Bild - Verband Bildungsmedien eV
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2007<br />
Lernen im Umbruch<br />
Beiträge und Diskussionen<br />
zur <strong>Bild</strong>ungsreform in Deutschland<br />
Eine Dokumentation zum<br />
„forum bildung“<br />
didacta – die <strong>Bild</strong>ungsmesse 2007<br />
Köln, 27.2. bis 3.3.2007
Vorwort<br />
Blindtext<br />
Schule soll früher anfangen und zumindest im Gymnasium schneller enden. Sie soll selbstständiger<br />
bei der Wahl ihres pädagogischen Weges werden. Zugleich wird ihr Erfolg durch interne<br />
und externe Evaluation wie nie zu zuvor überprüft. Schule soll nun möglichst ganztags stattfinden<br />
und stärker als zuvor erzieherische Defizite in Familien ausgleichen. Sie soll mehr und<br />
früher fördern – auch um Kinder aus Migrantenfamilien besser integrieren zu können. Schule in<br />
Deutschland ist nach Pisa im Zustand der Dauerreform. Noch nie waren die Lehrkräfte, die Schüler<br />
und Eltern so gefordert wie heute.<br />
Auf dem „forum bildung“, dem Debattenforum der „didacta – die <strong>Bild</strong>ungsmesse“, wurden diese<br />
Brennpunktthemen der aktuellen <strong>Bild</strong>ungsdiskussion aufgegriffen und im Kreis ausgewiesener<br />
Experten aus Wissenschaft, <strong>Bild</strong>ungspraxis und <strong>Bild</strong>ungspolitik debattiert. Schwerpunkte der<br />
19 Veranstaltungen mit über 60 Referenten vom 28. 2. bis zum 3. 3. 2007 in Köln waren u. a. die<br />
Frage nach der Qualitätsentwicklung von Schule, danach, wie Schule und Kindergarten besser<br />
kooperieren können, sowie die Frage nach der Zukunft der Hauptschule und die dadurch in Gang<br />
gebrachte neue Schulstrukturdebatte. Diskutiert wurde aber auch über den Erziehungsstil und<br />
die Ethik von <strong>Bild</strong>ungsprozessen. Wenn eine zu große Zahl von Schülern an Schule scheitert,<br />
dann scheitert unsere Gesellschaft mit. Um dies zu verhindern, brauchen wir auch das private<br />
Engagement für <strong>Bild</strong>ung. Auf dem Forum wurden deshalb erstmals Prominente des öffentlichen<br />
Lebens als „didacta-<strong>Bild</strong>ungsbotschafter“ 2007 ausgezeichnet: der Schauspieler Peter Lohmeyer<br />
und der Sportler Frank Rost. Die Ehrung war ein Höhepunkt des Messeprogramms.<br />
Die nachfolgenden Seiten dokumentieren die einzelnen Diskussionsrunden und Vorträge; sie<br />
geben einen umfassenden Überblick über die aktuellen Auseinandersetzungen und Lösungsvorschläge<br />
in der <strong>Bild</strong>ungsdiskussion. <strong>Bild</strong>ungsspezialisten aus Schule und Verbänden, die in<br />
der Verantwortung stehenden Politiker und Minister, prominente Erziehungswissenschaftler<br />
und Lernforscher sowie ausgewiesene Methodiker aus der Lehrerfortbildung trafen in den Gesprächsrunden<br />
des „forum bildung“ aufeinander. Die gesamten Diskussionen zu dokumentieren<br />
hätte den Rahmen der Broschüre gesprengt. Die Statements sind deshalb Zusammenfassungen<br />
der Wortbeiträge der Referenten in den jeweiligen Diskussionen.<br />
Allen Referenten des „forum bildung 2007“ gilt unser herzlicher Dank – für die Offenheit, mit<br />
der sie Positionen bezogen, für ihren Willen zum konstruktiven Dialog, für ihre Bereitschaft,<br />
auch selbstkritisch die eigene Meinung zu hinterfragen. Sie haben allererst dazu beigetragen,<br />
dass auf dem Forum der Stand der bildungspolitischen Reformen kompetent diskutiert und dem<br />
Besucher veranschaulicht werden konnte.<br />
Das „forum bildung 2007“ war eine erfolgreiche Kooperation mit drei Medienpartnern – dem<br />
Kölner Stadt-Anzeiger, FOCUS-Schule und der Frankfurter Rundschau. Die insgesamt acht Veranstaltungen<br />
unserer Partner erwiesen sich durchweg als besonders publikumswirksame Diskussionsrunden.<br />
Unser Dank gilt den Moderatoren Christian Hümmeler, Stephan Lüke, Ismene Poulakos<br />
und Helmut Frangenberg vom Kölner Stadt-Anzeiger, Gaby Miketta und Mathias Brüggemeier von<br />
FOCUS-Schule sowie Katja Irle und Yvonne Globert von der Frankfurter Rundschau. Doch auch die<br />
übrigen Diskussionsrunden wurden professionell moderiert: Wir danken Birgitta Mogge-Stubbe<br />
vom Rheinischen Merkur, Lothar Guckeisen vom Deutschlandfunk und den anderen Gastmoderatoren.<br />
Zu guter Letzt danken wir Peter E. Kalb von der Zeitschrift Pädagogik, der nicht nur eine<br />
ganze Reihe von Veranstaltungen selbst moderiert, sondern auch als unser Fachberater die<br />
gesamte Veranstaltungsreihe entscheidend mit konzipiert hat.<br />
Wir hoffen, mit dieser Dokumentation einen Beitrag zur Vertiefung der Themen und Argumente<br />
in der laufenden <strong>Bild</strong>ungsdiskussion leisten zu können. Wir wünschen Ihnen eine anregende<br />
Lektüre.<br />
VdS <strong>Bild</strong>ungsmedien e.V.<br />
Andreas Baer – Rino Mikulic<br />
Frankfurt am Main, im September 2007<br />
3
Impressum<br />
Herausgeber:<br />
VdS <strong>Bild</strong>ungsmedien e. V.<br />
Zeppelinallee 33, 60325 Frankfurt am Main<br />
Verantwortlich:<br />
Andreas Baer<br />
Redaktion:<br />
Elke Habicht<br />
Gestaltung:<br />
Schommler Engel Klocke GbR, Frankfurt am Main<br />
Herstellung:<br />
Brühlsche Universitätsdruckerei, Gießen<br />
4
Inhalt<br />
Blindtext<br />
Einleitung<br />
forum bildung 2007 – Das Debattenforum der didacta 6<br />
forum bildung 2007 – Beiträge<br />
Bilanz und Ausblick – Die Schulpolitik in Nordrhein-Westfalen<br />
Barbara Sommer 10<br />
Brennpunkt Unterrichtsentwicklung – Plädoyer für die professionelle Unterstützung von Lehrern<br />
Heinz Klippert 14<br />
Lernst du nur oder denkst du schon? Wie aus Wissen <strong>Bild</strong>ung wird<br />
Stefan Aufenanger / Heinrich-Wilhelm Brockmann / Swantje Rosenboom-Lehmann / Martin Korte 20<br />
Mit Qualitätsanalyse Schule entwickeln – Konzepte mit und ohne externe Evaluation<br />
Heinfried Habeck / Marianne Demmer / Rainer Domisch 28<br />
Zu dumm oder nicht gefördert? Junge Erwachsene zwischen Analphabetismus und Ausbildungsreife<br />
Philipp Haußmann / Rita Süssmuth / Michael Hüther / Peter Hubertus 36<br />
Reformland Deutschland – International auf dem Abstellgleis?<br />
Ludwig Eckinger / Anja Ziegon / Klaus Hurrelmann / Andreas Schleicher 46<br />
Fördern ohne zu überfordern: Der Übergang Kindergarten – Grundschule<br />
Lilian Fried / Gisela Kammermeyer / Maresi Lassek 56<br />
Zwischen Disziplin und Freiheit – Eine Debatte<br />
Bernhard Bueb / Ulrich Herrmann 62<br />
Pflichtdeutsch – Der Schlüssel zur Integration?<br />
Jutta Steinkamp / Yüksel Pazarkaya / Thomas Kufen 70<br />
Neuordnung der Lehrerarbeitszeit – Das „Mindener Modell“<br />
Michael Paul / Heinfried Wesemann / Dirk Gellesch 78<br />
Menschen stärken, Sachen klären – Wie entwickelt sich Schule?<br />
Nikolaus Schneider / Karl Freller / Annette Scheunpflug / Heiner Koch 86<br />
Das neue Schulgesetz in NRW – das modernste Deutschlands?<br />
Ingrid Pieper-von Heiden / Sigrid Beer / Udo Beckmann / Ute Schäfer / Klaus Kaiser 94<br />
Thema Hauptschule – Brauchen wir ein Zwei-Wege-Modell im Schulsystem?<br />
Peter Silbernagel / Wolfgang Meyer-Hesemann / Udo Beckmann / Jürgen Oelkers 102<br />
Null Bock auf Schule – Was tun?<br />
Heidrun Kampe / Hermann Rademacker / Ulrich Thünken / Dieter Göbel 110<br />
<strong>Bild</strong>ung entwaffnet – Strategien zur Krisenprävention<br />
Renate Grasse / Sara Jerop Ruto / Carlos Felipe Revollo Fernández / Volker Lenhart 122<br />
Erziehung heute – Neue Aufgabenteilung zwischen Schule und Familie?<br />
Rainer Domisch / Ingo Leven / Renate Hendricks / Jürgen Nimptsch 128<br />
Die beste Schule für mein Kind – Qualität in der <strong>Bild</strong>ung und richtige Schulauswahl<br />
Carola Möllemann-Appelhoff / Renate Hendricks / Claudia Solzbacher / Detlef Timp 140<br />
Tatort Schule – Konzepte für eine erfolgreiche Gewaltprävention<br />
Dirk Friedrichs / Lothar Dunkel 152<br />
Für <strong>Bild</strong>ung stark machen – Ehrung der didacta-<strong>Bild</strong>ungsbotschafter 2007<br />
Peter Lohmeyer / Frank Rost 158<br />
5
Einleitung<br />
forum bildung 2007:<br />
Das Debattenforum der didacta<br />
Peter E. Kalb<br />
Peter E. Kalb, geb. 1942. Ehemals Chefredakteur von „betrifft: erziehung“, ist Peter E. Kalb seit 1985<br />
Verlagsleiter des pädagogischen Fachverlags Beltz sowie Redakteur der Zeitschrift „Pädagogik“.<br />
Mit fast 96 000 Besuchern verzeichnete die „didacta – die <strong>Bild</strong>ungsmesse“ 2007 in Köln einen absoluten<br />
Besucherrekord. Neben Produktpräsentation und Information bot die Messe mit über 1500 Einzelveranstaltungen<br />
auch ein Rahmenprogramm der Superlative. Im Ausstellungsbereich Schule/Hochschule<br />
war das „forum bildung“ das zentrale Debattenforum, auf dem die bildungspolitischen Entwicklungen,<br />
die Reformaufgaben sowie die Fragen der neuen Werte- und Erziehungsdebatte diskutiert wurden.<br />
Der Chefmoderator des Forums, Peter E. Kalb, gibt in seiner Einleitung einen Überblick zu den Themen<br />
und Thesen.<br />
Das hat man schon in Köln Ende Februar/Anfang März 2007<br />
spüren können: Die „didacta – die <strong>Bild</strong>ungsmesse 2007“ hat<br />
sich Bestnoten verdient – ohne zu mogeln. Das Besucherinteresse<br />
überschritt alle Grenzen: Es wurden 95 800 Messe-Neugierige<br />
registriert. Das waren 42 Prozent mehr als bei der<br />
„didacta 2006“ in Hannover und übertrifft auch die besten<br />
Messe-Ergebnisse der vorletzten, Kölner „didacta“. Die Note<br />
„Sehr gut“ hat sich die diesjährige Messe verdient, weil die<br />
Angebote für die Besucherinnen und Besucher differenziert<br />
waren wie nie zuvor. Aber auch die Qualifikation des Publikums<br />
war nach den Erhebungen so groß wie noch nie. Die erfolgreichste<br />
<strong>Bild</strong>ungsmesse war attraktiv für die neue Lehrergeneration,<br />
die vor den Schultüren steht oder schon einen Fuß in<br />
der Tür hat. Leider findet das riesengroße Interesse der jungen<br />
Lehrer keine Entsprechung in der materiellen und personellen<br />
Ausstattung im <strong>Bild</strong>ungsbereich der einzelnen Bundesländer.<br />
Reformen, die bitter nötig sind, werden sich nicht zum Nulltarif<br />
umsetzen lassen. Die Qualität der <strong>Bild</strong>ungsmesse ist – neben<br />
dem Angebot der Aussteller – auch an dem Angebot der Rahmenveranstaltungen<br />
zu messen, die es in großer Zahl gab: Über<br />
1500 Veranstaltungen machten die „didacta 2007“ zur größten<br />
pädagogischen Fortbildungsveranstaltung.<br />
Die „didacta – die <strong>Bild</strong>ungsmesse“ hat sich über viele Jahre hinweg<br />
einen exzellenten Ruf bei ihrer eigentlichen Zielgruppe<br />
erworben. Die ausstellenden Verlage und anderen Anbieter wissen,<br />
dass sie der zentrale Ort dafür ist, die eigenen Produkte zu<br />
präsentieren. Andererseits wissen zunehmend auch die Referendarinnen<br />
und Referendare, Lehrerinnen und Lehrer, Weiterbildnerinnen<br />
und Weiterbildner usw., dass die „didacta“ ein<br />
Muss ist, wenn man über die neuen Entwicklungen im <strong>Bild</strong>ungsbereich<br />
informiert sein will.<br />
Im Einzelnen ist es natürlich sehr schwierig, die Ursachen für<br />
die steigende Beliebtheit dieser <strong>Bild</strong>ungsmesse ausfindig zu<br />
machen. Ganz sicher wird es keine monokausale Erklärung<br />
geben: Ihr Erfolg setzt sich aus den für Messen relevanten Positionen<br />
und Faktoren insgesamt zusammen. Ganz sicher aber<br />
gehört zu den Attraktionen der „didacta“ zunehmend mehr das<br />
„forum bildung“, das die Messe von Dienstag bis Samstag mit<br />
zahlreichen Veranstaltungen begleitet hat.<br />
Gerade hier gelingt es immer wieder, „Publikumsmagneten“ auf<br />
das Podium zu bringen oder mithilfe von spannenden Themen<br />
Expertenwissen zu präsentieren. Autoren wie Dr. Heinz Klippert<br />
6
forum bildung Blindtext 2007<br />
wissen seit Langem, worin das Dilemma der<br />
Schulen in Deutschland besteht: Die Unterrichtsentwicklung<br />
verläuft – so Klippert –<br />
zäh: „Vieles wird angemahnt und angeordnet,<br />
aber der Schwung in den Kollegien<br />
hält sich in Grenzen. Eine zentrale Ursache<br />
dieser Innovationsresistenz: Viele Kolleginnen<br />
und Kollegen fühlen sich überfordert.<br />
Sie sollen bei laufendem Schulbetrieb alle<br />
möglichen Neuerungen auf den Weg bringen,<br />
wissen aber weder wie, noch erhalten<br />
sie überzeugende Unterstützung.“ In diesem<br />
Statement von Heinz Klippert spiegelt sich<br />
die Situation in unseren Schulen – nahezu<br />
unabhängig davon, wie das einzelne Bundesland<br />
dann heißt. Dieses Dilemma war<br />
zwangsläufig auch beim Einleitungsvortrag<br />
von Barbara Sommer, der Ministerin für<br />
Schule und Weiterbildung in Nordrhein-<br />
Foto: Elke Habicht<br />
Auf dem „forum bildung“ gelang es einmal mehr, die bildungspolitisch<br />
und schulpädagogisch brisanten Themen in gut besuchte<br />
Veranstaltungen zu packen. Das bezog sich auf Themen<br />
wie Lernen, Analphabetismus, Reformstau, Fördern ohne Überforderung,<br />
Disziplin und Freiheit, Pflichtdeutsch als Schlüssel<br />
zur Integration, Lehrerarbeitszeit, Schulentwicklung, Hauptschuldiskussion,<br />
Schulverweigerung, Krisenprävention, Erziehen<br />
zwischen Schule und Familie, <strong>Bild</strong>ungsqualität, Gewaltprävention<br />
und, last but not least, die Umsetzung der Idee von<br />
<strong>Bild</strong>ungsbotschaftern für das Jahr 2007.<br />
Westfalen, präsent. Sie gab einen Ausblick und zog Bilanz,<br />
beschrieb die verschiedenen Bereiche, in denen Neuerungen<br />
initiiert wurden und fand im vorletzten Satz ihres Referats zu<br />
dem Punkt, den nicht nur die Schulen in Nordrhein-Westfalen<br />
angesichts der vielen neuen Erlasse und Regelungen hören wollen:<br />
„Ich weiß, dass ich Sie unterstützen muss. In nächster Zeit<br />
werden wir Hilfen anbieten.“<br />
Da wünschten sich viele der anwesenden Schulleiter, dass diese<br />
Hilfen zumindest in NRW schon früher oder zumindest zeitgleich<br />
verfügbar gewesen wären.Schade, dass es der enge Zeitplan der<br />
Ministerin am Eröffnungstag der Messe leider nicht zuließ, im<br />
Anschluss an ihr Referat eine Diskussionsrunde anzubieten.<br />
Auf wenige Beiträge, die Sie in der Dokumentation „forum<br />
bildung 2007“ finden, möchte ich in besonderer Weise einen<br />
Hinweis geben. Einmal führten die beiden routinierten Streiter<br />
Bernhard Bueb und Ulrich Herrmann ein Gespräch zum Lob von<br />
Disziplin und Freiheit, das besondere Aufmerksamkeit verdient.<br />
Die Beiträge von Rainer Domisch sind immer hervorhebenswert.<br />
Freilich könnte man bei der Lektüre der dokumentierten<br />
Beiträge auch die Feststellung treffen, dass es an zentraler<br />
Stelle – nahezu unabhängig von der Überschrift des Diskussionsbeitrages<br />
– häufig Ausführungen von prominenter Seite<br />
zum Thema Schulorganisation und Schulsystem gab. Das<br />
bezieht sich zum Beispiel auf Jürgen Oelkers, Klaus Hurrelmann<br />
oder Rainer Domisch. In all diesen Fällen gibt es überdeutliche<br />
Hinweise darauf, dass die gegliederten Systeme in Europa Auslaufmodelle<br />
sind, wie Jürgen Oelkers es formuliert. Dass nach<br />
vier Jahren Grundschule die Auswahl getroffen wird, ist demnach<br />
ein Sonderfall, den es nur in Deutschland und Österreich<br />
gibt. Es hat den Anschein, dass der Schub in Europa nahezu von<br />
selbst in Richtung gestuftes Schulsystem geht. Ähnliche Gedanken<br />
finden sich auch bei Klaus Hurrelmann. Denn Hurrelmann<br />
erwähnt den stillschweigenden Konsens, dass man aus den Pisa-<br />
Ergebnissen nichts in Bezug auf den Aufbau unseres Schulsystems<br />
schließen und schon gar nicht daraus ableiten könne, dass<br />
wir eine andere Struktur insbesondere des Sekundarstufensystems<br />
benötigen. Hurrelmann sieht als Ergebnis der Diskussion<br />
über eine Reform des Sekundarschulsystems in den 1980er-Jahren,<br />
dass wir zu den bestehenden Schulformen eine fünfte<br />
Schule – die Gesamtschule – bekommen haben, die aber im<br />
Grunde die ursprünglichen Ideen nicht erfüllt hat.<br />
Wenn Rainer Domisch, der ehemalige baden-württembergische<br />
Lehrer, heute im Staatsdienst des Landes Finnland, über Schul-<br />
7
Einleitung<br />
systeme spricht, dann natürlich über integrierte Systeme, die<br />
in Finnland in vorbildlicher Weise organisiert sind.Auch bei ihm<br />
ist zu hören, dass in Finnland der Prozess in Richtung Gesamtschule<br />
nicht ohne Schwierigkeiten vonstatten ging. Im Jahr 1977<br />
war zwar dieser Prozess abgeschlossen, es habe aber mit Auseinandersetzungen,<br />
Schulstreiks und Bürgerbegehren usw. fünf<br />
Jahre gedauert, bis dann die Proteste Anfang 1980 verstummten.<br />
Das dortige Schulsystem arbeitet so hervorragend, dass die<br />
Pisa-Ergebnisse von Finnland nahezu legendär geworden sind.<br />
Einschätzungen: „Wir lernen nur, wenn wir einen emotionalen<br />
Gewinn haben. Darüber hat uns die Gehirnforschung belehrt.“<br />
In der öffentlichen Debatte zum Buch von Bueb ist eigentlich<br />
nur in kritischer Weise über die Propagierung von Sekundärtugenden<br />
gesprochen worden. Herrmann erwähnt Buebs Hinweis,<br />
„dass Sport und Musik disziplinierende Wirkung haben. Das<br />
muss man sich in den Zeiten des Pisa-Leistungswahns auf der<br />
Zunge zergehen lassen: Herr Bueb sagt, erst wenn das musische<br />
Element in den Schulen stärker werde, könnten die Schulen<br />
„Auf dem ,forum bildung‘ gelang es einmal mehr, die bildungspolitisch und schulpädagogisch<br />
brisanten Themen in gut besuchte Veranstaltungen zu packen. Das bezog sich auf Themen wie<br />
Lernen, Analphabetismus, Reformstau, Fördern ohne Überforderung, Disziplin und Freiheit,<br />
Pflichtdeutsch als Schlüssel zur Integration, Lehrerarbeitszeit, Schulentwicklung, Hauptschuldiskussion,<br />
Schulverweigerung, Krisenprävention, Erziehen zwischen Schule und Familie, <strong>Bild</strong>ungsqualität,<br />
Gewaltprävention und, last but not least, die Umsetzung der Idee von <strong>Bild</strong>ungsbotschaftern<br />
für das Jahr 2007.“<br />
An all diesen Stellen ist zu spüren, dass auf den Podien des<br />
„forum bildung“ ernsthaft und kompetent diskutiert wurde, die<br />
wirklichen Fachleute gehört wurden und die Zuhörerinnen und<br />
Zuhörer (und späteren Mitrednerinnen und Mitredner) voll auf<br />
ihre Kosten kamen: Expertenwissen aus erster Hand.<br />
Ein Wort noch zum „Lob der Disziplin“, worüber Ulrich Herrmann<br />
mit Bernhard Bueb gestritten hat. Nachlesenswert seine<br />
auch besser werden.“ Ein interessanter Ansatz zur Lektüre des<br />
Buchs – und ein kleiner Appetitanreger für die Lektüre des Beitrags<br />
in dieser Dokumentation.<br />
An der Stelle, an der das „forum bildung“ 2007 in Köln endete,<br />
wird es im Februar 2008 auf der „didacta“ in Stuttgart weitergehen.<br />
Freuen wir uns darauf.<br />
8
forum bildung Blindtext 2007<br />
9
Einleitung Beiträge des forums<br />
Bilanz und Ausblick –<br />
Die Schulpolitik in Nordrhein-Westfalen<br />
STATEMENT<br />
Barbara Sommer<br />
Barbara Sommer, geb. 1948. Nach dem Studium an der PH des Saarlandes Lehrerin zunächst in einer Sonderschule<br />
für Lernbehinderte, danach an einer Grundschule und an einer Hauptschule. Seit 1980 Schulleitung an<br />
verschiedenen Schulen. 1992 Schulrätin. 1997 Schulamtsdirektorin. Seit 2005 Ministerin für Schule und<br />
Weiterbildung des Landes Nordrhein-Westfalen.<br />
Die Erneuerung der <strong>Bild</strong>ungspolitik ist eine der zentralen Aufgaben, die sich die neue Landesregierung<br />
2005 gestellt hat. <strong>Bild</strong>ungsministerin Barbara Sommer resümiert erste Ergebnisse der eingeleiteten<br />
Reformen und nimmt perspektivisch die weiteren Ziele und Schritte in den Blick. Im Fokus steht die<br />
externe wie interne Evaluation von Unterricht und Schulentwicklung, um flexibel auf Lerndefizite<br />
reagieren zu können.<br />
Moderation: Peter E. Kalb, Redakteur der Zeitschrift Pädagogik<br />
Liebe Kolleginnen und Kollegen,<br />
sehr geehrte Damen und Herren,<br />
in der römischen Antike war das Forum der Marktplatz und<br />
damit das Zentrum des öffentlichen Lebens. Es diente als<br />
Gerichtsstätte, aber auch als ein Ort für Volksversammlungen.<br />
Der VdS <strong>Bild</strong>ungsmedien bietet auch in diesem Jahr auf der<br />
<strong>Bild</strong>ungsmesse „didacta“ wieder ein Forum, auf dem über<br />
<strong>Bild</strong>ungspolitik gesprochen werden kann. Politik kann das <strong>Bild</strong>ungssystem<br />
nur zusammen mit Ihnen verändern. Dazu braucht<br />
man manchmal auch einen neutraleren Ort, eben ein Forum,<br />
um über Veränderungen zu reden. Ich werde Ihnen daher einen<br />
kurzen Überblick über die Leitlinien der nordrhein-westfälischen<br />
<strong>Bild</strong>ungspolitik geben.<br />
Ein Rundgang über diese Messe zeigt sehr deutlich, wie vielfältig<br />
<strong>Bild</strong>ung sein kann. Allein in Nordrhein-Westfalen gibt es<br />
rund 6700 Schulen. Wir haben zahlreiche Partner aus vielen<br />
Bereichen, die mit und für Schulen arbeiten und die die Arbeit<br />
von Lehrerinnen und Lehrern sowie unserer Schülerinnen und<br />
Schüler unterstützen.<br />
Die Schulform, die mir zurzeit besonders am Herzen liegt, ist<br />
die Hauptschule. Aus der Ganztagshauptschule sind externe<br />
Partner überhaupt nicht mehr wegzudenken. Viele Schulbuchverlage<br />
und Organisationen präsentieren sich hier auf dieser<br />
Messe. Ebenso vielfältig ist die Arbeit, die in den Schulen geleistet<br />
wird. Jede Schule arbeitet unter anderen Bedingungen: die<br />
Zusammensetzung der Schülerschaft, das lokale und regionale<br />
Umfeld, die Besetzung der Lehrerstellen, eben auch das pädagogische<br />
Profil.<br />
Wie Sie wissen, haben wir im vergangenen Jahr in Nordrhein-<br />
Westfalen das neue Schulgesetz verabschiedet. Damit haben wir<br />
in unserem Bundesland eine neue <strong>Bild</strong>ungspolitik eingeleitet.<br />
Unser Bestreben ist es, Schulen eigenverantwortlich zu<br />
machen. Sie sollen künftig stärker ihr eigenes pädagogisches<br />
Profil entwickeln, denn wer kennt die Bedürfnisse und die<br />
Bedingungen vor Ort besser als die Lehrerinnen und Lehrer an<br />
ihrer Schule?<br />
Dabei geben wir als <strong>Bild</strong>ungspolitiker klare Ziele vor. Wir legen<br />
<strong>Bild</strong>ungsstandards fest, wir machen Angaben für Lernstandserhebungen,<br />
zentrale Prüfungen und die Qualitätsanalyse.<br />
10
Schulpolitik in NRW: Blindtext Sommer<br />
Wir geben Ihnen die Freiheit, meine Damen und Herren, aber<br />
wir geben Ihnen auch die Verantwortung, gesetzte Ziele zu<br />
erreichen. Unsere Abschlüsse müssen vergleichbar sein – im<br />
eigenen Land und über Ländergrenzen hinweg. Wir unterstützen<br />
Sie, indem wir mehr Lehrerstellen ins System einbringen.<br />
Wir wollen, dass jedes Kind, jeder Jugendliche nach seinen<br />
Befähigungen und seinen Begabungen bestmöglich gefördert<br />
wird. Schülerinnen und Schüler sollen zu eigenverantwortlichen<br />
Lernern werden, die für die Herausforderungen des<br />
Lebens und der Arbeitswelt gut gerüstet sind. Die Chancen auf<br />
<strong>Bild</strong>ung müssen gerechter verteilt werden, als dies im Moment<br />
der Fall ist.<br />
Für eine <strong>Bild</strong>ungsministerin ist es besonders ärgerlich, wenn sie<br />
sieht, dass die Möglichkeiten des einzelnen Kindes nicht optimal<br />
genutzt werden können. Leider hat sich auch in Nordrhein-<br />
Westfalen die Schere bei der <strong>Bild</strong>ungsgerechtigkeit sehr weit<br />
geöffnet. Wir müssen daran arbeiten, hieran etwas zu ändern.<br />
Unser Schulsystem muss durchlässiger werden. Begabung und<br />
Unterstützungssysteme schaffen. Das ist es, was wir unter<br />
anderem mit dem Gütesiegel erreichen wollen. Das Siegel definiert,<br />
in welchen Handlungsfeldern eine Schule aktiv sein muss,<br />
um eine gute individuelle Förderung zu leisten.<br />
Jede Schule kann dieses Ziel erreichen. Dabei unterscheiden wir<br />
vier Handlungsfelder:<br />
1. Grundlagen schaffen, Beobachtungskompetenz stärken<br />
Für erfolgreiche Lernprozesse ist die individuelle Ausgangslage<br />
des Lernenden von großer Bedeutung. Die individuelle Förderung<br />
beginnt mit der Diagnose des Lernstands und der Bestimmung<br />
des Lernbedarfs. Um Kinder und Jugendliche vernünftig<br />
fördern zu können, müssen Begabungen ebenso wie Entwicklungsverzögerungen<br />
und Lernschwierigkeiten frühzeitig erkannt<br />
werden. In Nordrhein-Westfalen haben wir hierfür<br />
Grundlagen gelegt. In den nächsten Wochen beginnen wir<br />
damit, vorschulische Sprachtests für alle Vierjährigen einzuführen<br />
(„Delfin 4“). Die Diagnose von individuellen Stärken und<br />
Schwächen muss in der Grundschule beginnen und in der<br />
weiterführenden Schule durch eine genaue Beobachtung fortgesetzt<br />
werden. Lernstandserhebungen in den Klassen 3 und 8,<br />
die sich an Standards orientieren, liefern genaue Informationen<br />
über die Kompetenzen von Schülerinnen und Schülern.<br />
2. Mit Vielfalt umgehen, Stärken stärken, Schwächen<br />
abbauen<br />
Kompetenzen sind nicht unveränderbar, hier gibt es durchaus<br />
Entwicklungspotenzial. Begabungen drücken sich auch nicht<br />
zwangsläufig in guten Noten aus. Deshalb gilt in jedem Fall:<br />
Jeder junge Mensch hat ohne Rücksicht auf seine wirtschaftliche<br />
Lage, seine Herkunft und sein Geschlecht ein Recht auf<br />
schulische Erziehung und individuelle Förderung.So fasst es das<br />
neue Schulgesetz in einem zentralen Abschnitt zur <strong>Bild</strong>ungspolitik<br />
zusammen.<br />
Wir haben am 3. Februar diesen Jahres auf unserem ersten bildungspolitischen<br />
Symposion in Essen 22 Schulen aus Nordrhein-<br />
Westfalen für ihre Konzepte zur individuellen Förderung ausgezeichnet.<br />
Diese Schulen tragen nun ein ganz besonderes Gütesiegel.<br />
Die Verleihung macht sehr deutlich, dass wir mit dem<br />
Thema Individuelle Förderung kein Neuland betreten. Viele<br />
Schulen haben sich bereits auf den Weg gemacht und fördern<br />
ihre Schülerinnen und Schüler nach den individuellen Fähigkeiten.<br />
Was uns bislang noch fehlte, ist eine Zusammenführung<br />
dieser verschiedenen Initiativen zu einer Gesamtstrategie. Ziel<br />
ist es jetzt, gute Praktiken individueller Förderung systematisch<br />
zu verankern. Das erreichen wir nicht über neue und weitere<br />
Vorgaben. Vielmehr müssen wir wirksame Anreiz- und<br />
Jedes Kind und jeder Jugendliche kommt mit unterschiedlichen<br />
Voraussetzungen in die Schule. Als Lehrerinnen und Lehrer richten<br />
Sie Ihr Augenmerk auf die Stärken und Schwächen, auf die<br />
Begabten und die weniger Begabten. Sie dürfen aber auch diejenigen<br />
Schülerinnen und Schüler nicht aus den Augen verlieren,<br />
die im breiten Leistungsmittelfeld liegen. Auch sie brauchen<br />
Förderung. Als Lehrkräfte widmen Sie sich den unterschiedlichen<br />
Bedürfnissen von Jungen und Mädchen. Die <strong>Bild</strong>ungspolitik<br />
hat sich viel zu lange nicht oder nicht genügend um Jungen<br />
gekümmert. Hier gibt es Nachholbedarf. Wir müssen uns<br />
stärker um die Jungenförderung kümmern.<br />
Liebe Kolleginnen und Kollegen, meine Damen und Herren, der<br />
Blick auf die Schulen in Nordrhein-Westfalen zeigt, dass es<br />
bereits vielfältige Modelle innerer Differenzierung gibt, beispielsweise<br />
offene und die Schüler aktivierende Unterrichtsformen.<br />
Es ist uns wichtig, der eigenverantwortlichen Schule<br />
keine Form verbindlich vorzugeben. Den optimalen Unterricht<br />
gibt es ebenso wenig, wie es den idealen Lerntyp gibt. Was wir<br />
allerdings brauchen, sind Schulen, Schulleitungen, Lehrerinnen<br />
und Lehrer, die Schüler und Schülerinnen ermutigen, unterstützen<br />
und ihren Unterricht auf deren individuelle Bedürfnisse<br />
abstimmen.<br />
Viele Beispiele aus der Schulpraxis zeigen, dass auch Formen<br />
äußerer Differenzierung erfolgreich sind. So werden etwa spezielle<br />
Förderstunden oder sogenannte Enrichment-Maßnahmen<br />
11
3. Übergänge und Lernbiografie bruchlos gestalten<br />
In Nordrhein-Westfalen haben wir ein gut differenziertes Schulsystem.<br />
Wir beginnen mit der Frühförderung in Kindertageseinrichtungen.<br />
In verschiedenen Schulformen erhalten die Schülerinnen<br />
und Schüler eine individuelle Förderung, sie erwerben<br />
Kompetenzen und einen entsprechenden Abschluss. Eigentlich<br />
sollten wir nicht von Abschlüssen, sondern eher von Anschlüssen<br />
