buthelezi) Ansatzes - findet sich am ausführlichsten im 10. Kap.von Ma foi<br />
d’Africain: „Dire Dieu à l’homme africain“ (195-214) („Zum afrikanischen Menschen von Gott sprechen“;<br />
Mein Glaube als Afrikaner, 174-193).<br />
Mein Glaube als Afrikaner. S. 163 (Ma foi d’Africain, S. 183).
5 Die Praxis der théologie sous l’arbre am Beispiel von Jean-Marc Elas Analyse und Kritik des<br />
„kulturellen Romantizismus“ 230<br />
des Glaubens als ein gefährliches Alibi. 77 Indem die „Ethnotheologen“ bei ihrer Reflexion die<br />
„Politik“ ignorieren, verfehlen sie sowohl die Gegenwart als auch die politische Funktion des<br />
kulturellen Erbes, die dieses in der Vergangenheit immer gehabt hatte. Andererseits ist Jean-<br />
Marc Elas Blick nicht so sehr durch politische und sozio-ökonomische Fragen in Beschlag genommen,<br />
daß ihm die kulturelle Dimension des Glaubens entgehen würde oder für ihn nur rein<br />
negative Bedeutung hätte. Auch für den kulturellen Kontext Afrikas hat das Evangelium eine<br />
befreiende Botschaft: Jesus befreite Menschen von der Tyrannei böser Geister und schenkte<br />
ihnen so Heilung. 78<br />
Jean-Marc Ela weiß den kulturellen Aspekt der Theologie also durchaus zu würdigen. Denn die<br />
Bemühungen um eine „Begegnung zwischen dem Glauben und den afrikanischen Kulturen“ 79<br />
sind die Reaktion „<strong>auf</strong> ein bedeutendes Problem: Christ zu sein, ohne <strong>auf</strong>hören zu müssen, Afrikaner<br />
zu sein“ 80 . Zum einen geht es bei dem kulturellen Ansatz der afrikanischen Theologie<br />
darum, „die afrikanische Identität in der Erfahrung des Glaubens zu akzeptieren“ 81 , andererseits<br />
ist es die Kultur, die „dem Glauben seine Sprache“ 82 gibt. Die Konfrontation zwischen Afrika<br />
und dem Evangelium und die Suche nach einer eigenständigen Theologie führen dazu, „Jesus<br />
Christus als gegenwärtig in unserer Geschichte und in unseren afrikanischen Kulturen zu denken,<br />
zu verstehen und zu bekennen.“ 83 Insofern die afrikanische Kultur verkannt und verachtet<br />
<strong>wurde</strong> - und noch immer wird -, enthält der Versuch ihrer Wiederaneignung „ein Moment der<br />
Ent-Entfremdung (désaliénation)“ 84 . Kultur kann so zwar „als Element einer Strategie der Befreiung<br />
betrachtet“ 85 werden. Aber für Jean-Marc Ela ist es dennoch notwendig, daß „die afrikanische<br />
Theologie von der Inkulturation zur Befreiung übergeht“ 86 , denn die AfrikanerInnen<br />
befinden sich nicht nur in einer „kulturellen Gefangenschaft“ 87 , sondern müssen sich auch aus<br />
einer „ökonomischen Gefangenschaft“ 88 befreien: „Wenn man nicht am konkreten Menschen<br />
vorbeigehen will, dann muß der Ort unseres theologischen Einsatzes der afrikanische Mensch<br />
sein, der am Boden liegt, und der versucht, sich zu erheben, um <strong>auf</strong> seinen eigenen beiden Beinen<br />
zu stehen.“ 89 Es ist gerade das Spezifikum von Jean-Marc Elas Ansatz, daß er nicht bei<br />
77<br />
78<br />
79<br />
80<br />
81<br />
82<br />
83<br />
84<br />
85<br />
86<br />
87<br />
88<br />
89<br />
In Mein Glaube als Afrikaner, S. 186, meint Jean-Marc Ela, daß die theologische Forschung, insofern sie<br />
sich in erster Linie mit der kulturellen Tradition befaßt, Gefahr läuft, „die Arbeit eines Antiquitätenhändlers<br />
zu verrichten, da, wo nach <strong>einem</strong> Wort von Chinua Achebe, die Welt in sich zusammenfällt‘ “<br />
(„le risque d’un travail d’antiquaire là où, comme l’évoque Chinua Achebe, ,le monde s’effondre‘ “; Ma<br />
foi d’Africain, S. 207). - Jean-Marc Ela spielt damit an <strong>auf</strong>: CHINUA ACHEBE, Things fall apart, London<br />
(H<strong>einem</strong>ann), 1958.<br />
Vgl. z.B. Mein Glaube als Afrikaner, S. 69 (Ma foi d’Africain, S. 80 = Symbolique Africaine et mystère<br />
Chrétien, in: Un christianisme africain (Les quatre fleuves 10), Paris, 1979, 91-109, S. 109).<br />
„[...] la rencontre entre la foi et les cultures africaines“; ACHILLE MBEMBE, Un entretien, S. 254.<br />
„Cette approche répond à un souci majeur: être chrétien sans cesser d’être africain“; ebd.<br />
„Il s’agit d’assumer l’identité africaine dans l’expérience de la foi“; ebd.<br />
„La culture donne à la foi son langage“; a.a.O., S. 258.<br />
„Ainsi, la recherche d’une théologie propre conduit à penser, à comprendre et à confesser Jésus Christ<br />
présent dans notre histoire et nos cultures africaines“; a.a.O., S. 255.<br />
„Cette reprise en compte de la culture correspond à un moment de désaliénation“; Pour une théologie<br />
appropriée. Interview de Jean-Marc Ela, Vivant Univers Nr. 408 (1993), 30-34, S. 32.<br />
„[...] perçue comme élément de stratégie de libération“; ebd.<br />
„[...] de passer de l’inculturation à la libération“; ebd.<br />
„[...] captivité culturelle“; ebd.<br />
„[...] captivité économique“; ebd.<br />
„Si on ne veut pas passer à côté de l’homme concret, le lieu de notre insertion théologique doit être<br />
l’homme africain qui est par terre et qui essaye de se relever pour marcher sur ses deux jambes“; ebd. -
5 Die Praxis der théologie sous l’arbre am Beispiel von Jean-Marc Elas Analyse und Kritik des<br />
„kulturellen Romantizismus“ 231<br />
<strong>einem</strong> abstrakten „Afrikaner“ ansetzt, der vielleicht von einer wiederum abstrakten „âme noire“<br />
beseelt ist, sondern bei den konkreten Menschen des heutigen Afrikas, mit ihren ganz konkreten<br />
und realen Problemen und Dispositionen. Dieser „Ort“ hat seine „epistemologische Funktion“ in<br />
der Tat auch in bezug <strong>auf</strong> die Erkenntnis der kulturellen Realitäten. Dies kann die Theologie<br />
nicht ignorieren.<br />
Jean-Marc Ela spielt <strong>auf</strong> das Gleichnis vom Barmherzigen Samariter an; vgl. dazu auch Le Cri de<br />
l’homme Africain, S. 161 (African Cry, S. 135), und Le motif de la libération, S. 47.
Schluß<br />
Fragen an die théologie sous l’arbre<br />
Jean-Marc Ela lädt selbst dazu ein, Fragen an die théologie sous l’arbre zu stellen, wenn er<br />
schreibt, daß afrikanische Theologie sich befragen lassen muß „von allen Theologien, die sich<br />
<strong>auf</strong> der Basis der Solidarität von Menschen, Kontinenten und Gruppen entwickeln, die für das<br />
Kommen einer neuen Welt kämpfen.“ Dies setzt voraus, daß die Fragenden „die Notwendigkeit<br />
einer freien und verantwortlichen theologischen Arbeit“ anerkennen. 1 In diesem Sinn erlaube ich<br />
mir, im folgenden einige Fragen an die théologie sous l’arbre zu formulieren.<br />
Eine erste und grundlegende Frage ist für mich, ob für Jean-Marc Ela - so kritisch er<br />
auch in bezug <strong>auf</strong> Gesellschaft und Kirche sein mag - Kritik an den biblischen Texten<br />
selbst ausgeschlossen ist, z.B. im Sinn einer „Hermeneutik des Verdachts“, wie sie<br />
Elisabeth Schüssler Fiorenza 2 aus einer feministisch-theologischen Perspektive entwickelt<br />
hat. Ein solcher „Verdacht“ müßte im Grunde <strong>auf</strong> das gesamte „Erbe der Gewalt“<br />
(Jürgen Ebach) 3 im Rahmen der biblischen Tradition ausgeweitet werden. Dies<br />
ist eine sehr ernste Frage, <strong>auf</strong> die auch wir eine Antwort suchen müssen. In dieser Hinsicht<br />
wird die Bibel kaum als ganze pauschal, ungebrochen und unkritisch als Richtschnur<br />
für die theologische Urteilsbildung gelten können. In diesem Sinn muß das<br />
„Wort Gottes“ in seiner ganzen Menschlichkeit radikal ernst genommen werden.<br />
Dieses Problem stellt sich in seiner ganzen Schärfe in bezug <strong>auf</strong> jene biblischen Traditionen,<br />
die innerhalb einer befreienden Theologie eine große Rolle spielen - insbesondere<br />
sind dies der Exodus und das Gleichnis vom Weltgericht (Mt 25). Sind diese<br />
tatsächlich nur positiv im Sinn von Befreiung zu verstehen? So sehr der Exodus <strong>auf</strong> der<br />
einen Seite für die HebräerInnen Befreiung bedeutete, so war er <strong>auf</strong> der anderen Seite<br />
zweifellos mit der Vernichtung und Versklavung der KanaanäerInnen verbunden. Und<br />
welches ist das Mt 25 zugrunde liegende Gottesbild? Gehört die „Androhung ewiger<br />
Höllenstrafen [...] - ebenso wie das Liebesgebot - zum Kern der neutestamentlichen<br />
Botschaft“ 4 ? Gibt es überhaupt einen solchen „Kern“? Gibt es den roten Faden der<br />
1<br />
2<br />
3<br />
4<br />
Mein Glaube als Afrikaner, S. 196.<br />
Vgl. ELISABETH SCHÜSSLER FIORENZA, Brot statt Steine. Die Herausforderung einer feministischen Interpretation<br />
der Bibel, Freiburg/Schweiz (Exodus), 1988 (engl. Orig.: Bread Not Stone. The Challenge of Feminist<br />
Biblical Interpretation, Boston (Beacon Press), 1984), S. 13 und S. 50ff; und DIES., Zu ihrem Gedächtnis<br />
... Eine feministisch-theologische Rekonstruktion der christlichen Ursprünge, München (Kaiser),<br />
Mainz (Grünewald), 1988 (engl. Orig.: In Memory of Her. A Feminist Theological Reconstruction<br />
of Christian Origins, New York (Crossroad), 1983), S. 97f.<br />
Vgl. JÜRGEN EBACH, <strong>Das</strong> Erbe der Gewalt. Eine biblische Realität und ihre Wirkungsgeschichte, Gütersloh<br />
(Mohn), 1980.<br />
JOACHIM KAHL, <strong>Das</strong> Elend des Christentums, Reinbek (Rowohlt), überarb. u. erw. Neu<strong>auf</strong>l. 1993 (1968 1 ),<br />
S. 181. - Diese Anfrage an das „Gottesbild“ der Bibel ließe sich durch eine andere Lektüre der Bibel relativieren,<br />
die die biblischen Aussagen über „Gott“ nicht primär als Existenzaussagen über ein irgendwie<br />
und irgendwo existierendes Wesen versteht, sondern als eine Weise der Qualifizierung oder Beur-
Schluß 233<br />
Bibel? Oder gibt es „bloß alternative Selektion“? 5 Auch wenn die Auseinandersetzung<br />
mit der Bibel für die Entwicklung einer persönlichen Urteilsfähigkeit nicht unbedeutend<br />
und der Bezug <strong>auf</strong> sie konstitutiv für den christlichen Glauben ist, so ist sie doch -<br />
was deutlich geworden sein dürfte - sehr problematisch als argumentatives Fundament<br />
oder Begründungsbasis für die ethische Urteilsbildung bzw. für eine bestimmte Praxis,<br />
selbst in ihren - vordergründig - positiven Traditionen:<br />
Wenn etwa die Befreiungstheologie betont, daß Gott dem Elend der Welt nicht<br />
gleichgültig zuschaue, daß er vielmehr Partei für die Unterdrückten und Entrechteten<br />
ergreife, daß daher die Befreiung seines Volkes aus der Knechtschaft,<br />
eine „politische Affäre“, als Urmodell seines Heilshandelns zu gelten habe, das<br />
im „Heilswerk Christi“ nur an sein „letztgültiges Ziel“ gelangt sei, so ist das ein<br />
grundsympathischer Gedanke - und doch heikel wie immer, wenn Menschen für<br />
ihr Tun göttlichen Willen reklamieren. 6<br />
Die théologie sous l’arbre als Herausforderung für<br />
Theologie in der Ersten Welt<br />
Nun aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei. Am größten aber unter ihnen ist<br />
die Liebe. (1 Kor 13,13)<br />
Diese abschließenden Reflexionen können notgedrungen nur bruchstückhaft bleiben. Mehr noch<br />
als Thema einer eigenen Erörterung sind die Herausforderungen, vor die uns kontextuelle Befreiungstheologien<br />
stellen, eine Anfrage an unsere gesamte - gesellschaftliche, aber auch wissenschaftliche<br />
und persönliche - Praxis und letztlich an die fundamentale Ausrichtung unseres Lebens.<br />
Was hoffen wir? Was glauben wir? Wie steht es um unsere Liebe? Schließlich sehen wir<br />
5<br />
6<br />
teilung der Wirklichkeit und der Beziehungen zwischen den Menschen. Es ist - so denke ich - auch<br />
nicht die Intention der biblischen Schriftsteller(Innen), über „Gott“ zu spekulieren, sondern sich kritisch<br />
mit ihrer Wirklichkeit auseinanderzusetzen. „Gott“ hierbei ,ins Spiel‘ zu bringen, ist die Art und<br />
Weise, wie diese die Realität beurteilen. In bezug <strong>auf</strong> Mt 25 bedeutet dies, daß Matthäus’ Aussageabsicht<br />
nicht darin besteht, „Gott“ als einen im Himmel thronenden Richter darzustellen, der die Menschen<br />
mit Höllenstrafen bedroht, sondern daß er, Matthäus, das Verhalten von Menschen, die sich von<br />
den Opfern der Gesellschaft abwenden, verurteilt. Positiv beurteilt er dagegen ein solidarisches Verhalten.<br />
Aber der entscheidende Punkt der Identifizierung des Richters mit den Opfern und Ausgeschlossenen<br />
der Gesellschaft bedeutet, daß sein oberstes Urteilskriterium zur Beurteilung der Wirklichkeit in<br />
deren Perspektive zu suchen ist. Und in diesem Sinn ist Mt 25 auch heute noch sehr relevant. - Im übrigen<br />
ist es, meiner Meinung nach, ein Jahrhunderte altes Mißverständnis der Bibel, aus ihr Existenzaussagen<br />
über Gott beziehen zu wollen; die Bibel selbst verwehrt dies - insbesondere durch ihr Bilderverbot!<br />
Auch wenn Mt 25 keine Existenzaussage über Gott macht, so sagt dieser Text uns dennoch, wo wir<br />
Gott begegnen können: in den Armen und Ausgeschlossenen. Und der Text legt keinen Wert dar<strong>auf</strong>,<br />
daß diese oder jene, die mit ihnen solidarisch sind, ChristInnen sein müßten. Allein der Aspekt der Solidarität<br />
ist für ihn von Bedeutung - und dieser ist für ihn als etwas „Göttliches“ qualifiziert. Als solche,<br />
die wir davon wissen und daran glauben, können wir Gott dann in der Tat in einer solidarischen Praxis<br />
an der Seite der Unterdrückten erfahren, <strong>auf</strong> eine symbolische Weise.<br />
Vgl. CHRISTOPH TÜRCKE, Kassensturz. Zur Lage der Theologie, S. 132<br />
A.a.O., S. 130f.