sprechen, denn das ist der treffende Ausdruck dafür. Wir versuchen<br />
ja gerade, für die jungen Menschen Möglichkeiten zu<br />
schaffen, einen Anschluss für ihr Leben zu haben. Ich bin jede<br />
Woche in Schulen unterwegs und halte das für sehr wichtig,<br />
weil ich andernfalls nicht mehr das Basiswissen für meine Aufgaben<br />
hätte. Bei einem dieser Schulbesuche hat mich die Äußerung<br />
eines Schülers sehr beeindruckt. Die Schüler der Abschlussklasse<br />
sollten aufschreiben, worüber sie sich besonders sorgten,<br />
und einer schrieb: »Keine Arbeit, keine Kohle, keine Weiber«.<br />
Mit diesem Ausspruch hatte er im Grunde genommen alles<br />
erfasst, was für sein Leben notwendig ist, und das heißt: Er<br />
hatte für sein Leben keine Perspektive. Er hatte nicht die Hoffnung<br />
auf eine Familie, er hatte keine Hoffnung auf Arbeit und<br />
Existenzsicherung. Darin, das zu verändern, liegt sicher unser<br />
gemeinsames Ziel.<br />
Ministerin Barbara Sommer während ihrer Eröffnungsansprache bei<br />
der „didacta – die <strong>Bild</strong>ungsmesse“ 2007.<br />
angeboten, um eine besondere Unterstützung zu ermöglichen<br />
und Anregungen zu geben. Unterstützungsmaßnahmen können<br />
unterschiedliche Organisationsmodelle zugrunde liegen. Sie reichen<br />
von Förderstunden über Förderbänder einschließlich des<br />
sogenannten Drehtür-Modells bis hin zu Fördermaßnahmen, die<br />
Tutorinnen und Tutoren leiten. An dieser Stelle möchte ich das<br />
Lernstudio wieder ins Gespräch bringen, das auch als ein Instrument<br />
der äußeren Differenzierung gedacht ist.<br />
Schließlich sind als dritte Säule in diesem Handlungsfeld Angebote<br />
zur Lernbegleitung und Lernberatung zu nennen. Schulen<br />
haben hier neue Formen der Rückmeldung und Lernberatung<br />
entwickelt und umgesetzt. Korrekturen von Tests und Klausuren<br />
sollen und sollten beispielsweise im Dialog mehrerer Lehrkräfte<br />
stattfinden. Ziel all dieser Modelle ist es, eine systematische<br />
Förderplanung und Förderempfehlung mit den schulischen<br />
Förderangeboten zu verbinden. Dabei werden verschiedene bildungspolitische<br />
Maßnahmen aufeinander bezogen und weiterentwickelt.<br />
Als Beispiele nenne ich hier nochmals Lernstandserhebungen<br />
oder die Qualitätsanalyse.<br />
Foto: Kölnmesse<br />
Brüche im <strong>Bild</strong>ungsverlauf können immer dort entstehen,<br />
meine Damen und Herren, wo Schülerinnen und Schüler von<br />
einer Schulform oder einer Klasse in eine andere wechseln, oder<br />
beim Wechsel von der Schule in den Beruf bzw. in das Studium.<br />
Wir müssen diese Übergänge durch ein gezieltes Management<br />
verbessern. Hier bietet sich die Fortschreibung von Förderempfehlungen<br />
an, die der aufnehmenden Schule zur Verfügung<br />
gestellt werden. Wenn Sie heute mit offenen Augen über diese<br />
Messe gehen, dann werden Sie sehen, dass gerade in diesem<br />
Arbeitsfeld sehr viel angeboten wird. Auch die Verlage haben<br />
sich auf den Weg gemacht, die Arbeit, die so ungeheuer wichtig<br />
ist, zu unterstützen, um Diagnosen zu ermöglichen und<br />
gleichzeitig auch Hinweise für die Beseitigung von Hindernissen<br />
zu geben.<br />
4. Wirksamkeit, Förderung über Strukturen sichern<br />
Ich betone noch einmal, dass individuelle Förderung nicht nur<br />
ein frommer Wunsch ist, den wir ins Schulgesetz geschrieben<br />
haben. Ansätze davon fanden sich schon in der Vergangenheit<br />
in Lehrplänen und Richtlinien aller Schulformen wieder. Individuelle<br />
Förderung wird von Lehrerinnen und Lehrern bereits<br />
heute vielfach praktiziert, das weiß ich aus eigener Anschauung.<br />
Es gibt viele gute gelungene Beispiele, wie diese Förderung<br />
funktioniert. Aber ihre Nachhaltigkeit hängt nicht zuletzt<br />
davon ab, ob Lehrerinnen und Lehrer Formen individueller Förderung<br />
als Entlastung erfahren und ihre Wirksamkeit kennen.<br />
Schulen haben begonnen, die Zahl der Nichtversetzungen zu<br />
dokumentieren, mit dem Ziel, die Anzahl zu senken.Auch durch<br />
eine Verankerung in Abläufen und in der Organisation von Schule<br />
kann die Nachhaltigkeit individueller Förderung gesichert<br />
werden. Mir ist dieses vierte Handlungsfeld besonders wichtig.<br />
12
Schulpolitik in NRW: Blindtext Sommer<br />
Hier zeigt sich sehr deutlich, dass individuelle Förderung keine<br />
„Eintagsfliege“ sein darf. Dieses Konzept kann nur dann etwas<br />
in der Schule bewirken, wenn es Eingang in die Abläufe von<br />
Schule findet, sei es in der Unterrichtsgestaltung, sei es in der<br />
Elternarbeit oder in der Struktur von Konferenzen.<br />
auch. Ich bitte Sie daher, in diesen Dialog der Herausforderung<br />
mit einzusteigen. Ich bitte Sie darum, <strong>Bild</strong>ungspolitik auf eine<br />
breite Basis zu stellen. Ich werbe dafür auch bei den Eltern und<br />
bei der Wirtschaft, denn wir können die Ziele nur gemeinsam<br />
erreichen. Ihnen als Lehrerinnen und Lehrern danke ich dafür,<br />
„Jeder junge Mensch hat ohne Rücksicht auf seine wirtschaftliche Lage, seine Herkunft und<br />
sein Geschlecht ein Recht auf schulische Erziehung und individuelle Förderung. So fasst es<br />
das neue Schulgesetz in einem zentralen Abschnitt zur <strong>Bild</strong>ungspolitik zusammen.“<br />
Schule und <strong>Bild</strong>ungspolitik leben vom intensiven Dialog. Und<br />
dieser lebt auf, wenn wir die Ansprüche so hoch hängen, wie<br />
wir es tun. Ich weiß, dass ich den Kolleginnen und Kollegen<br />
sehr viel abverlange, aber es gibt tatsächlich keinen anderen<br />
Weg. Wir brauchen diese Kompetenzen. Professor Dr. Hans-<br />
Günther Rolff hat vor vielen Jahren einmal gesagt, Lehrerinnen<br />
und Lehrer seien unsere einzige Chance, und so sehe ich es<br />
dass Sie täglich die Arbeit an unseren Schulen verrichten. Ich<br />
weiß, dass es aufwärts geht, ich spüre das, andernfalls könnte<br />
ich hier nicht stehen und meine Arbeit tun. Ich weiß, dass ich<br />
Sie unterstützen muss. In nächster Zeit werden wir Hilfen<br />
anbieten. Allen wünsche ich viel Erfolg, den Mut zu Veränderungen,<br />
und ich hoffe, dass ich Ihnen stets den Beweis dafür<br />
liefern kann, dass ich an Ihrer Seite stehe.<br />
13
Brennpunkt Unterrichtsentwicklung –<br />
Plädoyer für die professionelle<br />
Unterstützung von Lehrern<br />
STATEMENT<br />
Heinz Klippert<br />
Heinz Klippert, geb. 1948, Dr. rer. pol.; Dipl.-Ökonom; Lehrerausbildung und -tätigkeit in Hessen; seit 1977<br />
Dozent am Erziehungswissenschaftlichen Fort- und Weiterbildungsinstitut der evangelischen Kirchen in<br />
Rheinland-Pfalz (EFWI), Landau. Trainer, Berater und Ausbilder für Pädagogische Schulentwicklung. Zahlreiche<br />
Publikationen zur Didaktik und Methodik des wirtschafts- und sozialkundlichen Unterrichts, zum Arbeitsfeld<br />
Schulentwicklung sowie zum Methoden- und Kommunikationstraining für Schülerinnen und Schüler.<br />
Die Weiterentwicklung des Unterrichts gehört zu den Kernanliegen der <strong>Bild</strong>ungspolitik. Dr. Heinz<br />
Klippert vom Erziehungswissenschaftlichen Fort- und Weiterbildungsinstitut der evangelischen Kirchen<br />
in Rheinland-Pfalz (EFWI), Landau, zeigt in seinem Vortrag, dass Schulautonomie, Inspektionen,<br />
Evaluationen und Ähnliches mehr noch lange keinen besseren Unterricht gewährleisten. Auf die Unterstützungssysteme<br />
kommt es an, so sein Credo. Klippert plädiert für alltagstaugliche Hilfen und Mut<br />
machende Qualifizierungs- und Innovationsmaßnahmen. Im Vortrag wird dieser Anspruch konkretisiert.<br />
Moderation: Peter E. Kalb, Redakteur der Zeitschrift Pädagogik<br />
Meine Damen und Herren, die Unterrichtsentwicklung in<br />
Deutschlands Schulen verläuft zäh. Vieles wird angemahnt und<br />
angeordnet, aber der Schwung in den Kollegien hält sich in<br />
engen Grenzen. Eine zentrale Ursache dieser Innovationsresistenz:<br />
Viele Kolleginnen und Kollegen fühlen sich überfordert.<br />
Sie sollen bei laufendem Schulbetrieb alle möglichen Neuerungen<br />
auf den Weg bringen, wissen aber weder wie, noch erhalten<br />
sie überzeugende Unterstützung. Ich werde Ihnen in einem<br />
ersten Teil einige einführende Informationen zu diesem Grunddilemma<br />
vorstellen und dann im zweiten Teil konkrete Vorschläge<br />
zur Unterstützung und Begleitung von Unterrichtsentwicklungsprozessen<br />
in Schulen machen.<br />
Problemfeld Unterrichtsentwicklung<br />
Das Erste, was ich in den Blick rücken möchte, betrifft die Lehrerbelastung.<br />
Wenn Unterrichtsentwicklung gelingen soll, müssen<br />
wir Verfahren finden, die für die Lehrkräfte im besten Sinne<br />
des Wortes machbar und nützlich sind. Und hier liegt bereits<br />
das erste Problem. Vieles, was unsere <strong>Bild</strong>ungspolitiker in den<br />
letzten Jahren angestoßen haben, ist alles andere als nützlich<br />
und lohnend. Warum? Den Lehrkräften wird mit immer neuen<br />
Programmen, Tests, Evaluationen und Inspektionen jede Menge<br />
Druck gemacht. Das sorgt für viel Unruhe und Arbeit, bringt<br />
den schulischen Akteuren aber nur selten nachhaltige Erfolgserlebnisse.<br />
Kein Wunder also, dass die Innovationsbereitschaft<br />
der Lehrerinnen und Lehrer im Argen liegt. Wie neuere Studien<br />
von Schaarschmidt und anderen zeigen, fühlen sich 60 Prozent<br />
der bundesdeutschen Lehrerschaft überlastet. 29 Prozent der<br />
Lehrkräfte gelten als ausgebrannt, 23 Prozent setzen auf Schonung,<br />
und nur 17 Prozent kommen mit den Anforderungen des<br />
Berufs nach wie vor gut zurecht. Das ist ein alarmierender<br />
Befund, wenn man bedenkt, wie viele Innovationsaufgaben<br />
darauf warten, von den Lehrkräften motiviert und erfolgreich<br />
umgesetzt zu werden. Was unsere Politiker seit Jahr und Tag zu<br />
wenig ins Kalkül ziehen, ist, dass die anstehenden Reformen<br />
nur dann gelingen werden, wenn die schulischen Akteure in<br />
Mut machender Weise unterstützt und „gepflegt“ werden.<br />
Es gibt in Deutschland seit Beginn des letzten Jahrhunderts<br />
viele kluge Ideen zur Schul- und Unterrichtsentwicklung. Die<br />
klassische Reformpädagogik ist unverkennbar eine deutsche<br />
14
Unterrichtsentwicklung: Klippert<br />
Domäne. Und guter Unterricht ist in Deutschland über die Jahrzehnte<br />
hinweg höchst differenziert beschrieben und immer<br />
wieder auch eingefordert worden. Woran es bis dato jedoch<br />
mangelt, das ist die praktische Umsetzung. Rainer Domisch,<br />
einer der Mitgestalter des finnischen <strong>Bild</strong>ungswunders, hat vor<br />
einiger Zeit den bemerkenswerten Satz formuliert, dass die<br />
Deutschen Weltmeister im Konzipieren von Reformen und<br />
immer neuen Programmen seien. Sie seien jedoch eher Dilettanten,<br />
wenn es um die praktische Realisierung der anvisierten<br />
Reformen gehe. Recht hat er!<br />
Es gibt hierzulande vielfältige Reforminitiativen, die es wert<br />
wären, realisiert zu werden. Wir haben neue <strong>Bild</strong>ungsstandards,<br />
die darauf warten, umgesetzt zu werden. Wir haben neue<br />
Methoden und Prüfungsverfahren, die lohnend und zukunftsträchtig<br />
sind. Für deren angemessene Umsetzung wird Unterrichtsentwicklung<br />
eine notwendige Voraussetzung sein. Doch<br />
was tun wir? Wir evaluieren, diskutieren, inspizieren und konzipieren<br />
ohne Ende. Nur, wenn den Lehrerinnen und Lehrern<br />
nicht zugleich auch Unterstützung zuteil wird, werden wir auf<br />
der Anspruchsebene stecken bleiben und das Ganze wird zu<br />
einer relativ folgenlosen Anstrengung verkommen. Sisyphusarbeit<br />
eben. Das Dilemma ist, dass das Verhältnis von Druck und<br />
Zug nicht stimmt. Hans-Günter Rolff hat dieses Problem schon<br />
vor Jahren angesprochen und darauf hingewiesen, dass gelingende<br />
Schulentwicklung eine überzeugende Balance von Druck<br />
und Zug verlangt. Doch davon sind wir zurzeit weit entfernt.<br />
Die <strong>Bild</strong>ungsbehörden formulieren immer wieder neu, was die<br />
Lehrerinnen und Lehrer so alles leisten und verändern sollen,<br />
bieten auf der anderen Seite aber wenig Unterstützung.<br />
Ressourcen fehlen, die Lehrerfortbildung wird erschwert, Seminare,<br />
Workshops und Hospitationen dürfen während der Unterrichtszeit<br />
kaum noch stattfinden, die schulinterne Fortbildung<br />
wird zunehmend zusammengestrichen. Vieles wird restriktiver<br />
gehandhabt mit der Folge, dass die Innovationsbereitschaft der<br />
Lehrkräfte sinkt. In der freien Wirtschaft wäre eine solche Kurzsichtigkeit<br />
kaum vorstellbar. Werden dort nämlich Innovationserfordernisse<br />
erkannt, wird in der Regel massiv in die Qualifizierung<br />
und Unterstützung der Mitarbeiter investiert, damit<br />
die notwendigen Veränderungen möglichst rasch über die<br />
Bühne gehen. – Wer diesen engen Zusammenhang von Unterstützung,<br />
Qualifizierung und Innovation nicht erkennt, muss<br />
sich nicht wundern, wenn alles so bleibt, wie es ist. Die meisten<br />
Lehrkräfte unterrichten nun einmal so, wie sie es gelernt<br />
und verinnerlicht haben. Das kann ihnen niemand verdenken.<br />
Wenn sie ihr Repertoire tatsächlich verändern sollen, brauchen<br />
sie vor allem eines: praxisnahe Unterstützung und Fortbildung,<br />
Seminare und Workshops, Teamarbeit und Teamqualifizierung –<br />
auch mal während der Unterrichtszeit.<br />
Stattdessen befinden wir uns in einer Situation, in der die Restriktionen<br />
immer größer und die Unterstützungsmaßnahmen<br />
zunehmend dürftiger werden. Unterrichtsausfall ist tabu. Der<br />
„freie Markt“ soll es richten. Das ist der Notnagel, mit dem die<br />
Politiker Lehrerinnen und Lehrer zu trösten versuchen. Doch<br />
überzeugend ist das nicht, da auf dem freien Markt in Sachen<br />
Unterrichtsentwicklung wenig Qualifiziertes angeboten wird.<br />
Vieles spricht dafür, dass sich der Staat in Sachen Unterstützungssystem<br />
nicht aus der Verantwortung stehlen darf. Ich versuche<br />
seit Jahren Politikern deutlich zu machen, dass es unser<br />
Ziel nicht sein kann, vordergründige Alibibeschaffung zu betreiben,<br />
sondern entscheidend ist, dass sich faktisch etwas tut. Das<br />
aber setzt voraus, dass die schulischen Akteure verstärkt Unterstützung<br />
und Weiterbildung angeboten bekommen, damit die<br />
angesagten Unterrichtsreformen wirksam realisiert werden<br />
können. Sonst wird sich wenig bewegen.<br />
Wenn die Inspektoren kommen, wird vielleicht noch das eine<br />
oder andere innovative Element eingesetzt, aber das sagt<br />
wenig über den Alltag aus. Viele Schulen haben es in den letzten<br />
Jahren geschafft, imposante Schulprogramme, Leitbilder,<br />
Arbeitspläne oder Qualitätsprogramme zu entwickeln, aber<br />
auch das ist vielerorts mehr Schein als Sein. Die Programme liegen<br />
irgendwo in den Schubladen der Schulleitungen bzw. der<br />
Schulaufsicht, aber an entsprechenden Taten mangelt es in<br />
hohem Maße. Ich spreche diesbezüglich vom Hühnerstallsyndrom<br />
der Unterrichtsentwicklung. Was meine ich damit? Die<br />
<strong>Bild</strong>ungspolitiker trommeln hin und wieder auf das Dach des<br />
Hühnerstalls, sprich der Schule, und alle fliegen für kurze Zeit<br />
wild durcheinander. Viele sind guten Willens und mühen sich<br />
ab. Doch nach einer Weile sitzen alle wieder auf ihren angestammten<br />
Plätzen – resigniert und desillusioniert. Der Reformimpuls<br />
ist verpufft; Erfolgserlebnisse und Nachhaltigkeit fehlen.<br />
Das ist das Dilemma der landläufigen Unterrichtsentwicklung.<br />
Deshalb: Unterrichtsentwicklung muss anders ansetzen<br />
und durch massive Unterstützungs-, Teambildungs- und praxisgerechte<br />
Qualifizierungsmaßnahmen begleitet und erleichtert<br />
werden. Weniger Druck und mehr Hilfe zur Selbsthilfe – das ist<br />
die Devise, für die ich plädiere.<br />
Unterrichtsentwicklung, aber wie?<br />
Viele unserer Reformen kranken am sogenannten Glühwürmcheneffekt,<br />
das heißt, es glühen vereinzelte Reformversuche<br />
immer wieder auf, aber sie bleiben meist recht vordergründig<br />
15
und häufig auch folgenlos. Sie verblassen und verglühen schnell<br />
wieder und gelangen viel zu selten in die so wichtige Konsolidierungsphase.<br />
Dieser Glühwürmcheneffekt ist deshalb so<br />
bedenklich, weil Menschen in der Regel nur dann dauerhaft<br />
Neues praktizieren, wenn sie das Neue in den Griff bekommen<br />
und nachhaltige Kompetenz- und Erfolgserlebnisse verbuchen<br />
können. An Erfolgserlebnissen aber mangelt es den Innovatoren<br />
Wenn Innovationsprozesse gelingen sollen, müssen sie zeit- und<br />
arbeitsökonomisch zu bewerkstelligen sein. Das Aufwand-<br />
Ertrags-Verhältnis muss stimmen. Ob es stimmt, hängt vornehmlich<br />
von zwei Faktoren ab: Zum einen vom schulinternen<br />
Innovationsmanagement, zum anderen von den praktischen<br />
Unterstützungssystemen, die den Lehrkräften dabei helfen,<br />
ihre Unterrichtsarbeit zeitgemäß weiterzuentwickeln und tragfähige<br />
neue Unterrichts- und Moderationsroutinen aufzubauen.<br />
Das Grundproblem im Bereich der Unterrichtsentwicklung sind<br />
nämlich die angestammten lehrerzentrierten Routinen, die tief<br />
verinnerlicht sind. Wir alle haben unsere Vortrags- und Tafelbildroutinen,<br />
unsere Routinen im Bereich des lehrergelenkten<br />
Unterrichtsgesprächs, auf die wir bei 28 Wochenstunden zuverlässig<br />
zurückgreifen können. Diese Routinen stammen teilweise<br />
bereits aus unserer eigenen Schulzeit. Wir haben sie unseren<br />
eigenen Lehrern über viele Jahre hinweg abgeschaut. Diese prägende<br />
Erfahrung setzt sich in der universitären Phase fort, weil<br />
dort ebenfalls hochgradig lehrer- und stoffzentriert unterrichtet<br />
wird. In den Studienseminaren werden zwar neue didaktisch-methodische<br />
Orientierungen in den Blick gebracht, aber<br />
entsprechende Praxisangebote und -erfahrungen fehlen in der<br />
Regel auch dort. Von daher kommen die meisten Lehrerinnen<br />
und Lehrer mit einem recht traditionellen Repertoire in die<br />
Schule. Die letzte Pisa-Auswertung 2006 hat das bestätigt. Der<br />
Unterricht in Deutschlands Schulen ist unverändert variationsarm<br />
und lehrerzentriert – zumindest im Sekundarbereich.<br />
Reformfeld Lehrerausbildung<br />
Erfahrungslernen<br />
Problemorientierung<br />
Was Ausbilder<br />
verstärkt<br />
sichern müssen<br />
…<br />
Alltagstauglichkeit<br />
Handlungsbezug<br />
Methodenorientierung<br />
Teamorientierung<br />
Folie: Heinz Klippert<br />
in Deutschlands Schulen in hohem Maße. Die meisten Reformversuche<br />
sind nicht nur punktuell und vordergründig. Sie fallen<br />
häufig auch viel zu aufwendig aus und wirken daher eher entmutigend<br />
als ermutigend. Das hat zum einen mit dem Perfektionismus<br />
von uns Lehrern zu tun, zum anderen mit der ausgeprägten<br />
Sprunghaftigkeit und Rechenschaftserwartung der<br />
Politik.<br />
Fazit: Erfolgversprechende Unterrichtsentwicklung muss rasch<br />
zu neuen Routinen im Bereich moderner Lernmoderation, Lernorganisation<br />
und Lernberatung führen und durch entsprechende<br />
Unterstützungs- und Qualifizierungsmaßnahmen flankiert<br />
und erleichtert werden. Wir brauchen daher verstärkt Fortbildung,<br />
nicht nur individualisiert, sondern konzertiert. Kollegien<br />
müssen gemeinsam zur Fortbildung gehen können. Lehrerteams<br />
brauchen grünes Licht für gemeinsame Workshops und Seminarteilnahmen.<br />
Und das alles möglichst oft in Verbindung mit<br />
Hospitationen und Unterrichtsversuchen. Politik ist daher<br />
gefordert, die Bedingungen für eine konzertierte Weiterqualifizierung<br />
dieser Art zu verbessern und so zu gestalten, dass der<br />
Aufbau neuer Routinen gelingen kann. Ansonsten werden wir<br />
uns noch lange darüber wundern müssen, warum die propagierten<br />
Reformziele so spärlich umgesetzt werden.<br />
Ein bewährtes Unterstützungsprogramm<br />
Das von mir entwickelte Unterstützungssystem wird derzeit<br />
von mehr als 800 Schulen in elf Bundesländern genutzt, darunter<br />
vier österreichische Bundesländer. Kern dieses Programms<br />
sind von mir ausgebildete Trainerinnen und Trainer, die den<br />
interessierten Schulen vielseitig unter die Arme greifen, wenn<br />
es darum geht, die Unterrichtsentwicklung voranzutreiben. Wir<br />
arbeiten mit Klassenteams, Fachteams und Steuerungsteams,<br />
die in je spezifischer Weise unterstützt und qualifiziert werden.<br />
Die Klassenteams bestehen in der Regel aus Klassenlehrer plus<br />
16
Unterrichtsentwicklung: Klippert<br />
je zwei weitere Hauptfachvertreter und sollten in Summe möglichst<br />
15 oder mehr Wochenstunden in der jeweiligen Klasse<br />
unterrichten, damit sie die klasseninterne Lehr- und Lernkultur<br />
nachhaltig prägen können. Unterstützt werden die Klassenteams<br />
von diversen Fachteams, die dafür sorgen, dass die eingeführten<br />
Lehr- und Lernverfahren in den Fächern möglichst<br />
konsequent praktiziert werden. Die Rahmensteuerung dieses<br />
Innovationsprozesses liegt beim jeweiligen schulinternen Steuerungsteam,<br />
dem Schulleiter, Stundenplaner und weitere engagierte<br />
Unterrichtsentwickler angehören.<br />
Den besagten Teams werden Seminare, Workshops, Hospitationsveranstaltungen,<br />
Innovationsberatung, Materialien und<br />
anderes mehr angeboten. Dieser Service ist praxiserprobt und<br />
alltagstauglich. Offeriert wird er von einschlägig ausgebildeten<br />
Trainerinnen und Trainern, die allesamt erfahrene Lehrkräfte<br />
und Unterrichtsentwickler sind und mit einem Teil ihres Stundendeputats<br />
dafür freigestellt werden, interessierten Schulen<br />
bei ihrer Unterrichtsentwicklung zu helfen. Sie moderieren<br />
Seminare und Workshops, bringen Materialien und sonstige<br />
Inputs ein, helfen bei der Vorbereitung von Trainingstagen,<br />
Elternabenden und Lernspiralen für den Fachunterricht. Sie leiten<br />
Workshops zur Leistungsmessung und Unterrichtsevaluation<br />
an, beraten die Führungskräfte in Sachen Innovationsmanagement<br />
und stellen jede Menge Know-how zur Verfügung,<br />
Workshops, Hospitation und Teamteaching angeboten und<br />
unterstützt. Da die Seminare in der Regel ein bis drei Tage dauern,<br />
kommen wir immer wieder an den Punkt, wo sich Unterrichtsausfall<br />
nicht mehr vermeiden lässt. Ähnliches gilt eingeschränkt<br />
auch für die Workshops. Wenn die gemeinsame Unterrichtsvorbereitung<br />
wirklich produktiv und lohnend werden soll,<br />
muss auch mal ein ganztägiger oder fünfstündiger Workshop<br />
möglich sein, dessen Output so überzeugend ist, dass die beteiligten<br />
Lehrkräfte ihre Innovationsscheu verlieren.<br />
Wir veranstalten Workshops für die Fachteams, in denen eingeübt<br />
wird, Lernspiralen zu entwickeln, die der breitgefächerten<br />
Kompetenzförderung dienen. Teambesprechungen dienen dazu,<br />
den Teamgedanken in den Kollegien konsequent voranzutreiben.<br />
Daneben gibt es methodenzentrierte Schnuppertage, die<br />
dem Gesamtkollegium Einblicke in die neuen Lernverfahren<br />
gewähren. Ferner werden Hospitationen für Lehrkräfte wie<br />
Eltern organisiert, die Transparenz schaffen und etwaigen Missverständnissen<br />
vorbeugen sollen. Wir hatten z.B. vor einiger<br />
Zeit Beschwerden von Eltern, weil deren Kindern im Unterricht<br />
nicht sofort geholfen wurde. Dem lag offenbar das Missverständnis<br />
zugrunde, dass gute Lehrer den Kindern offensiv helfen<br />
müssen. Solche Missverständnisse müssen möglichst frühzeitig<br />
ausgeräumt werden. Deshalb machen wir den Eltern<br />
nicht nur Hospitationsangebote, sondern veranstalten hin und<br />
„Es gibt hierzulande vielfältige Reforminitiativen, die es wert wären, realisiert zu werden.<br />
Wir haben neue <strong>Bild</strong>ungsstandards, die darauf warten, umgesetzt zu werden. Wir haben<br />
neue Methoden und Prüfungsverfahren, die lohnend und zukunftsträchtig sind. Für deren<br />
angemessene Umsetzung wird Unterrichtsentwicklung eine notwendige Voraussetzung sein.<br />
Doch was tun wir? Wir evaluieren, diskutieren, inspizieren und konzipieren ohne Ende.“<br />
das in langjähriger Erprobungsarbeit zusammengetragen<br />
wurde. Dies alles kann freilich nur wirksam werden, wenn die<br />
pädagogischen Führungskräfte gutwillige Unterstützer und<br />
Ermöglicher sind. Das gilt für die Schulleitungen genauso wie<br />
für die Vertreter der Schuladministration. Wenn ein Schulleiter<br />
beispielsweise ein Klassenteam schon nach einem Jahr wieder<br />
auseinanderreißt, dann heißt das letztlich, dass die systematische<br />
Weiterentwicklung der Lernkultur behindert wird. Personaleinsatzplanung<br />
und Personalentwicklung müssen also auf<br />
die jeweiligen Innovationserfordernisse abgestimmt werden.<br />
Deshalb sind ins Unterstützungssystem nicht nur die Politiker<br />
einzubinden, sondern auch die Schulleitungen. Unterstützung<br />
muss von verschiedenen Seiten kommen.<br />
Dreh- und Angelpunkt der besagten Unterstützungsarbeit ist<br />
die Förderung von Selbstständigkeit, Methodenkompetenz,<br />
Kommunikationsfähigkeit, Präsentationskompetenz und Teamfähigkeit<br />
im Klassenraum. Diesbezüglich werden Seminare und<br />
wieder auch spezielle Learning-by-Doing-Elternabende, in deren<br />
Verlauf ausgewählte Lern- bzw. Trainingssequenzen ganz praktisch<br />
durchgespielt und besprochen werden. Für schulinterne<br />
Innovationsprozesse brauchen wir die Unterstützung der<br />
Eltern, und dafür müssen sie das, was verändert werden soll,<br />
gut nachvollziehen können.<br />
Trainer als Helfer im Reformprozess<br />
Die erwähnten Trainerinnen und Trainer leiten fach- und themenzentrierte<br />
Workshops an, sie moderieren die anstehenden<br />
Methodenseminare, sie kommen zu Beratungsbesuchen in die<br />
Schulen, geben Tipps und stellen bewährte Materialien, Lernspiralen<br />
und Trainingssequenzen zur Verfügung. Das alles<br />
gehört zum hier in Rede stehenden Unterstützungssystem. Für<br />
diese Aufgaben werden die Trainerinnen und Trainer mehrere<br />
Stunden pro Woche von ihrem eigenen Unterricht freigestellt,<br />
damit sie Fremdschulen bei ihrer Unterrichtsentwicklung<br />
17
unterstützen können. Sie helfen bei der Planung des Schülertrainings,<br />
bringen Lern- oder Trainingsspiralen ein, stellen<br />
Materialien zur Verfügung, sind Ansprechpartner für die Steuerungsteams<br />
und helfen bei der Neuorientierung der Elternarbeit<br />
etc. Darüber hinaus stehen sie für Zusatzveranstaltungen<br />
bereit, etwa zu den Themen ,Neue Formen der Leistungsbewertung‘<br />
oder ,<strong>Bild</strong>ungsstandards umsetzen‘.<br />
Die besagten Seminare und Workshops zeichnen sich durch ausgeprägtes<br />
Learning by Doing aus. Dieses Erfahrungslernen ist<br />
das A und O nachhaltiger Innovationsarbeit. Jeder, der individualpsychologisch<br />
ein wenig informiert ist, weiß, dass Menschen<br />
in der Regel nur das machen, was sie selber erlebt haben.<br />
Da die meisten Lehrkräfte ganz vorrangig lehrer- und fachzentrierte<br />
Methoden erfahren haben, greifen sie natürlich darauf<br />
zurück, wenn sie aus dem Stegreif handeln müssen. Wir befinden<br />
uns in einem Circulus vitiosus. Ergo brauchen wir weniger<br />
Belehrung über moderne Methoden, sondern vor allem korrespondierendes<br />
Learning by Doing. Vom Doppelkreis, Zufallsverfahren<br />
oder von der Expertenmethode zu reden, ist das eine,<br />
entsprechende Verfahrensweisen zu praktizieren, ist das andere.<br />
Wenn Lehrkräfte nur wissen, wie bestimmte Methoden theoretisch<br />
gehen könnten, aber keine ermutigenden Anwendungen<br />
erlebt haben, wird sich im Alltag nicht viel verändern.<br />
Alle Welt klagt darüber, dass Unterrichtsentwicklung an mangelnder<br />
Teamfähigkeit scheitert. Nur, wo wird Teamfähigkeit<br />
gelernt? In der Ausbildung wird sie kaum gepflegt. Und später<br />
sehen wir, dass sich Lehrkräfte als Einzelkämpfer verstehen und<br />
sisyphusgleich versuchen, anstehende Reformansätze im Alleingang<br />
zu bewältigen. Das ist Masochismus pur. Teamarbeit und<br />
Teambereitschaft müssen in der Ausbildung wie in der Schule<br />
viel stärker als bisher gelernt und eingeübt werden. In den<br />
erwähnten Seminaren und Workshops wird darauf abgestellt.<br />
Auch die angesprochenen Hospitationen und Teamteachings<br />
bieten beträchtliche Übungsmöglichkeiten, um von der fatalen<br />
Einzelkämpfermentalität wegzukommen. Allerdings setzt das<br />
alles voraus, dass Teamarbeit und Teamentwicklung offensiv<br />