Schluß 234<br />
uns vor das gestellt, „was uns unbedingt angeht“ 7 - im ganz Konkreten unseres alltäglichen<br />
Lebens.<br />
Was geht uns das alles an?<br />
Wenn wir uns die Frage stellen, was uns die théologie sous l’arbre denn angeht, dann<br />
ist wohl einer der uns am unmittelbarsten betreffenden Aspekte ihre Analyse der internationalen<br />
Dominanzverhältnisse. Hiervon können wir uns nicht ausnehmen, insofern<br />
wir unleugbar - je nach unserer sozialen Position <strong>auf</strong> verschiedene Weise - in diese<br />
verstrickt sind. Diese Verstrickung gilt es, in all ihren - auch subtilen - Formen <strong>auf</strong>zuarbeiten<br />
und zu überwinden. Dies ist sowohl eine Aufgabe für die Analyse als auch für<br />
die Praxis - persönlich und gesellschaftlich. Und - daran erinnert uns die théologie sous<br />
l’arbre mit Nachdruck - es ist insbesondere auch ein integraler Bestandteil der Theologie.<br />
Eine der vorrangigsten Aufgaben dürfte in dieser Hinsicht die kritische Durchleuchtung<br />
der politischen, sozialen und ökonomischen Funktion von Christentum,<br />
Mission und Theologie sein, sowohl im Rahmen der Geschichte als auch in der Gegenwart.<br />
Ein zweiter Aspekt, den ich besonders hervorheben möchte, ist, daß die théologie sous l’arbre -<br />
wie andere Befreiungstheologien auch - für uns als TheologInnen eine Herausforderung darstellt,<br />
in gleicher Weise im Kontext der Ersten Welt eine entsprechende Befreiungstheologie zu entwickeln;<br />
doch zuvor müssen wir uns einer noch grundlegenderen Frage stellen:<br />
Auf welcher Seite stehen wir? 8<br />
Auch wenn heute vielleicht nicht mehr so einfach auszumachen ist - wie es einmal<br />
gewesen zu sein scheint -, wo die „gute“ und wo die „böse“ Seite ist, was sich sowieso<br />
nie so absolut und ,fein säuberlich‘ trennen läßt <strong>auf</strong>grund der grundsätzlichen Ambivalenz<br />
jeglichen menschlichen Tuns - auch der „Fromme“ ist „simul justus et peccator“,<br />
wie Luther es erkannte und formulierte; „nichts ist vollkommen“, wie es populär heißt<br />
-, so waren und sind wir nichtsdestotrotz immer wieder neu <strong>auf</strong>gefordert, uns der multiformen<br />
Bewegung von Menschen anzuschließen, die sich - in aller Unvollkommenheit<br />
- <strong>auf</strong> die Suche nach einer besseren Welt und <strong>einem</strong> besseren Leben begeben und<br />
begeben haben. Wir müssen in uns <strong>einem</strong> „life-time commitment“ für Gerechtigkeit,<br />
Frieden, Freiheit widmen, wenn wir nicht „fremden Göttern“ (Götzen) dienen wollen.<br />
7<br />
8<br />
„Gott [...] ist der Name für das, was den Menschen unbedingt angeht. <strong>Das</strong> heißt nicht, daß es zunächst<br />
ein Wesen gibt, das Gott genannt wird, und dann die Forderung, daß es den Menschen unbedingt angehen<br />
soll. Es heißt, daß das, was einen Menschen unbedingt angeht, für ihn zum Gott (oder Götzen)<br />
wird, und es heißt, daß nur das ihn unbedingt angehen kann, was für ihn Gott (oder Götze) ist“; PAUL<br />
TILLICH, Systematische Theologie I, Berlin (de Gruyter), 1987, S. 247.<br />
Jean-Marc Ela formuliert diese Frage in Voici le temps des héritiers, S. 238, <strong>auf</strong> dem Hintergrund des<br />
„contexte historique où le Tiers Monde révèle aux chrétiens l’actualité du péché dans les rapports entre<br />
les peuples, à travers le mode d’organisation de la société contemporaine“: „Dans la mesure où seule<br />
compte aujourd’hui la lutte de l’homme pour l’homme, aucun être humain ne peut se dire étranger à ce<br />
débat essentiel. Dès lors la question posée à la foi des chrétiens et des Églises est celle-ci: de quel côté<br />
sommes-nous? Dans la mesure où une vie s’organise à partir d’une option pour les pauvres et les<br />
opprimés, il est clair que nous nous trouvons sur un chemin où ,il n’y a plus ni Juif ni Grec‘ (Gal.<br />
3,28).“
Schluß 235<br />
Diesem Engagement müssen all unsere Energien, geistige und intellektuelle Kompetenzen<br />
gewidmet sein und es zieht ohne Zweifel persönliche Konsequenzen nach sich,<br />
die sich gerade auch im alltäglichen Leben bewähren müssen; es impliziert vor allem<br />
aber, sich in der Tat an die Seite der Opfer und Ausgeschlossenen unserer Gesellschaft<br />
zu begeben.<br />
Kein Aspekt unseres Lebens kann davon ausgenommen bleiben. Es ist eine fundamentale<br />
Entscheidung, letztlich das, was die Bibel „Bekehrung“ nennt: die Umkehr zum<br />
Reich Gottes und seiner Gerechtigkeit unter Einbeziehung aller Aspekte seines Lebens.<br />
<strong>Das</strong> schließt einzelne Fehltritte nicht aus, aber solange diese nicht grundsätzlich von<br />
dieser fundamentalen Orientierung abbringen, dann muß dies kein grundlegender<br />
‚Skandal‘ sein, sondern kann mit <strong>einem</strong> gewissen Maß an Selbstkritik und Bescheidenheit<br />
(„Demut“: Bewußtsein der eigenen Unvollkommenheit) angegangen werden.<br />
Die Frage, <strong>auf</strong> welcher Seite wir stehen, ist letztlich die Frage nach der grundlegenden<br />
Orientierung unseres Lebens und nach dem, „was uns unbedingt angeht“. Sie zu ignorieren,<br />
würde bedeuten, eine wesentliche Qualität unserer menschlichen Existenz preiszugeben:<br />
unsere Fähigkeit, unser Leben in die eigenen Hände zu nehmen und bewußt -<br />
bzw. selbstbewußt - zu gestalten. Vor solch fundamentale Fragen stellt uns - zwar nicht<br />
nur, aber auch - die théologie sous l’arbre.<br />
„Auf welcher Seite stehen wir?“ - dieser Frage, die uns die théologie sous l’arbre, aber auch<br />
unser Glaube stellt, können wir nicht ausweichen, wenn wir nicht einfach ‚mit dem Strom<br />
schwimmen‘ oder den „breiten Weg“ gehen wollen, der bekanntlich - und heute immer offensichtlicher<br />
- in die „Verdammnis“ führt. Diese Frage ist die nach unseren primären Loyalitäten.<br />
Zweifelsohne werden durch eine wirkliche „Bekehrung“ z.B. jegliche nationalen Bindungen<br />
hinfällig (vgl. z.B. Gal 3,28). Wir werden uns primär als Teil des einen weltweiten „Leibes<br />
Christi“ und letztlich der einen großen Menschheitsfamilie verstehen: Wenn ein Teil leidet, dann<br />
leiden alle anderen Teile mit ... Wo die Menschlichkeit auch nur eines Menschen mit Füßen<br />
getreten wird, da wird auch meine Menschlichkeit angegriffen, insofern wir beide an derselben<br />
Menschheit und Menschlichkeit partizipieren. Daß Rassismus <strong>auf</strong> diesem Hintergrund völlig<br />
inakzeptabel ist, scheint selbstverständlich zu sein; weniger selbstverständlich ist wohl die Frage<br />
nach der eigenen Partizipation an diesem Phänomen, nach den eigenen rassistischen Anteilen -<br />
diese Frage nach unserer Partizipation gilt freilich in bezug <strong>auf</strong> alle Formen von Gewalt-, Ausbeutungs-,<br />
Unterdrückungs- und Dominanzverhältnissen.<br />
Befreiungstheologie im Kontext der Ersten Welt<br />
Wenn wir uns tatsächlich dafür entscheiden, uns an die Seite der Opfer unserer Gesellschaft,<br />
der Armen, Ausgebeuteten und Unterdrückten zu begeben - wenn wir uns wirklich<br />
„bekehren“ lassen -, dann ist dies sicher nicht ohne Konsequenzen für unsere<br />
Theologie. Wobei es wohl kaum darum gehen kann, die theologischen Inhalte der<br />
théologie sous l’arbre oder anderer Befreiungstheologien aus der Dritten Welt im einzelnen<br />
zu übernehmen. Es wird vielmehr darum gehen müssen, uns in unserem Erste-<br />
Welt-Kontext die von den Befreiungstheologien entwickelte Methode zu eigen zu<br />
machen. Von entscheidender Bedeutung - insbesondere für eine in <strong>einem</strong> akademischen<br />
Rahmen betriebene Theologie - wird insbesondere der Praxisbezug sein bzw. der<br />
Ort, an dem die Theologie entsteht. In diesem Sinn ist auch für uns in der Ersten Welt<br />
ein gewisser epistemologischer Bruch gefordert. Dies bedeutet sicherlich nicht den
Schluß 236<br />
totalen Bruch mit der westlichen Rationalität, aber vielleicht mit einer gewissen traditionellen<br />
theologischen Methode, die vom Leben der „geringsten Brüder und Schwestern“<br />
Jesu getrennt ist, und führt zu <strong>einem</strong> neuen Verständnis von Theologie: Theologie<br />
als kritische Reflexion befreiender Praxis an der Seite der Marginalisierten und<br />
Unterdrückten.<br />
Welche Erfahrung? Welche Praxis geht voraus?<br />
Befreiungstheologie im Kontext der Ersten Welt entsteht wohl kaum in etablierten<br />
Zirkeln; vorrangiger Ort sind sicherlich verschiedenste Gruppen und Bewegungen, die<br />
sich für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung engagieren - da, wo<br />
sich ChristInnen solidarisch an der Seite der Opfer und Ausgeschlossenen unserer und<br />
der Weltgesellschaft engagieren.<br />
Am weitesten entwickelt scheint mir eine feministische Befreiungstheologie im Kontext der<br />
Ersten Welt zu sein. Warum ist es in anderen Bereichen scheinbar noch nicht so weit? Weil<br />
bisher kaum TheologInnen wirklich einen notwendigen „Klassensuizid“ vollzogen haben? Wo<br />
sind TheologInnen unter Menschen ohne Wohnung, unter Arbeitslosen, unter ungelernten ArbeiterInnen,<br />
... zu finden? - Es gibt sie zum Glück, aber wie viele sind es? Und wo sind die TheologInnen,<br />
die die Lebensbedingungen dieser Menschen teilen? Oder ist dies zu viel verlangt? -<br />
Auch solche TheologInnen gibt es, die z.B. im Bergbau arbeiten oder als ungelernte Arbeitskräfte<br />
in irgendwelchen K<strong>auf</strong>häusern oder sonstwo, aber deren Zahl ist nun wirklich verschwindend<br />
gering. Im Bewußtsein dessen, daß diese Frage leicht zum Alibi der eigenen Bequemlichkeit<br />
werden kann, nun trotzdem: Ist ein so weit gehender „Klassensuizid“ tatsächlich notwendig, um<br />
Befreiungstheologie im Kontext der Ersten Welt treiben zu können? Zuvor müßte wohl die<br />
Frage beantwortet werden, wie die Perspektive derer, die „unten“ sind, tatsächlich und effektiv<br />
Eingang finden kann in die theologische Reflexion. Sicherlich nicht ohne ein gewisses Maß an<br />
Vertrautheit mit ihren Lebensbedingungen; und diese kann sicher nicht allein über Literatur<br />
vermittelt werden, so wichtig dieses Medium in unserem Kontext auch sein mag für die Beschaffung<br />
von Informationen über die Erfahrungen anderer, zu denen wir sonst keinen Zugang hätten<br />
- aber den persönlichen Kontakt, eine gewisse Erfahrung ‚am eigenen Leib‘ kann diese nicht<br />
ersetzen. Wie sollte denn auch unser Blick tatsächlich sensibel werden können für die Lebensbedingungen<br />
jener Menschen, die zwar in der Ersten Welt leben, aber dennoch unter Bedingungen,<br />
die durchaus in gewisser Hinsicht mit jenen in der Dritten Welt vergleichbar sind, wenn wir sie<br />
nicht selbst - zumindest ansatzweise - aus eigener Anschauung kennen? Allein schon um der<br />
Wahrnehmung dieser Verhältnisse willen ist ein gewisser Ortswechsel unabdingbar. Um zu<br />
sehen, wie die Verhältnisse „von unten“ aussehen, dürfen wir uns nicht ‚zu gut‘ dafür sein, uns<br />
auch einmal <strong>auf</strong> die ,Schattenseiten‘ unserer Gesellschaft zu begeben. Befreiungstheologie im<br />
Kontext der Ersten Welt bewegt sich in diesem Sinn in der Spannung zwischen „Befreiung der<br />
Unterdrückten“ und „Befreiung der Unterdrücker“ - die christlich gesprochen Umkehr bedeutet<br />
oder mit Amilcar Cabral: „Klassensuizid“.<br />
Wahrnehmen und Analysieren<br />
Als nächster methodischer Schritt gilt es nun, die aus der Perspektive „von unten“<br />
wahrgenommene Wirklichkeit mit <strong>einem</strong> geeigneten Instrumentarium zu analysieren,<br />
das die verschiedensten Dominanzverhältnisse (z.B.: Mann-Frau, rassistische, Gesunde-Kranke,<br />
Erwachsene-Kinder/alte Menschen, Gebildete-Ungebildete, reich-arm,<br />
Kapital-Arbeit, ...) nicht gegeneinander ausspielt, sondern integrieren und erklären<br />
kann: ihren Zusammenhang und ihre Ursachen. Die von den etablierten Wissenschaf-
Schluß 237<br />
ten erarbeiteten Modelle und Konzepte sind in diesem Sinn sicher unzureichend, da sie<br />
in der Regel nicht daran ausgerichtet sind, die grundlegenden Probleme der Menschheit<br />
aus der Perspektive der Opfer der Geschichte zu beschreiben, zu erklären und<br />
geschweige denn zu lösen. - Zu betonen ist hierbei gegenüber <strong>einem</strong> ‚traditionellem‘<br />
Verständnis von Theologie, daß dies ein integraler Bestandteil theologischer Arbeit ist.<br />
Es kann nicht meine Aufgabe sein, hier eine solche Analyse zu entwickeln, aber ein Hinweis sei<br />
mir erlaubt: Soweit ich sehen kann, haben feministisch orientierte Frauen, die ihre Augen nicht<br />
vor anderen Unterdrückungsformen und Dominanzverhältnissen verschließen, bisher das am<br />
weitesten entwickelte Analyseinstrumentarium für den Zusammenhang verschiedenster Formen<br />
von Unterdrückung und Beherrschung entwickelt, die sie unter dem Begriff des Patriarchats<br />
zusammenfassen: Rassismus, Sexismus, Militarismus, Nationalismus und Imperialismus, Klassenherrschaft<br />
bzw. Kapitalismus, Naturbeherrschung und Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen<br />
sind nach diesem Konzept relativ eigenständige strukturelle Komponenten eines<br />
pyramidalen Systems bzw. einer hierarchischen Struktur von Gesellschaft und Kirche, die nicht<br />
isoliert voneinander betrachtet werden dürfen, da sie einander stützen und sich gegenseitig verstärken<br />
(z.B. „triple oppression“: Frau - Arme - Schwarze). Androzentrismus, Ethno- und Eurozentrismus<br />
gelten als diesem System korrespondierende Formen von Weltanschauung bzw. der<br />
Wahrnehmung von Wirklichkeit. Der Begriff der Dominanzkultur kann in diesem Zusammenhang<br />
die Reproduktion dieser „patriarchalen“ Dominanzverhältnisse erklären. 9<br />
Urteilen<br />
Insofern „Gott“ unbrauchbar scheint als moralische Autorität zur Begründung politischer<br />
Interessen, seien sie wie auch immer geartet - was im übrigen einen gewissen<br />
autoritären Charakter weiterhin reproduzieren würde -, denke ich, daß wir nicht nur<br />
hinsichtlich der Erklärung der Welt <strong>auf</strong> die „Arbeitshypothese Gott“ verzichten müssen,<br />
sondern auch bezüglich der Begründung für ihre Veränderung. Wir sind in dieser<br />
Hinsicht ganz allein <strong>auf</strong> uns gestellt, vor die Aufgabe gestellt, autonom bzw. wirklich<br />
mündig zu werden. - Ist dies nicht im Grunde auch eine wesentliche Bedeutung der<br />
Gottesebenbildlichkeit des Menschen? Was aber ist dann Theologie? Ist möglicherweise<br />
die schonungslose und realistische Analyse der Wirklichkeit, der herrschenden Unrechts-,<br />
Gewalt- und Herrschaftsverhältnisse - ohne diese harte Realität zu verdrängen<br />
oder sich ihr zu fügen - nicht selbst schon - per se - theologisch? Gilt dies nicht ebenso<br />
für die brennende Hoffnung <strong>auf</strong> wirklich gerechte, herrschafts- und gewaltfreie Verhältnisse,<br />
die lebendig gehalten wird durch einen Glauben, der die Gewißheit ist, daß<br />
die Erfüllung dieser Hoffnung, dieses Traums wirklich möglich ist, und die beide getragen<br />
werden durch eine Praxis der Liebe, die zumindest bruchstückhaft schon die<br />
zukünftigen Verhältnisse vorwegnimmt, die in der harten Realität des Teufelskreises<br />
von Herrschaft, Ungerechtigkeit und Gewalt, und ausgehend von ihr, versucht, aktiv<br />
diesen Kreisl<strong>auf</strong> zu durchbrechen - wobei sie sich bewußt ist, daß nur die dem großen<br />
Ziel entsprechenden Methoden und Mittel dazu fähig sind, daß die Mittel selbst schon<br />
9<br />
Vgl. die in der Bibliographie im Anhang <strong>auf</strong>geführte Literatur von Birgit Rommelspacher, Maria Mies<br />
(beide unter der Rubrik „Erste Welt und Dritte Welt“) und Elisabeth Schüssler Fiorenza (unter der Rubrik<br />
„Theologie allgemein“), wo jeweils weitere Literaturhinweise zu finden sind.
Schluß 238<br />
den Zweck antizipieren müssen - weil in der Tat nur diejenige „Gewalt“ legitim ist, die<br />
den Kreisl<strong>auf</strong> der Gewalt zu durchbrechen vermag (Walter Benjamin 10 )?<br />
Reicht als Urteilskriterium also nicht schon die Unhaltbarkeit, die Einsicht in die Umwälzungsbedürftigkeit<br />
der herrschenden Verhältnisse? Diese Einsicht scheint mir auch<br />
gar nicht das eigentliche Problem zu sein - dieses ist wohl eher der - mangelnde -<br />
Glaube daran, daß sich diese „Umwälzung“ auch tatsächlich bewerkstelligen läßt;<br />
dieser mangelnde Glaube führt dann oft zu Verdrängungen, weil es sich ja nur schwer<br />
aushalten läßt, sein Leben als falsches in falschen Verhältnissen fristen zu müssen,<br />
gegen die anscheinend nicht anzukommen sei; der mangelnde Glaube führt so auch zu<br />
Fatalismus, Passivität bzw. - vermeintlicher - Über-„Aktivität“, die nur verschleiert,<br />
daß uns ein echtes Subjektsein in Wirklichkeit abhanden gekommen ist. Die entscheidende<br />
Frage lautet meiner Meinung nach: Wie kann die Hoffnung neu entfacht werden<br />
<strong>auf</strong> die Überwindung der herrschenden Verhältnisse, wie der Glaube daran geweckt,<br />
daß dies möglich ist, so daß eine Praxis möglich werden kann, die tatsächlich Schritte<br />
in diese Richtung unternimmt - in unserem Erste-Welt-Kontext?<br />
Ideologiekritik bzw. Religionskritik des Kapitalismus ist sicher (nur) ein Schritt: <strong>auf</strong>zuzeigen,<br />
daß die Verhältnisse, wie sie sind, nicht naturgegeben sind - auch wenn es<br />
einen gewissen „Automatismus“ gibt, ein „Selbstläufertum“ mit einer eigenen inneren<br />
Dynamik -, sondern menschengemacht und bestimmten Interessen dienend - was jedoch<br />
nicht „verschwörungstheoretisch“ mißzuverstehen“ ist -, und daß es da eine gewisse<br />
„Mittäterschaft“ gibt, da dieses herrschende System ja nur funktionieren kann,<br />
wenn und weil alle mehr oder weniger mitmachen ...<br />
„Hau ab verdampf - der König Mampf Mampf!“ - so heißt es in <strong>einem</strong> Kinderlied des exilchilenischen<br />
Liedermachers Sergio Vesely: Damit ist angedeutet, daß dieser König nur König<br />
sein kann, wenn er Untertanen hat, die ihre Rolle tatsächlich spielen - verschwinden sie, hören<br />
sie <strong>auf</strong> Untertanen zu sein, dann hört auch der König <strong>auf</strong>, König zu sein, es sei denn er findet<br />
neue Untertanen. Ähnlich verhält es sich übrigens mit dem „Königreich“ Gottes: Ohne „Untertanen“<br />
gibt’s keinen „König“, ergo kein „Königreich“. - Interessant ist hierbei, daß diese „herrschaftliche“<br />
Sprache den Keim ihrer Aufsprengung selbst in sich trägt, dadurch, daß in diesem<br />
Fall der „König“ im „Himmel“ „thront“ (insofern zumindest, als er mit nichts Irdischem gleichzusetzen<br />
ist) und seine „Untertanen“ <strong>auf</strong> der Erde leben - und wenn sie keinen anderen zum<br />
„König“ wollen (vgl. 1 Sam 8), dann gibt es im irdischen „Königreich“ Gottes keinen realen<br />
Herrscher, sondern nur „Untertanen“: Gleiche unter Gleichen!, also keine wirklichen Untertanen,<br />
sondern nur „Untertanen“ im Sinn der „Königsherrschaft“ Gottes, also gegenüber solchen Werten<br />
wie Gleichheit, Freiheit, Gemeinschaftlichkeit, Gerechtigkeit, Herrschaftsfreiheit. „Herrschaft<br />
Gottes“ bedeutet so letztlich Anarchie - im Sinn des Anarchismus, so ausdifferenziert oder<br />
vielgestaltig er auch sein mag; nicht zu verwechseln mit „anarchischen Verhältnissen“, wie z.B.<br />
oft vom kapitalistischen Markt behauptet wird, daß er dies sei, womit in der Regel eher „chaotische<br />
Verhältnisse“ gemeint sind - was ja nur ein Ausdruck dessen ist, daß diejenigen, die den<br />
Begriff „Anarchie“ in diesem Sinn gebrauchen, sich Herrschaftslosigkeit nur als Chaos vorstellen<br />
können, als Bedrohung „geordneter“ Verhältnisse, was bei den einen die ihrer (relativ) privilegierten<br />
Position im Rahmen der gegenwärtigen Herrschaftsverhältnisse meint, bei anderen,<br />
weniger Privilegierten, eher Ausdruck der Angst davor ist, ihr Leben in die eigene Hand zu<br />
nehmen.<br />
10<br />
Vgl. WALTER BENJAMIN, Zur Kritik der Gewalt, in: Sprache und Geschichte. Philosophische Essays, Stuttgart<br />
(Reclam), 1992, 104-131 (insbes. S. 127 und S. 130f).