ermöglicht und unterstützt werden. Das ist bislang leider noch<br />
viel zu wenig der Fall.<br />
Alltagstauglichkeit tut not!<br />
Die Zielrichtung der Unterrichtsentwicklung ist klar: Die Schüler<br />
müssen verstärkt zum eigenverantwortlichen Arbeiten und<br />
Lernen befähigt und veranlasst werden. Angesagt sind eigenständiges<br />
Denken und Strukturieren, Vortragen und Kooperieren,<br />
Recherchieren und Probleme lösen. Diese Art der Kompetenzvermittlung<br />
ist die eigentliche Kernaufgabe der Lehrerinnen<br />
und Lehrer. Wenn ich als Lehrer ein Tafelbild entwickele<br />
und von den Schülern ins eigene Heft übertragen lasse, dann<br />
heißt das noch lange nicht, dass Nennenswertes begriffen<br />
wurde. Nachhaltiges Lernen verlangt mehr, setzt konkretes<br />
Arbeiten an und mit dem jeweiligen Lernstoff voraus. Und<br />
genau dazu muss den Schülern verstärkt Raum und Gelegenheit<br />
gegeben werden. Das heißt freilich nicht, dass aufwendige<br />
Lernzirkel, Freiarbeitsmaterialien oder Projektunterlagen vorbereitet<br />
werden müssen. Es geht auch einfacher. Wer die Schüler<br />
mit gängigen Medien und Materialien möglichst variantenreich<br />
arbeiten lässt, spart nicht nur Zeit, sondern macht anderen Kolleginnen<br />
und Kollegen auch Mut, es einmal ähnlich zu probieren.<br />
Wir brauchen viel mehr Alltagstauglichkeit. Gegen diesen<br />
Grundsatz wird nicht zuletzt in vielen Studienseminaren immer<br />
wieder verstoßen. Da bereitet z.B. jemand eine Lehrprobenstunde<br />
vier Wochen lang vor, indem er einen differenzierten<br />
Lernzirkel samt aufwendiger Lernumgebung entwickelt – eine<br />
Situation, die im Alltag so schnell nicht wieder vorkommen<br />
wird. Vieles spricht dafür, dass wir alltagsnäher und arbeitssparender<br />
ansetzen müssen, wenn innovative Unterrichtsverfahren<br />
von Dauer sein sollen. In unseren Workshops tragen wir dieser<br />
Überlegung Rechnung, indem wir z.B. die Zeitansätze für<br />
die Unterrichtsvorbereitung zunehmend knapper fassen. Stehen<br />
den betreffenden Fachteams beim ersten Workshop noch<br />
zwei Zeitstunden zur Verfügung, um eine Doppelstunde vorzubereiten,<br />
so sind es beim zweiten vielleicht noch 90 Minuten,<br />
beim dritten noch 60 Minuten, beim vierten noch 40 Minuten<br />
und beim fünften Workshop vielleicht noch 20 Minuten. So<br />
gesehen kommen wir langsam an das heran, was ich Alltagstauglichkeit<br />
nenne.<br />
Wie viel Zeit bleibt denn Lehrerinnen und Lehrern, um eine<br />
anstehende Unterrichtsstunde vorzubereiten? Wenn Sie 20<br />
Minuten haben, ist das schon eine Menge Zeit, und deshalb<br />
brauchen wir die Fähigkeit, die Schüler zunächst mit dem arbeiten<br />
zu lassen, was vorhanden ist. Die Schüler können z.B. mit<br />
dem Vortrag des Lehrers arbeiten, mit einem Text, mit zwei<br />
komplementären Schaubildern oder Texten, mit einem Film, mit<br />
drei Mathematikaufgaben, oder ich gebe ihnen ein Problem und<br />
lasse sie damit arbeiten, dann brauche ich vergleichsweise<br />
wenig Vorbereitungszeit. Und diese Zeit- und Arbeitsökonomie<br />
ist eine zwingende Voraussetzung für gelingende Unterrichtsentwicklung.<br />
Einschlägige Trainings können dabei helfen, den<br />
Lehrkräften diesen 7. Sinn für eine arbeitssparende Unterrichtsvorbereitung<br />
zu vermitteln. Die besagten Trainerinnen und Trainer<br />
leisten dabei praxisnahe Unterstützung. Dazu gibt es Seminare,<br />
angeleitete Workshops, Materialservice, Innovationsberatung<br />
etc.<br />
Ohne Unterstützung läuft wenig<br />
Ohne überzeugende „Hilfe zur Selbsthilfe“ von außen und oben<br />
bleibt vieles Makulatur. Einige <strong>Bild</strong>ungspolitiker scheinen mittlerweile<br />
zu kapieren, dass neue <strong>Bild</strong>ungsstandards, Schulprogramme,<br />
Inspektionen, Vergleichsarbeiten und sonstige Auflagen<br />
noch lange nicht dazu führen, dass wirksame Unterrichtsentwicklung<br />
stattfindet. Druck schafft eben weder Innovationsbereitschaft<br />
noch Innovationskompetenz. Was vielmehr<br />
nottut, sind praxisnahe, Mut machende Unterstützungsmaßnehmen<br />
– seitens der Schulleitungen genauso wie seitens der<br />
großen Politik. Schulleitungen müssen Freiräume schaffen und<br />
ausgestalten helfen. Die Politik muss die entsprechenden<br />
18
Unterrichtsentwicklung: Blindtext Klippert<br />
Rahmenbedingungen schaffen, damit die<br />
Lehrkräfte im besten Sinne des Wortes in<br />
Bewegung geraten. Das gilt für administrative<br />
wie für schulorganisatorische<br />
Regelungen. Teamarbeit, Teamfortbildung,<br />
Workshoparbeit und Abschaffung<br />
des 45-Minuten-Takts – das sind z.B.<br />
Dinge, die sich auf der Ebene der Einzelschule<br />
recht rasch verändern und verbessern<br />
lassen. Also sollte damit begonnen<br />
werden. Darüber hinaus brauchen wir<br />
Unterstützung durch verständnisvolle<br />
Eltern. Elternarbeit und Elternhospitationen<br />
tragen dazu bei, dieses Wohlwollen<br />
der Elternseite zu gewinnen.<br />
Doch das alles wäre nichts, wenn nicht<br />
auch die Politik mitspielte. Druck und<br />
Kontrollen von oben sind nun einmal zu<br />
wenig. Die vielfältigen Testverpflichtungen,<br />
Vergleichsarbeiten, Parallelarbeiten,<br />
Inspektionen usw. wirken de facto eher<br />
demotivierend als ermutigend.<br />
Vertrauensbildung sieht anders aus. Was<br />
wir brauchen sind vorausschauende Planung<br />
und großzügige Teamfortbildung,<br />
verstärkte Arbeitsteilung und sauberes<br />
Projektmanagement bei der Entwicklung und Bereitstellung<br />
unterrichtszentrierter Unterstützungsmaßnahmen. Diesbezüglich<br />
können die <strong>Bild</strong>ungsbehörden noch kräftig zulegen. Gleiches<br />
gilt für Gratifikationen und Poolstunden, für kleinere Klassen<br />
und geringere Lehrdeputate und nicht zuletzt auch für die<br />
Finanzierung eines verbesserten Equipments in den Klassen<br />
(Pinwand, Kärtchen, farbige Markierungsstifte usw.). Andernfalls<br />
gerät die Unterrichtsentwicklung rasch ins Stocken.<br />
Schließlich muss auch die Lehrerausbildung noch deutlich<br />
Folie: Heinz Klippert<br />
Wünschenswerte Hilfen der Politik<br />
Erleichterung konzertierter L-Fortbildung (Teams)<br />
Weniger Druck und Kontrollen von außen + oben<br />
Mehr Zeit für die Konsolidierung von Reformen<br />
Größere Gestaltungsfreiheiten in der Einzelschule<br />
Vorausschauende Qualifizierung von UE-Trainern<br />
Gratifikationen/Poolstunden für besonders Aktive<br />
Reduzierung der Klassengrößen u. Lehrdeputate<br />
Verbessertes „Equipment“ in den Klassenräumen<br />
Reduzierung/Vereinfachung der Schulbürokratie<br />
Praxisgerechte Reform der Lehrerausbildung<br />
praxisgerechter ausgerichtet werden, als das bislang der Fall ist.<br />
Bachelor- und Master-Studiengänge mögen zwar schön klingen,<br />
eine praxisgerechte Kompetenzvermittlung sichern sie indes<br />
noch lange nicht. Mein Fazit also: Wer wirksame Unterrichtsentwicklung<br />
will, muss vor allem eines tun: die schulischen<br />
Akteure praxisnah unterstützen, ermutigen und im Sinne des<br />
Erfahrungslernens trainieren. Das ist meine Botschaft.<br />
Ich danke Ihnen für Ihre Geduld.<br />
19
Lernst du nur oder denkst du schon?<br />
Wie aus Wissen <strong>Bild</strong>ung wird<br />
Wie sollen unsere Kinder in Zukunft lernen? Was sollen sie lernen – und was nicht? Sollte der <strong>Bild</strong>ungsbegriff<br />
gerade in unserer Gegenwart mit ihren besonderen Anforderungen mehr umfassen als die Fähigkeit,<br />
abstraktes und neues Wissen intelligent in ein bestehendes System einordnen und effektiv abrufen<br />
zu können? Und schließlich: Was müssen Schule und Elternhaus, Politik, Wirtschaft und Medien tun,<br />
um eine vernetzte ,moderne <strong>Bild</strong>ungskultur‘ zu unterstützen? Diese und andere Fragen, die die beiden<br />
Pole Wissen und <strong>Bild</strong>ung umkreisen, diskutierten Professor Dr. Stefan Aufenanger, Universität Mainz,<br />
der Abteilungsleiter im Niedersächsischen Kultusministerium Heinrich-Wilhelm Brockmann, Swantje<br />
Rosenboom-Lehmann, Managerin Education bei Microsoft Deutschland GmbH, und Professor Dr. Martin<br />
Korte vom Zoologischen Institut der TU Braunschweig.<br />
Moderation: Gaby Miketta, Chefredakteurin FOCUS-Schule<br />
Eine Veranstaltung von<br />
Stefan Aufenanger<br />
Stefan Aufenanger, Professor Dr., geb. 1950. Studium der Erziehungswissenschaft, Soziologie, Psychologie<br />
und Kunstgeschichte. Diplom in Pädagogik, Promotion in Soziologie. 1991 Habilitation in Erziehungswissenschaft<br />
an der Universität Mainz. 1993 Professur in Hamburg. 1995-99 dort Geschäftsführender Direktor des<br />
Instituts für Allgemeine Erziehungswissenschaft. 1996-99 Geschäftsführender Leiter des Medienzentrums am<br />
FB Erziehungswissenschaft. Seit dem Wintersemester 2004/05 Erziehungswissenschaftler und Medienpädagoge<br />
der Universität Mainz.<br />
Heinrich-Wilhelm Brockmann<br />
Heinrich-Wilhelm Brockmann, geb. 1947. Studium der katholischen Theologie, Philosophie, Politikwissenschaft<br />
und Deutsch. Berufserfahrung als Journalist. Mehrjährige Tätigkeit als Lehrer an einem Gymnasium,<br />
als Pressesprecher im Niedersächsischen Kultusministerium. Schulaufsichtsbeamter, Präsident des Landesinstituts<br />
für Lehrerfortbildung und des Landesprüfungsamtes für Lehrämter. Anderthalb Jahre Leiter der Abteilung<br />
Politische Planung, Grundsatzfragen im Konrad Adenauer Haus Bonn. Seit 2003 Leiter der Abteilung<br />
Schulformübergreifende Angelegenheiten, bildungspolitische Innovationen und Kirchen im Niedersächsischen<br />
Kultusministerium.<br />
STATEMENT<br />
Stefan Aufenanger<br />
Frau Miketta hat uns zum Eingang die Frage gestellt, ob denn<br />
die neuen Medien und die neue Kommunikationskultur unserer<br />
Schüler die „Revolution des Lernens“ vorantreibe. Ich denke, ich<br />
kann diese Frage bejahen. Vor zehn Jahren ist durch die Initiative<br />
„Schulen ans Netz“ sehr viel Technik in die Schule eingedrungen,<br />
und es gab sehr heftige Kritik daran, dass man die<br />
Einführung der neuen Medien nicht mit der entsprechenden<br />
Pädagogik vorbereitet habe. Doch dadurch, dass die Technik<br />
vorhanden war, die Lehrkräfte sich damit auseinandersetzen<br />
mussten, wie sie sie sinnvoll einsetzen sollten, haben Compu-<br />
20
Wissen und <strong>Bild</strong>ung: Aufenanger/Brockmann/Rosenboom-Lehmann/Korte Blindtext<br />
Swantje Rosenboom-Lehmann<br />
Swantje Rosenboom-Lehmann studierte Volkswirtschaft und Orientalistik in Berlin und an der amerikanischen<br />
Universität Beirut. 1989-96 bei Dell beschäftigt; 1997-99 Mitglied der Geschäftsführung bei MCI<br />
WorldCom; 1999-2004 Oracle, Mitglied der Geschäftsführung. Seit 2004 Managerin Education bei Microsoft<br />
Deutschland GmbH.<br />
Martin Korte<br />
Martin Korte, Professor Dr., Studium der Biologie. 1995 Promotion. 1996-98 Wissenschaftlicher Mitarbeiter<br />
bei Janssen-Cilag. 1998-2004 Arbeitsgruppenleiter am MPI für Neurobiologie. 2001 Habilitation in Zoologie<br />
an der Uni München. Seit 2004 Professor am Zoologischen Institut der TU Braunschweig sowie dessen<br />
Direktor.<br />
ter und Internet relativ viel dazu beigetragen, dass darüber<br />
nachgedacht wurde, wie Lernen an der Schule stattfinden sollte.<br />
Das finde ich zunächst einmal positiv.<br />
Andererseits sollten wir nicht erwarten, dass ein Laptop, ein<br />
Computer oder ein Internetanschluss per se in der Schule<br />
etwas verändern. Anstatt das Pferd über die Medien aufzuzäumen,<br />
scheint mir der bessere Weg zu sein, beim Lernen zu<br />
beginnen, also zuerst zu fragen, wie wir Schule prinzipiell verändern<br />
können, und dann erst zu sehen, welche Rolle die<br />
Medien dabei spielen sollten. Hierzu hat es in den letzten zehn<br />
Jahren sehr gute und interessante Ansätze gegeben, die einerseits<br />
von einem problemorientierten Unterricht ausgehen und<br />
die konstruktivistische Didaktik stärken, zum anderen selbst-<br />
21
gesteuertes und selbstbestimmtes Lernen unterstützen. Damit<br />
eröffnen sich Möglichkeiten, dass Schule ein anderer Lernort<br />
wird, und dadurch kann dann auch die dritte Perspektive,<br />
nämlich neue Medien, neues Lernen, neue Schule, sinnvoll<br />
gedacht werden.<br />
Leider haben sehr viele Kolleginnen und Kollegen zunächst mit<br />
relativ heftiger Ablehnung auf die neuen Medien reagiert. Sie<br />
man muss auch angemessen soziale, ethische, affektive und<br />
ästhetische Aspekte betrachten können.<br />
„Anstatt das Pferd über die Medien aufzuzäumen, scheint mir der bessere Weg zu sein, beim<br />
Lernen zu beginnen, also zuerst zu fragen, wie wir Schule prinzipiell verändern können, und<br />
dann erst zu sehen, welche Rolle die Medien dabei spielen sollten.“<br />
sehen erst jetzt allmählich, welche Potenziale darin liegen –<br />
aber natürlich auch, welche Probleme es gibt. Insgesamt<br />
scheint mir momentan ein Umschwung stattzufinden; es<br />
wächst die Bereitschaft, darüber nachzudenken, was die Stärken<br />
von neuen Medien sind und wo sie sinnvoll eingesetzt<br />
werden können.<br />
Zur Medienkompetenz gehört auf jeden Fall mehr, als einen<br />
Computer bedienen zu können. Wir hatten zwar schon lange<br />
den Begriff Medienkunde, die traditionell umfasste, dass man<br />
eben ein Filmvorführgerät oder einen Videorekorder bedienen<br />
können sollte, aber heute ist der Begriff der Medienkompetenz<br />
viel weiter zu fassen.<br />
Dabei geht es eben nicht nur darum, Medien handhaben zu<br />
können oder zu verstehen, es geht um viel wesentlichere Aspekte,<br />
nämlich, dass Medien etwas mit sozialen Beziehungen zu<br />
tun haben, dass wir eine Kompetenz brauchen, wie wir Medien<br />
angemessen in sozialen Kontexten einsetzen.<br />
Zum Zweiten ist ein Bewusstsein vonnöten, dass Medien<br />
auch etwas mit Moral, mit Ethik zu tun haben. Hier ist Kompetenz<br />
zu entwickeln und zu fördern, damit Kinder Jugendliche,<br />
und auch Erwachsene angemessen mit entsprechenden<br />
Angeboten umgehen.<br />
Das Dritte: Medienarbeit hat etwas mit Genuss zu tun, und<br />
wir müssen einerseits lernen, den Genuss zu genießen, aber auch<br />
gleichzeitig, angemessen und distanziert damit umgehen zu können,<br />
also z. B. Computerspiele durchzuführen, aber zu wissen, welche<br />
Problematik sich eröffnet, wenn diese etwa gewalthaltig sind.<br />
Und das Letzte: Medien haben auch etwas mit Ästhetik zu<br />
tun, mit Darstellung, mit Kreativität und Fantasie. In diesem<br />
umfassenden Sinne muss auch Schule Medienkompetenz vermitteln.<br />
Es reicht eben nicht, zu lernen, wie man einen Computer<br />
bedient oder wie man im Internet surfen kann, sondern<br />
Hierbei spielt auch das Verhältnis Elternhaus und Schule hinein,<br />
wobei es bei uns in Deutschland immer leicht zu einer gegenseitigen<br />
Schuldzuschreibung für bestehende Missstände<br />
kommt. Wenn wir z. B. das französische Schulsystem nehmen,<br />
sehen wir, dass es hier eine klare Trennung der Aufgabenbereiche<br />
und der Verantwortungsbereiche gibt. Was die Eltern<br />
machen, ist ein Bereich, und was die Schule macht, ist ein<br />
anderer. Schule in Deutschland müsste sich einmal daranmachen,<br />
die ganzen Probleme, die in der Schule selbst existieren,<br />
auch selbst zu lösen. Das heißt: Schule muss sich neu denken,<br />
in dem Sinne, wie sie Schülern angemessen etwas anbieten<br />
kann, damit sie motiviert sind, damit sie gerne in die Schule<br />
kommen, damit sie Schule als einen Lebens- und Lernraum<br />
sehen. Ich finde es falsch und wirklich provozierend zu sagen,<br />
die Eltern verweigerten sich der Zusammenarbeit, sie seien<br />
nicht fähig dazu. Schule muss ihr Problem selbst lösen, das sollte<br />
man einmal probieren.<br />
Ein wichtiger Schritt dazu wäre es etwa, Eltern Einblick zu<br />
gewähren. In vielen asiatischen Schulen haben die Räume<br />
Fenster, damit man hineinschauen kann. Wenn Lehrer dazu<br />
bereit sind, wäre ein wichtiger Schritt getan, auch offen und<br />
ehrlich mit Eltern umzugehen. Weiterhin hat Schule bei uns<br />
ein Motivationsproblem, und das können nicht die Eltern<br />
lösen, das muss die Schule selbst lösen. Ich halte es für eine<br />
wichtige Aufgabe der Schule, auch in diesem Zusammenhang<br />
aktiv zu werden.<br />
Mein Ziel für Schule, um es ganz kurz und klar zu sagen, wäre<br />
die Abschaffung des gegliederten <strong>Bild</strong>ungssystems im Verbund<br />
mit einem Gesamtbildungsplan von 3 bis 16 Jahren. Die Pisa-Studien<br />
und auch der UNO-Bericht, der am 26. Februar 2007 veröffentlicht<br />
wurde, attestieren dem deutschen <strong>Bild</strong>ungssystem,<br />
dass unser Hauptproblem die frühe Gliederung, die Differenzierung<br />
nach dem 4. Schuljahr, ist, und weiterhin, dass das <strong>Bild</strong>ungssystem<br />
in der Gliederung Kindergarten, Grundschule und<br />
Sekundarstufen an seinen Übergängen Probleme erzeugt. Die<br />
Grundschule ist meines Erachtens momentan die innovativste<br />
<strong>Bild</strong>ungsinstitution in unserem System, an der wir uns orientieren<br />
sollten, und die Übergänge müssen sinnvoll gestaltet<br />
werden. Das kann nur mittels eines Gesamtbildungsplans<br />
erreicht werden.<br />
22
Wissen und <strong>Bild</strong>ung: Aufenanger/Brockmann/Rosenboom-Lehmann/Korte Blindtext<br />
STATEMENT<br />
Heinrich-Wilhelm Brockmann<br />
Wir in Deutschland sind an vielen Orten dabei, unsere Schulen<br />
mit einer größeren Eigenverantwortlichkeit auszustatten. Aus<br />
internationalen Vergleichen haben wir gelernt, dass Schulen,<br />
wenn sie sich mit eigener Verantwortung in vielen Bereichen<br />
selbst organisieren, viel erfolgreicher das Lernen organisieren<br />
und ihre Erfolge selbst überprüfen können. Das, was im internationalen<br />
Sprachgebrauch die »aktive« Schule heißt, muss das<br />
Ideal einer Schule mit größerem Freiraum an Organisation,<br />
Inhalten, aber auch Formen des Lernens sein. Dazu gehört aber<br />
auch größere Selbstverständlichkeit bei der Überprüfung der<br />
Erfolge des Lernens. Es gehört dazu auch eine sehr viel individuellere<br />
Form des Lernens und eine sehr viel stärkere Vertrautheit<br />
mit Medien. Da sind die Schülerinnen und Schüler manchmal<br />
den Lehrkräften erheblich voraus.<br />
dass wir nicht leichtfertig nur von der hehren <strong>Bild</strong>ung sprechen<br />
sollten. Ich bin überzeugt davon, dass Schule <strong>Bild</strong>ung am besten<br />
fördert, wenn sie vor allem den individuellen Zusammenhang<br />
ermöglicht. Sie muss helfen, dass Kinder und Jugendliche selbst<br />
darüber entscheiden: Was will ich, wie will ich sein, was ist<br />
meine Lebensperspektive, was will ich in eigener Regie für mein<br />
Leben verwirklichen aus dem, was ich gelernt habe? Diese Entscheidung,<br />
eine Wertentscheidung, ist aus meiner Sicht der<br />
eigentliche Beginn von <strong>Bild</strong>ung. Auf einen weiteren Aspekt<br />
möchte ich hinweisen:<br />
Alle Lehrerverbände beklagen immer wieder, dass es eine zu<br />
geringe Partnerschaft zwischen Elternhaus und Schule gibt. Das<br />
ist nach Schulformen sicher unterschiedlich – in der Grundschule<br />
sicherlich anders als in der Hauptschule –, aber die<br />
Zusammenarbeit zwischen Eltern und Schule ist ein dorniges<br />
Thema für Schule und Lehrkräfte. Wenn die Eltern sich verweigern,<br />
für die Kinder frühzeitig ein Partner zu sein, der ihnen<br />
„Ich bin überzeugt davon, dass Schule <strong>Bild</strong>ung am besten fördert, wenn sie vor allem den<br />
individuellen Zusammenhang ermöglicht. Sie muss helfen, dass Kinder und Jugendliche selbst<br />
darüber entscheiden: Was will ich, wie will ich sein, was ist meine Lebensperspektive, was will<br />
ich in eigener Regie für mein Leben verwirklichen aus dem, was ich gelernt habe? Diese Entscheidung,<br />
eine Wertentscheidung, ist aus meiner Sicht der eigentliche Beginn von <strong>Bild</strong>ung.“<br />
In der Schule der Zukunft werden wir uns sehr stark um das<br />
Thema kümmern müssen, wie <strong>Bild</strong>ung gelingt. Seitdem wir <strong>Bild</strong>ungsstandards<br />
in allen Ländern haben und Kompetenzen statt<br />
Inhalte als Ziele beschreiben, haben wir uns noch mehr darauf<br />
verständigt, dass wir in den Schulen <strong>Bild</strong>ung wollen und mit der<br />
Anhängung von Wissen nicht zufrieden sind.<br />
Frau Miketta hat gefragt, ob Schule das leisten kann, alle Kinder,<br />
wo auch immer sie herkommen und mit welchem Wissensstand,<br />
auf einen medienkompetenten gleichen Level zu bringen.<br />
Ich glaube, die Schule weiß, dass Kinder und Jugendliche<br />
relativ früh eine sehr umfassende, aber eben nicht geordnete<br />
Form des Umgangs mit Medien im umfassenden Sinne besitzen.<br />
Wir haben es mit einer Generation zu tun, die eine hohe Bereitschaft<br />
entwickelt, sich selbst zu erproben, was den Umgang<br />
mit den Medien angeht. Die bloße Fertigkeit ist nicht das Problem.<br />
Wie unsere Kinder mit Medien verantwortlich umgehen<br />
und welchen Umgang wir eigentlich wollen, das ist die entscheidende<br />
Frage: Können Kinder in der Schule ein Verhältnis zu<br />
Medien erlernen, das ihnen auch eine kritische Distanz ermöglicht,<br />
sodass sie mit Medien umgehen und diese Medien ihnen<br />
zu Diensten sind und sie nicht zu deren Opfern werden?<br />
Was mein Vorredner zum Thema Wissen oder Lernen und <strong>Bild</strong>ung<br />
gesagt hat, würde ich teilen. Ich möchte unterstreichen,<br />
hilft, sich schrittweise ganz persönlich zu entwickeln, und<br />
wenn sie das nicht in Zusammenarbeit mit der Schule tun<br />
mögen, aus welchen Gründen auch immer, dann können Lernen<br />
und <strong>Bild</strong>ung nicht gelingen.<br />
Ich saß kürzlich im Intercity, vor mir saß ein Ehepaar, das engagiert<br />
eine renommierte deutsche Wochenzeitung las. Der vor<br />
ihnen sitzende Sohn spielte mit einem Spielzeug und richtete<br />
gelegentlich Fragen an die Eltern, worauf diese immer mit der<br />
gleichen stereotypen Antwort reagierten: „Hast du nichts zu<br />
spielen? Komm, ich hol dir was.“ Es war grauenvoll anzusehen,<br />
wie die Eltern ein Kind, das offensichtlich Fragen hatte und<br />
sich entwickeln wollte, abspeisten. Ich will keineswegs behaupten,<br />
dass das typisch ist, sondern an diesem Negativbeispiel<br />
verdeutlichen, dass es von diesen ersten Fragen von Kindern bis<br />
zur Kommunikation mit der Schule ein Engagement der Eltern<br />
geben muss, ohne das Schule nicht gelingen kann.<br />
In Bezug auf die Trennung der Aufgaben von Elternhaus und<br />
Schule bin ich anderer Ansicht als Herr Aufenanger. Erziehung<br />
bestimmen nach der Verfassung in Inhalt und Richtung die<br />
Eltern. Darum kann sie in der Schule nur in Zusammenarbeit mit<br />
den Eltern gelingen. Ich bin darum nicht sicher, ob das französische<br />
System mit dieser Trennung der Zuständigkeiten wie<br />
geschildert existiert und gerade auf diese Weise erfolgreich ist.<br />
23
Die Schule ist dafür zuständig, durch Beratung und Qualifizierung<br />
die Voraussetzungen für <strong>Bild</strong>ung zu schaffen. Das aber kann<br />
nicht gelingen, wenn die Eltern dabei nicht mitwirken wollen – begleitend,<br />
partizipierend und sich informierend, sodass sie an dem<br />
<strong>Bild</strong>ungsprozess ihrer Kinder Anteil nehmen und ihn unterstützen.<br />
Ich glaube, wir sind uns einig in Bezug auf das, was Eltern und<br />
Schule in ihren unterschiedlichen Situationen tun müssen.<br />
Allerdings ist das Verhältnis von Eltern und Schule immer eine<br />
Aufgabe. In einer Veröffentlichung des Bundeselternrats vom<br />
letzten Jahr wird beklagt, dass die Eltern in der Schule vor allem<br />
zum Kuchenbacken, beim Klassenfest und zum Umgestalten des<br />
Schulhofs herangezogen würden. Das ist keine Verantwortung,<br />
mit der Eltern zufrieden sein können. Darum haben wir in<br />
Niedersachsen eine Verfassungsreform der Schule angestoßen,<br />
in deren Rahmen auch ein neuer Schulvorstand eingeführt<br />
wurde mit einem 25-prozentigen Stimmrecht der Eltern. Wir<br />
müssen wirklich noch lernen, dass die Partnerschaft, die Schule<br />
und Eltern eingehen müssen, eine sehr fruchtbare Form des<br />
Zusammenarbeitens werden kann, die der Schule und den Kindern<br />
große Chancen bietet.<br />
Eines würde ich mir am Schluss für die nähere Zukunft wünschen.<br />
Es ist vielleicht nicht der wichtigste Punkt aller unserer<br />
Schulreformen, aber ich glaube, dass wir hierin in Deutschland<br />
großen Nachholbedarf haben: Wir müssen Formen des ganz<br />
individuellen Förderns für Kinder und Jugendliche in allen<br />
Altersstufen entwickeln, diese erfolgreich erproben und zu<br />
einer typischen Form des Lernens, Lehrens und <strong>Bild</strong>ens in der<br />
Schule machen. Das ist jetzt zwar sehr plakativ gesagt, aber<br />
dass Lernen ein sehr persönlicher Lebensweg ist, das ist mir für<br />
viele unserer Reformen sehr wichtig.<br />
STATEMENT<br />
Swantje Rosenboom-Lehmann<br />
Kann die neue digitale Welt ein Promoter für <strong>Bild</strong>ung sein?<br />
Meine älteste Tochter ist 1984 geboren und hat irgendwann in<br />
der Oberstufe ihr erstes von mir ausrangiertes Laptop bekommen,<br />
natürlich ohne Internetanschluss, aber sie war Weltmeisterin<br />
darin, in MS-Word ihre Texte zu schreiben. Meine beiden<br />
nächsten Kinder, Jahrgang 1995 und 2000, haben schon im<br />
Alter von drei, vier Jahren mit großer Begeisterung auf den PC-<br />
Tastaturen herumgedrückt und geschaut, was sich dadurch<br />
bewegen lässt. Es gibt sehr ansprechende Spielprogramme für<br />
Kleinkinder, und die Kinder kommen völlig selbstverständlich<br />
damit zurecht. Die älteren lernen, natürlich immer unter starker<br />
Anleitung, Nachschlagewerke digital zu nutzen, sich Wissen<br />
digital anzueignen, zu suchen, es zu bewerten und einzubauen<br />
in die eigene Fragestellung.<br />
Aus der Beobachtung meiner eigenen Kinder heraus würde ich<br />
sagen, dass sich die Welt in den letzten 20 Jahren entscheidend<br />
verändert hat. Die Kinder haben einen ganz entspannten und<br />
selbstverständlichen Zugang zu dieser Technik. In den meisten<br />
Schulen, jedenfalls im Osten von Ostberlin, wo ich wohne, stoßen<br />
sie allerdings auf eine Schulinfrastruktur, in der der Lehrer<br />
einmal im Monat und mit Schweißperlen auf der Stirn in den<br />
Medienraum geht. Aber nichtsdestotrotz ist es sehr, sehr wichtig,<br />
dass dieser Weg weiter vorangetrieben wird. Wir als Hersteller<br />
von Software halten es für überaus wichtig, dass die<br />
Kluft zwischen den Kindern, die von ihren Eltern an digitale<br />
Lerninhalte herangeführt werden, und denjenigen Kindern, die<br />
diese sorgsame Unterstützung von zu Hause nicht haben, überbrückt<br />
wird, damit sie, wenn sie später eine Lehre machen,<br />
nicht völlig entgeistert vor einem kleinen banalen Rechenprogramm<br />
sitzen und die einfachsten Excel-Formatierungen nicht<br />
hinbekommen. Gerade hier halte ich es für eine zentrale Forderung,<br />
die sozialen Hintergründe der Kinder mit zu betrachten.<br />
Die Kinder, die von zu Hause diese Chance nicht haben, sollten<br />
in der Schule den selbstverständlichen Umgang mit den neuen<br />
Medien genauso lernen können wie alle anderen Kinder auch.<br />
Meines Erachtens wird der <strong>Bild</strong>ungsauftrag, den wir für die<br />
nächste Generation haben, immer dringlicher. Wir sollten diesen<br />
Auftrag noch viel, viel ernster nehmen, als wir das heute<br />
tun. Die Statistiken sagen uns, wie viele Kinder heute pro Jahrgang<br />
der sozialen Unterschicht angehören oder aus einem ethnisch<br />
nichtdeutschen Hintergrund kommen. Diese Zahlen veranschaulichen,<br />
dass wir eine immense Arbeit vor uns haben. Ich<br />
persönlich glaube, dass wir jede Methode nutzen sollten, diese<br />
jungen Menschen durch unsere <strong>Bild</strong>ungsanstrengungen zu integrieren.<br />
Das digitale Lernen vermag aufgrund seines höheren<br />
Spaßfaktors, diese Kinder besser anzusprechen. Entlang dieser<br />
Chancen sollten wir uns weiter ausrichten.<br />
Das Nachrichtenmagazin Focus-Schule hat zusammen mit Microsoft<br />
eine große Studie in Auftrag gegeben. Hierfür wurden<br />
Eltern, Lehrer und Entscheider aus der Wirtschaft gefragt, wie<br />
<strong>Bild</strong>ung besser werden kann. 62 Prozent der befragten Lehrer<br />