Schluß 239<br />
Ausgangspunkt der Kritik der herrschenden Verhältnisse sind einerseits die Opfer<br />
unserer Gesellschaft und die Partizipation an Bewegungen oder Gruppen zur Erneuerung<br />
der Gesellschaft in der Perspektive von Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung<br />
der Schöpfung. Andererseits - weil wir nun mal im Westen zu Hause sind und nicht<br />
total mit unseren rationalen Strukturen und geistigen Traditionen brechen können und<br />
wollen - ist der kritische Bezug <strong>auf</strong> die kritischen Traditionen unserer Geschichte 11<br />
nicht von unerheblicher Bedeutung. Für beide Aspekte gilt dabei, daß es nicht <strong>auf</strong><br />
deren vordergründige „Christlichkeit“ ankommt, sondern <strong>auf</strong> ihren Beitrag zur Befreiung<br />
des Menschen, die ja zugleich ein „göttliches“ Anliegen ist. Zugleich müßten wir<br />
uns die Frage stellen, was es heißt, in <strong>einem</strong> „säkularisierten“ Kontext ChristIn zu sein,<br />
die Frage nach der Inkarnation des Christentums in <strong>einem</strong> nicht-christlichen Kontext.<br />
Weiß Befreiungstheologie eine Antwort <strong>auf</strong> die Herausforderung einer nicht-religiösen<br />
Interpretation der Welt und einer nicht-religiösen Fundierung der Notwendigkeit ihrer<br />
Veränderung?<br />
Ob dieser Kontext aber tatsächlich so religionslos ist, wie es den Anschein hat, ist eine weitere<br />
Frage - dabei geht es jedoch nicht um das Aufblühen verschiedenster religiöser Bewegungen,<br />
sondern um die Frage, ob die vorherrschende Organisierung unserer Gesellschaft nach den Vorgaben<br />
des Marktes und des Kapitals nicht zutiefst religiöse Züge trägt, so daß es vielleicht gerade<br />
für die ChristInnen die Aufgabe ist, in erster Linie Religionskritik zu üben: Religionskritik<br />
des Kapitalismus. Vielleicht hätten sie - vergleichbar mit den ChristInnen im Römischen Reich -<br />
zuallererst AtheistInnen zu sein, wirkliche A-theistInnen, die standhaft jede Herrschaft eines<br />
jeden entfremdenden „Gottes“ bzw. Götzen über sich und ihr Leben ablehnen - und da „Götter“,<br />
wenn sie denn nicht ganz irrelevant und selbst wenn sie Götzen sind, immer eine gewisse soziale<br />
Verankerung haben, bedeutet dieser Atheismus ganz konkret auch Kampf gegen alle entfremdenden<br />
Verhältnisse, die den Menschen seiner eigenen „göttlichen“ Natur berauben.<br />
Praxis<br />
Ganz besonders drängend ist es, eine - neue - befreiende Praxis im Kontext der Ersten<br />
Welt zu entwickeln, insbesondere in der gegenwärtigen Situation, wo allenthalben<br />
Ratlosigkeit und Resignation zu herrschen scheinen. Vielleicht könnten gerade ChristInnen<br />
in dieser Situation einmal insofern eine Vorreiterrolle spielen, als sie mit ihrem<br />
Glauben eine Kraft haben, die angesichts der harten Realität ihre Hoffnung trägt, daß,<br />
so ,hoffnungslos‘ die herrschenden Verhältnisse in der Tat auch sind oder scheinen<br />
mögen, diese Hoffnungslosigkeit nicht das letzte Wort haben muß. Der Glaube ist<br />
zugleich eine Quelle der Kraft, die eine Praxis trägt, die in dieser Situation Zeichen der<br />
Hoffnung zu setzen vermag, weil er weiß, daß wirklich realistisch nur die ‚Utopie‘ ist -<br />
was heißt, daß die Welt nur dann eine reale Zukunft hat, wenn sie nicht so bleibt, wie<br />
sie ist.<br />
11<br />
Z.T. müssen diese freilich erst noch ausgegraben werden, weil sie in der herrschenden Geschichtsschreibung<br />
bekanntlich nur einen peripheren Platz haben - wenn überhaupt. Vgl. z.B. die kritische<br />
Frauenforschung oder auch WERNER USTORF, Theologie im revolutionären Bremen 1848-1852. Die Aktualität<br />
Rudolph Dulons, Bonn (Pahl-Rugenstein), 1992. Werner Ustorf stellt diese Arbeit einer „subversiven<br />
Erinnerung“ einer revolutionären, radikaldemokratischen Theologie explizit in den Kontext aktueller<br />
kontextueller Theologien und ökumenischer Herausforderungen und der dadurch angestoßenen<br />
Frage einer „Inkulturation des Evangeliums in Kultur der ,Moderne‘ “, die v.a. durch „Ratlosigkeit gegenüber<br />
einer nicht-religiösen Weltinterpretation“ geprägt ist.
Schluß 240<br />
Schlußresümee<br />
Im Kontext einer ,neuen Unübersichtlichkeit‘ und einer ,postmodernen Beliebigkeit‘<br />
bietet Jean-Marc Elas Prinzip, „die Welt aus der Perspektive des Kreuzes zu betrachten“,<br />
einen Ansatz, der dazu befähigt, diese Unübersichtlichkeit zu durchschauen. Wie<br />
die Welt tatsächlich ist, läßt sich noch immer am angemessensten aus der Perspektive<br />
der Opfer ihrer ,herrschenden Unordnung‘ begreifen und beurteilen. Und daß diese<br />
systemimmanente Produktion von Opfern nicht nur, aber insbesondere auch, aus biblisch-theologischer<br />
Perspektive nicht hinnehmbar ist, ist ein Wert, der die Beliebigkeit<br />
zweifellos als hinfällig erscheinen läßt. Mehr noch, die Rede von der ,neuen Unübersichtlichkeit‘<br />
und der ,postmodernen Beliebigkeit‘ erweisen sich aus dieser Perspektive<br />
geradezu als ideologische Legitimierung von Verhältnissen, deren kollektive Bewältigung<br />
den Menschen scheinbar längst schon aus den Händen geglitten ist. Denn wären<br />
sie Produkt bewußter Gestaltung - wie könnten sie dann so unübersichtlich erscheinen?<br />
Aber gerade um die bewußte Gestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse müßte es<br />
gehen. Auch wenn es offen ist - offen sein muß -, wor<strong>auf</strong> eine solche hinausl<strong>auf</strong>en<br />
wird oder würde, so kann von Beliebigkeit keine Rede sein. Es ist eine kollektive Aufgabe,<br />
bei deren Inangriffnahme niemand ausgegrenzt werden darf. Jeder und jede muß<br />
die gleichberechtigte Möglichkeit haben, sich an der Gestaltung der gemeinsamen<br />
Lebensbedingungen zu beteiligen. Nur so kann der Mensch letztlich Subjekt seiner<br />
eigenen Geschichte werden. Es ist ja nicht so, daß nur in der Dritten Welt die gesellschaftlichen<br />
Verhältnisse wie ein Fatum erscheinen, <strong>auf</strong> das wir keinen direkten Einfluß<br />
hätten. Was hier bei uns unter dem Stichwort ‚Politikverdrossenheit‘ bekannt ist,<br />
scheint mir letztlich <strong>auf</strong> <strong>einem</strong> Fatalismus zu beruhen, der jedoch in den realen Verhältnissen<br />
begründet ist. Haben zumindest einige noch die Möglichkeit, am Markt zu<br />
partizipieren - sofern sie denn etwas zu Markte zu tragen haben, und sei es auch nur<br />
ihre ,nackte Haut‘ -, so scheinen seine ,Spielregeln‘ doch im allgemeinen unantastbar<br />
zu sein. Gibt es überhaupt jemanden, der für diese Spielregeln verantwortlich ist? Sind<br />
sie denn nicht naturgegeben? - Solchermaßen sind die gesellschaftlichen Machtverhältnisse,<br />
die die Herrschenden nur als besondere Günstlinge eines natürlichen Schicksals<br />
erscheinen lassen, wenn diese denn im Bewußtsein der Öffentlichkeit überhaupt<br />
präsent sind. Da ist es schwer nachzuvollziehen, daß die Allmächtigkeit der Herrschaft<br />
dieses ‚Schicksals‘ letztendlich „nur“ <strong>auf</strong> der Macht jedes und jeder einzelnen beruht,<br />
die er oder sie abgibt, indem er oder sie sich diesem Schicksal fügt, mitmacht, funktioniert<br />
... Klar, so einfach läßt sich hier nicht aussteigen, es ist tatsächlich schwierig,<br />
seinen Lebensunterhalt <strong>auf</strong> eine andere Weise zu erarbeiten - was freilich beweist,<br />
welch totalitären Charakter dieses herrschende System in Wirklichkeit hat, im Widerspruch<br />
zu aller Rhetorik von ,Freiheit‘ und ,Demokratie‘. Nur nebenbei bemerkt: Die<br />
neuerliche Rede von ‚Friedenstruppen‘ der NATO im Hinblick <strong>auf</strong> den Krieg in Ex-<br />
Jugoslawien macht den Fortschritt ,Orwell’scher Verhältnisse‘ erschreckend deutlich<br />
..., 1984 liegt nun auch schon mehr als 10 Jahre zurück!<br />
Jean-Marc Ela betont, daß der Mensch von Gott als Schöpfer geschaffen ist. Er selbst<br />
und die Welt sind eine Aufgabe, die zu bewältigen untrennbar zum Schöpfungs<strong>auf</strong>trag<br />
und zum Menschsein des Menschen gehört. Es ist ein herausragendes Charakteristikum<br />
des Menschen, daß er - prinzipiell - fähig ist, die Gestaltung seiner Lebensbedingungen<br />
selbst und bewußt in die Hand zu nehmen. Zu dieser Erkenntnis bedarf es zwar nicht
Schluß 241<br />
der Bibel, aber als ChristInnen, die wir uns <strong>auf</strong> die Bibel berufen oder beziehen, sind<br />
wir noch zusätzlich durch die Schöpfungsgeschichte zu dieser Einsicht angehalten, und<br />
dazu, die notwendigen Konsequenzen aus dieser Einsicht zu ziehen. Und dies heißt:<br />
aktiver Widerstand gegen alle Verhältnisse, die den Menschen seiner Verantwortung<br />
gegenüber der Gestaltung seiner Lebensbedingungen berauben und ihn so an der Verwirklichung<br />
seines vollen Menschseins hindern. Und dies betrifft nicht nur die Menschen<br />
in der Dritten Welt, sondern auch die meisten Menschen aus der Ersten Welt,<br />
auch wenn sie ein paar ‚Brosamen‘ mehr abbekommen. Diese Privilegierung macht es<br />
uns nur schwerer, uns gegen die vorherrschende Weise der Organisation der Welt<br />
<strong>auf</strong>zulehnen. Aber können uns ‚Brot und Spiele‘ wirklich mehr wert sein als unser<br />
Menschsein, als ein wirklich lebenswertes und menschenwürdiges Leben? Sicher,<br />
„zuerst kommt das Fressen, und dann die Moral“ und ohne „Brot“ kann der Mensch<br />
nicht leben; aber ist bloßes Dahinvegetieren letztlich wirklich befriedigend? - alles<br />
Konsumieren ändert nichts daran, daß es ein Dahinvegetieren bleibt; die ganzen Konsumangebote<br />
verschleiern dies höchstens: man ist ja so ‚aktiv‘! ... im Konsumieren. -<br />
Zu <strong>einem</strong> wirklich befriedigenden Leben gehört mehr als passiver Konsum. Ganz wesentlich<br />
ist hierbei die aktive Partizipationsmöglichkeit am gesellschaftlichen Leben<br />
und an der Gestaltung desselben - ein grundlegendes Charakteristikum des<br />
(Menschsein des) Menschen, oder theologisch ausgedrückt: seine schöpfungsgemäße<br />
Bestimmung. Denn in der Tat: <strong>„Der</strong> Mensch lebt nicht vom Brot allein“ (Dt 8,3/Mt<br />
4,4).
Der Traum ist aus<br />
Ich hab geträumt<br />
Der Winter wär vorbei<br />
Du warst hier<br />
Und wir warn frei<br />
Und die Morgensonne schien<br />
Es gab keine Angst<br />
Und nichts zu verliern<br />
Es war Friede bei den Menschen<br />
Und unter den Tiern<br />
<strong>Das</strong> war das Paradies<br />
Der Traum ist aus<br />
Der Traum ist aus<br />
Aber ich werde alles geben<br />
Daß er Wirklichkeit wird<br />
Ich hab geträumt<br />
Der Krieg wär vorbei<br />
Du warst hier<br />
Und wir wärn frei<br />
Und die Morgensonne schien<br />
Alle Türen waren offen<br />
Die Gefängnisse leer<br />
Es gab keine Waffen<br />
Und keine Kriege mehr<br />
<strong>Das</strong> war das Paradies<br />
Der Traum ist aus<br />
Der Traum ist aus<br />
Aber ich werde alles geben<br />
Daß er Wirklichkeit wird<br />
Gibt es ein Land <strong>auf</strong> der Erde<br />
Wo der Traum Wirklichkeit ist<br />
Ich weiß es wirklich nicht<br />
Ich weiß nur eins<br />
Und da bin ich sicher<br />
Dieses Land ist es nicht<br />
Dieses Land ist es nicht<br />
Der Traum ist ein Traum<br />
Zu dieser Zeit<br />
Doch nicht mehr lange<br />
Mach dich bereit<br />
Für den Kampf ums Paradies<br />
Wir haben nichts zu verliern<br />
Außer unserer Angst<br />
Es ist unsere Zukunft<br />
Es ist unser Land<br />
Gib mir deine Liebe<br />
Gib mir deine Hand<br />
Der Traum ist aus<br />
Der Traum ist aus<br />
Aber ich werde alles geben<br />
Daß er Wirklichkeit wird<br />
Ralph Möbius<br />
(Ton Steine Scherben)
Anhang<br />
Jean-Marc Elas Biographie - ein tabellarischer Abriß<br />
1936 geboren in Ebolowá/Südkamerun (ein Gebiet, das geprägt ist/war durch die protestantische<br />
als auch katholische Mission und durch den antikolonialen Widerstand)<br />
1963 erste Veröffentlichungen (Ökumene in Afrika, Vatikanum II)<br />
1964 Priesterweihe nach Ausbildung am Großen Seminar des Erzbistums Yaoundé;<br />
danach Dozent am Großen Seminar<br />
1969 Theol. Habil. an der Uni Strasbourg über das Thema: Transcendance de Dieu et<br />
existence humaine selon Luther. Essai d’introduction à la logique d’une théologie<br />
1971 La plume et la pioche (krit. Analyse des kamerunischen Bildungssystems; erstes<br />
Buch von Jean-Marc Ela)<br />
L’Afrique des villages<br />
1971-85 im Gefolge von Baba Simon als „Missionar“ in Tokombéré/Nordkamerun unter<br />
den Kirdi, einer der ärmsten und verachtetsten Bevölkerungsgruppen in Kamerun;<br />
dort entsteht die Theologie unter dem Baum<br />
1971-74 div. Artikel in L’Effort Camerounais (Themen: Berufsbild des Priesters, Evangelisierung<br />
Afrikas, Kirche in Afrika, die Stadt als Problem für die Kirche, Glaube an<br />
Jesus Christus heute, Massenkultur ...)<br />
1975 Tod von Baba Simon Mpecké, des „spirituellen Vaters“ Jean-Marc Elas<br />
1978 soziologische Dissertation an der Sorbonne in Paris über: Structures sociales<br />
traditionnelles et changements économiques chez les montagnards du Nord-<br />
Cameroun. L’exemple de Tokombéré<br />
1980 Le Cri de l’homme Africain (theologische Reflexionen einer „negativen Kontrasterfahrung“)<br />
Vortrag in Daressalam vor afrikanischen Intellektuellen aus den Reihen der JEC;<br />
Titel: De l’assistance à la libération. Les tâches actuelles de l’Eglise en milieu<br />
africain<br />
1981 Voici le temps des héritiers (zs. mit René Luneau und Christiane Ngendakuriyo; 4<br />
Beiträge von Jean-Marc Ela u.a. über Basisgemeinschaften in Afrika und über die<br />
Autonomie der „lokalen“ Kirchen)<br />
Gastprofessur an „Lumen Vitae“ in Brüssel/Belgien<br />
1983 Santé et pouvoir en milieu africain; Beitrag für die Conférence Internationale de<br />
Sociologie des Religions (Londres/Frankreich)<br />
1984 1. Kongreß afrikanischer und europäischer Theologen in Yaoundé (Jean-Marc Elas<br />
Beitrag: La relève missionnaire en Afrique); zur selben Zeit: mißglückter Staatsstreich<br />
(Aktionen in Sichtweite des Tagungsortes)<br />
1985 Ma foi d’Africain (theologische Reflexionen des Engagements in Tokombéré,<br />
„Rechenschaftsbericht“, Plädoyer für eine afrikanische Befreiungstheologie)
II<br />
La ville en Afrique noire<br />
seit 1985 Professor für Soziologie und StudentInnenpastor an der Uni in Yaoundé<br />
Pastoralarbeit unter Jugendlichen aus den Vorstädten von Yaoundé<br />
Theologische Bildungsarbeit für „Laien“<br />
1985 Le pape dans l’Eglise: une interpellation africaine (2 Artikel in dem Wochenblatt<br />
Cameroon Tribune anläßlich des Papstbesuches; respektvolle, aber kritische Analyse<br />
der möglichen Bedeutung dieses Ereignisses)<br />
1986 Le motif de la libération dans la théologie africaine (Vortrag beim 20 e Séminaire<br />
Oecuménique International in Strasbourg/Frankreich)<br />
1989 Cheikh Anta Diop ou l’honneur de penser (Hommage an den großen senegalesischen<br />
Afrikanisten)<br />
1995 Flucht ins Exil nach Kanada (nach der Ermordung von Engelbert Mveng im April<br />
des Jahres)
III<br />
Bibliographie<br />
Bücher von Jean-Marc Ela<br />
1969 Transcendance de Dieu et existence humaine selon Luther. Essai d’introduction à la<br />
logique d’une théologie, Thèse pour le Doctorat d’Etat et théologie, Strasbourg, 2 Bde.<br />
[Habilitationsschrift]<br />
1971 La plume et la pioche. Réflexion sur l’enseignement et la société dans le développement<br />
de l’Afrique Noire, Yaoundé (CLE)<br />
1978 Structures sociales traditionnelles et changements économiques chez les montagnards du<br />
Nord-Cameroun. L’exemple de Tokombéré. Thèse pour le Doctorat de 3 e cycle, Paris V,<br />
Sorbonne, René Descartes<br />
1980 Le Cri de l’homme Africain. Questions aux chrétiens et aux églises d’Afrique, Paris<br />
(L’Harmattan)<br />
1981 Voici le temps des héritiers. Églises d’Afrique et voies nouvelles, Postface de Vincent<br />
Cosmao, Paris (Karthala); [zusammen mit René Luneau und Christine Ngendakuriyo]<br />
1982 L’Afrique des villages, Paris (Karthala)<br />
1983 La ville en Afrique noire, Paris (Karthala)<br />
1985 Ma foi d’Africain, Paris (Karthala)<br />
1989 Cheikh Anta Diop ou l’honneur de penser, Paris (L’Harmattan)<br />
1990 Quand l’État pénètre en brousse... Les ripostes paysannes à la crise, Paris (Karthala)<br />
In Zeitschriften, Sammelbänden und Konferenzakten<br />
publizierte Beiträge von Jean-Marc Ela<br />
1963 Note sur le problème de l’oecuménisme en Afrique Noire, in: Tam Tam No. 3-4, 48-52<br />
1963 L’Eglise, le Monde Noir et le Concile, in: Personnalité africaine et Catholicisme<br />
(Présence Africaine), Paris<br />
1963 Le premier de tous les Conciles Oecuméniques (Actes XV, 1-35). 2 e Prix Concours<br />
Biblique des Pays de langue française, Strasbourg<br />
1965 L’Eglise à la rencontre du Tiers Monde, Tam Tam No. 1-2, 4-8 und No. 9-10, 27-44<br />
1971 Thèses sur le sacerdoce, L’Effort Camerounais No. 783-786<br />
1971 Le mariage des prêtres est-il une solution?, L’Effort Camerounais No. 789<br />
1971 Le Synode et nous, L’Effort Camerounais No. 790<br />
1971 Des prêtres clochards? (De l’obsession de l’argent à la hantise de l’évangélisation),<br />
L’Effort Camerounais No. 796-797<br />
1973 Pleins feux sur la musique, L’Effort Camerounais, 18 mars<br />
1973 Pour une débalkanisation des Eglises Africaines, L’Effort Camerounais No. 857<br />
1973 La ville, un problème pour l’Eglise, L’Effort Camerounais, 20 oct.<br />
1973 Comment évangéliser l’Afrique?, L’Effort Camerounais, 27 janv.<br />
1974 Croire en Jésus-Christ aujourd’hui?, L’Effort Camerounais, 2 juin<br />
1974 Culture de masse, opium des masses?, L’Effort Camerounais, 26 juillet<br />
1974 Pour évangéliser l’Afrique, il faut africaniser l’Eglise, L’Effort Camerounais, oct.<br />
1975 Jésus Christ, Dieu des Philosophes?, Revue des Sciences Religieuses 49, 269-291
IV<br />
1976 Langage et temporalité, Revue des Sciences Religieuses 50, 244-251<br />
1977 Ministère ecclésial et problèmes des jeunes Eglises, Concilium 126, 61-69 [= Kap. 4 in<br />
Ma foi d’Africain (1985)]<br />
1977 Les Ancêtres et la foi chrétienne: une question africaine?, Concilium 122, 1977 [= Kap.<br />
2 in Ma foi d’Africain (1985)]<br />
1977 Le droit à la différence ou l’enjeu actuel des églises locales en Afrique Noire, in:<br />
Civilisation Noire et Eglise Catholique. Colloque d’Abidjan, 12-17 sept., Paris (Présence<br />
Africaine) [= Kap. 7 in Le Cri de l’homme Africain (1980)]<br />
1979 Symbolique africaine et mystère chrétien, in: Un christianisme africain (Les quatre<br />
fleuves; Bd. 10), Paris (Beauchesne), 91-109 [= Kap. 3 in Ma foi d’Africain (1985)]<br />
1981 De l’assistance à la libération. Les tâches actuelles de l’Eglise en milieu africain, Telema<br />
7, No. 27/3, 5-27; außerdem erschienen in Foi et Développement 83/84, 1-9 und als<br />
Broschüre in Limete-Kinshasa in der Edition L’Epiphanie (Collection Évangéliser; Bd.<br />
2) [= Kap. 9 in Ma foi d’Africain (1985)]<br />
1981 Luttes pour la santé de l’homme et Royaume de Dieu dans l’Afrique d’aujourd’hui, Foi<br />
et Développement 90, oct.; später erschienen in Bulletin de Théologie Africaine 5, No. 9<br />
(1983), 65-84 und unter dem Titel: Santé et pouvoir en milieu africain, in: Actes de la<br />
Conférence Internationale de Sociologie des Religions: Religion et Domaine Public,<br />
Londres, 1983 [= Kap. 5 in Ma foi d’Africain (1985)]<br />
1982 Pratiques étudiantes et luttes de libération, Conseil Mondial JECI, Montréal<br />
1983 La foi des pauvres en acte (la Mission, cri des paysans), Telema 9, No. 35/3, 45-58/72<br />
(Vortrag vom April 1982 anläßlich der Feier zum 10-jährigen Bestehen des Centre Lebret<br />
in Paris; 59-72: Dokumentation der anschließenden Debatte) [= Kap. 6 in Ma foi<br />
d’Africain (1985)]<br />
1984 Identité propre d’une théologie africaine, in: Claude Geffré (Hg.), Théologie et choc des<br />
cultures, Paris (Cerf), 23-54 [= Kap. 10 in Ma foi d’Africain (1985)]<br />
1984 La relève missionnaire en Afrique. Contribution au Premier Congrès des Théologiens<br />
africains et européens, Yaoundé, 4-11 avril; später veröffentlicht in Bulletin de Théologie<br />
Africaine 7, No. 13-14 (1985), 29-47<br />
1984 First Colloquium of African and European Theologians, Yaoundé - Cameroon, 4-11<br />
April, 1984 - General Report, Mission Studies 1, Nr. 1, 57-59 [zusammen mit Stuart E.<br />
Brown]<br />
1984 Le rôle des Eglises dans la libération du continent africain, Bulletin de Théologie<br />
Africaine 6, No. 12, 281-302<br />
1984 Les enjeux de la mission aujourd’hui. Conférence donnée à Lubumbashi, le 22 juillet, in:<br />
Christianisme et libération en Afrique. Les dossiers de Mbegu, no. 7, Kinshasa, 30-43<br />
1984 Christianisme et libération en Afrique. Conférence distribuée lors du Synode diocésain<br />
de Lubumbashi, Luishia, août 1984, in: Christianisme et libération en Afrique. Les<br />
dossiers de Mbegu, no. 7, Kinshasa, 1-29<br />
1985 Le Pape dans l’Eglise: une interpellation africaine, Cameroon Tribune, du 22 et 23 août<br />
1986 Le motif de la libération dans la théologie africaine, Les Nouvelles Rationalités<br />
Africaines 2, No. 5, 37-51<br />
1986 Cheikh Anta Diop ou l’honneur de penser, Peuples Noirs, Peuples Africains 9, No. 51,<br />
42-58<br />
1986 Les conditions réelles d’une africanisation de l’Eglise, Cameroon Tribune, 26 mars<br />
1987 Ambiguïtés de la mission. Le cas africain, Lumière et vie 137, 17-32 [Nachdruck des 2.
V<br />
Kap. aus Le Cri de l’homme Africain (1980)]<br />
1989 Conscience historique et révolution africaine chez Cheikh Anta Diop, Présence Africaine<br />
No. 149/150, 161-192<br />
1991 L’Eglise et la révolution des médias, L’Effort Camerounais No. 38, 7 und No. 39, 6-7<br />
1992 The Church has to Accompany the People, New People 19, 10-11<br />
1993 Cosa ci aspettiamo dal sinodo Africano, Missione Oggi 15, No. 8-9, 17-32<br />
1994 Soziale Krise als Herausforderung für die christliche Jugend. Vortrag <strong>auf</strong> dem<br />
CANAAL-Workshop am 23. März 1994 in Yaoundé, ansätze (esg-nachrichten) 6, 20-23<br />
[Sondernummer mit dem Thema: Kamerun, Namibia, Deutschland - Eine trinationale<br />
Begegnung]<br />
1994 Poverty and Theology, New People No. 31, 16<br />
Interviews mit Jean-Marc Ela<br />
1981 Christianisme de Musée, Le Pays, 30 oct., 14-15<br />
1985 La teologia dell’inculturazione, Rocca No. 8, 15 aprile [Franco Ferrari] 1 ; als Anhang<br />
abgedruckt in: Fede e liberazione in Africa. Riflessioni e sfide all’Occidente da parte di<br />
un teologo africano (1986), 172-181<br />
1986 Un entretien avec Jean-Marc Ela, théologien camerounais, Spiritus 27, No. 104, 253-261<br />
[Achille Mbembé]<br />
1989 Una teologia desde el tercer mundo. Entrevista a Jean-Marc Ela, teologo camerunes,<br />
Mundo Negro 30, No. 326, 19-22 [José Carlos Rodríguez y Juan Gonzales Nuñez]<br />
1990 Poised for the Future, New People 7, 6-8 [leicht gekürzte Übersetzung von: Una teologia<br />
desde el tercer mundo (1989); John Ladu]<br />
1993 Pour une théologie appropriée, Vivant Univers No. 408, 30-34<br />
1994 The Synod, a step towards the Council, Idoc Internazionale 25, No. 1, 20-24 [Giuseppe<br />
Cavallini]; Quelle: Nigrizia No. 11, Nov. 1993 (Verona/Italien)<br />
1994 Wie die Kirdi den Tod Gottes überwanden. Interview mit Jean-Marc Ela, dem Begründer<br />
afrikanischen Befreiungstheologie, Publik-Forum Nr. 9, 21-23 [Thomas Seiterich-<br />
Kreuzkamp]<br />
1995 „Il faut réinventer la démocratie au niveau quotidien“. Interview avec Jean-Marc Ela,<br />
Yaoundé (Cameroun), in: Missionswissenschaftliches Institut Missio e.V. (Hg.), Jahrbuch<br />
für kontextuelle Theologien, Frankfurt am Main (IKO - Verlag für Interkulturelle<br />
Komm.), 185-193 [Ludwig Bertsch]<br />
Übersetzungen<br />
1977 Kirchliches Amt und Probleme der jungen Kirchen, Concilium 13, 373-377; niederl.: Het<br />
kerkelijk ambt en de problemen van de jonge kerken, Concilium 13, No. 6, 53-61 [⇒<br />
Ministère ecclésial et problèmes des jeunes Eglises (1977)] 2<br />
1<br />
Die Namen in eckigen Klammern am Ende der jeweiligen bibliographischen Angaben beziehen sich -<br />
sofern bekannt - <strong>auf</strong> den Interviewer. Für Verweise und den Beleg von Zitaten werden die Interviews<br />
innerhalb der Arbeit nach dem Interviewer <strong>auf</strong>geführt (der für die Fragen und die redaktionelle Arbeit<br />
verantwortlich zeichnet), sofern dieser nicht bekannt ist, nur mit dem Titel und <strong>einem</strong> Verweis <strong>auf</strong> den<br />
Interviewcharakter.