glauben, dass sie heute eher Lerntechniken vermitteln als Wissen<br />
und dass ihr Selbstverständnis sich geändert hat. Lehrer<br />
haben wohl auch schon vor fünfzig Jahren die Kompetenz zum<br />
Lernen vermittelt. Dass sie sich methodisch im Aufbruch befinden<br />
und sicherlich auch so fühlen, das glaube ich schon. Es gibt<br />
eine ganz erfreuliche Bewegung innerhalb der Lehrerschaft,<br />
sich mit den digitalen Medien auseinanderzusetzen, sich in<br />
Gemeinschaft mit den großen Landesbildstellen fortzubilden.<br />
Auf diesem Feld kann man eigentlich überall eine sehr schöne<br />
Bewegung wahrnehmen, und das strahlt auch stark in die Lehrerzimmer<br />
hinein. Selbst Kollegen, die vielleicht kurz vor ihrem<br />
60. Lebensjahr stehen, nehmen noch dieses Gefühl mit, dass<br />
sich etwas tut, wenngleich sie vielleicht nicht aktiv daran teilnehmen.<br />
Ich bin aufgrund unserer Perspektive auf dieses Feld<br />
eigentlich ganz optimistisch.<br />
Ein bisschen ketzerisch möchte ich zu unserer Diskussion anfügen,<br />
dass wir dazu tendieren, Scheingefechte auszutragen. Wir<br />
sitzen hier als Vertreter der Mittelschicht und haben zu Hause<br />
alles schön und fein. Die Kinder lernen Latein, Englisch und<br />
24
Wissen und <strong>Bild</strong>ung: Aufenanger/Brockmann/Rosenboom-Lehmann/Korte Blindtext<br />
„Die Statistiken sagen uns, wie viele Kinder heute pro Jahrgang der sozialen Unterschicht<br />
angehören oder aus einem ethnisch nichtdeutschen Hintergrund kommen. Diese Zahlen veranschaulichen,<br />
dass wir eine immense Arbeit vor uns haben. Ich persönlich glaube, dass wir<br />
jede Methode nutzen sollten, diese jungen Menschen durch unsere <strong>Bild</strong>ungsanstrengungen<br />
zu integrieren.“<br />
wenn es geht auch noch Französisch: Wir dürfen das nicht als<br />
großes Ganzes nehmen. Microsoft unterstützt sehr viele Projekte<br />
in Schulen, die in sozialen Brennpunkten liegen. Unsere<br />
Erfahrung ist, dass die Lehrer die Eltern nicht erreichen. Diese<br />
Eltern wollen auch nicht erreicht werden, weil sie in dieser<br />
Gesellschaft nicht angekommen sind. Dort sitzen völlig desillusionierte<br />
Kinder ohne Perspektive, die zwischen Aggression und<br />
Langeweile oszillieren. Sie wissen nicht, wohin mit ihrer Kraft<br />
und Energie. Über dieses Drittel oder vielleicht sogar über diese<br />
Hälfte müssen wir diskutieren. Um unsere Kinder, so wie wir<br />
hier sitzen, mache ich mir keine Sorge, egal, welchem Schulsystem<br />
sie ausgesetzt sind oder welchen Lernmethoden. Wir<br />
vergessen leicht, dass das die Realität ist, der wir uns als Gesellschaft<br />
stellen müssen, und dass darin die eigentlich harte Aufgabe<br />
besteht, für die Lehrer, für die Politik, für uns, die wir uns<br />
dort engagieren, und letztendlich auch für uns als Gesellschaft.<br />
Ich bin in diesem Punkt immer sehr leidenschaftlich und daher<br />
sage ich: Wir brauchen jedes Kind. Jedes Kind muss sich zu dem<br />
Maximum dessen entwickeln dürfen und können, was in ihm<br />
steckt. In der Vergangenheit haben wir da eine fahrlässige Großzügigkeit<br />
an den Tag gelegt; der Rost, durch den viele Kinder<br />
fallen, ist noch immer sehr breit.<br />
Wir müssen in Bezug auf unseren <strong>Bild</strong>ungsauftrag den Fokus<br />
weg von unserer eigenen Mittelschicht verschieben hin zu denjenigen,<br />
die mit uns zusammen in unserem Staate leben. Im<br />
Übrigen möchte ich mich den Ansätzen meiner Vorredner<br />
anschließen. Nur so ist die Integration aller Kinder und eine<br />
Fürsorge für alle Kinder, die von Haus aus diese Chance nicht<br />
haben, zu realisieren.<br />
STATEMENT<br />
Martin Korte<br />
Wissen ist nicht gleich <strong>Bild</strong>ung, weil Letztere Ersteres zur Voraussetzung<br />
hat. Das heißt, um gebildet zu sein, muss ich etwas<br />
wissen, aber Wissen allein ist nicht <strong>Bild</strong>ung. Denn <strong>Bild</strong>ung<br />
bedeutet immer, dass ich das, was ich weiß, auch in einen<br />
geschichtlichen Kontext stellen, dass ich es hinterfragen und<br />
kritisch beurteilen kann. Ich muss wissen, woher dieses Wissen<br />
kommt, das heißt, <strong>Bild</strong>ung geht über das hinaus, was in Shows<br />
wie „Wer wird Millionär“ usw. als reines Wissen abgefragt wird.<br />
Sie umfasst immer die Vernetztheit des Wissens. Neurobiologisch<br />
kann man noch sagen, dass Wissen natürlich für <strong>Bild</strong>ung<br />
wichtig ist, weil ich mir immer nur neues Wissen aneignen<br />
kann, wenn ich es mit etwas Altem verknüpfen kann. Das liegt<br />
schlichtweg daran, wie Nervenzellen in unseren Gehirnen Informationen<br />
speichern. Sie tun es nämlich am einfachsten über<br />
Assoziation, und Assoziation heißt in diesem Fall, etwas Neues<br />
mit etwas Altem in Beziehung setzen und darüber einen Wissensschatz<br />
anhäufen. Aber <strong>Bild</strong>ung geht immer darüber hinaus,<br />
weil sie erlaubt, das Wissen auch einzuordnen, egal ob es naturwissenschaftlich,<br />
geschichtlich, medienkompetent oder künstlerisch<br />
ist.<br />
Was sagt die Hirnforschung dazu? Unser Gehirn hat sich in den<br />
letzten 100 000 Jahren nicht großartig verändert, so schnell<br />
ändert sich ja genetisch nichts. Was macht also unser Gehirn<br />
mit all diesen neuen Entwicklungen? Es sucht von Natur aus<br />
nach einer gewissen Befriedigung, nach bestimmten Regeln.<br />
Selbstverständlich ist es beeindruckbar, wenn in kürzester Zeit<br />
viele Sinnessysteme angesprochen werden. Hier können Computersysteme<br />
hilfreich sein. Sie können korrigieren, Dinge visualisieren.<br />
Beim Lernen gibt es eine ganze Reihe von Aspekten,<br />
wo Medien sehr erfolgreich sein können. Wir sehen beispielsweise<br />
an der Fehlnutzung von Medien, wie empfänglich das<br />
Gehirn für gewisse Informationen ist. Nehmen wir einmal die<br />
Computerspiele, die einem suggerieren, dass hinter der nächsten<br />
Mauer die Lösung verborgen sei, das heißt die Belohnung<br />
wartet. Unser „Erwartungssystem“ wird so die ganze Zeit über<br />
aktiviert sein. Ein Lehrer braucht eine 45-minütige Schulstunde,<br />
um einen Stoff zu entwickeln. In meinem Programm kann<br />
ich jede Minute eine neue Entscheidung treffen, die mir verspricht,<br />
anschließend eine Belohnung zu erhalten. Und darauf<br />
spricht das Gehirn ungeheuerlich stark an. Ich kann diesen<br />
Effekt für das Lernen nutzen, weil ich Programme so bauen<br />
kann, dass dann, wenn man etwas richtig macht, eine Figur<br />
irgendetwas Lustiges anstellt, es ein akustisches Signal gibt,<br />
der <strong>Bild</strong>schirm die Farbe ändert usw. Das wäre die positive<br />
Anwendung. Der missbräuchliche Aspekt wäre, dass ich Menschen<br />
auf dieses Weise aber auch süchtig machen kann.<br />
Ein weiteres Moment, das eine Rolle spielt, ist, dass auch Kinder<br />
ihre Zeit natürlich nur einmal ausgeben können. Und daher<br />
25
isschen politisch en vogue, die Schulen, wenn man was tun<br />
will, mit immer noch mehr Computern zu bestücken. Die sind<br />
dort sicher auch gut investiert, aber sie stellen ganz sicher keinen<br />
Ersatz für <strong>Bild</strong>ungspolitik dar.<br />
„Mein zweiter und zentraler Einwand ist, dass der Begriff des Lernens viel wichtiger ist als<br />
der Begriff des Wissens. Was Schule heute vermitteln muss, ist, das Lernen zu lernen, damit<br />
die Schülerinnen und Schüler erfahren, wie sie sich Wissen aneignen, wie sie damit umgehen,<br />
wie sie Neues in ihr Vorwissen einbauen können.“<br />
muss ein Kind heute lernen, mit Medien umzugehen. Das ist ein<br />
schlichtes Faktum. Also müssen wir Kindern die Kompetenz an<br />
die Hand geben. Genauso, wie man früher gelernt hat, mit<br />
einem Bleistift zu schreiben und diesen vorher anzuspitzen,<br />
muss man heute lernen, mit dem Computer umzugehen. Und<br />
man muss auch lernen, damit umzugehen, wie man damit<br />
umgeht: was man sich anschaut, wie lange man sich etwas<br />
anschaut. Dabei ist mir ganz wichtig, dass natürlich auch noch<br />
Erfahrungen außerhalb der Schule und außerhalb des Computerund<br />
Fernsehgerätes stattfinden. Das heißt: Es ist toll, wenn<br />
man weiß, wie man im Computer Wasser simuliert, aber ich<br />
muss auch noch wissen, wie sich Wasser anfühlt. Beides ist<br />
wichtig. Das verlangt nach einem sehr guten Zeitmanagement.<br />
Denn wir dürfen das Leben unserer Kinder nicht mit jeder<br />
neuen Erfindung vollpacken und von ihnen zugleich verlangen,<br />
dass sie das Bisherige aber auch noch leisten. Wir müssen sehr<br />
gut aufpassen, wofür unsere Kinder ihre Zeit aufwenden. Im<br />
Moment ist die Tendenz statistisch gesehen so, dass jedenfalls<br />
die Jungen viel zu viel Zeit vor dem Fernseher und vor dem<br />
Computer verbringen. Das geht u. a. auf Kosten der Lesezeit,<br />
der Lektüre von Büchern, Zeitschriften usw.<br />
Es gibt ja die Ansicht, dass man den Fernseher ganz verbannen<br />
und den Computer erst möglichst spät zulassen sollte, das sei<br />
für die Kinder sehr viel besser. Das ist zunächst einmal eine<br />
Frage der Pragmatik. Wenn die Kinder in solchen Fällen nicht zu<br />
Hause, sondern beim Nachbarn fernsehen, hat man noch weniger<br />
Kontrolle darüber, als wenn man den Fernseher selber<br />
zulässt. Meiner Auffassung nach lernt man Medienkompetenz<br />
nicht dadurch, dass man den Kontakt mit dem Medium unterbindet.<br />
Ich befürchte, dass dies eher zum Gegenteil führt. Man<br />
muss sich nur den Alkoholkonsum der College-Studenten in den<br />
USA angucken, für die ein striktes Alkoholverbot bis 16 oder 17<br />
herrscht. Fakt ist, dass sie mehr trinken als unsere 18-Jährigen.<br />
Es ist notwendig, eine Kompetenz zu erwerben, und dies funktioniert<br />
nur im Umgang mit dem Medium. Wir haben gerade<br />
von Herrn Aufenanger gehört, dass wir uns nicht als die von<br />
den Medien Getriebenen fühlen sollten, sondern diese einsetzen<br />
sollten, wo sie sinnvoll sind. Nicht alles, was neu ist, muss<br />
auch sofort eingesetzt werden. Das bedeutet etwa für den Kindergarten,<br />
dass dort durchaus ein Computer herumstehen darf,<br />
die Kinder sollten keine Angst davor haben, sie sollen darauf<br />
rumklicken können, aber sie sollten noch im Sandkasten spielen<br />
und nicht die ganze Zeit am Computer rumtippen. Es ist ein<br />
Um noch einmal auf die Frage <strong>Bild</strong>ung oder Wissen zurückzukommen:<br />
Wissen gibt es schon bei Weitem genug. Das Problem<br />
ist die Zuverlässigkeit des Wissens. Einer der Nachteile der<br />
neuen Medien – Wikipedia ist ja nur ein Beispiel – ist die mangelnde<br />
Zuverlässigkeit des Wissens. An der Encyclopedia Britannica<br />
haben 20 Nobelpreisträger mitgeschrieben, das ist bei Wikipedia<br />
einfach nicht der Fall. Unser Ziel muss es aber sein, in Bezug<br />
auf Wissen eine gewisse Zuverlässigkeit herzustellen. Diese Problematik<br />
macht es auch für die Kinder schwieriger, sich zu<br />
orientieren, weil zu viel Wissen mit einem Klick zur Verfügung<br />
steht. Doch dagegen will ich gar nicht polemisieren. Folgender<br />
Hinweis soll genügen: Ein Gehirn ist ein regelsuchendes System,<br />
und in einem Wust von Informationen, die bei der Suche<br />
im Internet unsortiert daherkommen, wird nach oben gespült,<br />
was alle zufällig als Erstes anklicken. Es gibt nicht immer stringente<br />
Kriterien dafür, warum etwas an erster Stelle aufgeführt<br />
ist. Was wir leisten müssen, was eben auch die Schulen und die<br />
Medien werden leisten müssen, ist, den Kindern einen Leitfaden<br />
an die Hand zu geben, anhand dessen sie Wissen bewerten<br />
können. Und wir werden deshalb wohl nicht drumherum kommen,<br />
wieder eine Wertediskussion über bestimmte Inhalte zu<br />
führen. Nicht etwa, um sie den Kindern aufzuoktroyieren –<br />
diese Zeiten sind vorbei.Aber die Kinder brauchen Orientierung,<br />
um sich in diesem Meer an Wissen zurechtfinden zu können.<br />
Bevor ich zur Beantwortung der Frage komme, wie das zu schaffen<br />
sei, möchte ich gerne zuvor noch zwei Einwände zu unserer<br />
Diskussion vorbringen. Zum einen bin ich der Ansicht, dass die<br />
Differenz zwischen Wissen und <strong>Bild</strong>ung den Begriff der Information<br />
außer Acht lässt. Die Sendung „Wer wird Millionär“<br />
würde ich eher als eine Informationsvermittlung denn als eine<br />
Wissensvermittlung bezeichnen, denn Wissen impliziert, dass<br />
ich weiß, wie ich Informationen sinnhaft einsetze, welche Kontexte<br />
Bedeutung haben. Und das lernt man weder bei Günther<br />
Jauch noch in vielen Unterrichtsfächern. Das Zweite ist, dass ich<br />
es als eine Engführung des <strong>Bild</strong>ungsbegriffs ansehe, wenn man<br />
sagt, bei <strong>Bild</strong>ung gehe es darum, Wissen im Kontext und in historischem<br />
Zusammenhang zu sehen. Wir verstehen heute in der<br />
Erziehungswissenschaft <strong>Bild</strong>ung schon etwas weiter: <strong>Bild</strong>ung<br />
26
Wissen und <strong>Bild</strong>ung: Aufenanger/Brockmann/Rosenboom-Lehmann/Korte Blindtext<br />
hat zu tun mit Differenzerfahrung, nämlich damit, das Andere<br />
als etwas Selbstverständliches anzusehen. Dieses Verständnis<br />
kommt aus der interkulturellen <strong>Bild</strong>ung, wo wir heute definieren,<br />
dass <strong>Bild</strong>ung etwas ist, was mit Persönlichkeit zu tun hat.<br />
Mein zweiter und zentraler Einwand ist, dass der Begriff des<br />
Lernens viel wichtiger ist als der Begriff des Wissens. Was Schule<br />
heute vermitteln muss, ist, das Lernen zu lernen, damit die<br />
Schülerinnen und Schüler erfahren, wie sie sich Wissen aneignen,<br />
wie sie damit umgehen, wie sie Neues in ihr Vorwissen<br />
einbauen können. Für jede der hier erwähnten Komponenten –<br />
also Information, Wissen, <strong>Bild</strong>ung und Lernen – können Medien<br />
besondere Bedeutung haben. In dem Bereich, der bisher vernachlässigt<br />
worden ist, nämlich der Bereich des Lernen Lernens,<br />
brauchen wir viel mehr kreative Anwendungen, die das<br />
Lernen vermitteln, also weniger Vokabeltrainer als kreative Programme<br />
oder Programme, bei deren Anwendung ich gezwungen<br />
werde, mich intensiv mit bestimmten Problemen auseinanderzusetzen.<br />
Auch wenn wir <strong>Bild</strong>ung als Differenzerfahrung sehen,<br />
vermögen die neuen Medien als Kommunikationsmedien genau<br />
diese Differenz zu Anderen deutlich zu machen, beispielsweise<br />
in Gestalt von E-Mail-Projekten oder Diskussionsforen mit Schülern<br />
aus anderen Gegenden der Welt. Hier ist es Schülerinnen<br />
und Schülern möglich, Erfahrungen zu sammeln, die für <strong>Bild</strong>ungsprozesse<br />
ganz bedeutsam sind.<br />
Natürlich sollten Elternhaus und Schule hierbei Hand in Hand<br />
arbeiten. Ich kann nicht erwarten, dass Kinder einer Institution<br />
gegenüber den geringsten Respekt empfinden, wenn sie jeden<br />
Tag dorthin geschickt werden mit bösen Worten über das deutsche<br />
Schulsystem, über das schlechte Abschneiden bei Pisa,<br />
über die blöden Lehrer, die ständig Fehler machen usw. Lernen<br />
ist immer kontextabhängig. Es hängt vom Schulgebäude ab,<br />
vom Stuhl, auf dem ich sitze, und davon, mit welchen emotionalen<br />
Grundeinstellungen ich das Ganze angehe. Es hängt<br />
weiterhin von allen Personen ab, die daran beteiligt sind. Das<br />
kann ich nicht in zwei Kunstwelten trennen. Man kann sich im<br />
Dialog mit den Eltern darüber einigen, wer welche Aufgaben in<br />
diesem Erziehungsbereich übernimmt. Wenn die Eltern das<br />
Lesenlernen oder das Erlernen von Medienkompetenz in die<br />
Schule verweisen wollen, dann kann man das machen. Es muss<br />
nur eine klare Absprache erfolgen. Ein Dialog auf der Ebene des<br />
gegenseitigen grundsätzlichen Verständnisses füreinander, in<br />
dem die Schule akzeptiert, dass die Eltern ihre Probleme haben,<br />
und die Eltern akzeptieren, dass die Schule ihre Probleme hat,<br />
könnte enorm viel bewirken. Es gibt eine große OECD-Umfrage<br />
darüber, welche Institution nach Ansicht der Befragten das<br />
größte Vertrauen genießt: Auf Platz 1 stehen die Schulen. Doch<br />
nicht in Deutschland, da ist die Polizei auf Platz 1; Schulen<br />
kommen bei uns erst auf Platz 12. Dass die Polizei auf Platz 1<br />
steht, finde ich gar nicht schlimm, aber es spricht doch für<br />
sich. Interessanterweise ist die Korrelation zwischen dieser<br />
Umfrage und den Pisa-Ergebnissen viel größer als die zwischen<br />
Schulsystemen.<br />
All die Diskussionen, die wir im Moment haben, und die Strukturreformen<br />
sind ohne Zweifel berechtigt und notwendig. Was<br />
wir aber dabei nicht vergessen dürfen, ist, dass sich bei uns<br />
dringend etwas an der Akzeptanz, die Schule entgegengebracht<br />
wird, ändern muss. Insofern hat Herr Aufenanger recht damit,<br />
dass wir auch im Auge behalten sollten, mit welchen Problemen<br />
Eltern sich heutzutage herumschlagen. Wir erleben gerade in<br />
den Medien die Diskussion um die Schaffung von Kinderbetreuungsplätzen<br />
usw. Es gibt also noch viele Schritte in Richtung<br />
Verständnis und Dialog, die gegangen werden können, und<br />
wenn dies im Sinne gegenseitiger Akzeptanz geschieht, kann<br />
sich das Verhältnis Elternhaus/Schule deutlich verbessern und<br />
entkrampfen. Wenn Vorschläge von den Eltern nicht als<br />
Beschwerden formuliert werden oder Anregungen aus der Schule,<br />
wie man zu Hause Dinge erledigen kann, nicht als Kritik aufgefasst<br />
werden müssen, wird sich vieles am Grundverhältnis<br />
zwischen der Institution Familie und der Schulinstitution<br />
untereinander verändern.<br />
Das ist das Schöne, wenn man auf dem Podium als Vierter an<br />
der Reihe ist: Man muss selbst nur eine These vorbringen, kann<br />
aber drei weitere vertreten, weil man sich seinen Vorrednern<br />
anzuschließen vermag. Selbstverständlich plädiere ich für die<br />
Individualisierung des Lernens sowie für die Durchlässigkeit der<br />
Systeme: Ich nenne nur ein Beispiel, wo dies angebracht wäre:<br />
Kindergarten und Grundschule; die Interaktion zwischen beiden<br />
geht gegen null. Hier haben wir ein Riesenproblem; ein<br />
weiteres besteht in Bezug auf die sogenannten bildungsfernen<br />
Familien und die Versuche, hier integrierend zu wirken. Ein Vorschlag<br />
in diesem Kontext ist die Einführung einer einjährigen<br />
Vorschule, was ich auch deswegen sehr begrüße, weil es eben<br />
die Durchlässigkeit zwischen den Systemen ein bisschen<br />
erleichtert. Ein ganz pragmatischer Wunsch, den ich abschließend<br />
nennen möchte, ist der – relativ triviale im Vergleich zu<br />
den drei wirklich grundlegenden Statements, die meine Vorredner<br />
vorgebracht haben –, dass Lehrer und auch Eltern ihre Fortbildung<br />
ernster nehmen sollten.<br />
27
Mit Qualitätsanalyse Schule entwickeln –<br />
Konzepte mit und ohne externe Evaluation<br />
Über das Thema Qualitätsanalyse im Kontext von Schule sprachen Marianne Demmer vom Bundesvorstand<br />
der GEW, Rainer Domisch vom Zentralamt für Unterrichtswesen aus Helsinki, Finnland, und<br />
Dr. Heinfried Habeck aus dem nordrhein-westfälischen Ministerium für Schule und Weiterbildung.<br />
Schule soll heute mehr Eigenverantwortung übernehmen – bei der Schulentwicklung wie auch bei der<br />
Profilbildung. Im Gegenzug wächst das Bedürfnis nach Qualitätskontrolle. In Nordrhein-Westfalen verfolgt<br />
man seit einiger Zeit das Konzept einer Evaluation durch externe Inspektion. In anderen Bundesländern<br />
hat man solche Wege schon beschritten. In Finnland ist man einen anderen Weg gegangen. Wie<br />
lässt sich Qualitätsanalyse in der Kooperation aller Beteiligten optimieren? Eine für das Gelingen der<br />
Nach-Pisa-Reformen zentrale Frage.<br />
Moderation: Christian Hümmeler, Redakteur Kölner Stadt-Anzeiger<br />
Eine Veranstaltung des<br />
Heinfried Habeck<br />
Heinfried Habeck, Dr., Grund-, Haupt- und Realschullehrer und Diplompädagoge, lehrte an Grundschulen,<br />
Orientierungsstufen, Hauptschulen, Realschulen und im Sek.-II-Bereich einer Gesamtschule. 17 Jahre lang<br />
Rektor. Im Kultusministerium Hannover und der Bezirksregierung Lüneburg für das Controlling von Unterrichtsversorgung<br />
und Personalplanung zuständig, bevor er in den Aufbaustab der Schulinspektion Niedersachsen<br />
wechselte. Heute im Ministerium für Schule und Weiterbildung des Landes Nordrhein-Westfalen<br />
Leiter des Arbeitsstabs für Grundsatzangelegenheiten des <strong>Bild</strong>ungswesens, eigenverantwortliche Schule,<br />
Qualitätsanalyse und -entwicklung sowie <strong>Bild</strong>ungsdialog.<br />
Marianne Demmer<br />
Marianne Demmer, geb. 1947, stellvertretende Vorsitzende der GEW, ist gelernte Grund- und Hauptschullehrerin.<br />
Sie trat 1970 in die GEW ein und hatte im Landesverband Nordrhein-Westfalen diverse Funktionen<br />
inne. Seit Juni 1997 leitet sie auf Bundesebene den Vorstandsbereich Allgemeine Schulen.<br />
28
Schulentwicklung durch Qualitätsanalyse: Blindtext/Blindtext: Habeck/Demmer/Domisch Blindtext Titel<br />
Rainer Domisch<br />
Rainer Domisch, geb. 1945 in Schwäbisch Hall. Lehrerstudium in den Fächern Deutsch und Englisch. Lehrer<br />
im baden-württembergischen Schuldienst. 1979-89 Entsandter Lehrer der Zentralstelle für das Auslandsschulwesen<br />
an der Deutschen Schule in Helsinki. 1989-91 Rückkehr in den Schuldienst in Baden-Württemberg.<br />
Seit 1991 Entsandter Fachberater für Deutsch im Rahmen der deutschen auswärtigen Kulturpolitik.<br />
Seit 1994 in der obersten Schulbehörde Finnlands, dem Zentralamt für Unterrichtswesen in Helsinki, Leiter<br />
der Lehrplankommission für das Fach Deutsch und zuständig für Lehrerfortbildungsmaßnahmen für Deutschlehrer<br />
in Finnland.<br />
STATEMENT<br />
Heinfried Habeck<br />
Ich bin gelernter Lehrer, war lange Jahre Schulleiter und bin seit<br />
geraumer Zeit in der Schulverwaltung tätig. Ich weiß also sehr<br />
wohl aus der Praxis, wovon ich hier spreche. Über das Thema<br />
Qualitätsanalyse spreche ich besonders gerne, weil das ein<br />
Bereich ist, hinter dem ich persönlich in besonderer Weise<br />
stehe. Und es macht natürlich Freude, Sachen zu vertreten, die<br />
man persönlich für die Schulen wertvoll findet. Mir ist es sehr<br />
wichtig, dass wir bei dem Begriff Qualitätsanalyse angelangt<br />
sind. Es gibt keinen Schul-TÜV, wie teilweise in der Presse so<br />
genannt, denn wenn Sie mit Ihrem Auto zum TÜV fahren, sagt<br />
man Ihnen nur, was an Ihrem Auto nicht funktioniert, was<br />
defekt ist, was schlecht ist. Die Qualitätsanalyse soll weit mehr<br />
tun. Sie soll der Schule ein breit gefächertes <strong>Bild</strong> liefern, von<br />
dem, was exzellent oder normal läuft, bis zu dem, was nicht<br />
funktioniert – und das würde kein TÜV machen. Von daher<br />
halte ich „Qualitätsanalyse“ doch für den sehr viel besser passenden<br />
Begriff.<br />
Warum das Ganze? Warum Qualitätsanalyse? Schulsysteme in<br />
Deutschland – 16 verschiedene haben wir ja immerhin – haben,<br />
so das Ergebnis der Pisa-Studien, nicht zu gut abgeschnitten.<br />
Und dieses weniger gute Abschneiden hat Gründe. Sich diesen<br />
Gründen zu nähern, ist sicherlich der richtige Weg. Über lange<br />
Jahre haben wir Schule weitgehend inputgesteuert betrachtet.<br />
Was stecken wir in das System, welche Ressourcen brauchen<br />
wir, wie viele Lehrerstellen werden benötigt, wie groß dürfen<br />
Klassen maximal sein? Wir haben aber nicht so recht gewusst,<br />
was bei der einzelnen Maßnahme der anschließende Effekt war.<br />
Das heißt: Unsere Outcome-Output-Betrachtung war schwach<br />
ausgeprägt. Deswegen betrachten wir jetzt, was in Schulen bei<br />
bestimmten Maßnahmen an Ergebnissen herauskommt: Auf die<br />
einzelne Schule bezogen heißt die Fragestellung: Was leistet die<br />
Schule, was tut sie, um sich zu entwickeln und zu verbessern?<br />
Auf das Gesamtsystem bezogen: Was kann <strong>Bild</strong>ungspolitik tun,<br />
29
meinetwegen im Hinblick auf Unterrichtsentwicklung, auf Lehrerfortbildung<br />
usw. Wir wollen Rückmeldung geben können zu<br />
dem, was bei unseren Bemühungen herauskommt.<br />
Dieses System der externen Erutation ist nicht in Nordrhein-<br />
Westfalen direkt erfunden worden, auch nicht in Deutschland,<br />
sondern ein Stück weit vorbildhaft für uns war das, was in den<br />
Niederlanden passiert ist. Die niederländische Schulinspektion<br />
war so etwas wie ein erster Anstoß dieser verschiedenen Visitationen,<br />
Inspektionen, Qualitätsanalysen in der Bundesrepublik.<br />
Wir arbeiten entsprechend eng mit unseren Nachbarn zusammen,<br />
denn ich glaube, dass man das Rad nicht immer neu erfinden<br />
muss. Wenn andere etwas gemacht haben, das ordentlich<br />
war, kann man sich daran sehr wohl orientieren. Entsprechend<br />
arbeiten innerhalb Deutschlands die Bundesländer eng zusammen<br />
im Austausch von Instrumenten, Qualitätstableaus, Maßnahmen,<br />
um zu sehen, was anderswo funktioniert oder auch<br />
nicht, und um sich so gegenseitig zu beraten.<br />
der Schule bekannten Daten ausgewertet. Aus diesen gesamten<br />
Erfahrungen lässt sich ein breit gefächertes Qualitätsbild der<br />
Schule ableiten. Die Schule bekommt im Anschluss eine sehr differenzierte<br />
mögliche Rückmeldung in insgesamt 28 Qualitätsaspekten,<br />
beispielsweise in Bezug auf den Unterricht, das Schulleitungshandeln,<br />
die Lernergebnisse usw. Und anschließend<br />
erfolgt auch ein schriftlicher Bericht.<br />
Wir haben bislang ca. 200 Schulen besucht und im Regelfall<br />
haben uns die Schulen rückgemeldet, dass sie sich fair behandelt<br />
fühlten. Vieles von dem, was ihnen widergespiegelt wird,<br />
haben sie zwar vage geahnt, aber nicht klar gewusst. Und dieser<br />
Unterschied ist den Schulen wichtig, weil sie nun in der<br />
Lage sind, Handlungsansätze zu finden, Bereiche, in denen sie<br />
sich verbessern möchten, wo sie weiterarbeiten möchten. Oder<br />
aber – das ist mindestens genauso wichtig –, dass Schulen endlich<br />
einmal ein verdientes Lob bekommen. Dass der Schule<br />
gesagt wird, dass sie in drei, vier oder mehr Qualitätsbereichen<br />
„Wir haben bislang ca. 200 Schulen besucht und im Regelfall haben uns die Schulen rückgemeldet,<br />
dass sie sich fair behandelt fühlten. Vieles von dem, was ihnen widergespiegelt wird,<br />
haben sie zwar vage geahnt, aber nicht klar gewusst. Und dieser Unterschied ist den Schulen<br />
wichtig, weil sie nun in der Lage sind, Handlungsansätze zu finden, Bereiche, in denen sie<br />
sich verbessern möchten, wo sie weiterarbeiten möchten.“<br />
Wie läuft eine Qualitätsanalyse in der Schule überhaupt ab? Es<br />
kommen zwei Schulaufsichtsbeamte – selbst ehemals Lehrer<br />
und Schulleiter –, die speziell für diese Aufgabe Qualitätsanalyse<br />
in Schulen ausgebildet worden sind. Wir haben hier also Personal,<br />
das tatsächlich für diesen neuen Berufszweig geschult<br />
worden ist. Im Rahmen dieser Schulung gibt es ausführliche<br />
Theoriephasen, Praxisphasen, begleitende Qualitätsanalysen,<br />
sodass die Prüfer nach und nach in ihre Aufgaben hineinwachsen<br />
und wir sicher sein können, dass sie dieser neuen Aufgabe<br />
tatsächlich gewachsen sind. Die beiden Qualitätsprüfer werden<br />
in der Schule lange vorher angemeldet, sodass die Schule mit<br />
der Untersuchung nicht überrumpelt wird. Alle Instrumente,<br />
die wir benutzen, ob es Unterrichtsbeobachtungsbögen sind<br />
oder andere Bewertungsbögen – werden ins Internet so eingestellt,<br />
dass die einzelne Schule sich diese Instrumente herunterladen<br />
und sehen kann, was auf sie zukommt.<br />
Die Qualitätsprüfer führen ausführliche Interviews mit den verschiedenen<br />
Gruppen in der Schule, mit Schulleitung, mit Teilnehmern<br />
der Lehrkräftegruppe, mit Elternvertreterinnern und<br />
-vertretern, mit Schülerinnen und Schülern, aber auch mit dem<br />
Hausmeister, der Sekretärin und anderen aus dem Umfeld. Bei<br />
Berufskollegs werden Partner aus der dualen Ausbildung interviewt.<br />
Dazu kommen Unterrichtsbeobachtungen bei mindestens<br />
der Hälfte der Lehrkräfte und außerdem werden die von<br />
exzellent sei. Wer hat denn bislang einer Schule eine solche<br />
positive Rückmeldung gegeben? Von daher sind die Schulen, das<br />
wissen wir, ganz zufrieden mit dieser Form der Rückmeldung.<br />
Irgendwann wird es einmal in Richtung Wettbewerb gehen können.<br />
Es ist erklärtes Ziel der Landesregierung, dass die Schulen<br />