VI<br />
1977 Die Ahnen und der christliche Glaube: Eine afrikanische Frage, Concilium 13, 84-94;<br />
niederl.: De voorouders en het christelijk geloof: een afrikaans problem, , No. 2, 37-55<br />
[⇒ Les Ancêtres et la foi chrétienne: une question africaine? (1977)]<br />
1983 Como vivir nuestra fe en el Africa de los años 80, Vida y Reflexion No. 60, noviembre,<br />
273-292 (Lima/Peru) [⇒ Voici le temps des héritiers (1981), 184-210 und 120]<br />
1984 The Faith of the Poor, AACC Magazine 2, No. 2, 12-16 [⇒ La foi des pauvres en acte<br />
(1983)<br />
1984 From Charity to Liberation, London (CIIR) [⇒ De l’assistance à la libération. Les<br />
tâches actuelles de l’Eglise en milieu africain (1981)]<br />
1985 Rapport général (über: Premier Congrès des Théologiens africains et européens,<br />
Yaoundé, 4-11 avril), Bulletin de Théologie Africaine 7, No. 13-14, 410-414 [zusammen<br />
mit Stuart E. Brown]<br />
1985 Zwart is anders. Pleidooi voor een afrikanse kerk, Den Bosch (Bijeenpublikaties) [⇒ Le<br />
Cri de l’homme Africain (1980); laut Jan P. Heijke <strong>wurde</strong> nicht nur der Titel entstellend<br />
verändert, sondern auch der Text entsprechend „bearbeitet“]<br />
1986 African Cry, Maryknoll, N.Y. (Orbis) [⇒ Le Cri de l’homme Africain (1980)]<br />
1986 Fede e liberazione in Africa. Riflessioni e sfide all’Occidente da parte di un teologo<br />
africano, Assisi (Citadella Editrice) [⇒ Dire Dieu et libérer Afrique, Yaoundé (1985) 3 ]<br />
1987 Mein Glaube als Afrikaner. <strong>Das</strong> Evangelium in schwarzafrikanischer Lebenswirklichkeit<br />
(Theologie der Dritten Welt; Bd. 10), Freiburg i.Br. (Herder) [⇒ Ma foi d’Africain<br />
(1985); Vorwort von Achille Mbembé und Nachwort von Vincent Cosmao fehlen in der<br />
Übersetzung]<br />
1987 An African Reading of Exodus, Voices of the Third World 10, No. 2, 76-85 [Nachdruck<br />
des 3. Kap. aus African Cry (1986; Orig.: 1980)]<br />
1989 Jesus, das Sakrament Gottes, in: Wolfgang Beinert (Hg.), Christologie II. Vom Mittelalter<br />
bis zur Gegenwart (Texte zur Theologie, Abt. Dogmatik; Bd., 4,2), Graz, Wien,<br />
Köln, 216-219 [Exzerpte aus Mein Glaube als Afrikaner (1987; Orig.: 1985)]<br />
1992 Towards an African Liberation Theology, JCTR Bulletin 14, 10-12 [Exzerpt aus dem 3.<br />
Kap. von African Cry (1986)]<br />
1989 My Faith as an African, London (Geoffrey Chapman) [⇒ Ma foi d’Africain (1985)]<br />
1995 Poverty and Theology, ansätze 4, 10-11 [⇒ New People Nr. 16 (1994)]<br />
Literatur über Jean-Marc Ela<br />
o.J. Art. Jean-Marc Ela, Kamerun, in: Theologen der Dritten Welt (Missionswissenschaftliches<br />
Institut Missio e.V., Aachen, unveröffentlichte Sammlung von Kurzbiographien und<br />
-darstellungen der Theologie von Dritte-Welt-Theologen)<br />
1985 JAN P. HEIJKE, Een Afrikaanse Befrijdingstheoloog: Jean-Marc Ela, Euntes-Digest 18,<br />
Nr. 4, 254-264<br />
1986 JOSAPHAT HITIMANA, Évangile et libération. La pensée de Jean-Marc Ela, in: Chemins de<br />
2<br />
3<br />
Die eckigen Klammern verweisen <strong>auf</strong> das der jeweiligen Übersetzung zugrunde liegende Original und<br />
geben ggf. einige Bemerkungen zur Übersetzung.<br />
So wird in Fede e liberazione in Africa der Titel des Originals angegeben. Ich konnte diesen Titel jedoch<br />
nicht verifizieren, und auch Jan P. Heijke hat ihn in seiner Bibliographie von Jean-Marc Elas Publikationen<br />
(Kameroense Befrijdingstheologie, S. 210-211) nicht <strong>auf</strong>geführt.
VII<br />
la Christologie Africaine Paris (Desclée), 1986, 249-261<br />
1988 DIANDA KABAMBA, Le motif de la libération dans l’œuvre de Jean-Marc Ela (MS; Papier<br />
für die III e Assemblée Générale der Association Oecuménique des Théologiens<br />
Africains, Décembre)<br />
1990 JAN P. HEIJKE, Kameroense Befrijdingstheologie. Jean-Marc Ela. Theologie van onder<br />
de boom (Kerk en Theologie in Context; Bd. 6), Kampen (Kok)<br />
1992 JAN P. HEIJKE, Contextualisatie bij Jean-Marc Ela, Kerk en Missie Nr. 268, 6-11<br />
1992 Tiokou Ndonko, Flavien: Jean-Marc Ela - Befreiungstheologe, in: Gerlinde Kurzbach<br />
(Hg.), Kamerun. Ein Reisebuch, Hamburg (VSA), , 17f<br />
1993 RASOLONJATOVO MARTIAL, La théologie sous l’arbre ou une inculturation Camerounaise<br />
du révélé chrétien, Aspects du Christianisme à Madagascar 5, No. 3, 122-132<br />
1994 ROLF KÖHLER, „Mein Glaube als Afrikaner“. Begegnung mit dem afrikanischen Befreiungstheologen<br />
Jean-Marc Ela und seiner „Theologie unter dem <strong>Baum“</strong>, ansätze (esgnachrichten)<br />
6, 18-20 [Sondernummer mit dem Thema: Kamerun, Namibia, Deutschland<br />
- Eine trinationale Begegnung]<br />
Sekundärliteratur<br />
Kamerun (Geschichte und Gegenwart)<br />
AARON SUH NEBA, Modern Geography of the Republic of Cameroon, Camden, New Jersey<br />
(Neba Publishers), 1987 2<br />
Art. „Diktator eingeladen. Kameruns Opposition kritisiert Commonwealth“, in: junge welt Nr.<br />
255 (8. Nov. 1995, S. 10)<br />
BETI, MONGO: Main basse sur le Cameroun. Autopsie d’une décolonisation, Paris (Maspéro),<br />
1972 1 , 1984 2<br />
BITOTO ABENG, NAZAIRE: Von der Freiheit zur Befreiung. Die Kirchen- und Kolonialgeschichte<br />
Kameruns (Europäische Hochschulschriften, Reihe 23, Theologie; Bd. 364), Frankfurt<br />
am Main (Lang), 1989 (zugl.: Diss. Münster/Westfalen, 1983)<br />
ECKERT, ANDREAS: Ruben Um Nyobé, in: GERLINDE KURZBACH (Hg.), a.a.O., S. 111<br />
HERING, WOLFGANG: Die Anfänge des Christentums in Kamerun, in: DERS. (Hg.), Christus in<br />
Afrika. Zur Inkulturation des Glaubens im Schwarzen Kontinent (Glaube, Wissen, Wirken;<br />
Bd. 15), Limburg (Lahn-Verlag), 1991, 13-27<br />
KURZBACH, GERLINDE(Hg.): Kamerun. Ein Reisebuch, Hamburg (VSA), 1992<br />
KURZBACH, GERLINDE: Bizarre Mandaraberge und verträumte Orte in der Ebene. Nordkamerun,<br />
in: Gerlinde Kurzbach (Hg.), a.a.O., 206-218<br />
KURZBACH, GERLINDE: Die islamischen Fulbe-Ritter und ihr Reich, a.a.O., 101-102<br />
KURZBACH, GERLINDE: Wagenburgen, Kirdis und die Mousgoum. Die traditionelle Lehmarchitektur,<br />
a.a.O., 27-30<br />
MEHLER, ANDREAS: Journalisten leben gefährlich, in: GERLINDE KURZBACH (Hg.), a.a.O., 95-99<br />
MEHLER, ANDREAS: Kamerun in der Ära Biya. Bedingungen, erste Schritte und Blockaden einer<br />
demokratischen Transition (Hamburger Beiträge zur Afrika-Kunde; Bd. 42), Hamburg<br />
(Institut für Afrika-Kunde), 1993 (zugl. Diss. Hamburg, 1993)<br />
MIDEL, MONIKA: Fulbe und Deutsche in Adamaua (Nord-Kamerun) 1809-1916. Auswirkungen<br />
afrikanischer und kolonialer Eroberung (Europäische Hochschulschriften, Reihe 3, Ge-
VIII<br />
schichte und Hilfswissenschaften; Bd. 425), Frankfurt am Main (Lang), 1990 (zugl.:<br />
Diss. Bonn, 1990)<br />
NESTVOGEL, RENATE: Mission und Kolonialherrschaft in Kamerun, in: KLAUS J. BADE, Imperialismus<br />
und Kolonialmission. Kaiserliches Deutschland und koloniales Imperium (Beiträge<br />
zur Kolonial- und Überseegeschichte; Bd. 22), Wiesbaden (Steiner), 1982, 205-<br />
225<br />
Ngongo, Louis: Histoire des forces religieuses au Cameroun. De la première guerre mondiale à<br />
l’Indépendance (1916-1955), Paris, 1982<br />
SUH NEBA, AARON: Modern Geography of the Republic of Cameroon, Camden, New Jersey<br />
(Neba Publishers), 1987 2<br />
Um Nyobé, Ruben: Le problème national Kamerunais, Paris, 1984 (hg. von Achille Mbembé)<br />
WEINGART, SIBYLLE: Der Pallottiner-Orden in Kamerun. Mission und Kolonialherrschaft, EPK<br />
2/89, 22-25<br />
Afrika allgemein (inklusive Missions- und Kolonialgeschichte)<br />
BADE, KLAUS J.: Friedrich Fabri und der Imperialismus in der Bismarckzeit. Revolution - Depression<br />
- Expansion (Beiträge zur Kolonial- und Überseegeschichte; Bd. 13), Freiburg<br />
i.Br. (Atlantis), 1975 (= überarbeitete Diss. Erlangen, 1971/72)<br />
BADE, KLAUS J.: Imperialismus und Kolonialmission. Kaiserliches Deutschland und koloniales<br />
Imperium (Beiträge zur Kolonial- und Überseegeschichte; Bd. 22), Wiesbaden (Steiner),<br />
1982<br />
BETI, MONGO: La France contre l’Afrique, Paris (La Découverte), 1993<br />
CESAIRE, AIME: Über den Kolonialismus, Berlin (Wagenbach), 1968 (franz.: Discours sur le<br />
colonialisme, Paris (Présence Africaine), 1955)<br />
der überblick 1/84 (Themenheft zu „100 Jahre Berliner Kongo-Konferenz“)<br />
FABRI, FRIEDRICH: Bedarf Deutschland der Colonien? Eine politisch-ökonomische Betrachtung,<br />
Gotha (F.A. Perthes), 1879<br />
FANON, FRANTZ: <strong>Das</strong> kolonisierte Ding wird Mensch. Ausgewählte Schriften, Leipzig (Reclam),<br />
1986<br />
FANON, FRANTZ: Les Damnés de la terre, Paris, 1961 1 (dtsch.: Die Verdammten dieser Erde,<br />
Frankfurt am Main, 1966 1 )<br />
FANON, FRANTZ: Rassismus und Kultur, in: DERS., <strong>Das</strong> kolonisierte Ding wird Mensch. Ausgewählte<br />
Schriften, Leipzig (Reclam), 1986, 134-148 (zuerst veröffentlicht in der Sondernummer<br />
von Présence Africaine, Juni/Nov. 1956)<br />
GRÜNDER, HORST: Christliche Mission und deutscher Imperialismus. Eine politische Geschichte<br />
ihrer Beziehungen während der deutschen Kolonialzeit (1884-1914) unter besonderer<br />
Berücksichtigung Afrikas und Chinas, Paderborn (Schöningh), 1982<br />
GRÜNDER, HORST: Rückwirkungen der deutschen Kolonialinaugurierung <strong>auf</strong> die Stellung der<br />
christlichen Mission in Kirche, Staat und Gesellschaft, Zeitschrift für Missionswissenschaft<br />
und Religionswissenschaft 79, Nr. 2 (1995), 120-133<br />
HEISING, JOHANNES: Entwicklung und moderne Philosophie in Schwarzafrika. Wege zu einer<br />
unbekannten geisteswissenschaftlichen Tradition, Frankfurt am Main (Verlag für interkulturelle.<br />
Kommunikation), 1990<br />
HOFFMANN, GERD-RÜDIGER: Verstehen und Mißverstehen. Über den Umgang mit Texten aus<br />
und über Afrika, Dritter Weg. Journal für eine solidarische Welt 4, Nr. 14 (1995), 4-14
IX<br />
HOUNTONDJI, PAULIN J.: Afrikanische Philosophie. Mythos und Realität, Berlin (Dietz), 1993<br />
(franz. Orig.: 1977<br />
KI-ZERBO, JOSEPH: Die Geschichte Schwarzafrikas, Frankfurt am Main (Fischer TB), 1992<br />
(franz.: 1978)<br />