mehr Eigenverantwortung bekommen, aber dadurch auch mehr<br />
in einen Wettbewerb untereinander treten. Bei generell sinkenden<br />
Schülerzahlen werden Schulen bemüht sein, die Schülerzahl<br />
in der eigenen Schule hoch zu halten. Dann wird man sich<br />
Gedanken machen, wie man die weniger werdenden Schüler<br />
anziehen kann. Auf der anderen Seite sind Schulen, die sogenannte<br />
Wettbewerbsnachteile haben, entsprechend zu fördern.<br />
Wir haben jetzt einen Sozialindex aufgelegt, auf die einzelnen<br />
Landkreise oder Städte bezogen, und aufgrund dieses Index<br />
werden Lehrerstellen verteilt. Das heißt, stärker belastete Landkreise<br />
oder Städte bekommen mehr Stellen als solche, die weniger<br />
belastet sind, damit man hier entsprechend mehr präventiv<br />
fördern kann.<br />
Das Ergebnis der Qualitätsprüfung bekommt der Schulleiter, die<br />
Schulleiterin, aber mit der Verpflichtung, es der Schulöffentlichkeit,<br />
sprich: der Lehrerkonferenz, den dort arbeitenden<br />
Menschen, aber auch den anderen Beteiligten der Schulkonferenz<br />
und der Mitwirkungsgremien und dem Schulträger<br />
30
Schulentwicklung durch Qualitätsanalyse: Habeck/Demmer/Domisch Blindtext<br />
bekannt zu geben, damit es entsprechend öffentlich werden<br />
kann. Denn dieses Ergebnis stellt kein Geheimnis dar; es soll<br />
der Qualitätsentwicklung dienen. Wenn eine Schule weiß, wo<br />
genau ihre Schwächen liegen, dann kann sie daraus Ansätze<br />
dafür entwickeln, wo sie sich verbessern möchte. Sicherlich<br />
muss sie dazu auch Ressourcen, Fortbildungsangebote und<br />
weitere Unterstützung bekommen. Aber es ist mit Sicherheit<br />
effektiver, wenn die Schule selbst fordert und wünscht, was<br />
sie benötigt.<br />
Ein weiterer Punkt: Dass wir die externe Evaluation in Nordrhein-Westfalen<br />
per Qualitätsanalyse in dieser Form institutionalisiert<br />
haben, bedeutet nicht, dass wir interne Evaluation<br />
in Schulen nicht wollen. Das sind zwei Seiten der gleichen<br />
Medaille. Schule soll und muss sich auch selbst mit den Ergebnissen<br />
ihrer Arbeit auseinandersetzen. Dazu gehört selbstverständlich<br />
auch eine interne Evaluation mit einem festen<br />
Instrumentarium, welches sich die Schule selbstständig aussuchen<br />
kann, wobei wir als Ministerium das Instrument SEIS<br />
(Selbstevaluation in Schulen) empfehlen. Es ist wichtig, dass<br />
Schulen sich selbst auf den Weg machen, die eigene Qualität<br />
betrachten und dass Optimierungsprozesse in Gang kommen.<br />
Ideal wäre für mich, wenn man Schule zeitnah intern und<br />
extern betrachten und dabei entsprechende Übereinstimmungen<br />
feststellen würde.<br />
Es reicht zur Qualitätsverbesserung von Schule nicht aus, sich<br />
nur mit harten Daten zu beschäftigen. Durchschnittsnoten,<br />
Abschlussergebnisse, Zentralabitur oder Ähnliches sind sicherlich<br />
Fakten, an denen sich Qualität ablesen lässt, aber es gibt<br />
auch eine ganze Reihe von sogenannten weichen Faktoren. Die<br />
sind natürlich nicht direkt messbar, sondern nur dadurch zu erheben,<br />
dass man entsprechende Interviews mit verschiedenen<br />
Gruppen führt, indem ich etwa den Eltern, den Lehrkräften und<br />
dann auch den Schülern die gleiche – oder etwas variierte –<br />
Frage stelle. Erhalte ich weitgehend übereinstimmende Auskünfte,<br />
dann gehe ich davon aus, dass sich an dieser Stelle ein<br />
<strong>Bild</strong> von Schule ergibt, das tragfähig ist. Widersprüchlichkeiten<br />
zwischen den Gruppen wiederum geben mir ebenfalls Informationen<br />
über das, was sich in den entsprechenden Bereichen<br />
abspielt.<br />
Ich möchte Ihnen einige dieser „weicheren“ Bereiche aus unserem<br />
Qualitätstableau nennen. Zum Beispiel gehört dazu die<br />
Zufriedenheit der Beteiligten, das heißt die Zufriedenheit der<br />
Schülerinnen und Schüler, der Eltern, mit dieser Schule und die<br />
Zufriedenheit der Lehrkräfte mit ihrem Arbeitsplatz. Lebensraum<br />
Schule, soziales Klima, Arbeitsbedingungen und Kooperation<br />
der Lehrkräfte – all dies sind „weiche“ Faktoren, die etwas<br />
über die Lern- und Arbeitsumgebung aussagen. Guter Unterricht<br />
hängt nicht zuletzt auch davon ab.<br />
Ich selbst war an mindestens 30 Schulinspektionen in Niedersachsen<br />
sowie Qualitätsanalysen in Nordrhein-Westfalen beteiligt<br />
und habe hierbei erfahren, dass ein gut abgesichertes<br />
Instrumentarium ausgesprochen tragfähige Ergebnisse liefert.<br />
Dies können wir dadurch gewährleisten, dass wir unsere Qualitätsprüfer<br />
entsprechend ausgebildet und vorbereitet haben.<br />
Unter den Qualitätsprüfern findet regelmäßig eine Selbstvergewisserung<br />
darüber statt, dass man das, was man sieht, auch<br />
als gleich bewertet. Die beiden Prüfer, die gemeinsam in eine<br />
Schule gehen, sind gehalten, sogenannte Eichungsbesuche im<br />
Unterricht zu machen, das heißt, zwei, drei, vier Unterrichtsstunden<br />
gemeinsam zu besuchen und sicherzustellen, dass sie<br />
das, was sie sehen, auch vergleichbar bewerten.<br />
Wenn das System der externen und der internen Evaluation etabliert<br />
ist, dann kommt man immer weiter dorthin, auf einer<br />
Metaebene arbeiten zu können, das bedeutet, dass externe Prüfer<br />
in die Schule kommen und nachfragen würden, was dort<br />
intern evaluiert wurde, wie damit gearbeitet oder umgegangen<br />
wurde.<br />
Erlauben Sie mir ein letztes Wort zu den Finanzen, die hier auch<br />
angesprochen wurden. Ich weiß für Nordrhein-Westfalen sicher,<br />
dass in den letzten beiden Jahren der Betrag, der für Fortbildungsmaßnahmen<br />
der Schulen zur Verfügung steht, deutlich<br />
erhöht worden ist. Damit kann sich Qualität verbessern – auch<br />
messbar – etwa die Qualitätsanalyse oder SEIS.<br />
STATEMENT<br />
Marianne Demmer<br />
Die GEW bevorzugt die Selbstevaluation von Schulen, das<br />
heißt: Schulen sollen sich selbst kontrollieren können. Sie sollen<br />
für sich selbst ein Verfahren entwickeln können, um festzustellen,<br />
auf welchem Stand sie sich eigentlich befinden. Die Fremdevaluation<br />
durch Inspektoren, wie sie in Nordrhein-Westfalen<br />
geplant ist und auch zum Teil schon durchgeführt wird, kann<br />
dann nützlich sein, wenn sie den Schulen das spiegelt, was sie<br />
in ihrer Entwicklung weiterbringt. Wenn es lediglich bei einer<br />
Demonstration bleibt mit dem Tenor: ›So seid ihr‹, ohne dass im<br />
Anschluss daran Perspektiven entwickelt werden, Hilfestellung<br />
oder Unterstützung gegeben wird, solange also Schulinspektion<br />
lediglich ein weiteres Instrument für das Verwaltungshandeln<br />
ist, so lange werden Schulen der Evaluation von außen gegenüber<br />
skeptisch bleiben.<br />
Ich habe auch Rückmeldungen, in denen der Verdacht geäußert<br />
wurde, dass die Schulaufsicht oder Schulverwaltung bzw. die<br />
Landesregierung sich durch die Schulinspektion als besonders<br />
innovativ präsentieren möchte. Schulen sind an dieser Stelle<br />
sehr skeptisch in Bezug auf die Frage, was das Ganze eigentlich<br />
soll. Was mich besonders hat aufhorchen lassen, ist die Aussage,<br />
dass ein Ranking zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch nicht<br />
stattfinden solle, sondern erst dann, wenn wir zu sogenannten<br />
fairen Vergleichen in der Lage seien. (Unter fairen Vergleichen<br />
versteht man, dass der Öffentlichkeit dann beispielsweise mitgeteilt<br />
wird, welches soziale Umfeld eine Schule hat, und dass<br />
auch nur Schulen mit ungefähr gleichem sozialen Umfeld unter-<br />
31
einander verglichen werden.) Vor einem öffentlichen Ranking<br />
haben Schulen Angst, weil dadurch eine Konkurrenzsituation<br />
zwischen den Schulen geschaffen wird.<br />
Sobald bekannt wird, dass das, was die nordrhein-westfälische<br />
Landesregierung anstrebt, irgendwann einmal zum öffentlichen<br />
Schulranking führen soll, wird der Widerstand in den Schulen<br />
stark werden. Die Schulen hätten dann auch die Unterstützung<br />
der GEW. Dies umso mehr als vollkommen ungeklärt ist, ob ein<br />
Ranking irgendetwas zur Qualitätsverbesserung von Schulen<br />
beiträgt. Mir sind da eher gegenteilige wissenschaftliche Erkenntnisse<br />
bekannt.<br />
Ich würde gerne noch einmal auf den Punkt des fairen Vergleichs<br />
zurückkommen, weil dieser mich wirklich sehr<br />
umtreibt. Auf der einen Seite kann oder sollte man nur Äpfel<br />
mit Äpfeln und Birnen mit Birnen vergleichen. Doch sobald Sie<br />
diese Vergleiche öffentlich machen, das heißt, sobald in der<br />
Zeitung steht, dass Schulen der Kategorie 3 etwa einen Ausländeranteil<br />
von X Prozent und ein sozial schwieriges Klima haben,<br />
dann veröffentlichen Sie für jeden sichtbar das soziale Umfeld<br />
einer Schule. Dann ist es völlig gleichgültig, ob diese Schule im<br />
Vergleich zu anderen besonders gut abgeschnitten hat: Der<br />
sowohl in den Niederlanden wie auch in Großbritannien zu<br />
beobachtende Effekt ist folgender, wenn die Eltern freie Schulwahl<br />
haben, d. h. die Schule aussuchen können, wird mit einem<br />
solchen Ranking die soziale Spaltung der Gesellschaft verstärkt.<br />
Eltern, die dann sehen, dass eine Schule einen sehr hohen<br />
Migrantenanteil aufweist, werden, sogar wenn sie selbst einen<br />
Migrationshintergrund haben, sich überlegen, ob sie ihr Kind<br />
vielleicht doch lieber in eine andere Schule schicken. Das heißt,<br />
sie verstärken damit im Grunde einen Mechanismus, der in<br />
unserem Schulsystem ohnehin angelegt ist: Wir haben aufgrund<br />
der frühen Aufteilung unserer Schülerinnen und Schüler in die<br />
unterschiedlichen Schulformen schon jetzt den Mechanismus<br />
der starken sozialen Differenzierung, und durch die freie Schulwahl<br />
in Verbindung mit einem öffentlichen Schulranking würde<br />
dieser Mechanismus noch einmal verstärkt. Die soziale Spaltung<br />
der Gesellschaft würde also zumindest in den städtischen Bereichen,<br />
wo Eltern es sich leisten können, ihre Kinder zu anderen<br />
Schulen zu schicken, noch einmal vertieft. Dies halte ich für<br />
eine Politik, die unserem Land insgesamt nicht gut tut. Ich<br />
möchte die nordrhein-westfälische Landesregierung mit Nachdruck<br />
auffordern, sich das noch einmal zu überlegen. Gerade<br />
weil der Ministerpräsident für sich in Anspruch nimmt, soziale<br />
Gräben überwinden zu wollen, sollte er sich von der Illusion verabschieden,<br />
über den Wettbewerb die Qualität verbessern zu<br />
wollen. Die Qualität wird viel eher durch motivierte Menschen<br />
in den Schulen verbessert, durch gut ausgebildete Lehrkräfte,<br />
durch interessierte Eltern, und nicht dadurch, dass man die<br />
Schulen gegeneinander in den Wettbewerb schickt.<br />
Bevor man ein externes Evaluationsverfahren etabliert, ist meines<br />
Erachtens zunächst zu klären, mit wem die Kriterien, die<br />
Indikatoren diskutiert worden sind, wie bei den Inspektoren<br />
eine gemeinsame Auffassung von Qualität zustande kommt, ob<br />
z. B. Chancengleichheit ein Qualitätsmerkmal für die Inspektoren<br />
ist, wie es in einer Schule ermittelt würde oder ob es überhaupt<br />
in Bezug auf eine Schule ermittelt werden kann. Also wie<br />
ist das Verfahren zustande gekommen, wie hat Verständigung<br />
stattgefunden, wie sind die Lehrkräfte einbezogen worden, wie<br />
konnten sie einbringen, was sie für Qualität von Schule halten.<br />
Soweit ich weiß, ist dies nicht geschehen.<br />
Ich habe zufällig gerade heute einen Bericht aus den Niederlanden<br />
bekommen, wo sich mittlerweile die Lehrerschaft darüber<br />
beklagt, dass infolge des holländischen Systems im Grunde<br />
eine Entprofessionalisierung der Lehrerinnen und Lehrer stattgefunden<br />
hat, dass Entscheidungen zum allergrößten Teil auf<br />
der Ebene der Schulleitung fallen und dass es einen Vertrauensbruch<br />
zwischen Schulleitung und dem restlichen Kollegium<br />
„Bevor man ein externes Evaluationsverfahren etabliert, ist meines Erachtens zunächst zu<br />
klären, mit wem die Kriterien, die Indikatoren diskutiert worden sind, wie bei den Inspektoren<br />
eine gemeinsame Auffassung von Qualität zustande kommt, ob z. B. Chancengleichheit ein<br />
Qualitätsmerkmal für die Inspektoren ist, wie es in einer Schule ermittelt würde oder ob es<br />
überhaupt in Bezug auf eine Schule ermittelt werden kann.“<br />
gibt. Dies ist vermutlich auch eine Auswirkung des Projekts, das<br />
in Nordrhein-Westfalen jetzt greifen soll, nämlich die Selbstständigkeit<br />
von Schule über die Schulleitung zu definieren und<br />
nicht über die pädagogische Autonomie von Schule. Würde man<br />
Letzteres in Betracht ziehen, müsste man die Lehrerschaft in<br />
einer ganz anderen Weise mit einbeziehen. Von daher also noch<br />
einmal meine Frage: Wie kommen die Indikatoren zustande,<br />
und vor allem: Wo sind die Unterstützungseinrichtungen? Der<br />
Etat für Lehrerfortbildung in Nordrhein-Westfalen ist in den<br />
letzten Jahren drastisch gekürzt worden, das Geld wird umgeleitet,<br />
fließt der Qualitätsanalyse und dem Aufbau von Qualitätsagenturen<br />
zu. Von daher überzeugt mich das Instrument<br />
„Schulinspektion“ noch in keiner Weise, ich halte sehr viel mehr<br />
davon, die Motivation in den Kollegien sowie die Selbstevaluation<br />
der Kollegien zu stärken als den Hebel von außen anzusetzen.<br />
32
Schulentwicklung durch Qualitätsanalyse: Habeck/Demmer/Domisch Blindtext<br />
STATEMENT<br />
Rainer Domisch<br />
Ich möchte Ihnen hier auf der <strong>Bild</strong>ungsmesse „didacta 2007“<br />
und in diese Gesprächsrunde die herzlichsten Grüße aus Helsinki<br />
überbringen.<br />
Zunächst werde ich Ihnen über die schulische Evaluierung<br />
berichten, wie sie in Finnland seit etwa zwanzig Jahren Praxis<br />
ist. Um gleich mit dem Wichtigsten zu beginnen: Man hat in<br />
Finnland die Schulinspektion im Jahre 1991 abgeschafft. Die<br />
Idee zu diesem radikalen Schritt kam von den Schulinspektoren<br />
selbst. Sie empfanden ihre Arbeit als wenig befriedigend,<br />
denn aufgrund von Inspektionen oder Schulbesuchen von<br />
außen, die sich in Berichten niederschlugen,<br />
hat sich keine Schule qualitativ weiterentwickelt.<br />
An die Stelle der Schulinspektion<br />
trat im Jahr 1993/94 die erste nationale<br />
schulische Evaluierung. Vorausgegangen<br />
war eine Phase von zentraler Bedeutung,<br />
die im Nachhinein von den finnischen<br />
Experten, die für Evaluierung zuständig<br />
sind, als zu kurz betrachtet wurde. Es handelte<br />
sich um die Phase, in der man die Indikatoren<br />
festgelegt hat.<br />
ihre Qualitätsentwicklung vorwärtszubringen. Das muss ihr<br />
ureigenes Interesse sein in Verantwortung für die Schülerinnen<br />
und Schüler, die Lehrerinnen und Lehrer und die Eltern. Der<br />
Staat muss dafür sorgen, dass die Rahmenpläne und Standards<br />
und Finanzmittel zur Verfügung stehen, dass Fortbildung,<br />
soweit sie vom Staat gefördert werden kann, stattfindet und<br />
dass ein Vertrauensverhältnis aufgebaut wird. Jede Evaluierung,<br />
die nicht auf einer Vertrauensbasis, sondern auf einer Kontrollbasis<br />
steht, ist meiner Meinung nach vergebens.<br />
Die nationale Evaluierung, die Sie vielleicht am meisten interessiert,<br />
bezieht sich auf die Rahmenlehrpläne, die etwa alle<br />
acht bis zehn Jahre in einem demokratischen Prozess mit den<br />
Schulen neu entwickelt werden. Sie wissen vielleicht, dass<br />
Finnland nur eine Schulart hat, die von Klasse 1 bis 9 reicht. Es<br />
Ehe man schulische Evaluierung betreibt,<br />
muss man sich sehr genau darüber im Klaren<br />
sein, in welche Richtung Schulen sich entwickeln<br />
sollen. In Finnland hat man in den Jahren<br />
seit 1990 bzw. 1994 schulische Evaluierung<br />
nicht als Ansporn zum Konkurrenzoder<br />
Wettbewerbsdenken gesehen, vielmehr<br />
sollte sie einzig den Zweck haben, <strong>Bild</strong>ungsplanung<br />
durch Informationsweitergabe zu<br />
unterstützen. Das geschieht inzwischen<br />
weitgehend auf kommunaler Ebene (die<br />
Kommunen sind die Schulträger und als solche<br />
verantwortlich für die regionale schulische<br />
Organisation), einmal im Jahr auf nationaler<br />
Ebene und dann und wann auf internationaler<br />
Ebene, z. B. bei der Pisa-Studie. An der Iglu-Studie<br />
über die Lesekompetenz von Grundschülern hat Finnland nicht<br />
teilgenommen, weil man sich hier des eigenen hohen Qualitätslevels<br />
bewusst war. Man hat das Geld dann lieber für andere<br />
Dinge verwendet.<br />
Natürlich ist die interne oder Selbstevaluierung wesentlich<br />
wichtiger als die äußere, wobei wir in Skandinavien, speziell in<br />
Finnland, eine besondere Philosophie der Evaluierung vertreten.<br />
Uns kommt es weniger darauf an, sich von Amts wegen ein<br />
<strong>Bild</strong> von einer Schule zu machen, sondern der einzige Zweck<br />
der Evaluierung ist, Informationen zu gewinnen, sie der Schule<br />
an die Hand zu geben, um die Schule selbst dazu zu bringen,<br />
Foto: Elke Habicht<br />
Das Publikum nutzte mit großem Engagement die Chance, bei den Referenten aller Veranstaltungen<br />
des „forum bildung“ nachzufragen und in die Diskussion einzugreifen.<br />
gibt im gesamten Schulwesen keine einzige schulische Prüfung<br />
mit Ausnahme des Zentralabiturs nach der gymnasialen Oberstufe.<br />
Fünf bis acht Prozent eines Schülerjahrgangs müssen<br />
nach der 9. oder in der 9. Klasse an einer Evaluierung teilnehmen.<br />
Diese Teilnahme ist verpflichtend; keine Schule kann sich<br />
ihr entziehen. Die Teilnehmer werden nach einem Sample-Verfahren<br />
ausgesucht, von Lappland bis Helsinki sind alle Schulen<br />
repräsentativ vertreten; sie bilden sozusagen ein Miniatur-Finnland<br />
ab nach sozialen, geschlechtsspezifischen, regionalen<br />
Gesichtspunkten. In einer Schule mit nur 30 Schülern in einem<br />
einzigen Jahrgang sind alle Schüler vertreten, in einer Schule<br />
mit 60 Schülern eines Jahrganges wird jeder zweite einbezogen,<br />
in einer Schule mit 90 Schülern jeder dritte Schüler usw.<br />
33
Es geht uns nicht um die Leistung eines Lehrers oder einer<br />
Klasse, sondern um die Entwicklung einer Schule, um die Möglichkeiten<br />
der Schule selbst. Jedes zweite Jahr werden die Leistungen<br />
in Mathematik und dazwischen in der Muttersprache,<br />
Finnisch bzw. Schwedisch, abwechselnd beleuchtet; dazu kommen<br />
vier bis fünf andere Fächer, sodass alle vier, fünf Jahre<br />
jedes Fach einmal evaluiert wird. Die Evaluationsphase dauert<br />
18 Monate von der Planung bis zum Vorlegen der exakten Ergebnisse.<br />
Die Schulen bekommen nach wenigen Monaten ein Kurzergebnis.<br />
Es nehmen etwa drei- bis viermal so viele Kommunen und Schulen<br />
freiwillig an diesen Evaluierungen teil, als teilnehmen müssten,<br />
und es gibt noch sehr viel mehr Interessenten, aber die<br />
damit verbundenen Kosten müssen die Schulen oder die Kommunen<br />
selbst tragen. Aus den Ergebnissen leiten wir kein Ranking<br />
ab – darin unterscheidet sich Finnland auch von anderen<br />
skandinavischen Ländern. Von Anfang an möchten wir, wie<br />
gesagt, den Wettbewerb außen vor lassen. Die Schulen sollen<br />
zur eigenen Qualitätsentwicklung ermuntert werden.<br />
Einen wesentlichen Aspekt stellt die sogenannte positive Diskriminierung<br />
dar: Schulen, die laut den vorliegenden Indikatoren<br />
in einem schwierigeren sozialen Umfeld liegen, wo sich<br />
Lehrer, Schulleitung und Schulträger mit Problemen auseinandersetzen<br />
müssen, die andere Kommunen oder andere Schulen<br />
herkömmlichen Inspektionsbesuch von 80 Lehrkräften 40 im<br />
Unterricht besucht haben, können Sie über die Prozessqualität<br />
des Unterrichts dieser Schule keine fundierten Aussagen<br />
machen. Vielmehr lässt sich aus der Kommunikation der Ergebnisse,<br />
die zurückgemeldet werden und ein Gesamtbild enthalten,<br />
Wichtiges ablesen. Worauf wir – nicht namentlich gezielt –<br />
hinweisen, sind die internen Stärken einer Schule, um die<br />
Beteiligten dafür zu sensibilisieren, wie sie von den eigenen<br />
Ressourcen profitieren können. Weiter versuchen wir intern<br />
Netzwerkbildung und Teamarbeit zu fördern, wodurch sich die<br />
Notwendigkeit von externer Unterstützung dann vielleicht<br />
sogar erübrigt.<br />
Ich habe bislang noch nicht erwähnt, wie mit den Ergebnissen<br />
der Evaluierung umgegangen wird. Der Landesdurchschnitt<br />
wird veröffentlicht, und dieser wird in der Presse und in den<br />
Medien sehr heftig diskutiert, aber die Einzelergebnisse der<br />
Schulen erhalten nur diese selbst. Natürlich ist die Schulöffentlichkeit<br />
sehr an diesem Thema interessiert. Oftmals geht es um<br />
ganz kleine Dinge, die maßgebend sind, beispielsweise Notengebung<br />
oder Beliebtheit eines Faches. Ein Unterschied zu<br />
Deutschland, soweit ich das gelesen oder gehört habe, ist, dass<br />
auf das Wohlbefinden großen Wert gelegt wird. Man hört in den<br />
letzten Jahren sehr viel von der Hirnforschung; hier wurde u. a.<br />
festgestellt, dass Kinder – wie Menschen im Allgemeinen – nur<br />
lernen können, wenn sie in irgendeiner Weise motiviert sind.<br />
„Natürlich ist die interne oder Selbstevaluierung wesentlich wichtiger als die äußere,<br />
wobei wir in Skandinavien, speziell in Finnland, eine besondere Philosophie der Evaluierung<br />
vertreten. Uns kommt es weniger darauf an, sich von Amts wegen ein <strong>Bild</strong> von einer Schule zu<br />
machen, sondern der einzige Zweck der Evaluierung ist, Informationen zu gewinnen, sie der<br />
Schule an die Hand zu geben, um die Schule selbst dazu zu bringen, ihre Qualitätsentwicklung<br />
vorwärtszubringen.“<br />
nicht haben, bekommen von den Kommunen und vom Staat<br />
entsprechend mehr Mittel, um Kinder besser individuell fördern<br />
zu können, um Kinder mit einer anderen Muttersprache besser<br />
integrieren zu können, um kleinere Gruppen zu bilden, um das<br />
Schulhaus, das Schulgebäude besser auszurüsten usw. Die Förderung<br />
dient dazu, das gesamte schulische Umfeld in der<br />
Öffentlichkeit besser darstellen zu können, damit Bewertungen<br />
wie „gute“ Schule/„schlechte“ Schule möglichst gar nicht erst<br />
aufkommen. Die Schulen stehen zunächst einmal den Schülern<br />
des Einzugsgebietes offen; wenn noch Platz ist, dann können<br />
auch Schüler von anderswo die Schulen besuchen und sich dort<br />
bewerben.<br />
Der Sinn der Qualitätsanalyse in den Schulen ist es nicht, die<br />
einzelne Lehrkraft zu bewerten, sondern es geht um das Gesamtsystem<br />
einer Schule. Wenn Sie beispielsweise bei einem<br />
Eine Schule braucht solche Menschen, die sich wohlfühlen, die<br />
sich angenommen fühlen. Und ebenso wie die Qualität des<br />
Mathematikunterrichts gehört auch die Qualität des Schulessens<br />
und der soziale Umgang in der Schule dazu. Diesen letzteren<br />
Bereich würde ich sehr stark mit einbeziehen, denn er ist<br />
außerordentlich wichtig für die Entwicklung einer Schule,<br />
andernfalls bleibt ein großes Maß an Nachhaltigkeit ausgeklammert.<br />
Eine Schule muss eine Entwicklung vor sich sehen, die zehn,<br />
fünfzehn Jahre dauert und nicht vier oder fünf Jahre. Die für<br />
<strong>Bild</strong>ung Verantwortlichen müssen möglichst genaue Vorstellungen<br />
davon haben, in welche Welt die Schüler, die heute eingeschult<br />
werden, die heute auf die Welt kommen, hineinwachsen<br />
und unter welchen Umständen sie lernen müssen. Das ist nicht<br />
so einfach, aber bestimmte Dinge lassen sich zumindest kontu-<br />
34
Schulentwicklung durch Qualitätsanalyse: Habeck/Demmer/Domisch Blindtext<br />
renhaft für den erwähnten Zeitraum prognostizieren. Schon<br />
vor 25 Jahren war die Integration von Kindern mit anderer Muttersprache<br />
ein Problem, das sich im Laufe der Zeit nur verschärft<br />
hat, weil die gesellschaftlichen Ausmaße deutlicher<br />
geworden sind. So geartete Probleme fallen nicht vom Himmel.<br />
In diesem Bereich muss man auch Evaluierung mit einbeziehen,<br />
das heißt die Entwicklung anstoßen, den Eltern, Schülern, Lehrern,<br />
Schulleitern und Schulträgern Mut machen, dass sie das<br />
bewältigen können, wenn sie entsprechende Informationen<br />
haben. Und das ist, wie ich schon sagte, die eigentlich Aufgabe<br />
von Evaluierung.<br />
Weitere Informationen zu den angesprochenen Themen sowie zum<br />
finnischen Schulsystem insgesamt finden sich unter: www.oph.fi;<br />
www.edu.fi; www.pisa-schuleninfinnland.net; www.worldbank.org/<br />
education (dort findet man auch einen Überblick über die Entwicklung<br />
des finnischen Schulsystems seit 1968).<br />
35
Zu dumm oder nicht gefördert?<br />
Junge Erwachsene zwischen Analphabetismus<br />
und Ausbildungsreife<br />
Laut Pisa erreichen in Deutschland etwa zehn Prozent der Fünfzehnjährigen nicht einmal die<br />
unterste Stufe der Lesekompetenz. Jedes Jahr verlassen rund 80 000 junge Menschen die Schule ohne<br />
Abschluss. Trotz der hohen Arbeitslosenzahl bleibt die Nachfrage der Wirtschaft nach Facharbeitskräften<br />
ungestillt. Die Kluft zwischen den gestiegenen Qualifikationserwartungen der Wirtschaft und dem<br />
<strong>Bild</strong>ungsniveau vieler junger Menschen scheint zu wachsen. Auf dem Podium diskutierten Philipp<br />
Haußmann von der Ernst Klett Sprachen GmbH, Professor Dr. Michael Hüther vom Institut der deutschen<br />
Wirtschaft in Köln, Peter Hubertus vom Bundesverband Alphabetisierung und Grundbildung e. V.<br />
sowie Professor Dr. Rita Süssmuth, Präsidentin des Deutschen Volkshochschulverbandes, über die Ursachen<br />
und Folgen des Phänomens und zeigten konstruktive Perspektiven der Verbesserung auf.<br />
Moderation: Ralf Häder, Bundesverband Alphabetisierung e. V. und Grundbildung, Münster<br />
Philipp Haußmann<br />
Philipp Haußmann, M. A., geb. 1965. Studium der Rechtswissenschaft und Romanistik, Abschluss Zweites<br />
juristisches Staatsexamen und Magister. Auslandsaufenthalte in Mailand, Rom und Reykjavik. Ab 1997 Redaktionsleiter<br />
PONS Wörterbücher und Selbstlernen im Ernst Klett Verlag, Stuttgart. Seit 2002 Geschäftsführer<br />
Ernst Klett Sprachen GmbH, Stuttgart; 2003 „Alphabetisierungsbotschafter“.<br />
Rita Süssmuth<br />
Rita Süssmuth, Professor Dr., Studium der Romanistik und Geschichte. 1969 Professorin für International<br />
Vergleichende Erziehungswissenschaft in Bochum. Seit 1971 Lehrstuhl in Dortmund. 1982-85 Direktorin des<br />
Forschungsinstituts „Frau und Gesellschaft“; 2003 Honorarprofessorin an der Universität Göttingen. 1986-<br />
2002 Vorsitzende der Frauen-Union; 1987-98 Mitglied des CDU-Präsidiums; 1985-88 Bundesministerin für<br />
Jugend, Familie und Gesundheit; erste Frauenministerin auf Bundesebene. 1988-98 Bundestagspräsidentin;<br />
Präsidentin des Deutschen Volkshochschulverbandes seit 1988; Präsidentin der OTA Privathochschule.<br />
36
Zu dumm oder nicht gefördert? Haußmann/Süssmuth/Hüther/Hubertus Blindtext<br />
Michael Hüther<br />
Michael Hüther, Professor Dr., geb. 1962. Studium der Wirtschaftswissenschaften und Geschichte. Promotion<br />
in Wirtschaftswissenschaften. 1987-91 Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Uni Gießen. 1991-95 Wissenschaftlicher<br />
Mitarbeiter im Stab des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirrschaftlichen<br />
Entwicklung; 1995-99 dessen Generalsekretär. 1999-2004 Chefvolkswirt der DekaBank, Frankfurt am Main.<br />
Seit 2004 Direktor und Mitglied des Präsidiums des Instituts der deutschen Wirtschaft Köln.<br />
Peter Hubertus<br />
Peter Hubertus, Gründungsmitglied und seit 1995 Geschäftsführer des Bundesverbandes Alphabetisierung<br />
und Grundbildung e. V., ist seit 1984 in der Alphabetisierungsarbeit tätig. Seit 1985 leitet er Fortbildungsveranstaltungen.<br />
1985-95 im Vorstand der Schreibwerkstatt für neue Leser und Schreiber e. V. Seit 2006<br />
Mitglied im Patronatskomitee der Stiftung für Alphabetisierung und Grundbildung Schweiz (SAGS).<br />
37
STATEMENT<br />
Philipp Haußmann<br />
Die ältere Generation hat schon immer über den Werteverfall<br />
gejammert und darüber, dass die Jugend nichts mehr lernt. Wir<br />
neigen dazu, unsere eigene Schulzeit, unsere eigene <strong>Bild</strong>ung zu<br />
verklären. Das findet man in jeder Generation, und je nachdem,<br />
wo man sich politisch verortet, stimmt man in dieses Lied ein<br />
oder lässt es bleiben. Ich lasse es lieber bleiben, denn wozu soll<br />