MAMOZAI, MARTHA: Schwarze Frau, Weiße Herrin. Frauenleben in den deutschen Kolonien,<br />
Reinbek (rororo aktuell), 1989 (1982 1 )<br />
MICHLER, WALTER: Weißbuch Afrika, Bonn (Dietz), völlig überarbeitete und erweiterte 2.<br />
Auflage 1991 (1988 1 )<br />
TOWA, MARCIEN: Léopold Sédar Senghor. Négritude ou servitude?, Yaoundé (CLE), 1971<br />
Erste Welt und Dritte Welt<br />
FOITZIG, ANDREAS; LEIPRECHT, RUDI; MARVAKIS, ATHANASIOS; SEID UWE (Hg.): „Ein Herrenvolk<br />
von Untertanen“. Rassismus - Nationalismus - Sexismus, Duisburg (DISS), 1992<br />
FREIRE, PAULO: Pädagogik der Unterdrückten. Bildung als Praxis der Freiheit, Mit einer Einführung<br />
von Ernst Lange, Reinbek (Rowohlt), 1987 (Orig.: 1970)<br />
HOFFMANN, FRANK: Heilserwartung und Aufklärung, Freitag, Nr. 28 (3. Juli 1992), S. 13<br />
KÖßLER, REINHART und MELBER, HENNING: Chancen internationaler Zivilgesellschaft, Frankfurt<br />
am Main (edition suhrkamp), 1993<br />
MARX, KARL: <strong>Das</strong> Kapital. Kritik der politischen Ökonomie, Berlin, DDR (Dietz), 1988 32 , Bd. 1<br />
MELBER, HENNING: Der Weißheit letzter Schluß. Rassismus und kolonialer Blick, Frankfurt am<br />
Main (Brandes und Apsel), 1992<br />
MENZEL, ULRICH: <strong>Das</strong> Ende der Dritten Welt und das Scheitern der großen Theorie, Frankfurt<br />
am Main (edition suhrkamp), 1992<br />
MIES, MARIA: Patriarchat und Kapital. Frauen in der internationalen Arbeitsteilung, Zürich<br />
(rotpunktverlag), 1989 2<br />
NOHLEN, DIETER und NUSCHELER, FRANZ: Ende der Dritten Welt?, in: DIES. (Hg.), Handbuch der<br />
Dritten Welt; Bd. 1: Grundprobleme - Theorien - Strategien, Bonn (Dietz), 3., völlig neu<br />
bearbeitete Aufl. 1992, 14-30<br />
ROMMELSPACHER, BIRGIT: Rechtsextremismus und Dominanzkultur, in: ANDREAS FOITZIG, RUDI<br />
LEIPRECHT, ATHANASIOS MARVAKIS, UWE SEID (Hg.), „Ein Herrenvolk von Untertanen“.<br />
Rassismus - Nationalismus - Sexismus, Duisburg (DISS), 1992, 81-94<br />
THEWELEIT, KLAUS: Männerphantasien. Frauen, Fluten, Körper, Geschichte, Reinbek (Rowohlt),<br />
1993 (1977 1 ), Bd. 1<br />
TODOROV, TZVETAN: Die Eroberung Amerikas. <strong>Das</strong> Problem des Anderen, Frankfurt am Main<br />
(edition suhrkamp), 1985 (franz. Orig.: 1982)<br />
Afrikanische Theologie<br />
Amba Oduyoye, Mercy: Wir selber haben ihn gehört. Theologische Reflexionen zum Christentum<br />
in Afrika, Freiburg/Schweiz (Exodus), 1988<br />
BUJO, BÉNÉZET: Afrikanische Theologie in ihrem gesellschaftlichen Kontext (Theologie interkulturell;<br />
Bd. 1), Düsseldorf (Patmos), 1986<br />
BUTHELEZI, MANAS: Ansätze afrikanischer Theologie im Kontext von Kirche in Südafrika, in:<br />
ILSE TÖDT (Hg.), Theologie im Konfliktfeld Südafrika. Dialog mit Manas Buthelezi (Studien<br />
zur Fiedensforschung; Bd. 15), Stuttgart (Ernst Klett) und München (Kösel), 1976,<br />
33-132
X<br />
<strong>Das</strong> KAIROS-Dokument. Eine Herausforderung an die Kirche. Ein theologischer Kommentar<br />
zur politischen Krise in Südafrika (EMW-Informationen Nr. 64), Hamburg, 1985 (erweiterte<br />
Neu<strong>auf</strong>lage 1986); eine zweite revidierte Fassung ist enthalten in: Christliches Bekenntnis<br />
in Südafrika (Weltmission heute, Nr. 1), Hamburg, 1987, 3-39<br />
Der schwarze Christus. Wege afrikanischer Christologie (Theologie der Dritten Welt; Bd. 12),<br />
Freiburg i.Br. (Herder), 1989<br />
DIOP, ALIOUNE (Hg.): Des Prêtres noirs s’interrogent, Brüssel, 1956 (dtsch.: Schwarze Priester<br />
melden sich, Frankfurt, 1960)<br />
EBOUSSI BOULAGA, FABIEN: Christianisme sans fétiche. Révélation et domination, Paris, 1982<br />
HASENHÜTTL, GOTTHOLD: Schwarz bin ich und schön. Der theologische Aufbruch Schwarzafrikas,<br />
Darmstadt (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), 1991<br />
HEBGA, MEINRAD: Emancipation d’Eglises sous tutelle. Essai sur l’ère post-missionnaire, Paris<br />
(Présence Africaine), 1976<br />
HERING, WOLFGANG(Hg.): Christus in Afrika. Zur Inkulturation des Glaubens im Schwarzen<br />
Kontinent (Glaube, Wissen, Wirken; Bd. 15), Limburg (Lahn-Verlag), 1991<br />
KOLIÉ, CÉCÉ: „Jesus - Heiler?“, in: Der schwarze Christus. Wege afrikanischer Christologie<br />
(Theologie der Dritten Welt; Bd. 12), Freiburg i.Br. (Herder), 1989, 108-137<br />
LINK-WIECZOREK, ULRIKE: Reden von Gott in Afrika und Asien: Darstellung und Interpretation<br />
afrikanischer Theologie im Vergleich mit der koreanischen Minjung-Theologie (Forschungen<br />
zur systematischen und ökumenischen Theologie; Bd. 60), Göttingen (Vandenhoeck<br />
& Ruprecht), 1991 (zugl.: Diss. Uni. Heidelberg, 1989)<br />
MBITI, JOHN S.: Afrikanische Religion und Weltanschauung, Berlin, New York (de Gruyter),<br />
1974, S. 32 und passim (Orig.: African Religions and Philosophy, London, Ibadan, Nairobi<br />
(H<strong>einem</strong>ann), 1969; franz.: Religions et Philosophie africaine, Yaoundé (CLE),<br />
1972)<br />
MVENG, ENGELBERT: African Theology: A Methodological Approach, Voices from the Third<br />
World 18, Nr. 1 (1995), 106-116<br />
MVENG, ENGELBERT: Black African Arts as Cosmic Liturgy and Religious Language, in: African<br />
Theology en Route, hg. v. KOFI APPIAH-KUBI und SERGIO TORRES, Maryknoll, N.Y. (Orbis),<br />
1983 3 , (1979 1 ), 137-142<br />
MVENG, ENGELBERT: Die Weisheit der drei Wildenten. Afrikanische Weltsicht: Leidet die<br />
Schöpfung, so leidet der Mensch. Ein Vermächtnis des ermordeten Jesuiten Engelbert<br />
Mveng, Publik-Forum (9/95)<br />
MVENG, ENGELBERT: Third World Theology - What Theology? What Third World?: Evaluation<br />
by an African Delegate, in: Virginia Vabella und Sergio Torres (Hg.), Irruption of the<br />
Third World. Challenge to Theology, Papers from the Fifth International Conference of<br />
the Ecumenical Association of Third World Theologians, August 17-29, 1981, New<br />
Delhi, India, Maryknoll, N.Y. (Orbis), 1983, 217-221<br />
PARRATT, JOHN: Theologiegeschichte der Dritten Welt. Afrika, München (Kaiser), 1991<br />
RÜCKER, HERIBERT: „Afrikanische Theologie“. Darstellung und Dialog (Innsbrucker theologische<br />
Studien; Bd. 14), Innsbruck, Wien (Tyrolia-Verlag), 1985<br />
SANON, ANSELME TITIANMA: Tierce Église, ma mère, ou la conversion d’une communauté<br />
païenne au Christ, Paris, 1972<br />
SETILOANE, GABRIEL MOLEHE: Der Gott meiner Väter und mein Gott. Afrikanische Theologie im<br />
Kontext der Apartheid, Wuppertal (Hammer), 1988
XI<br />
SETILOANE, GABRIEL MOLEHE: Heil und Welt aus der Perspektive afrikanischer Theologie, in:<br />
DERS., Der Gott meiner Väter und mein Gott. Afrikanische Theologie im Kontext der<br />
Apartheid, Wuppertal (Hammer), 1988, 97-109<br />
SPIJKER, GERARD VAN ’T: Man’s Kinship with Nature - African Reflection on Creation, Exchange<br />
23, Nr. 2, 89-148<br />
Südafrika - die Konflikte der Welt in <strong>einem</strong> Land. <strong>Das</strong> „Damaskus-Dokument“. Stimmen zu einer<br />
ökumenischen Anfrage der Armen an die Reichen (texte 53), Hamburg (Dienste in Übersee),<br />
1993, 2 Bde.<br />
TEMPELS, PLACIDE: Bantu-Philosophie. Ontologie und Ethik, Heidelberg (Wolfgang Rothe),<br />
1956 (Erstveröffentlichung: La philosophie bantoue, Elisabethville (Lovania), 1945;<br />
niederländischer Originaltext: Bantoe-filosofie, Antwerpen, 1946; danach diverse weitere<br />
Übersetzungen und Auflagen)<br />
TÖDT, ILSE(Hg.): Theologie im Konfliktfeld Südafrika. Dialog mit Manas Buthelezi (Studien zur<br />
Fiedensforschung; Bd. 15), Stuttgart (Ernst Klett) und München (Kösel), 1976<br />
USTORF, WERNER: Afrikanische Initiative. <strong>Das</strong> aktive Leiden des Propheten Simon Kimbangu<br />
(Studien zur interkulturellen Geschichte des Christentums; Bd. 5), Bern (Herbert Lang),<br />
Frankfurt am Main (Peter Lang), 1975<br />
Theologie allgemein (inklusive Philosophie)<br />
AHN, BYUNG-MU: <strong>Das</strong> Subjekt der Geschichte im Markusevangelium, in: n: JÜRGEN MOLTMANN<br />
(Hg.), Minjung. Theologie des Volkes Gottes in Südkorea, Neunkirchen-Vluyn (Neunkirchener),<br />
1984, 134-169<br />
AHN, BYUNG-MU: Jesus und das Minjung im Markusevangelium, in: JÜRGEN MOLTMANN (Hg.),<br />
Minjung. Theologie des Volkes Gottes in Südkorea, Neunkirchen-Vluyn (Neunkirchener),<br />
1984, 110-132<br />
AHN, BYUNG-MU: Reicher Mann - Armer Lazarus, Predigt zur Perikope Lukas 16, 19-26 (Juni<br />
1987), Ms.<br />
AZZI, RIOLANDO; BASTIAN, JEAN PIERRE; DUSSEL, ENRIQUE; SALINAS, MAXIMILIANO: Theologiegeschichte<br />
der Dritten Welt. Lateinamerika, Gütersloh (Kaiser), 1993<br />
BENJAMIN, WALTER: Sprache und Geschichte. Philosophische Essays, Stuttgart (Reclam), 1992<br />
BENJAMIN, WALTER: Über den Begriff der Geschichte, in: Sprache und Geschichte. Philosophische<br />
Essays, Stuttgart (Reclam), 1992, 141-154<br />
BENJAMIN, WALTER: Zur Kritik der Gewalt, in: Sprache und Geschichte. Philosophische Essays,<br />
Stuttgart (Reclam), 1992, 104-131<br />
BERGER, KLAUS: Hermeneutik des Neuen Testaments, Gütersloh (Mohn), 1988<br />
BLASER, KLAUSPETER: Volksideologie und Volkstheologie. Ökumenische Entwicklungen im<br />
Lichte der Barmer Theologischen Erklärung (Ökumenische Existenz heute; Bd. 7),<br />
München (Kaiser), 1991<br />
BOFF, CLODOVIS: Theologie und Praxis. Die erkenntnistheoretischen Grundlagen der Theologie<br />
der Befreiung (Fundamentaltheologische Studien; Bd. 7), München (Kaiser), Mainz<br />
(Grünewald), 1983 (brasil. Orig.: Teologia e Prática - Teologia do Politico e suas<br />
mediações, Petropolis, 1978)<br />
BOFF, LEONARDO und CLODOVIS: Wie treibt man Theologie der Befreiung?, Düsseldorf (Patmos),<br />
1986 (brasil. Orig.: Como fazer teologia da libertação, Petropolis, 1986)<br />
BÜCHSEL, ELFRIEDE: Aufklärung und christliche Freiheit: J. G. Hamann contra I. Kant, NZSTh 4<br />
(1962), 133-157
XII<br />
CARDENAL, ERNESTO: <strong>Das</strong> Evangelium der Bauern von Solentiname. Gespräche über das Leben<br />
Jesu in Lateinamerika. Aufgezeichnet von Ernesto Cardenal, Gütersloh (Mohn), 1980<br />
(1976 1 ), 4 Bde.<br />
CROATTO, J. SEVERINO: Die Bibel gehört den Armen. Perspektiven einer befreiungstheologischen<br />
Hermeneutik (Ökumenische Existenz heute; Bd. 5), München (Kaiser), 1989 (span.<br />
Orig.: Hermeneutica Biblica, Buenos Aires, 1984)<br />
CROATTO, JOSÉ SEVERINO: Exodus. A Hermeneutics of Freedom, Maryknoll, N.Y. (Orbis), 1981<br />
(span. Orig.: Liberación y libertad. Pautas hermenéuticas, Buenos Aires, 1973)<br />
DER WEG NACH DAMASKUS. Kairos und Bekehrung (EMW-Informationen Nr. 84), Hamburg,<br />
1989<br />
DER ZENTRALAMERIKANISCHE KAIROS. Eine Herausforderung an die Kirchen und an die<br />
Welt (EMW-Informationen Nr. 82), Hamburg, 1988<br />
DIETRICH, WALTER: Der rote Faden im Alten Testament, Evangelische Theologie 49, Nr. 3<br />
(1989), 232-250<br />
DIETSCHY, BEAT: Bilanz und Perspektiven der Theologie der Befreiung, Zeitschrift für Mission<br />
21, Nr. 3 (1995), 200-204<br />
DIETSCHY, BEAT: Theologie der Befreiung. Nicht mehr gefragt? Nach einer Tagung in Aachen:<br />
Selbstkritische Bilanz und neue Perspektiven, Publik-Forum Nr. 8 (1995), 31-32<br />
EBACH, JÜRGEN: <strong>Das</strong> Erbe der Gewalt. Eine biblische Realität und ihre Wirkungsgeschichte,<br />
Gütersloh (Mohn), 1980<br />
FROSTIN, PER: Umkehr in der Metropole. Eine Antwort der Ersten Welt <strong>auf</strong> die Theologien der<br />
Dritten Welt, in: Theologie als konziliarer Prozeß. Chancen und Grenzen eines interkulturellen<br />
Dialogs zwischen Theologien der „Dritten“ und „Ersten“ Welt (Weltmission<br />
heute; Nr. 3), hg. v. EMW, Hamburg, 1988, 96-119<br />
GOLDSTEIN, HORST: „Selig ihr Armen“. Theologie der Befreiung in Lateinamerika ... und in<br />
Europa?, Darmstadt (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), 1989<br />
GROTJAHN, FRIEDRICH und GUTMANN, HANS-MARTIN: Parabel. „Hingehen nach Galiläa“.<br />
Ökumenische Theologie in der Bundesrepublik. Möglichkeiten und Grenzen ihrer Rezeption<br />
(Schriftenreihe des Evangelischen Studienwerkes Villigst; Bd. 10/11), Münster (liberación),<br />
1989<br />
HAMANN, JOHANN GEORG: Brief v. 18. Dez. 1784 an Christian Jakob Kraus (abgedruckt u.a. bei:<br />
ELFRIEDE BÜCHSEL, Aufklärung und christliche Freiheit: J. G. Hamann contra I. Kant,<br />
NZSTh 4 (1962), 133-157)<br />
Herausgefordert durch die Armen. Dokumente der Ökumenischen Vereinigung von Dritte-Welt-<br />
Theologen 1976-1986 (Theologie der Dritten Welt; Bd. 13), Freiburg i.Br. (Herder),<br />
1990<br />
KAHL, JOACHIM: <strong>Das</strong> Elend des Christentums, Reinbek bei Hamburg (Rowohlt), überarb. u. erw.<br />
Neu<strong>auf</strong>l., 1993 (1968 1 )<br />
KANT, IMMANUEL: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? (abgedruckt u.a. bei: ELFRIEDE<br />
BÜCHSEL, Aufklärung und christliche Freiheit: J. G. Hamann contra I. Kant, NZSTh 4<br />
(1962), 133-157)<br />
KANT, IMMANUEL: Kritik der reinen Vernunft (1781 1 /1787 2 )<br />
KING, URSULA(Hg.): Feminist Theology from the Third World. A Reader, Maryknoll, N.Y.<br />
(SPCK/Orbis), 1990<br />
Leidenschaft und Solidarität. Theologinnen der Dritten Welt ergreifen das Wort, Luzern (Exodus),<br />
1992
XIII<br />
METZ, JOHANN BAPTIST: Thesen zum theologischen Ort der Befreiungstheologie, in: ders. (Hg.),<br />
Die Theologie der Befreiung. Hoffnung oder Gefahr für die Kirche?, Düsseldorf, 1986,<br />
147-157<br />
PLONZ, SABINE: Theologie der Ausgeschlossenen, Junge Kirche 12/95, 685-690<br />
RÜTTI, LUDWIG: Westliche Identität und weltweite Ökumene, in: PETER LENGSFELD (Hg.), Ökumenische<br />
Theologie. Ein Arbeitsbuch, Stuttgart u.a. (Kohlhammer), 1980, 285-296<br />
SCHOTTROFF, LUISE und WILLY: Biblische Traditionen von „Staatstheologie, Kirchentheologie<br />
und Prophetischer Theologie“ nach dem KAIROS-Dokument, in: DIES., Die Macht der<br />
Auferstehung. Sozialgeschichtliche Bibelauslegungen, München (Kaiser), 1988, 49-71<br />
SCHÜSSLER FIORENZA, ELISABETH: Brot statt Steine. Die Herausforderung einer feministischen<br />
Interpretation der Bibel, Freiburg/Schweiz (Exodus), 1988 (engl. Orig.: Bread Not<br />
Stone. The Challenge of Feminist Biblical Interpretation, Boston (Beacon Press), 1984<br />
SCHÜSSLER FIORENZA, ELISABETH: Zu ihrem Gedächtnis ... Eine feministisch-theologische Rekonstruktion<br />
der christlichen Ursprünge, München (Kaiser), Mainz (Grünewald), 1988<br />
(engl. Orig.: In Memory of Her. A Feminist Theological Reconstruction of Christian<br />
Origins, New York (Crossroad), 1983)<br />
SUNDERMEIER, THEO (Hg., in Zusammenarbeit mit WERNER USTORF): Die Begegnung mit dem<br />
Anderen. Plädoyers für eine interkulturelle Hermeneutik (Studien zum Verstehen fremder<br />
Religionen; Bd. 2), Gütersloh (Mohn), 1991<br />
SUNDERMEIER, THEO: Art. „Afrika“, in: Ökumene-Lexikon (1987 2 ), 15-24<br />
SUNDERMEIER, THEO: Erwägungen zu einer Hermeneutik interkulturellen Verstehens, in: DERS.<br />
(Hg., in Zusammenarbeit mit WERNER USTORF), Die Begegnung mit dem Anderen. Plädoyers<br />
für eine interkulturelle Hermeneutik (Studien zum Verstehen fremder Religionen;<br />
Bd. 2), Gütersloh (Mohn), 1991, 13-28<br />
TILLICH, PAUL: Systematische Theologie I, Berlin (de Gruyter), 1987 (= 1984 8 ) (engl.: Systematic<br />
theology, Volume I, Chicago, Illinois (University of Chicago Press), 1951)<br />
TÜRCKE, CHRISTOPH: Kassensturz. Zur Lage der Theologie, Frankfurt am Main (Fischer), 1992<br />
USTORF, WERNER: Theologie im revolutionären Bremen 1848-1852. Die Aktualität Rudolph<br />
Dulons, Bonn (Pahl-Rugenstein), 1992<br />
ZUNHAMMER, NICOLE P.: Art. Hermeneutik, in: ELISABETH GÖSSMANN, ELISABETH MOLTMANN-<br />
WENDEL u.a. (Hg.), Wörterbuch der feministischen Theologie, Gütersloh (Mohn), 1991,<br />
183-186<br />
ZUNHAMMER, NICOLE P.: Feministische Hermeneutik, in: CHRISTINE SCHAUMBERGER und<br />
MONIKA MAAßEN, Handbuch Feministische Theologie, Münster (Morgana Frauenbuchverlag),<br />
1986, 256-284<br />
Belletristik<br />
ACHEBE, CHINUA: Things fall apart, London (H<strong>einem</strong>ann), 1958<br />
BETI, MONGO: Der arme Christ von Bomba, Wuppertal (Hammer), 1980 (franz. Orig.: Le pauvre<br />
Christ de Bomba, Paris (Présence Africaine), 1956 1 , 1976 2 )<br />
BETI, MONGO: L’histoire du fou, Paris (Juillard), 1994<br />
CESAIRE, AIME: Cahier d’un retour au pays natal, Paris (Présence Africaine), 1956 (dtsch.-franz.<br />
Ausg.: Zurück ins Land der Geburt, Frankfurt am Main (Insel), 1962)<br />
CHEIKH HAMIDOU KANE, L’aventure ambiguë, Paris, 1961 (dtsch.: Der Zwiespalt des Samba<br />
Diallo, Frankfurt, 1985)<br />
Der dankbare Affe. Märchen aus Kamerun, Hanau (Müller & Kiepenheuer), 1990
XIV<br />
JUMBAN, KENJO: The White Man of God, Oxford, GB (H<strong>einem</strong>ann), 1980<br />
NGUGI WA THIONG’O: Der gekreuzigte Teufel, Frankfurt am Main (edition suhrkamp), 1988<br />
(engl.: Devil on the cross, London, 1982)<br />
Hilfsmittel<br />
Der Neue Brockhaus (5 Bde., 1960)<br />
Die Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft,<br />
3. Auflage, Tübingen (Mohr), 1986 (6 Bde. u. 1 Reg.-Bd.; ungekürzte Studienausgabe<br />
= 1957-1965) (RGG 3 )<br />
Duden-Lexikon (3 Bde., 1962)<br />
Evangelisches Kirchenlexikon. Internationale theologische Enzyklopädie (3. Auflage, Bd. 2:<br />
1989)<br />
GÖSSMANN, ELISABETH; MOLTMANN-WENDEL, ELISABETH u.a. (Hg.), Wörterbuch der feministischen<br />
Theologie, Gütersloh (Mohn), 1991<br />
Meyers Großes Taschenlexikon (24 Bde., 1983)<br />
MISSIONSWISSENSCHAFTLICHES INSTITUT MISSIO E.V. (Hg.): Jahrbuch für kontextuelle Theologien,<br />
Frankfurt am Main (IKO - Verlag für Interkulturelle Kommunikation), erscheint<br />
1995 im 3. Jahrgang<br />
NOHLEN, DIETER (Hg.): Dritte Welt Lexikon. Länder, Organisationen, Theorien, Begriffe, Personen,<br />
völlig überarbeitete Neuausgabe, Reinbek (Rowohlt), 1993 (1980 1 )<br />
Ökumene-Lexikon, Kirchen - Religionen - Bewegungen, hg. von HANFRIED KRÜGER, WERNER<br />
LÖSER und WALTER MÜLLER-RÖMHELD, Frankfurt am Main (Otto Lembeck; Joseph<br />
Knecht), 1987 2<br />
SACHS, WOLFGANG (Hg.): Wie im Westen so <strong>auf</strong> Erden. Ein polemisches Handbuch zur Entwicklungspolitik,<br />
Reinbek (Rowohlt), 1993 (engl.: The Development Dictionary. A Guide to<br />
Knowledge as Power, London (Zed Books), 1992)<br />
SCHAUMBERGER, CHRISTINE und MAAßEN, MONIKA: Handbuch Feministische Theologie, Münster<br />
(Morgana Frauenbuchverlag), 1986<br />
Theologie im Kontext. Informationen über theologische Beiträge aus Afrika, Asien, Ozeanien<br />
und Lateinamerika (Zeitschriftenschau, Zusammenfassungen ausgewählter Beiträge,<br />
Buchanzeigen, Berichte über theologische Konferenzen, Autoren- und Sachregister), hg.<br />
vom Missionswissenschaftlichen Institut Missio e.V. (Postf. 11 10, 52012 Aachen), erscheint<br />
zweimal im Jahr (1995 im 16. Jahrgang)<br />
Abkürzungsverzeichnis<br />
AACC<br />
AOTA<br />
AUK<br />
CAJ<br />
CANAAL<br />
CGT<br />
All Africa Conference of Churches (Nairobi)<br />
Association Oecuménique des Théologiens Africaines<br />
Afrikanische Unabhängige Kirchen<br />
Christliche Arbeiterjugend<br />
CAmeroun - NAmibia - ALemagne: trinationales Projekt unter Beteiligung der<br />
Jugendsekretariate der nationalen Kirchenräte von Kamerun und Namibia und der<br />
ESG in Deutschland<br />
Confédération Générale du Travail (franz. Gewerkschaft)
XV<br />
CIIR<br />
div.<br />
EATWOT<br />
EMW<br />
EPK<br />
ESG<br />
FEMEC<br />
IWF<br />
JCTR<br />
JEC(I)<br />
krit.<br />
RDPC<br />
UNCTAD<br />
UPC<br />
WSCF<br />
Catholic Institute for International Relations (London)<br />
divers(e)<br />
Ecumenical Association of Third World Theologians<br />
Evangelisches Missionswerk in Deutschland (Hamburg)<br />
Entwicklungspolitische Korrespondenz (Hamburg)<br />
Evangelische StudentInnengemeinde in der BRD (Köln/Berlin)<br />
Fédération des Églises et Missions évangéliques du Cameroun<br />
Internationaler Währungsfonds (engl.: IMF - International Monetary Fund)<br />
Jesuit Center for Theological Reflection (Lusaka/Zambia)<br />
Jeunesse Étudiante Chrétienne (International)<br />
kritisch(e)<br />
Rassemblement Démocratique du Peuple Camerounais<br />
United Nations Conference on Trade and Development<br />
Union des Populations du Cameroun<br />
World Student Christian Federation