das führen? Am Anfang der ganzen Diskussion – das möchte ich<br />
einmal ganz klar sagen – steht die eindeutige Aussage, dass<br />
kein Mensch zu „dumm“ ist, um richtig lesen und schreiben zu<br />
lernen. Wer es nicht richtig gelernt hat, ist vielmehr ein Opfer<br />
seiner Lebensumstände.<br />
eingestehen und den ersten Schritt gehen, sind veritable Helden.<br />
Und jeder Einzelne, der da scheitert oder den Schritt überhaupt<br />
nicht geht, trägt eine furchtbare Last in seinem Leben.<br />
Die Menschen können nicht in die S-Bahn steigen und lesen,<br />
wohin sie fahren müssen. Sie haben den Namen des Ziels im<br />
Ohr, aber sie können ihn nicht lesen.<br />
Wenn wir nun zu der Frage kommen, was zu tun sei, dann kostet<br />
das alles, egal welche Lösung man wählt, viel Geld. Dieser<br />
Einsicht darf sich die Politik nicht verschließen. Entweder<br />
behebe ich das Alphabetisierungsproblem im Erwachsenenalter,<br />
was immense Kosten verursacht; in diesem Fall darf es nicht<br />
den Kommunen überlassen bleiben, die im Moment die Volkshochschulen<br />
fördern. Oder ich löse das Problem bereits in der<br />
Grundschule, hier ist Sprachdiagnostik erforderlich – und der<br />
Unterricht muss auf der Basis dieser Diagnostik stattfinden.<br />
Auch das kostet sehr viel Geld, weil ich die Kinder so behandeln<br />
muss, wie sie sind, sie dort abholen muss, wo sie gerade stehen.<br />
Es kann eben auch sein, dass ein Kind in einer dritten Klasse<br />
überhaupt nicht und das nächste vollständig alphabetisiert ist.<br />
„Am Anfang der ganzen Diskussion – das möchte ich einmal ganz klar sagen – steht die eindeutige<br />
Aussage, dass kein Mensch zu ,dumm' ist, um richtig lesen und schreiben zu lernen.<br />
Wer es nicht richtig gelernt hat, ist vielmehr ein Opfer seiner Lebensumstände.“<br />
Die Gründe hierfür können im Elternhaus, in der Schule, wo<br />
auch immer, liegen, und dort müssen wir ansetzen. Was ich<br />
besonders dramatisch finde, ist, dass Kinder, die in der dritten,<br />
vierten, fünften Klasse ein gewisses Niveau beim Lesen und<br />
Schreiben nicht erreicht haben, ein großes Problem haben.<br />
Wenn diese Schwierigkeiten dann in der siebten, achten, neunten<br />
Klasse nicht gelöst werden, haben die Schüler ein Riesenproblem,<br />
und die Kosten für die Behebung des Problems – und<br />
die sind nicht nur monetärer, sondern auch psychischer Natur –<br />
steigen exponentiell an. Das heißt, wir haben allen Grund,<br />
unser Möglichstes zu tun, um – in der ersten Schulklasse, am<br />
besten noch in der Vorschule beginnend – der Alphabetisierung<br />
ein viel, viel größeres Gewicht zu geben. Wir als Verlag beschäftigen<br />
uns weniger mit den volkswirtschaftlich-ökonomischen<br />
Kosten, denn wir sind keine Politiker. Wir engagieren uns, da<br />
wir die persönlichen Katastrophen wahrnehmen, die dahinter<br />
stehen – wenn die Schullaufbahn einmal beendet ist:<br />
Wenn man sich mit der Alphabetisierung von Erwachsenen<br />
beschäftigt, trifft man auf Menschen, die in einer Weise verzweifelt<br />
sind, wie man es sich als Nichtbetroffener überhaupt<br />
nicht vorstellen kann. Die Fernsehspots zum Thema Analphabetismus<br />
drücken genau diese Verzweiflung aus. Es bedeutet<br />
bereits eine Riesenhürde für diese Menschen, überhaupt zuzugeben,<br />
dass sie nicht lesen und schreiben können, geschweige<br />
denn, einen Kurs zu besuchen und einen Prozess auf sich zu<br />
nehmen, der unter Umständen sechs, sieben Jahre dauert, mit<br />
einem Ergebnis, das Sie alle hier immer noch für recht wenig<br />
bemerkenswert halten würden. Die Menschen, die ihr Problem<br />
Wir, das heißt der Klett-Verlag, unterstützen nicht nur die Beratungs-Hotline<br />
des Alpha-Telefons, sondern auch den Bundesverband<br />
Alphabetisierung und Grundbildung e.V. Geld ist mit dem<br />
Thema Alphabetisierung nicht zu verdienen. Wir machen<br />
Bücher für Menschen, die per definitionem nicht lesen können,<br />
das bedeutet, dass sie sich sehr wenige Bücher in ihren Kursen<br />
kaufen werden, das sind Auflagenhöhen, die für uns wirtschaftlich<br />
irrelevant sind. Aber darum geht es ja bei diesem<br />
Thema auch gar nicht. Als <strong>Bild</strong>ungskonzern haben wir den Auftrag<br />
und die gesellschaftliche Verantwortung, hier tätig zu werden<br />
und eben nicht nur Lehrwerke für Schüler, für die Erwachsenenbildung<br />
oder Wörterbücher herzustellen. Das tun wir seit<br />
über 20 Jahren und werden es auch weiterhin tun.<br />
Abschließend möchte ich den Wunsch nach einem bundesweiten<br />
<strong>Bild</strong>ungsstandard äußern, in dessen Rahmen jedes Kind am<br />
Ende der 3. Klasse ein gewisses Niveau beim Lesen und Schreiben<br />
erreicht hat. Ausgehend von diesem Standard müssen wir<br />
dann die Konsequenzen ziehen für den Unterricht und für die<br />
Ausstattung der Schulen, mit Lehrkräften wie mit Geldmitteln.<br />
Das wird sehr teuer werden, aber anders geht es eben nicht.<br />
38
Zu dumm oder nicht gefördert? Haussmann/Süssmuth/Hüther/Hubertus<br />
STATEMENT<br />
Rita Süssmuth<br />
Heute sind weniger Elternhäuser in der Lage, etwas für die Förderung<br />
ihrer Kinder zu tun, als das früher der Fall war. Wir dürfen<br />
allerdings auch nicht vergessen, dass sich die Anforderungen<br />
an <strong>Bild</strong>ungsförderung nicht nur etwas, sondern einschneidend<br />
verändert haben. Der ständige Streit darum, ob das Kind<br />
zur Mutter gehört oder ob – familienergänzend – es auch in<br />
anderer Obhut gedeihen kann, ist nichts anderes als ein Störmanöver,<br />
das uns aber in der Sache nicht weiterbringt. Im<br />
Gegenteil, wir müssten die Eltern mit einbeziehen. Die besten<br />
Schulen in der Bundesrepublik, die mit Preisen ausgezeichnet<br />
wurden, beziehen das Elternhaus fest in ihre Arbeit mit ein, ja<br />
machen dies sogar zur Verpflichtung. Das heißt, Eltern und Kinder<br />
bekommen so eine Chance, weil Kindes- und Elternwohl<br />
zusammengehören.<br />
Aber wir haben diese gesamte Debatte in der zweiten Hälfte der<br />
1960er-Jahre, nach dem Sputnik-Schock, ja schon einmal<br />
geführt und haben eine Zeit lang gemeint, die Kinder müssten<br />
viel mehr lernen, wir müssten diese Phase nutzen. Und dann<br />
haben wir das Thema wieder aufgegeben, fanden es nicht mehr<br />
dringlich und notwendig. Wenn ich jetzt etwas zu den Gründen<br />
sage, die uns in das heutige Dilemma geführt haben, sehe ich<br />
vor allem zwei Gründe: Zum einen, dass wir, im Unterschied zu<br />
Finnland, immer weniger individualisiert haben. Wir gehen in<br />
aller Regel mit einer Methode des Lesens und Schreibens für alle<br />
in unsere Unterrichtsklasse, und wer für diese Methode geeignet<br />
ist, der kommt mit, alle anderen nicht. In Finnland individualisiert<br />
man dagegen sehr stark, lässt sich viel Zeit für das<br />
einzelne Kind. Darüber reden wir inzwischen auch, aber gehen<br />
Sie einmal in die Schulen und sehen Sie sich an, wie viel Zeit<br />
die Lehrkräfte dafür zur Verfügung haben, selbst wenn sie<br />
bester Absicht sind. Das ist der eine Punkt.<br />
größer. Also brauche ich für <strong>Bild</strong>ungsbenachteiligte einen weitaus<br />
höheren Einsatz als denjenigen, den wir bisher leisten.<br />
Wenn wir einmal nach England schauen, nach Finnland, nach<br />
Kanada, dann kommen wir nicht darum herum, mehr zu tun.<br />
Wir müssen aber auch sehen, dass es einen Personenkreis gibt,<br />
der sich zwar in der Schule von diesem formellen Lernen abgemeldet<br />
hat, der aber irgendwann wieder ansprechbar ist. Das,<br />
was wir nachholende <strong>Bild</strong>ung nennen, ist von großer Bedeutung.<br />
Denn es gibt inzwischen eine große Zahl von Menschen,<br />
wobei der Anteil der jungen Männern größer ist als derjenige<br />
der jungen Frauen, die doch merken, wie wichtig die Beherrschung<br />
der Sprache ist. Nicht nur in Unternehmen, sondern<br />
auch in persönlichen Partnerschaften spielt das eine ganz große<br />
Rolle. Hier komme ich auf Maria Montessori zurück: Wir müssen<br />
Gelegenheiten schaffen, in denen Kinder motiviert werden,<br />
etwas mitzuteilen, zu schreiben, etwas lesen zu können, weil<br />
das zur Teilhabe in einer Altersgruppe, zur Teilhabe in der<br />
Erwachsenengesellschaft gehört. Das gilt nicht nur für die<br />
berufliche Situation, sondern für viele sehr typische soziale<br />
Situationen.<br />
Wir haben zwar den <strong>Bild</strong>ungsföderalismus, aber die entscheidende<br />
Förderung bei der Bekämpfung von Analphabetismus<br />
leistet bis zum heutigen Zeitpunkt der Bund. Ich wüsste nicht,<br />
was passierte, wenn die vom Bund geförderten Programme auslaufen<br />
würden. Also der Föderalismus ist gestärkt worden, aber<br />
bestimmte Funktionen werden bislang nicht erfüllt.<br />
Mein Eindruck ist jedoch auch, dass sich in der Praxis schon<br />
mehr bewegt, als es die offizielle <strong>Bild</strong>ungspolitik erkennen lässt<br />
und zulässt. Die Pädagogen in Kindergärten, vor allen Dingen in<br />
Schulen, auch in Hauptschulen, haben sich angesichts der Misere,<br />
mit der sie tagtäglich konfrontiert sind, sehr viel einfallen<br />
lassen. Ich bin im Augenblick häufig unterwegs und schaue, wo<br />
die Schulen bereits etwas verändern, manchmal allein aus eigener<br />
Motivation und eigenen Ideen heraus. Erzieherinnen und<br />
„Unser Ziel muss es sein, die jungen Menschen entsprechend ihren unterschiedlichen Fähigkeiten<br />
und Lernprozessen zu fördern und – ich sage es mit Herder – aus jedem Menschen das<br />
Beste seiner Möglichkeiten zu entfalten. Hier verschleudern wir in Deutschland Fähigkeiten<br />
und Talente von Menschen.“<br />
Der andere Punkt ist der, dass wir zwar auf manches Wichtige<br />
geachtet haben, dass aber eine vernünftige Rechtschreibung<br />
offenbar nicht dazugehörte. „Hauptsache, das Kind ist kreativ.“<br />
Wenn dieses Thema wieder den Stellenwert bekäme, den es früher<br />
gehabt hat, und wir mehr auf diesem Gebiet tun und<br />
methodisch auch mehr lernen würden, könnten wir das überwinden.<br />
Trotzdem wird aufgrund der sozialen Entwicklung in<br />
unserem Land die Brücke zwischen den Gesellschaftsgruppen<br />
Lehrer werden bislang überwiegend für die Vermittlung von<br />
Fachwissen ausgebildet. Das, worüber wir hier im Augenblick<br />
sprechen, nämlich die Fragen: Wie komme ich an die Kinder<br />
heran?, Wie kann ich eventuelle Störungen diagnostizieren?,<br />
Wie fördere ich individuell?, kommen kaum an den Universitäten<br />
und pädagogischen Hochschulen vor. Wenn Sie sich etwa<br />
die Literatur zu Legasthenie anschauen, dann streiten sich die<br />
Verfasser lieber darüber, ob sie überhaupt beeinflussbar ist,<br />
39
statt sich Gedanken zu machen, wie sie beeinflussbar ist. Also<br />
wir brauchen nicht ganz von vorn anzufangen: Wenn wir all<br />
das, was unterwegs ist, auf seine Qualität hin prüfen und flächendeckend<br />
umsetzen würden – was meinen Sie, welch ein Aufschwung<br />
hier in Deutschland in der <strong>Bild</strong>ung möglich wäre.<br />
Ein anderer Punkt, den ich auch ansprechen möchte, ist die<br />
Förderung von Eliten auf der einen und die Förderung bei <strong>Bild</strong>ungsarmut<br />
auf der anderen Seite. Wir brauchen beides, und so<br />
komme ich wieder zur Individualisierung. Unser Ziel muss es<br />
sein, die jungen Menschen entsprechend ihren unterschiedlichen<br />
Fähigkeiten und Lernprozessen zu fördern und – ich sage<br />
es mit Herder – aus jedem Menschen das Beste seiner Möglichkeiten<br />
zu entfalten. Hier verschleudern wir in Deutschland<br />
Fähigkeiten und Talente von Menschen. In Bezug auf Migranten<br />
heißt das etwa, dass jemand in seinem Heimatland die besten<br />
Abschlüsse gemacht haben kann, aber da nur das deutsche Zertifikat<br />
zählt, wird die Leistung bei uns nicht anerkannt, dann<br />
darf er eben bei uns nur Taxifahrer sein. Die Mathematiklehrer,<br />
die in Russland ausgebildet worden sind und hervorragende<br />
didaktische Fähigkeiten haben, setzen wir nachmittags am liebsten<br />
mit einem kleinen oder gar keinem Honorar ein, um das<br />
auszubügeln, was morgens nicht geleistet wurde.<br />
Ich finde es wichtig, dass wir diese Menschen endlich entsprechend<br />
ihrem Können einsetzen, statt uns in solche Zertifikatskämpfe<br />
zu verwickeln, die uns kein Stück weiterbringen. Und<br />
sogleich auch umgekehrt: Meine Erfahrung ist, dass wir im<br />
Bereich der Bekämpfung des Analphabetentums nur weiterkommen<br />
werden, wenn wir bei Menschen zunächst darauf<br />
schauen, was sie können, statt immer zu fragen, was sie nicht<br />
können. In der <strong>Bild</strong>ung kommen Sie nur weiter, wenn die Menschen<br />
erleben, dass sie etwas können, und sich Schwächen in<br />
Stärken verwandeln.Auch in der Wirtschaft gibt es immer mehr<br />
Betriebe, die bereit sind zu schauen, wo die Fähigkeiten der<br />
Schulabsolventen liegen, obwohl deren Zeugnisse eben „grottenschlecht“<br />
sind. Die jungen Leute werden in die Praxis hineingenommen,<br />
und die Betriebe melden es den Schulen zurück,<br />
wo deren Stärken und Schwächen liegen, damit sie gezielt dort<br />
ansetzen können.<br />
Es gibt heute Gemeinden, in denen sich Schule, Wirtschaft, Vereine,<br />
Jugendhilfe und Kirchen gemeinsam an den Tisch setzen,<br />
um der <strong>Bild</strong>ungs- und Ausbildungsmisere etwas entgegenzusetzen.<br />
In solchen Projekten gelingt es etwa, in drei Jahren die<br />
Quote der Schulabgänger ohne Schulabschluss um 50 Prozent<br />
zu senken. Oder eine kleine Grundschule in Dortmund schickt<br />
von 73 Viertklässlern 43 auf weiterführende Schulen, und davon<br />
stammen fast 45 Prozent aus Sozialhilfeempfängerfamilien. Es<br />
muss also nicht zwangsläufig das Vorurteil gelten, einmal Sozialhilfe,<br />
immer Sozialhilfe.<br />
Ich bin Vorsitzende des Deutschen Volkshochschulverbandes. Der<br />
Deutsche Volkshochschulverband mit seinen ca. 1000 angeschlossenen<br />
Volkshochschulen ist Träger von 90 Prozent aller<br />
Lese- und Schreibkurse für Erwachsene. Wir haben schätzungsweise<br />
vier Millionen funktionale Analphabeten, von denen ca.<br />
20 000 an VHS-Kursen teilnehmen. Ca. 320 Volkshochschulen<br />
bieten zurzeit mindestens einen solchen Kurs an. Wenn man<br />
das umrechnet, sind das ein halbes Prozent aller Analphabeten.<br />
Das ist sehr wenig. In der Frage, wie wir diejenigen erreichen<br />
können, die wir erreichen möchten, müssen wir zunächst einmal<br />
klarstellen, dass wir sehr spät angefangen haben, uns um<br />
diese Gruppe zu bemühen. Wir hatten durch das Projekt der<br />
Bundesregierung eine Pionierphase durchlaufen. Im Rahmen<br />
dieses Projekts hat man zunächst Erfahrungen sammeln müssen,<br />
um zu wissen: Wie können wir die Menschen erreichen?<br />
Dabei spielt eine ganz große Rolle, dass man sich anmelden<br />
kann, ohne als Person in Erscheinung zu treten, das heißt, die<br />
Frage der Anonymität. Herr Haußmann hat ja schon davon<br />
gesprochen, welche Schwierigkeiten es diesen Menschen<br />
macht, ihr Problem einzugestehen, ihren Namen zu nennen. Je<br />
mehr sie allerdings mit der Einrichtung vertraut werden und<br />
sehen, dass es noch viele andere außer ihnen gibt, die auch<br />
nicht lesen und schreiben können, sinkt die Hemmschwelle,<br />
den Namen zu nennen.<br />
Das Zweite ist die Methode. Zu unseren Kursen kommen<br />
zunächst einmal diejenigen, die aus ganz persönlichen Motiven,<br />
sei es am Arbeitsplatz, im Privatleben, im Freundeskreis<br />
oder bei einem Hobby, dem sie nachgehen wollen, unbedingt<br />
die Schriftsprache brauchen. Aber wir betreiben ja auch erst<br />
seit kurzer Zeit bundesweit Werbung für die Alphabetisierung.<br />
Bislang war man im Grunde schon ein Aussortierter, wenn man<br />
nicht lesen und schreiben konnte, und das erklärt auch, warum<br />
wir in den Teilnehmerzahlen noch diese geringe Resonanz spüren.<br />
Zum Üben der neu erlernten Fertigkeiten brauchen wir<br />
auch den persönlichen Kontakt, eine Erfahrung, die wir inzwischen<br />
in Wirtschaft, in <strong>Bild</strong>ung, im sozialen Bereich machen.<br />
Kein Computer, kein noch so gut gemachtes Lehrbuch ersetzen<br />
den ganz persönlichen Kontakt zwischen Menschen.<br />
Für die nächsten Jahre wünsche ich mir, dass jedes Kind, jeder<br />
Jugendliche und jeder Erwachsene schreibend und lesend in<br />
einer Gesellschaft leben wird, in der die Mehrheit lesen kann, und<br />
dadurch Teilhabe, Lebenschancen sich ermöglichen. Ich wünsche<br />
mir, dass dies zum <strong>Bild</strong>ungsauftrag wird und durch alle <strong>Bild</strong>ungseinrichtungen<br />
geht, damit wir endlich loskommen von<br />
der Frage, wer was finanziert, die uns heute nur im Wege steht.<br />
STATEMENT<br />
Michael Hüther<br />
Wir haben ein Problem, das deutlich größer ist, als sich an der<br />
Schulabbrecherquote ermessen lässt. Diese liegt für jeden Jahrgang<br />
bei rund 8 Prozent. Tatsächlich ist nach den Daten und<br />
Analysen, die wir aufgrund der Pisa-Studie machen können, die<br />
Risikoschülergruppe eines jeden Jahrgangs mit etwa 22 Prozent<br />
zu benennen. International ist die Quote niedriger, sie liegt für<br />
die Industrieländer bei 19 Prozent, das zeigt uns zum einen,<br />
40
Zu dumm oder nicht gefördert? Haussmann/Süssmuth/Hüther/Hubertus<br />
dass es das Phänomen auch in anderen<br />
Ländern gibt. Was aber auffällt, ist, dass<br />
wir in Deutschland in relativ großem<br />
Umfang mit diesem Problem zu kämpfen<br />
haben und dass wir es vor allen Dingen<br />
auch zu lange haben schlummern lassen.<br />
Wir haben es nicht zur Kenntnis genommen,<br />
weil es keine vergleichenden Analysen<br />
gab, die eine Öffentlichkeitswirkung<br />
hergestellt hätten. Es ist immer im Kleinen<br />
spürbar gewesen, aber nie als ein<br />
Befund von gesellschaftlicher Bedeutung.<br />
Durch die Pisa-Daten wissen wir erstmals<br />
überhaupt etwas über die Strukturzusammenhänge,<br />
die zum <strong>Bild</strong>ungsversagen<br />
führen. Wir nennen den Befund, den wir<br />
beschreiben, <strong>Bild</strong>ungsarmut – ein Begriff,<br />
der relativ neu ist und der eigentlich<br />
viel dramatischer zu werten ist als<br />
der Begriff der Einkommensarmut, denn<br />
heutige <strong>Bild</strong>ungsarmut ist im Grunde Ursache für die künftige<br />
Einkommensarmut. Der Unterschied ist nur, dass <strong>Bild</strong>ungsarmut<br />
erst sehr viel später richtig wahrgenommen wird, in der<br />
beruflichen Realität, wenn das Kind eigentlich schon tief in den<br />
Brunnen gefallen ist. Und wenn man nach den Ursachen fragt,<br />
dann ist erkennbar, dass wir es in Deutschland nicht schaffen,<br />
einen negativen, also ungünstigen <strong>Bild</strong>ungshintergrund mit<br />
Blick auf den <strong>Bild</strong>ungserfolg zu neutralisieren. Es ist immer<br />
noch so, dass die soziale Herkunft, das Elternhaus, das Vorhandensein<br />
von Büchern, die Orientierung zur klassischen Musik<br />
etc. dies in besonderer Weise bewirken können. Aus den Pisa-<br />
Daten lässt sich ableiten, dass dort, wo solches im privaten<br />
Umfeld nicht vorhanden ist, in erheblichem Maße Risiken für<br />
den <strong>Bild</strong>ungsverlauf bestehen. Dies bestätigt eine Studie, die<br />
wir zum Thema <strong>Bild</strong>ungsarmut durchgeführt haben.<br />
Wenn wir fragen, was andere Länder besser gemacht haben,<br />
dann ist beispielsweise zu erkennen, dass es uns an effektiven<br />
<strong>Bild</strong>ungsmindeststandards für alle Ebenen der <strong>Bild</strong>ungsbiografie<br />
mangelt. Da stecken wir erst in den Anfängen, und dies findet<br />
dann zunächst auf Länderebene statt, wobei es doch<br />
bundesweit angegangen werden müsste. Allein die Definition<br />
dessen, was zu fordern ist, wurde viel zu lange nicht überall diskutiert.<br />
Der Ausbildungspakt ist in der Tat das erste Vehikel, das<br />
es dahin gebracht hat, einmal zu analysieren, wie es um die<br />
Ausbildungsreife steht.<br />
Das Versagen unseres Schulsystems kostet den Staat und die<br />
Unternehmen direkt und indirekt bis zu sieben Milliarden Euro<br />
pro Jahr. Das, was wir zu Beginn im Schulsystem nicht schaffen,<br />
muss im Erwerbsleben sehr viel teurer nachgesteuert werden.<br />
Angesichts dieser Zahl, sieben Milliarden Euro, hätten wir bei<br />
der Diskussion über frühkindliche Betreuung und Förderung,<br />
wenn wir hierbei effizienter würden, gewaltige Potenziale der<br />
Einsparung.<br />
Foto: Kölnmesse<br />
„Junge Erwachsene zwischen Analphabetismus und Ausbildungsreife“ mit Philipp Haußmann, Professor<br />
Dr. Rita Süssmuth, Peter Hubertus und Professor Dr. Michael Hüther (v.l.n.r.). Rechts im <strong>Bild</strong><br />
Moderator Ralf Häder.<br />
Dass wir hinter unseren Möglichkeiten zurückbleiben, ist auf<br />
zweifache Weise ein ökonomisches Problem, einmal im Hinblick<br />
auf die Kosten, die wir aufgrund von frühen Versäumnissen für<br />
spätere kurative Maßnahmen aufwenden müssen. Und das<br />
Zweite ist, dass uns jeder, der aufgrund des Versagens des <strong>Bild</strong>ungssystems<br />
nicht angehalten und angeleitet wurde, seine<br />
Fähigkeiten auszuschöpfen, ganz nüchtern betrachtet in der<br />
Wertschöpfung fehlt. Und in einer Volkswirtschaft, die mit<br />
einer schrumpfenden und alternden Bevölkerung fertig werden<br />
muss, ist Humankapital – ich verwende diesen Begriff, auch<br />
wenn er strittig ist, da die Ökonomen ihn als Fachbegriff<br />
gebrauchen – ein knappes Gut. Und wenn diese Ressource<br />
knapp wird, müssen wir eine Antwort darauf finden. Wir haben,<br />
ganz schlicht gesprochen, eine Wachstumsbremse. Wenn uns<br />
Fähigkeiten nicht in dem Maße zur Verfügung stehen, wie wir<br />
sie brauchen, wird es Engpässe geben. Und wenn Sie derzeit auf<br />
den Arbeitsmarkt schauen, können Sie an dieser Stelle ein<br />
erstes Flattern erkennen.<br />
Deshalb ist es ökonomisch ungeheuer wichtig, dass wir wirklich<br />
von Grund auf anfangen. Die Frage, die wir im Augenblick<br />
öffentlich diskutieren, wird mir viel zu sehr auf Betreuung<br />
fokussiert. Es geht um frühkindliche <strong>Bild</strong>ung. Frau Ministerin<br />
von der Leyen ist auf dem richtigen Weg, wenn sie bei den Vierjährigen<br />
deren Sprachfähigkeit feststellen möchte. Warum können<br />
wir uns nicht zügig bundesweit auf eine Sprachstandserhebung<br />
bei Vierjährigen einigen und dort, wo wir Defizite<br />
feststellen, eine Kindergartenpflicht fordern, also ein Interventionsrecht<br />
des Staates. Und Kindergarten ist hier gemeint als<br />
<strong>Bild</strong>ungseinrichtung.<br />
Es ist für mich auch überhaupt nicht einleuchtend, dass wir<br />
dies alles 16 Mal in den Bundesländern diskutieren müssen. Solche<br />
Maßnahmen müssen für alle Menschen in unserer Republik<br />
gleichermaßen bereitgestellt werden. Das, was wir im Augen-<br />
41
lick unter dem Etikett Föderalismus betreiben, ist schlichter<br />
Länderegoismus und kein wirklich föderaler Wettbewerb, der<br />
uns nach vorne brächte. Das ist das eigentlich Besorgniserregende.<br />
Wir sind heute weiter in der Analyse der Probleme, weil<br />
uns mehr Daten zur Verfügung stehen und weil wir den Mut<br />
haben, gesamtwirtschaftlich und gesamtgesellschaftlich darüber<br />
zu diskutieren. Wir sind aber nicht in der Lage, die richtigen<br />
Schlüsse zu ziehen.<br />
Die Wirkungszeiten von <strong>Bild</strong>ungsreformen sind leider sehr viel<br />
länger als diejenigen von Steuerreformen. Deswegen müssen<br />
wir es zügig angehen, und deswegen werde ich an dieser Stelle<br />
immer sehr deutlich und langsam auch wütend. Ich kann nicht<br />
länger akzeptieren, dass wir uns in einem Länderdisput verheddern,<br />
Länder untereinander und gegen den Bund. Wir wissen,<br />
was zu tun ist, und das müssen wir jetzt schlüssig tun: Wir<br />
brauchen die Grundschule mit <strong>Bild</strong>ungsstandards, und wir werden<br />
im Sekundarbereich I und II um die Ganztagsschule mit<br />
einem entsprechenden pädagogischen Konzept nicht vorbeikommen,<br />
wenn wir die <strong>Bild</strong>ungszeiten nach hinten verkürzen<br />
wollen. Wir müssen einfach ehrlicher diskutieren, damit wir<br />
unsere Probleme in den Griff bekommen.<br />
So wie die Dinge gegenwärtig liegen, ist an der Nahtstelle zwischen<br />
Schule und Ausbildung, Schule und Betrieben sicherlich<br />
ein besonderes Übergangsproblem zu identifizieren. Es ist nicht<br />
nur so, dass es gerade für kleinere Unternehmen auch eine<br />
Überforderung bedeutet, die aufgrund der <strong>Bild</strong>ungsdefizite von<br />
Schulabgängern notwendigen Nachsteuerungen zu organisieren.<br />
Ein kleiner Handwerksbetrieb etwa muss davon ausgehen,<br />
dass der Auszubildende, den er einstellt, über Grundfertigkeiten<br />
im Lesen und Schreiben verfügt. Bestehende Defizite kann er<br />
nicht ausgleichen. Und viele unserer Ausbildungsplätze sind eben<br />
in kleinen mittelständischen Unternehmen verankert. Das Problem,<br />
das die Schule heute in höherem Maße als früher hinterlässt,<br />
nämlich mangelnde Ausbildungsreife – und es gibt ja in<br />
diesem Ausbildungspakt eine Klärung darüber, was Ausbildungsreife<br />
ist –, kann in Kleinunternehmen nicht ausgeglichen werden.<br />
„Dass wir hinter unseren Möglichkeiten zurückbleiben, ist auf zweifache Weise ein ökonomisches<br />
Problem, einmal im Hinblick auf die Kosten, die wir aufgrund von frühen Versäumnissen<br />
für spätere kurative Maßnahmen aufwenden müssen. Und das Zweite ist, dass uns jeder, der<br />
aufgrund des Versagens des <strong>Bild</strong>ungssystems nicht angehalten und angeleitet wurde, seine<br />
Fähigkeiten auszuschöpfen, ganz nüchtern betrachtet in der Wertschöpfung fehlt.“<br />
Frau Süssmuth hat darauf hingewiesen, dass die Anforderungen<br />
an die Familien steigen werden. Wir sind in den meisten<br />
Bundesländern zu dem Beschluss gekommen, das Gymnasium<br />
nur noch mit acht Schuljahren laufen zu lassen. Die Bewältigung<br />
von acht gegenüber neun Schuljahren verlangt den Eltern,<br />
der Privatsphäre eine sehr viel größere Unterstützungsleistung<br />
ab. Wir tun dies ohne angemessene fördernde Begleitung, ohne<br />
parallel dazu die Lehrer in die Lage zu versetzen, den Schülern<br />
wirklich umfassende individuelle Förderung angedeihen zu lassen.<br />
Wir haben etwa in Hessen ein Lehrerdeputat von 27 Stunden,<br />
das höchste seit der Kaiserzeit; in der Mittelstufe sind<br />
in den Gymnasien die Klassen mit 30 bis 33 Schülern besetzt.<br />
Man behauptet dann, kleinere Klassengrößen brächten keine<br />
Leistungsvorteile, ein Münchener Institut habe das errechnet.<br />
Natürlich: Kleinere Klassen gibt es an Haupt- und an Realschulen,<br />
die großen Klassen im Gymnasium. Wenn ich zwischen diesen<br />
vergleiche, stelle ich fest, dass bei den kleineren Klassen die<br />
Leistungen schlechter ausfallen. Also müssen wir ehrlicher diskutieren,<br />
und die Länder müssen begreifen, dass hier Fortschritte<br />
nicht umsonst zu haben sind. Es kostet in der Tat Geld,<br />
und der Bund ist mit in der Verantwortung, muss das Notwendige<br />
organisieren, sonst werden wir dieses ökonomische Problem<br />
nicht bewältigen können.<br />
Was das generelle Volumen von Ausbildungsplätzen angeht,<br />
sind wir ja in der Tat nach vorne gekommen. Der Ausbildungspakt<br />
hat uns geholfen, hat mobilisiert. Doch eines muss klar<br />
sein: Wir haben einen Strukturwandel von der Industrie- zur<br />
Dienstleistungsgesellschaft zu verzeichnen, und eine Dienstleistungswirtschaft<br />
verfügt über weniger Ausbildungspotenziale<br />
als die klassische industrielle Wirtschaft. Sie können in einem<br />
Kfz-Werk ganz anders ausbilden als in einem Beratungsbüro,<br />
das heißt, allein dieser Strukturwandel drückt auf das Ausbildungsplatzangebot.<br />
Insofern war es so enorm wichtig, dass wir<br />
mit dem Pakt eine Antwort formuliert haben.<br />
Worüber wir auch zu sprechen haben werden, das ist die Höhe<br />
der Ausbildungsvergütung. Unser Institut befragt im Sommer<br />
jedes Jahr die Unternehmen nach ihrem Ausbildungsplatzangebot.<br />
Die Unternehmen sind in den letzten Jahren durch den<br />
Ausbildungspakt mobilisiert worden. Aber wir stellen gerade in<br />
den neuen Bundesländern fest, dass Unternehmen keine Ausbildungsplätze<br />
mehr anbieten, wenn sie die Erfahrung gemacht<br />
haben, dass sie zu der definierten Vergütung keine entsprechende<br />
Qualifikation bei den Auszubildenden bekommen. Die<br />
Unternehmen gehen keinen Kompromiss mehr ein, denn ein<br />
Unternehmen muss im harten Wettbewerb Qualität erzeugen<br />
und entsprechende Produkte an die Kunden bringen. Das heißt,<br />
42
Zu dumm oder nicht gefördert? Haussmann/Süssmuth/Hüther/Hubertus<br />
es wären eigentlich Ausbildungsplätze vorhanden, aber sie werden<br />
nicht mehr auf den Markt gebracht, weil die Unternehmen<br />
keine Aussicht darauf haben, eine qualifizierte Besetzung vornehmen<br />
zu können – zumindest zu den Vergütungen, die sie<br />
zahlen müssen. Deswegen müssen wir auch über die Differenzierung<br />
der Vergütung sprechen, wenn wir über unterschiedliche<br />
Leistungspotenziale der Auszubildenden reden.<br />
Die Differenzierung der Berufsausbildung ist sicherlich ein weiterer<br />
wichtig Punkt, das heißt, dass wir die zweijährigen Ausbildungsgänge<br />
stärker entwickeln. Aber wir sollen ja auch über<br />
das reden, was funktioniert, darüber, wie wir weiterkommen.<br />
Wir schaffen es heute, einen Berufsausbildungsgang innerhalb<br />
von drei Jahren einzurichten. Früher hat das in Deutschland<br />
zehn Jahre gedauert; wir haben die Modernisierung der Ausbildungsordnung<br />
doch erheblich beschleunigt und flexibilisiert.<br />
Dort, wo Schule Autonomie hat und nicht gegängelt ist, sondern<br />
wo es ein Budget für Sach- und Personalkosten gibt, da<br />
stellen Sie fest, dass es auch klug organisiert wird. Ich hatte<br />
letzte Woche einen Vortrag an einem Gymnasium in Limburg,<br />
das zu den 17 hessischen Pilotschulen für Schulautonomie<br />
gehört; die Schule verfügt über ein Globalbudget. Dort wird<br />
kein Studiendirektor für Verwaltung eingesetzt, sondern er<br />
kann seiner pädagogischen Aufgabe nachkommen, weil der<br />
Schulleiter die Freiheit hat, einen Verwaltungsassistenten einzustellen,<br />
der die administratorischen Dinge sehr viel effizienter<br />
leisten kann. Dort müssen nicht die hoch bezahlten Informatiklehrer<br />
die Computer warten, sondern man nimmt Sachmittel<br />
und betraut, wie das jedes vernünftige Unternehmen<br />
macht, ein Serviceunternehmen mit der Betreuung dieser Computer.<br />
Wenn wir den Menschen Freiraum geben, sieht man, wie<br />
gut sie damit zurechtkommen. Leider sind es nur 17 Pilotschulen;<br />
ich würde mir wünschen, diese Autonomie wäre schneller<br />
flächendeckend zu haben.<br />
Abschließend möchte ich noch einmal betonen, wie wichtig es<br />
mir erscheint, dass es gelingt, den Länderegoismus zurückzudrängen<br />
und im Sinne der Menschen, der Schüler, der Kinder, schnell<br />
bundeseinheitlich zu handeln. Wir wissen, was wir tun müssen.<br />
STATEMENT<br />
Peter Hubertus<br />
Der Bundesverband Alphabetisierung und Grundbildung geht von<br />
vier Millionen funktionalen Analphabeten in Deutschland aus,<br />
also etwas mehr als sechs Prozent der Erwachsenen. Das ist eine<br />
Schätzung, die auf verschiedenen Indikatoren beruht. Eine<br />
empirische Untersuchung zur Größenordnung des funktionalen<br />
Analphabetismus gibt es allerdings nicht. Zweifellos wäre es<br />
vorteilhaft, wenn es gesicherte Aussagen über die Anzahl der<br />
Erwachsenen mit unzureichenden Lese- und Schreibfertigkeiten<br />
gäbe. Erkenntnisse über die Quantität dieser Personengruppe<br />
wären etwa für bildungspolitische Entscheidungen in Bezug auf<br />
den Auf- und Ausbau der Alphabetisierungsarbeit in Deutschland<br />
äußerst hilfreich.<br />
Eine entscheidende Voraussetzung für Aussagen zur Größenordnung<br />
des funktionalen Analphabetismus besteht darin, die minimalen<br />
Kenntnisse und Fähigkeiten zu bestimmen, über die<br />
Erwachsene verfügen müssen, um in unserer Gesellschaft als<br />
ausreichend alphabetisiert zu gelten. Innerhalb jeder Altersgruppe<br />
gibt es Menschen, die mehr oder weniger gut lesen und<br />
schreiben können. Welche Qualität von schriftsprachlichen<br />
Fähigkeiten muss aber mindestens vorhanden sein?<br />
Eine empirische Untersuchung zum Lesevermögen – wie etwa<br />
die Pisa-Studie – kann nachweisen, wie groß die Gruppe derjenigen<br />
Schülerinnen und Schüler ist, die über sehr gute oder sehr<br />
schlechte Fähigkeiten verfügen. Bis zu welcher Kompetenzstufe<br />
handelt es sich um funktionalen Analphabetismus? Und ab<br />
welcher Kompetenzstufe sind Erwachsene ausreichend alphabetisiert?<br />
Bei welchem Prozentrang des Leseverstehens und der<br />
Schreibkompetenz kann die Grenze gezogen werden, die funktionale<br />
Analphabeten und alphabetisierte Erwachsene voneinander<br />
trennt? Eine Bestimmung der erforderlichen minimalen<br />
schriftsprachlichen Kenntnisse ist Voraussetzung dafür, Aussagen<br />
über die Anzahl funktionaler Analphabeten vorzunehmen.<br />
Quantitative Aussagen zur Größenordnung der Betroffenen setzen<br />
qualitative Aussagen zum Mindestniveau voraus.<br />
Die Pisa-Studie aus dem Jahr 2000, die allerdings nicht die<br />
Schreibkompetenz untersucht hat, hat einen <strong>Bild</strong>ungsschock<br />
in Deutschland ausgelöst: Knapp zehn Prozent der getesteten<br />
15-jährigen Schülerinnen und Schüler – so die Ergebnisse – verfügten<br />
über so geringe Lesekompetenzen, dass sie unterhalb<br />
der niedrigsten Kompetenzstufe rangieren. Der Bundesverband<br />
Alphabetisierung und Grundbildung geht davon aus, dass diese<br />
geringen Kompetenzen keineswegs ausreichend sind, also Erwachsene<br />
mit diesen Fähigkeiten zur Gruppe der funktionalen<br />
Analphabeten zählen. Andere vertreten die Auffassung, dass<br />
auch die Jugendlichen, deren Lesefähigkeiten auf der Kompetenzstufe<br />
I anzusiedeln sind, zu den funktionalen Analphabeten<br />
gehören. Damit wären etwa 23 Prozent der Jugendlichen nicht<br />
ausreichend alphabetisiert.<br />
Die im Jahr 2000 getesteten Jugendlichen sind im Jahr 2007<br />
etwa 22 Jahre alt, also erwachsen. Unter der Annahme, dass sich<br />
in dieser Personengruppe die Lesekompetenz in den vergangenen<br />
sieben Jahren nicht erweitert hat und Personen, die im<br />
Jahr 2000 höheren Kompetenzstufen zugeordnet worden sind,<br />
ihre Fähigkeiten nicht eingebüßt haben, gibt es innerhalb dieser<br />
Altersgruppe 10 bis 23 Prozent funktionale Analphabeten.<br />
Fakt ist, dass verschiedene absolute und relative Zahlenangaben<br />
kursieren. Welcher Kenntnisstand als ausreichend oder<br />
unzureichend gekennzeichnet wird, ist abhängig von den<br />
gesellschaftlichen Anforderungen. Wie viele Lese- und Schreibkenntnisse<br />
sind erforderlich? Tendenziell werden immer höhere<br />
Fähigkeitsstufen als Mindestqualifikation angesetzt.<br />
43
Zum Glück haben wir eine deutlich längere Schulpflicht – über<br />
die dritte Klasse hinaus. Und auch in den höheren Klassen geht<br />
es immer noch um die Schrift: um die Ausweitung der Lese- und<br />
Schreibfähigkeiten. Ein Kompetenzniveau, wie es in der dritten<br />
Klasse erreicht wird, kann vielleicht als das unterste Niveau (für<br />
Erwachsene) akzeptiert werden. Wenn Deutschland eine Wissensgesellschaft<br />
sein will und im globalen Wettbewerb bestehen<br />
will, können wir es uns aber sicherlich nicht leisten, dass<br />
mindestens vier Millionen Erwachsene höchstens so gut lesen<br />
und schreiben können wie Drittklässler.<br />
Erhebungen bei Rekruten haben schon Ende des 19. Jahrhunderts<br />
ergeben, dass es kaum „totale“ Analphabeten gibt – fast<br />
alle konnten mit ihrem Namen unterschreiben. Damit schien<br />
das Problem des Analphabetismus durch die Einführung der<br />
Schulpflicht im deutschsprachigen Raum gelöst zu sein. Damals<br />
galt die Signierfähigkeit als Ausweis von Literarität. Heutzutage<br />
sind deutlich höhere Lese- und Schreibfähigkeiten erforderlich,<br />
um in der Gesellschaft zu bestehen. Letztlich entscheiden<br />
die gesellschaftlichen Anforderungen darüber, wie gut man<br />
lesen und schreiben können muss – im privaten Bereich, aber<br />
auch im beruflichen Leben. Man muss allerdings nicht nur diesen<br />
Anforderungen gerecht werden. Ebenso wichtig ist es, in<br />
der Lage zu sein, die Lese- und Schreibkenntnisse so einzusetzen,<br />
dass die eigenen Interessen verfolgt werden können.<br />
Wer als Erwachsener so gut lesen und schreiben kann wie üblicherweise<br />
ein Kind in der dritten Klasse, der ist meines Erachtens<br />
gerade so alphabetisiert. Wer diese Kompetenzstufe<br />
erreicht hat, kann in vielen Kontexten schriftsprachlich agieren.<br />
Die Lesekompetenz reicht aus, um leichte Texte zu verstehen.<br />
Fremdwörter oder englischsprachige Begriffe sowie komplizierte<br />
Satzkonstruktionen werden allerdings nicht verstanden.<br />
Die Schreibkompetenz reicht aus, um viele häufige Wörter<br />
richtig zu notieren.Auf Satz- und Textebene gelingt es, sich verständlich<br />
auszudrücken. Gleichwohl werden viele Wörter noch<br />
nicht orthografisch korrekt notiert.<br />
Abb.: Bundesverband Alphabetisierung und Grundbildung e.V.<br />
Funktionaler Analphabetismus ist ein gesellschaftliches Problem<br />
und damit eine gesellschaftliche Herausforderung. Funktionaler<br />
Analphabetismus ist darüber hinaus auch ein individuelles<br />
Problem für die Betroffenen. Sie können nicht gleichberechtigt<br />
an unserer Gesellschaft teilhaben. Sie können ihre Probleme<br />
mit der Schrift aber auch nicht offen ansprechen. Wer<br />
nur geringe Lese- und Schreibkenntnisse hat, darf nicht auffallen.<br />
Wer Schwierigkeiten beim Lesen und Schreiben hat, gilt als<br />
dumm. Und wer will schon gerne als dumm hingestellt werden?<br />
Deshalb ist funktionaler Analphabetismus in Deutschland<br />
immer noch ein verdecktes Problem. Die Betroffenen setzen<br />
sich beispielsweise nicht für ein Recht auf Lesen und Schreiben<br />
im Erwachsenenalter ein. Dass unzureichende Lese- und<br />
Schreibkenntnisse immer noch ein Tabuthema sind, wird auch<br />
an der Tatsache deutlich, dass es in Deutschland lediglich zwei<br />
Selbsthilfegruppen von Betroffenen gibt.<br />
In den Alphabetisierungskursen lernen viele Erwachsene, die<br />
einen Beruf ausüben. Sie nutzen die Chance, an der Volkshochschule<br />
zweimal in der Woche nach der Arbeit einen Lese- und<br />
Schreibkurs zu besuchen. Sie spüren, dass die Anforderungen in<br />
der Arbeitswelt steigen. Durch den Kursbesuch wollen sie ihre<br />
Kenntnisse erweitern – und so ihren Arbeitsplatz sichern.<br />
In den Alphabetisierungskursen gibt es aber auch viele Arbeitslose,<br />
für die meistens kein intensiveres Lernangebot zur Verfügung<br />
steht. Die Einrichtungen der Erwachsenenbildung sind<br />
nicht in der Lage, ein derartiges Kursangebot zu finanzieren,<br />
und die Arbeitsverwaltung ist vor allem für die berufliche Qualifizierung<br />
zuständig. Für die Alphabetisierung von Migrantinnen<br />
und Migranten gibt es seit Kurzem im Rahmen der vom<br />
Bundesamt für Migration und Flüchtlinge finanzierten Integrationskurse<br />
Lernmöglichkeiten. Für deutsche Erwachsene<br />
besteht jedoch nach wie vor dringender Handlungsbedarf.<br />
Unser Ziel muss sein, dass alle, die lesen und schreiben lernen<br />
wollen, auch im Erwachsenenalter eine Chance dazu haben. Im<br />
Moment gibt es im Bundesdurchschnitt 30 Alphabetisierungskurse<br />
an Volkshochschulen pro eine Million Einwohner. Es gibt<br />
Bundesländer mit 80 Kursen, aber auch Bundesländer, die nur<br />
drei Kurse pro eine Million Einwohner anbieten. Die Chancen<br />
zum Lesen- und Schreibenlernen für Erwachsene dürfen aber<br />
nicht davon abhängen, in welchem Bundesland man lebt. Alle<br />
Menschen in Deutschland haben ein Recht auf Grundbildung!<br />
Wir müssen ihnen die Möglichkeit eröffnen, in erreichbarer<br />
44
Zu dumm oder nicht gefördert? Haussmann/Süssmuth/Hüther/Hubertus<br />
Nähe ein bezahlbares und qualitativ hochwertiges Lernangebot<br />
wahrzunehmen.<br />
Wer soll das bezahlen und wer ist dafür zuständig? Eine Finanzierung<br />
der Durchführung von Alphabetisierungskursen ist für<br />
die Migrantinnen und Migranten über das Bundesministerium<br />
für Arbeit gewährleistet. Weiterhin werden durch das Bundesministerium<br />
für <strong>Bild</strong>ung und Forschung seit vielen Jahren Projekte<br />
zur Alphabetisierung finanziert. Ab 2007 sollen verschiedene<br />
Forschungsvorhaben realisiert werden, für die 30 Millionen<br />
Euro zur Verfügung stehen. Eine finanzielle Beteiligung des<br />
Bundes bei der Durchführung von Alphabetisierungskursen für<br />
deutsche Erwachsene oder beim Aufbau und dem Erhalt einer<br />
bundesweiten Infrastruktur ist allerdings nicht möglich. Für <strong>Bild</strong>ung<br />
sind die Bundesländer zuständig. Und deren Engagement<br />
bei der Finanzierung von Maßnahmen zur Alphabetisierung<br />
lässt häufig zu wünschen übrig. Für den Aufbau einer bundesweiten<br />
Infrastruktur sind sie allerdings ebenfalls nicht zuständig.<br />
Die Arbeitsverwaltung sollte zumindest für arbeitslose funktionale<br />
Analphabeten für Angebote sorgen. In einigen Orten gibt<br />
der Förderung zu beginnen. Aber das reicht nicht aus. Pisa hat<br />
uns auch gezeigt, dass <strong>Bild</strong>ungschancen wie <strong>Bild</strong>ungsbenachteiligungen<br />
stark vom Elternhaus abhängen. Wenn wir die Kinder<br />
aus sozial benachteiligten Familien fördern wollen, dann<br />
müssen wir auch die Eltern unterstützen. Nicht nur die Frühförderung<br />
ist wichtig. Auch die Alphabetisierung ist eine Maßnahme<br />
zur Prävention von Analphabetismus. Jeder Vater, der<br />
lesen und schreiben lernt, jede Mutter, die lesen und schreiben<br />
lernt, kann das eigene Kind viel besser unterstützen, wenn es<br />
in die Schule kommt. Die „soziale Vererbung“ von funktionalem<br />
Analphabetismus kann durch die Förderung der Kinder und<br />
durch die Förderung der Eltern unterbrochen werden.<br />
Alle Institutionen mit ihrer jeweiligen Ausrichtung auf verschiedene<br />
Altersgruppen – vom Kindergarten über die Schule<br />
bis zur Erwachsenenbildung – müssen das Ziel verfolgen,<br />
Grundbildung zu vermitteln und die Voraussetzungen dafür zu<br />
schaffen, dass weiteres Lernen möglich wird. Weiterhin ist es<br />
nötig, die finanzielle Ausstattung der <strong>Bild</strong>ungseinrichtungen<br />
sicherzustellen und einschlägige Qualifikationen der dort Tätigen<br />
zu gewährleisten.<br />
„Wir müssen in Deutschland deutlich mehr Anstrengungen unternehmen, um das <strong>Bild</strong>ungsniveau<br />
insgesamt anzuheben. Eine einseitige Elite-Förderung hilft nicht, wenn wir uns in<br />
einer globalisierten Welt behaupten wollen. Angesichts des demografischen Wandels ist es<br />
erforderlich, auch im Bereich der Grundbildung von Erwachsenen einen Schwerpunkt zu setzen.<br />
Es reicht keineswegs aus, Maßnahmen zur Prävention von Analphabetismus einzuleiten.“<br />
es bereits entsprechende Intensivkurse. Für die bundesweite<br />
Vernetzung der Aktivitäten, für die überregionale Öffentlichkeitsarbeit<br />
sowie die Ansprache von Betroffenen hat der<br />
Bundesverband Alphabetisierung und Grundbildung mit Unterstützung<br />
vieler Partner – vor allem aus der Wirtschaft – erste<br />
Erfolge erzielt. Um den erreichten Stand zu sichern und weiter<br />
auszubauen, sollte eine Stiftung zur Alphabetisierung und<br />
Grundbildung in Deutschland gegründet werden.<br />
Wir müssen in Deutschland deutlich mehr Anstrengungen<br />
unternehmen, um das <strong>Bild</strong>ungsniveau insgesamt anzuheben.<br />
Eine einseitige Elite-Förderung hilft nicht, wenn wir uns in<br />
einer globalisierten Welt behaupten wollen. Angesichts des<br />
demografischen Wandels ist es erforderlich, auch im Bereich<br />
der Grundbildung von Erwachsenen einen Schwerpunkt zu setzen.<br />
Es reicht keineswegs aus, Maßnahmen zur Prävention von<br />
Analphabetismus einzuleiten.<br />
Der Pisa-Schock hat in Deutschland zu einer Diskussion über <strong>Bild</strong>ung<br />
und <strong>Bild</strong>ungschancen geführt. Eine richtige Konsequenz<br />
ist sicherlich, möglichst früh, also bereits im Kindergarten, mit<br />
<strong>Bild</strong>ungsstand, soziale Lage und wirtschaftliche Leistungsfähigkeit<br />
sind aufeinander bezogen und bedingen einander. Ein<br />
Arbeitsloser, der auf Dauer von Berufstätigkeit ausgeschlossen<br />
ist, resigniert vermutlich irgendwann. Vielleicht wendet er sich<br />
sogar von der Gesellschaft und ihren Werten ab. Einer Familie,<br />
die auf Dauer von staatlichen Transferleistungen leben muss,<br />
fällt es tendenziell schwerer, die Kinder zu erziehen und sie auf<br />
die Schule und die Anforderungen der Arbeitswelt vorzubereiten.<br />
In einem Stadtviertel oder in einer Region mit hoher<br />
Arbeitslosigkeit wird es schwieriger sein, einen gewissen <strong>Bild</strong>ungsstandard<br />
zu halten.<br />
<strong>Bild</strong>ung ist eine Voraussetzung für Beschäftigung. <strong>Bild</strong>ung ist<br />
eine Chance für Beschäftigung. <strong>Bild</strong>ung ist aber keine Garantie<br />
auf Beschäftigung. In der Diskussion um Grundbildung darf es<br />
aber nicht nur um Beschäftigungsfähigkeit gehen. Unsere Verfassung<br />
garantiert das Grundrecht der Meinungs- und Informationsfreiheit.<br />
Menschen, die nicht richtig lesen und schreiben<br />
können, sind in diesen zentralen Grundrechten beeinträchtigt.<br />
Wir sind deshalb verpflichtet, alles zu tun, um funktionalen<br />
Analphabeten die Teilhabe in der Gesellschaft zu ermöglichen.<br />
45
Reformland Deutschland –<br />
International auf dem Abstellgleis?<br />
Während Lehrer wie Schüler und Eltern noch vollständig mit der Umsetzung der Nach-Pisa-<strong>Bild</strong>ungsreformen<br />
beschäftigt sind, mehren sich erste kritische Stimmen zum eingeleiteten Reformprozess.<br />
Reichen die beschlossenen Maßnahmen aus, oder braucht Schule weitergehende Impulse? Wie können<br />
die offenbar gewordenen Mängel durch eine verbesserte Förderung aller Schüler behoben werden?<br />
Dr. Ludwig Eckinger vom <strong>Verband</strong> <strong>Bild</strong>ung und Erziehung, Anja Ziegon, die Vorsitzende des Bundeselternrates,<br />
und Professor Dr. Klaus Hurrelmann von der Universität Bielefeld diskutierten auf dem<br />
Podium mit dem Koordinator der internationalen Vergleichsstudie, Dr. Andresas Schleicher, darüber,<br />
ob die Reformmaßnahmen nicht tiefer ansetzen müssten.<br />
Moderation: Yvonne Globert, Redakteurin Frankfurter Rundschau<br />
Eine Veranstaltung der<br />
Ludwig Eckinger<br />
Ludwig Eckinger, Dr., geb. 1944. Ausbildung zum Volksschullehrer an der PH Regensburg. Nach dem 2. Staatsexamen<br />
wissenschaftlicher Assistent an der Universität Regensburg. Promotion nach einem Aufbaustudium<br />
der Pädagogik und Politischen Wissenschaften. 1982-94 Leiter der Grundschule Saal a. d. Donau. Seit 1993<br />
Bundesvorsitzender des <strong>Verband</strong>es <strong>Bild</strong>ung und Erziehung (VBE). Seit 1996 Vorsitzender der Expertenkommission<br />
Schule, <strong>Bild</strong>ung und Wissenschaft des Deutschen Beamtenbundes (dbb); seit 2003 stellvertretender<br />
Vorsitzender der dbb Akademie. Zugleich Vizepräsident des Bayerischen Lehrerinnen- und Lehrerverbandes<br />
(BLLV).<br />
Anja Ziegon<br />
Anja Ziegon, Bankkauffrau und Sparkassenbetriebswirtin. Filial- und Abteilungsleiterin in Banken in Berlin<br />
und Neubrandenburg. Jurastudium. Seit 1996 in der aktiven Elternarbeit. Seit 2001 im Vorstand des Stadtelternrates<br />
Neubrandenburg und Delegierte im Landeselternrat Mecklenburg-Vorpommern, seit 2002 in dessen<br />
Vorstand und Delegierte im Bundeselternrat. 2003-06 Vorsitzende des Grundschulausschusses des Bundeselternrats.<br />
2006 zunächst stellvertretende Vorsitzende und seit November amtierende Vorsitzende des Bundeselternrates.<br />
46
Reformland Deutschland: Eckinger/Ziegon/Hurrelmann/Schleicher<br />
Klaus Hurrelmann<br />
Klaus Hurrelmann, Professor Dr., geb. 1944. Studium der Soziologie, Psychologie und Pädagogik. Promotion<br />
in Sozialisationsforschung. 1975 Habilitation. Seit 1980 Professor für Sozial- und Gesundheitswissenschaften<br />
an der Universität Bielefeld. Zuvor 14 Jahre lang an der Fakultät für Pädagogik tätig. 1994-99 Gründungsdekan<br />
der Fakultät für Gesundheitswissenschaften; 2003-06 deren Dekan. Seit 1998 Leiter des Kooperationszentrums<br />
„Health Behavior in School Children“ der WHO. Gastprofessuren im Ausland. 1986-98 Leiter des SFBs<br />
„Prävention und Intervention im Kindes- und Jugendalter“ der DFG. Leiter der letzten Shell-Jugendstudie.<br />
Andreas Schleicher<br />
Andreas Schleicher, Dr., geb. 1964. Studium der Physik an der Universität Hamburg und Mathematik an der<br />
Deakin University, Australien, Abschluss MSc. Seit 1997 betraut mit der Entwicklung und dem Management<br />
des OECD-<strong>Bild</strong>ungsindikatorenprogramms zur Bewertung der internationalen Schülerleistungen („Pisa“).<br />
Abteilungsleiter „Indikatoren und Analysen“ der OECD-Direktion <strong>Bild</strong>ung, Paris; Internationaler Koordinator<br />
der „Pisa“-Studie.<br />
47
STATEMENT<br />
Ludwig Eckinger<br />
Tatsache ist, dass Pisa zur Messlatte für deutsche <strong>Bild</strong>ungspolitik<br />
geworden ist. Unbestritten ist auch, dass Deutschland aufschließen<br />
möchte zur Spitzengruppe. Und ein dritter Aspekt sei<br />
unbedingt genannt: Pisa erfasst ausgewählte Bereiche schulischer<br />
<strong>Bild</strong>ung, ist zugeschnitten auf das Messen von Kompetenzen<br />
in Literacy, Mathematik, Naturwissenschaften und<br />
Fremdsprachen. Der harte internationale Vergleich legte für<br />
Deutschland systemische <strong>Bild</strong>ungsungerechtigkeit offen. Es<br />
tröstet nicht, dass dies auch für England gilt und dass in<br />
Frankreich nach gemeinsamer Schulzeit der Berufseinstieg für<br />
Jugendliche aus den sozial unteren Schichten kaum gelingt. Die<br />
Frage nach dem Abstellgleis ist deshalb nicht einfach mit Ja<br />
oder Nein zu beantworten. Wir stärken den <strong>Bild</strong>ungsstandort<br />
Deutschland nicht, indem wir blindwütig internationalen<br />
Trends hinterherrennen, sie unkritisch als modern übernehmen.<br />
Ich nenne Ihnen einige Trends, die auch zur Kenntnis genommen<br />
werden sollten:<br />
In Kanada haben die Kolleginnen und Kollegen große Sorgen,<br />
dass sie vom Staat nur noch als Testmaschinen gefragt sind. Ein<br />
engmaschiges Netz von Tests überzieht die schulische Arbeit.<br />
Mehr und mehr wird der öffentliche Fokus auf das Abschneiden<br />
der Einzelschule und das daraus folgende Schulranking gelegt.<br />
Man reduziert pädagogische Qualität auf Messbares. Gleichzeitig<br />
werden Schulen geschlossen, Klassen vergrößert und Lehrerinnen<br />
und Lehrer, die auf diese Weise überzählig werden,<br />
durch Regierungen in bestimmten Provinzen (beispielsweise in<br />
British Columbia) mit Abfindungen aus dem Beruf gedrängt.<br />
In England verschieben Schulen Musik-, Kunst- oder Sportunterricht<br />
in die Schulpausen, um in der regulären Unterrichtszeit<br />
mehr Raum für das Üben von Tests zu haben. Schulleiter<br />
sehen sich heftigstem öffentlichem Druck ausgesetzt, wenn<br />
ihre Testergebnisse unterdurchschnittlich sind. Es drohen<br />
Mittelkürzungen mit der letzten Konsequenz von Schulschließungen,<br />
wenn die Lehrerinnen und Lehrer nicht schnell genug<br />
Verbesserungen vorweisen können.<br />
Pisa ist wichtig, um den internationalen Vergleich zu ermöglichen,<br />
aber weder ist Pisa ein Instrument, noch liefert Pisa<br />
passgenaue Instrumente, um die Qualität von <strong>Bild</strong>ung und<br />
Erziehung in Deutschland zu verbessern. Das ist bedeutsam für<br />
das politische Handeln hierzulande. Der <strong>Verband</strong> <strong>Bild</strong>ung und<br />
Erziehung (VBE) sieht mit Sorge, dass überhastetes Abkupfern<br />
von Instrumentarien aus anderen Pisa-Ländern verwechselt<br />
wird mit einer nachhaltigen <strong>Bild</strong>ungsreform. In Deutschland<br />
geht es derzeit zu wie auf dem Jahrmarkt. Jeder, der in schlafloser<br />
Nacht einen Einfall hat, meldet sich des Tags lauthals zu<br />
Wort. Der <strong>Bild</strong>ungsbereich scheint ohnedies ein Terrain zu sein,<br />
auf dem alle „Experten“ sind, ausgenommen die Lehrerinnen<br />
und Lehrer, denn sie werden für die miserablen Pisa-Erträge an<br />
den Pranger gestellt.<br />
Der VBE pocht darauf, dass sich Bund und Länder endlich auf<br />
eine nationale <strong>Bild</strong>ungsstrategie verständigen. Wir brauchen<br />
ein überzeugendes Gesamtkonzept, um den direkten Zusammenhang<br />
zwischen der <strong>Bild</strong>ungskarriere jedes Kindes und seiner<br />
sozialen, ethnischen und regionalen Herkunft aufzubrechen. Es<br />
ist ein Muss jeder demokratischen Gesellschaft, dass allen<br />
jungen Bürgerinnen und Bürgern ein nach oben offener <strong>Bild</strong>ungsweg<br />
möglich ist. Die Maxime muss lauten: Die <strong>Bild</strong>ung<br />
jedes Einzelnen liegt im Interesse aller. Unser <strong>Bild</strong>ungssystem<br />
hat Sackgassen und ist zugleich wie eine Rutschbahn bloß nach<br />
unten, für den Abstieg offen. Selbst bei gleichen Leistungen<br />
haben (im Durchschnitt!) Kinder aus Familien der oberen Einkommensgruppen<br />
gegenüber ihren Altersgefährten aus unteren<br />
Einkommensgruppen die vierfache Chance, die Hochschulreife<br />
„Der VBE insistiert hartnäckig darauf, dass alle Bundesländer ihre gesamtstaatliche Verantwortung<br />
ausfüllen müssen. Pisa-Spitzenplätze für drei oder vier Länder sind kein Durchbruch.<br />
Anspruch auf <strong>Bild</strong>ungsgerechtigkeit besteht in der gesamten Bundesrepublik. Die Länder tun<br />
gut daran, sich nicht nur kontra Bund mit ihrer Zuständigkeit zu brüsten, sondern <strong>Bild</strong>ung<br />
tatsächlich zu einem Edelstein ihrer Politik zu machen.“<br />
In Japan steigt die Zahl von Schülerselbstmorden. Der<br />
Erfolgsdruck und die Angst zu scheitern sind so groß, dass<br />
junge Menschen ihrem Leben ein Ende machen oder sich in<br />
Aggressionen gegenüber Mitschülern und Lehrern Luft machen.<br />
zu erwerben. Zugleich kommen 90 Prozent der Schüler an<br />
Sonderschulen für Lernbehinderte aus Familien mit niedrigem<br />
sozioökonomischen Status. Das deutsche <strong>Bild</strong>ungssystem verfestigt<br />
den sozialen Ausgangsstatus seiner Schülerinnen und<br />
Schüler. Dieses gravierende Gerechtigkeitsproblem, das erkennbar<br />
zu einer gesellschaftlichen Zeitbombe reift, kann nicht<br />
durch Einzelmaßnahmen – und seien diese noch so wichtig –<br />
gelöst werden.<br />
1. Die <strong>Bild</strong>ungspolitik muss vom Kopf auf die Füße gestellt<br />
werden: Frühkindliche <strong>Bild</strong>ung, Kindergarten und Grundschule<br />
48
Reformland Deutschland: Eckinger/Ziegon/Hurrelmann/Schleicher Blindtext<br />
müssen die Grundlagen für eine gelingende <strong>Bild</strong>ungskarriere<br />
legen können. Auf den Anfang kommt es an! Das übrigens<br />
machen uns tatsächlich viele Pisa-Länder erfolgreich vor.<br />
2. Der Lehrerberuf braucht eine höhere gesellschaftliche Anerkennung<br />
und eine adäquate berufsspezifische, professionelle<br />
universitäre Lehrerbildung. Unser Beruf ist kein Notnageljob für<br />
jene, die nichts Besseres finden.<br />
3. Schulen brauchen gesicherte Rahmenbedingungen, um<br />
individuelles Fördern und Fordern jedes Kindes zu verwirklichen.<br />
Lehrerinnen und Lehrer müssen sich auf ein unterstützendes<br />
System aus Sozialpädagogen, Schulpsychologen, Jugendhelfern<br />
und Kinderärzten verlassen können.<br />
machen. Dennoch schlagen wir uns mit Tendenzen der Deprofessionalisierung<br />
herum. Der »Schweinezyklus« in der Personalpolitik<br />
– das heißt der Kreislauf aus bevorstehender Pensionierungswelle<br />
größten Ausmaßes und Lehrermangel – schlägt voll<br />
durch. Den Kultusministern fällt dazu lediglich ein, Klassen zu<br />
vergrößern, Quereinsteiger anzulocken und Eltern als Hilfslehrer<br />
zu engagieren. Zugleich wird die Eingangsbesoldung junger<br />
Lehrerinnen und Lehrer abgesenkt, werden Berufseinsteiger<br />
mit befristeten Verträgen abgespeist. Und unter der Flagge des<br />
Bologna-Prozesses versuchen einzelne Bundesländer die Lehrerausbildung<br />
für Grund- und Hauptschulen auf Bachelor-Maß zu<br />
stutzen und dadurch die überkommene Idee von der ,niederen‘<br />
und ,höheren‘ Lehranstalt durch ,niedere‘ und ,höhere‘ Lehrer<br />
wiederzubeleben.<br />
Einen ersten Schritt hin zu einer solchen<br />
nationalen <strong>Bild</strong>ungsstrategie haben die Kultusminister<br />
direkt nach Pisa 2000 unternommen,<br />
aber dann stellte sich heraus, dass doch<br />
jedes Bundesland sich selbst am nächsten ist.<br />
Eine nationale <strong>Bild</strong>ungsstrategie wurde abgeblockt.<br />
Der Bund – das Gesamtschulprogramm<br />
– wurde unerlaubter <strong>Bild</strong>ungsinitiativen<br />
bezichtigt.<br />
Die Föderalismusreform hat klar die Verantwortung<br />
der Länder für <strong>Bild</strong>ung gestärkt. Sie<br />
ist aber keine Eintrittskarte in die Kleinstaaterei.<br />
Der VBE insistiert hartnäckig darauf,<br />
dass alle Bundesländer ihre gesamtstaatliche<br />
Verantwortung ausfüllen müssen. Pisa-Spitzenplätze<br />
für drei oder vier Länder sind kein<br />
Durchbruch. Anspruch auf <strong>Bild</strong>ungsgerechtigkeit<br />
besteht in der gesamten Bundesrepublik.<br />
Die Länder tun gut daran, sich nicht nur<br />
kontra Bund mit ihrer Zuständigkeit zu brüsten,<br />
sondern <strong>Bild</strong>ung tatsächlich zu einem<br />
Edelstein ihrer Politik zu machen. Das Jahr<br />
2007 ist für den VBE Gradmesser, wie die Kultusministerkonferenz<br />
(KMK) den kooperativen<br />
Föderalismus auf den Weg bringt.<br />
Ein Meilenstein hin zu mehr <strong>Bild</strong>ungsgerechtigkeit könnte die<br />
Umsetzung der gemeinsamen Erklärung zum individuellen Fördern<br />
und Fordern aller Schülerinnen und Schüler werden, die<br />
am 19. Oktober 2006 von KMK und allen Lehrerorganisationen<br />
in Berlin unterzeichnet wurde und die in zwei Jahren evaluiert<br />
wird. Dieses Papier umzusetzen führt zu einer Lehr- und Lernkultur,<br />
die nicht mehr auf Auslese ausgerichtet ist. Der VBE hat<br />
seine Unterschrift gegeben, weil die Kultusminister sich nicht<br />
nur zu einer besseren Finanzierung des <strong>Bild</strong>ungsbereichs<br />
bekannt haben, sondern auch zu verlässlichen Unterstützungssystemen.<br />
Wir wissen ja, dass das nicht im Selbstlauf passiert.<br />
Alarmierend sind für uns die Angriffe auf unsere Profession.<br />
Bessere Schule ist ohne Lehrerinnen und Lehrer nicht zu<br />
Cartoon: Mester<br />
Für den VBE ist die Reform der Lehrerbildung hin zu einem<br />
grundständigen pädagogischen Studium und einem universitären<br />
Master-Abschluss für alle Lehramtsstudierenden die Schlüsselreform.<br />
Auch hier stehen die Kultusminister in der Pflicht,<br />
endlich nationale Standards für die Lehrerbildung zu definieren,<br />
damit ein weiteres Auseinanderdriften in der Lehrerbildung<br />
gestoppt wird.<br />
Zur Stärkung unserer Profession initiierte der VBE zusammen<br />
mit den Lehrerorganisationen des Deutschen Beamtenbundes<br />
(dbb) die Potsdamer Lehrerstudie. Erstmals wurde nicht nur die<br />
hohe gesundheitliche Belastung im Lehrerberuf untersucht; die<br />
Lehrerstudie entwickelte in einem zweiten Teil präventive Strategien,<br />
um ein Scheitern im Beruf zu verhindern, sich vor dem<br />
Burn-out-Syndrom zu schützen und ein positives Arbeitsklima<br />
49
an der Schule zu gestalten. Die Studie ist auch ein wichtiger<br />
Beitrag, unseren Beruf in der Öffentlichkeit transparenter zu<br />
machen.<br />
Darüber hinaus hat der VBE anlässlich des Weltlehrertages<br />
am 5. Oktober 2006 angestoßen, mehr Migranten für den<br />
Lehrerberuf zu gewinnen, ausdrücklich nicht nur für Brennpunktschulen.<br />
Die <strong>Bild</strong>ungsbenachteiligung für Migranten in<br />
Deutschland wirkt sich bis in den Lehrerberuf aus. Von den<br />
740 711 beschäftigten Lehrerinnen und Lehrern an allgemein<br />
bildenden Schulen sind 5302 ausländische Kolleginnen und Kollegen.<br />
Das sind rund 0,7 Prozent. Hinzu kommen die Kolleginnen<br />
und Kollegen mit deutschem Pass aus Einwandererfamilien.<br />
Der VBE schätzt den Gesamtanteil auf ein Prozent. (Die Statistik<br />
weist die letztgenannte Gruppe nicht aus.)<br />
Aber beinahe 20 Prozent der Bevölkerung, rund 15 Millionen<br />
Menschen, haben laut Mikrozensus 2005 einen Migrationshintergrund.<br />
Unter den Grundschülern sind dies 29,2 Prozent, in<br />
der Sekundarstufe I 26,7 Prozent und bei den 16- bis 25-Jährigen<br />
21,4 Prozent. Mehr als jeder Vierte unter 25 Jahren – sechs Millionen<br />
Personen – haben einen Migrationshintergrund. Quoten<br />
von 50 Prozent und mehr sind in vielen Stadtteilen bereits Realität.<br />
Für das <strong>Bild</strong>ungssystem bedeutet dies, dass es zu einem<br />
Großteil von kultureller, sprachlicher und religiöser Vielfalt<br />
geprägt ist, bislang aber wesentlich durch die Schülerschaft.<br />
Der geringe Anteil von Migranten in der Lehrerschaft bedeutet<br />
einen Erfahrungsverlust sowie das Versäumnis, die interkulturelle<br />
Dimension von <strong>Bild</strong>ung und Erziehung zu gestalten.<br />
Abschließend ein Wort zu den Instrumentarien, die ohne Zweifel<br />
nötig sind, um zu prüfen, wie uns die Lösung des Gerechtigkeitsproblems<br />
gelingt. Wir haben inzwischen <strong>Bild</strong>ungsstandards,<br />
einen ersten nationalen <strong>Bild</strong>ungsbericht und eine Latte<br />
von anstehenden internationalen und länderübergreifenden<br />
Vergleichen und Tests. Es wird gemessen, was das Zeug hält.<br />
Und es werden uns Schulrankings in Aussicht gestellt. Wer aber<br />
wird vom Messen besser? Schulen wollen nicht, dass an ihnen<br />
Maß genommen wird; sie wollen sich vergleichen können, ihre<br />
Stärken und Schwächen erkennen, sich ganz auf ihre jeweiligen<br />
Schülerinnen und Schüler einstellen können. Eine Kultur<br />
des Fehler-machen-Dürfens ist in Deutschland ohnehin bisher<br />
nicht entwickelt. Ich befürchte, dass die Testeritis lediglich die<br />
Kultur des kognitiven Büffelns und nicht eine Kultur des Sich-<br />
Anstrengens befördert. Ebenso sind die <strong>Bild</strong>ungsstandards bisher<br />
nicht als Förderinstrumente angelegt, sondern eher als<br />
Hürden, über die die Schüler zu springen haben, um weiterzukommen.<br />
Der äußeren Form nach geben sich die Länder internationaler<br />
„Modernität“ hin, aber bei genauerem Hinsehen besteht die<br />
Gefahr, die systemischen Schwächen, also die <strong>Bild</strong>ungsbenachteiligung<br />
der Kinder aus unteren sozialen Schichten, zu stärken.<br />
STATEMENT<br />
Anja Ziegon<br />
Ich persönlich finde den Vergleich unseres <strong>Bild</strong>ungssystems mit<br />
einem D-Zug passender. Zu seiner Zeit war er im Vergleich mit<br />
anderen schnell. Heute gibt es ICEs, die wesentlich effektiver<br />
sind. Leider halten wir in der flächendeckenden <strong>Bild</strong>ung in<br />
Deutschland immer noch am D-Zug fest. Unsere <strong>Bild</strong>ungsminister<br />
schrauben ohne Gesamtkonzept an einzelnen Teilen herum,<br />
und das auch noch 16 Mal verschieden. Während der eine eine<br />
Schraube löst, zieht der nächste sie bei seinem D-Zug fester an.<br />
So schafft Niedersachsen die schulartunabhängige Orientierungsstufe<br />
ab, und Mecklenburg-Vorpommern führt sie ein. Dieses<br />
unabgestimmte, zum Teil widersprüchliche Klein-Klein in<br />
den Bundesländern hat als Reaktion auf das schlechte Abschneiden<br />
unserer Jugendlichen bei Pisa nur zu erhöhtem Druck auf<br />
Schüler und Lehrkräfte geführt.<br />
Was jedoch in allen Bundesländern gleich ist, ist dass es nach<br />
wie vor kein einklagbares Recht der Schüler auf Förderung und<br />
Forderung, geschweige denn auf solche in individueller Form<br />
gibt. Man darf teilhaben an dem, was der Staat – oder bei uns<br />
eben in der Schulbildung die Länder – gewillt ist, zur Verfügung<br />
zu stellen. Und das ist dann wiederum 16 Mal anders. Die Verantwortung<br />
für den Lernerfolg trägt der Schüler und mit ihm<br />
sein Elternhaus. Wir nehmen damit seit Längerem billigend in<br />
Kauf, dass wir einen beachtlichen Teil unserer Kinder – mittlerweile<br />
betrifft dies ein Viertel – auf Dauer von der aktiven Teilhabe<br />
an unserer Gesellschaft ausschließen.<br />
Es fehlt nach wie vor ein Gesamtkonzept, eine nationale <strong>Bild</strong>ungsstrategie,<br />
die Schulstruktur, Schul- und Lernkultur als Einheit<br />
sieht. Eine <strong>Bild</strong>ungsstrategie, bei deren Erarbeitung als<br />
oberste Prämisse gilt, dass jedes Kind nach seinen Bedürfnissen<br />
optimal gefördert und gefordert werden muss und alles zur Verfügung<br />
gestellt wird, was benötigt wird, um dieses Ziel zu<br />
erreichen. Und dass genauso alles eliminiert wird, das diesem<br />
Ziel abträglich ist. Wir brauchen eine <strong>Bild</strong>ungsstrategie, die<br />
erkennt, dass alle Unterstützung, die ein Kind braucht, konzentriert<br />
an einem Punkt zu finden sein muss, anstatt sie über<br />
verschiedene Stellen wie Schule, Kindergarten, sozialpädagogische<br />
Zentren, psychologische Beratungsstellen usw. zu verteilen.<br />
Ich meine damit nicht, dass diese Aufgaben alle von Lehrern<br />
übernommen werden sollen. Hierzu gehören viele verschiedene<br />
Professionen, die aber alle in der Schule oder in<br />
unmittelbarer Nähe angesiedelt sein sollten.<br />
Ohne eine solche nationale <strong>Bild</strong>ungsstrategie ist eine auf individuelle<br />
Förderung und Forderung gerichtete <strong>Bild</strong>ungspolitik<br />
nicht möglich, wie uns allenthalben deutlich wird. Ich habe<br />
starke Zweifel, ob die KMK je in der Lage sein wird, „gesamtgesellschaftliche<br />
Verantwortung“ zu übernehmen.<br />
Diese Zweifel werden genährt erstens aufgrund einer Unterlassung<br />
der KMK, nämlich der Unterlassung, zu den als Reaktion<br />
50
Reformland Deutschland: Eckinger/Ziegon/Hurrelmann/Schleicher<br />
auf Pisa am 6. Dezember 2001 beschlossenen sieben Handlungsfeldern<br />
bis heute keine öffentlich zugängliche Dokumentation<br />
vorgelegt zu haben, aus der hervorgeht, welche Bundesländer<br />
sich in welchen Handlungsfeldern mit welchem Ressourceneinsatz<br />
engagieren.<br />
Ich erwarte, dass wir uns endlich dem finnischen Grundsatz<br />
»Kein Kind darf verloren gehen!« anschließen und auch danach<br />
handeln.<br />
„Wir brauchen eine <strong>Bild</strong>ungsstrategie, die erkennt, dass alle Unterstützung, die ein Kind<br />
braucht, konzentriert an einem Punkt zu finden sein muss, anstatt sie über verschiedene<br />
Stellen wie Schule, Kindergarten, sozialpädagogische Zentren, psychologische Beratungsstellen<br />
usw. zu verteilen.“<br />
Zweitens nähren sich die Zweifel aber auch aus einem Handeln<br />
der KMK, nämlich der Einführung der im Gegensatz zu den<br />
Empfehlungen der Expertise von Herrn Professor Klieme stehenden<br />
<strong>Bild</strong>ungsstandards.<br />
Auch hier spiegelt sich die Scheu der Politiker davor, Kindern<br />
ein einklagbares Recht auf <strong>Bild</strong>ung einzuräumen. Statt nach der<br />
Empfehlung förderorientierte, schulformübergreifende Mindeststandards<br />
auf der Basis empirisch erprobter Kompetenzmodelle<br />
zu entwickeln und den zuständigen Wissenschaften genügend<br />
Zeit für diesen anspruchsvollen Auftrag zu geben – man<br />
hätte ja auch von anderen, z. B. von anderen Ländern, lernen<br />
können –, werden im Eigenbau nicht förder-, sondern ausdrücklich<br />
prüfungsorientierte und nicht schulformübergreifende,<br />
sondern schulformspezifische Regelstandards auf der Basis<br />
traditioneller Lehrpläne und der darin enthaltenen Lernziele<br />
vorgestellt.<br />
Um <strong>Bild</strong>ung in Deutschland in einen ICE zu verwandeln – oder<br />
von mir aus auch vom Abstellgleis zu holen –, erwarte ich von<br />
den verantwortlichen Politikern,<br />
dass sie ihre bildungspolitische Kleinstaaterei, zu der es in<br />
ganz Europa nichts Vergleichbares gibt, aufgeben und zu<br />
einer effektiven Zusammenarbeit kommen,<br />
dass sie sich beherzt mit der <strong>Bild</strong>ungsfinanzierung, Schulstruktur<br />
und Migration auseinandersetzen oder, sollten sie<br />
sich hierzu nicht in der Lage sehen,<br />
die Kompetenz an den Bund abgeben.<br />
STATEMENT<br />
Klaus Hurrelmann<br />
Die Shell-Studie, die alle 12- bis 25-Jährigen in Deutschland<br />
repräsentativ befragt, zeigt uns in ihren Ergebnissen, dass wir<br />
heute eine junge Generation mit einer sehr hohen erklärten<br />
Leistungsbereitschaft haben. Das gab es bislang selten, dass in<br />
Studien die junge Generation ausdrücklich sagt, sie halte Investitionen<br />
in ihre <strong>Bild</strong>ung für wichtig. Dass sie Wert darauf legt,<br />
Karriere zu machen und den Aufstieg im Blick hat. Das, was in<br />
den letzten sechs, sieben Jahren eingetreten ist, haben wir<br />
zuvor 20 Jahre lang nicht für möglich gehalten. Die Null-Bock-<br />
Mentalität ist verschwunden, stattdessen registrieren wir, dass<br />
die junge Generation sehr hohe Ambitionen hat. Das fällt auf.<br />
Wenn ich das auf das Thema unseres Podiums münze, dann<br />
gelingt es uns strukturell in Deutschland nicht, diese von den<br />
Schülerinnen und Schülern zu Protokoll gegebene Bereitschaft<br />
auszuschöpfen. Die Schülerinnen liegen bei uns übrigens ganz<br />
vorne; sie sind inzwischen eindeutig leistungsmotivierter und<br />
erfolgreicher in ihrer Schullaufbahn, auch was den Abschluss<br />
angeht: Wir verzeichnen fast 55 Prozent Abiturientinnen, nur<br />
noch 45 Prozent Abiturienten; ähnlich ist das Verhältnis im<br />
Mittelstufenabschluss. Die Frauen stellen unsere neuen <strong>Bild</strong>ungseliten<br />
im Schulbereich. Unserem Schulsystem gelingt es<br />
spezifisch bei den jungen Männern nicht, diese erklärte Leistungsmotivation<br />
auszunutzen; hier werden offenbar strukturelle<br />
pädagogische Fehler begangen. Dies wird erst recht deutlich,<br />
wenn dann die Leistungsergebnisse auch im internationalen<br />
Vergleich nur mäßig ausfallen.<br />
Ich erwarte, dass das System Schule jedes Kind optimal auf<br />
seinem <strong>Bild</strong>ungsweg begleitet und in der Nachweispflicht<br />
ist, alles hierfür Mögliche getan zu haben.<br />
Ich erwarte, dass die hierfür notwendigen Ressourcen zur<br />
Verfügung gestellt werden.<br />
Wir haben es mit einer jungen Generation zu tun, die sich<br />
zurückzieht, weil sie keine realistische Chance sieht, sich zu<br />
beteiligen. Sie spürt, dass sie sehr früh in die Jugendphase hineinkommt,<br />
weil die Geschlechtsreife sich im Lebenslauf immer<br />
weiter nach vorne verlagert. Die Kinderphase wird dadurch<br />
immer kürzer, das Jugendalter beginnt sehr früh, aber die<br />
Jugendphase endet nicht mehr richtig. Sie streckt sich und<br />
51
streckt sich und hat keine klaren Ausgänge mehr, weil eben<br />
Unsicherheit besteht, ob man eine Lehrstelle bekommt, ob man<br />
einen Beruf erlernen kann.<br />
Auch das hat die Shell-Studie erbracht: Es existiert ein hohes<br />
Angstniveau. 50 Prozent der Befragten haben Ängste, Furcht<br />
muss man eigentlich sogar sagen, dass sie nicht in den Arbeitsmarkt<br />
hineinkommen – eine schreckliche Ungewissheit. Und<br />
das führt mit zu einer politischen Abstinenz und zu dem untergründigen<br />
Gefühl, dass die Politikerinnen und Politiker nicht in<br />
der Lage sind, diejenigen Probleme zu lösen, die die junge<br />
Generation beschäftigen. Trotz dieser apathischen und zurückhaltenden<br />
Mentalität herrscht eine noch sehr konstruktive<br />
Stimmung, aber die kann jederzeit umschlagen. Nach der letzten<br />
Shell-Jugendstudie zu urteilen, befinden wir uns auf der<br />
Kippe. Die jungen Männer zumal halten es nicht mehr lange<br />
Das Thema Chancengerechtigkeit, das Thema Leistung wäre in<br />
Deutschland nie aufgekommen ohne die Außensicht der Vergleichsstudien<br />
und -tests, aber ich gebe Herrn Eckinger recht:<br />
Es gibt in Deutschland ein zunehmendes Missverhältnis zwischen<br />
Tests und ihrer intelligenten Nutzung, und das muss man<br />
wieder in Gleichklang bringen. Wir müssen uns die Frage stellen,<br />
wie man die Informationen, die wir aus solchen Tests<br />
gewinnen, den Leuten, die tagtäglich im Unterrichtsgeschehen<br />
stehen, nutzbar und verfügbar macht.<br />
Dafür kann und muss man sehr viel tun; wir müssen hier ein<br />
deutlich besseres Verhältnis finden zwischen einerseits dem<br />
Evaluationssystem und andererseits Unterstützungssystemen.<br />
Wenn sich das Missverhältnis jedoch weiter so entwickelt wie<br />
bislang, gibt es mehrere Konsequenzen, über die wir uns Sorgen<br />
machen müssen.<br />
„Die Pisa-Ergebnisse sind so zu interpretieren, dass wir einen pädagogischen Paradigmenwechsel<br />
benötigen, und zwar weg von der Angebotsorientierung des Schulsystems, hin zu einer<br />
Nachfrageorientierung.“<br />
durch, dass sie vom System derart in die Sonderschulen, in die<br />
Hauptschulen hineingedrückt werden, dass sie ohne Perspektive<br />
sind. Es ist absehbar, dass sie sich auflehnen werden, da sie<br />
mit dieser Situation nicht zurechtkommen.<br />
Wie Frau Ziegon gesagt hat: Ihnen fehlen männliche Vorbilder,<br />
die die Jungen spezifischer fördern und auch mehr auf ihre Ängste,<br />
Sorgen, Zukunftsängste eben eingehen. Ich habe hohen Respekt<br />
davor, dass Frauen sich im Kindergarten als Erzieherinnen<br />
und in den Grundschulen als Lehrerinnen einen Bereich nahezu<br />
vollständig für sich erobert haben, das ist ein schöner Erfolg.<br />
Aber dafür können sich die Schüler nicht viel kaufen, denn eine<br />
Lehrerin oder eine Erzieherin kann nun einmal von ihrer Geschlechtszugehörigkeit<br />
her kein direktes Vorbild für einen Jungen<br />
oder für einen jungen Mann sein. Da haben wir Hausaufgaben<br />
zu erledigen, die darauf hinauslaufen, dass wir das Absinken<br />
von jungen Männern in ihrer Leistungsfähigkeit und in<br />
ihrer Sozialkompetenz verhindern müssen. In der Konsequenz<br />
dieses Abwärtstrends klammern sie sich in beängstigender<br />
Weise an traditionelle Männerrollen. Während Frauen die Verbindung<br />
von Beruf und Familie befürworten und dies auch<br />
anstreben, fallen viele junge Männer ab. Es ist ein deutlicher<br />
Unterschied zwischen den beiden Geschlechtern zu verzeichnen.<br />
Wir machen Fehler im pädagogischen Aufbau der Schule,<br />
die zu einer Verschlechterung des Leistungsstandes und der<br />
Sozialkompetenz von vielen jungen Männern führen. Dies trifft<br />
selbstverständlich nicht auf alle zu, aber die Gruppe ist zu groß.<br />
Eine solche Problematik ist bei den Mädchen und bei den jungen<br />
Frauen in deutlich geringerem Maße zu verzeichnen.<br />
1. Tests führen letztendlich zur Verengung des Horizonts. Lehrer<br />
sind ja intelligente Menschen, die folglich das unterrichten<br />
werden, was später abgefragt wird. Und wenn immer weniger<br />
abgefragt wird, dann führt das zu einer Verengung.<br />
2. Das führt zu den gleichen Reaktionen bei Schülern und<br />
Eltern. Abfragbares Routinewissen tritt in den Vordergrund,<br />
in der Wissensgesellschaft jedoch ist das immer weniger von<br />
Bedeutung.<br />
Alles, was wir heute digitalisieren und automatisieren können,<br />
was sich leicht testen, leicht unterrichten lässt, dem kommt<br />
immer weniger Bedeutung zu. Es sind andere Entscheidungskompetenzen<br />
gefragt. Und solange die in Evaluationssystemen<br />
nicht ausreichend zur Geltung kommen, gibt es ein Ungleichgewicht.<br />
Das heißt nicht, dass man unbedingt weniger testen<br />
sollte, aber man muss das Verhältnis korrigieren zwischen dem<br />
Evaluieren und der Nutzung von Evaluation.<br />
Ich möchte noch ein von uns tabuisiertes Thema ansprechen,<br />
nämlich die Struktur unseres gesamten Schulsystems. Es<br />
herrscht ein stillschweigender Konsens, dass man aus den Pisa-<br />
Ergebnissen nichts schließen könne über den Aufbau unseres<br />
Schulsystems und schon gar nicht daraus ableiten könne, dass<br />
wir eine andere Struktur insbesondere des Sekundarstufensystems<br />
benötigten. Selbstverständlich: Die Motivation, sich so zu<br />
verhalten, ist nachvollziehbar. Wir haben eine schrecklich<br />
unfruchtbare Diskussion über eine Reform des Sekundarschulsystems<br />
in den 1980er-Jahren gehabt, die uns praktisch nichts<br />
52
Reformland Deutschland: Eckinger/Ziegon/Hurrelmann/Schleicher<br />
gebracht hat. Das Ergebnis war, dass wir zu den bestehenden<br />
Schulformen – Gymnasium, Realschule, Hauptschule, Sonderschule<br />
– eine fünfte Schule, die Gesamtschule, bekommen<br />
haben, die aber im Grunde nicht die ursprünglichen Ideen<br />
erfüllt hat. Meiner Ansicht nach zeigen uns die Pisa-Studien,<br />
dass das ein Irrweg ist.<br />
Wie können wir dem entkommen, ohne dass wir uns erneut in<br />
überspannte und letztlich ideologisierte Diskussionen verrennen?<br />
Das müssen wir diskutieren, hierfür müssen wir Wege finden.<br />
Die Autonomie oder Selbstständigkeit oder Eigenständigkeit<br />
von Schulen könnte ein kleiner Ausweg sein, aber sie trägt<br />
uns nicht aus dem ganzen Dilemma heraus. Denn es ist schon<br />
ein Unterschied, ob eine Hauptschule oder ob ein Gymnasium<br />
selbstständig ist. Die Lehrkräfte haben eine andere Ausbildung,<br />
die Gehaltsniveaus sind unterschiedlich, die Einzugsbereiche<br />
sind verschieden – das bringt uns also nicht aus<br />
dem Dilemma heraus.<br />
wie die Schülerinnen und Schüler sind, was sie können, was sie<br />
nicht können, wie sie sozial verortet sind, und die ein Programm<br />
für sie schneidern. Das wünsche ich mir. Dass das allerdings<br />
mit einer Fünfgliedrigkeit des Schulsystems geht, wie wir<br />
sie haben, wage ich zu bezweifeln, denn dahinter steckt, wie<br />
gesagt, das Denken, dass es fünf Schülertypen gibt, und wenn<br />
einer nicht systemgerecht funktioniert, dann fliegt er eben<br />
raus.<br />
Ich halte dies für eine vorsintflutliche Vorstellung von pädagogischer<br />
Arbeit, und ich hoffe, dass nicht erst wieder nahezu 25<br />
Jahre vergehen, bis wir daran etwas zu ändern vermögen. Deshalb<br />
brauchen wir jetzt faire, sachliche Debatten, Kompromisse<br />
und Schritte. Natürlich sollte man pragmatisch damit beginnen,<br />
die Schulformen zusammenzulegen und aus den fünfen<br />
vielleicht erst einmal drei zu machen. Und vielleicht schaffen<br />
Die Pisa-Ergebnisse sind so zu interpretieren,<br />
dass wir einen pädagogischen Paradigmenwechsel<br />
benötigen, und zwar weg von der Angebotsorientierung<br />
des Schulsystems, hin zu einer<br />
Nachfrageorientierung. Wir sind heute vor allem<br />
angebotsorientiert. Wir sagen beispielsweise:<br />
Hier ist eine Hauptschule, die so und so gestaltet<br />
ist; diese sucht sich die Schüler, die zu ihr<br />
passen. Wer nicht hineinpasst, fliegt raus. In<br />
einem solchen Fall bleibt dann nur noch die<br />
Sonderschule, aber immerhin, es findet sich<br />
schon eine Schule, die denjenigen aufnimmt.<br />
Was ist das für ein Denken? Ich halte dies für<br />
eine falsche pädagogische Arbeitsweise. Wir<br />
müssen nachfrageorientiert denken, was eigentlich<br />
auch stets von allen Beteiligten gefordert<br />
wird. Hier sind Schülerinnen und Schüler, die<br />
eine Schule brauchen: männliche und weibliche,<br />
solche aus ungünstig gelagerten Familien und<br />
solche aus gut situierten.Von der Schule ist zunächst gefordert,<br />
dass sie mit guten sensiblen Leistungsmessungen feststellt, wo<br />
diese Schülerinnen und Schüler stehen, was sie brauchen, was<br />
sie schon können, was noch nicht, wo ihre Defizite, wo ihre<br />
Stärken sind – und anschließend ein maßgeschneidertes Programm<br />
daraufsetzt. Wenn die Schülerinnen und Schüler einmal<br />
an der einen Schule sind, dann hat diese die Verantwortung, sie<br />
zu behalten, sie darf sie nicht wieder abgeben, höchstens im<br />
allseitigen Einvernehmen aller Beteiligten. Die Schule ist in die<br />
Lage zu versetzen, dass sie diese Schülerinnen und Schüler<br />
tatsächlich im Rahmen ihres Repertoires fördern kann. Das erscheint<br />
mir sinnvoll.<br />
Ein solches Konzept brauchen wir. Ich nenne es nachfrageorientiert,<br />
von den Schülern her gedacht. Das ist die Botschaft,<br />
die uns Pisa liefert. Diejenigen Länder haben gut abgeschnitten,<br />
die es schaffen, auf die Schülerschaft einzugehen, die wissen,<br />
Foto: Kölnmesse<br />
wir es ja, dass am Ende ein Schultyp daraus wird. Das geht freilich<br />
nicht mit der Brechstange, sondern es muss unter einer historischen<br />
Perspektive schrittweise erfolgen. Das ist für mich die<br />
bislang vernachlässigte Hauptbotschaft aus den Pisa-Studien.<br />
Ich wünsche mir, dass nicht sofort wieder eine Schulstrukturdebatte<br />
vom Zaun gebrochen wird, sondern dass wir in eine<br />
konzeptionelle Arbeitsdebatte eintreten.<br />
STATEMENT<br />
Andreas Schleicher<br />
Es ist Bewegung in die <strong>Bild</strong>ungsdiskussion gekommen. Die<br />
Bedeutung guter frühkindlicher <strong>Bild</strong>ung ist erkannt und sie<br />
wird zunehmend zum integralen Bestandteil des <strong>Bild</strong>ungssystems.<br />
Auch die Notwendigkeit verbindliche Maßstäbe für den<br />
53
Erfolg von <strong>Bild</strong>ung zu schaffen ist heute weitgehend Konsens.<br />
Nicht zu vergessen die Förderung von Ganztagsschulen – in den<br />
meisten erfolgreichen OECD-Staaten schon seit Jahrzehnten<br />
fester Bestandteil des <strong>Bild</strong>ungssystems –, wo jetzt Fortschritte<br />
erzielt werden. Dennoch bleibt vieles eine Optimierungsdebatte,<br />
man fragt sich, wie man das bestehende <strong>Bild</strong>ungssystem<br />
noch ein wenig schneller, noch ein wenig besser machen kann.<br />
„hard fun“ geprägt. Arbeit macht heute mehr Spaß, weil die<br />
Aufgaben interessanter werden. Aber sie stellt auch höhere<br />
Anforderungen, weil Zielvorgaben und Deadlines zu Stress führen<br />
und weil es keine natürlichen limits mehr gibt, außer den<br />
Deadlines natürlich, denn man kann ja alles immer noch besser<br />
machen. Außerdem ist der Einzelne zunehmend verantwortlich<br />
für das Ergebnis sowie für das Zeitmanagement.<br />
„Stellen Sie sich einmal einen Chirurgen und einen Lehrer aus den 1960er-Jahren vor, die eine<br />
Zeitreise in das Jahr 2006 machen. Der Chirurg, der zu seiner Zeit mit dem im Studium erarbeiteten<br />
Wissen und einem Instrumentenkoffer als Einzelperson erfolgreich sein konnte, ist<br />
heute in eine dynamische Profession eingebettet, mit der er im ständigen Austausch steht.<br />
Er … wird schnell zu der Erkenntnis kommen, dass ein Zeitsprung über ein halbes Jahrhundert<br />
unmöglich ist. – Der Lehrer der 1960er-Jahre findet sich vermutlich noch zurecht, weil sich<br />
das Arbeitsumfeld Schule … vergleichsweise wenig verändert hat.“<br />
Es ist aber höchste Zeit über die Binnenoptimierung hinaus<br />
auch über die langfristige Transformation der dem bestehenden<br />
<strong>Bild</strong>ungssystem zugrunde liegenden Paradigmen und Strukturen<br />
nachzudenken, und zwar ohne ideologische Scheuklappen.<br />
Wenn wir die Kinder des 21. Jahrhunderts von Lehrern mit<br />
einem Ausbildungsstand des 20. Jahrhunderts in einem Schulsystem<br />
unterrichten lassen, dass im 19. Jahrhundert konzipiert<br />
wurde und sich seitdem nur graduell verändert hat, dann kann<br />
das so nicht funktionieren.<br />
Der internationale Vergleich zeigt uns doch vor allem, dass es<br />
anders geht: Moderne <strong>Bild</strong>ungssysteme ersetzen Detailregulierung<br />
durch strategische Zielsetzungen; verknüpfen Lehrpläne,<br />
Standards und Rückmeldesysteme wirksam; und schaffen Anreiz-<br />
und Unterstützungssysteme, die Lehrer motivieren, sich<br />
kreativ einzubringen und Verantwortung für <strong>Bild</strong>ungsleistungen<br />
zu übernehmen. Moderne <strong>Bild</strong>ungssysteme antworten auf<br />
die verschiedenen Interessen, Fähigkeiten und sozialen Kontexte<br />
der Schüler nicht mit institutioneller Fragmentierung, sondern<br />
mit einem konstruktiven und individuellen Umgang mit Vielfalt.<br />
Und schließlich sind moderne <strong>Bild</strong>ungssysteme Lernorganisationen,<br />
in denen Lehrer voneinander und miteinander lernen.<br />
Klar ist, dass die Diskrepanzen zwischen dem, was die Gesellschaft<br />
heute braucht, und dem, was unser <strong>Bild</strong>ungssystem<br />
heute anbietet, immer größer werden. Das Gleiche gilt für die<br />
Arbeitsumgebung, die Schulen Lehrern und Schülern bieten.<br />
Schauen wir doch hier einmal auf Parallelen zwischen der<br />
modernen Arbeits- und Schulwelt. Die fortlaufende Automatisierung<br />
von Routinearbeit hat dazu geführt, dass Arbeit, die<br />
man vorwiegend in Form von geleisteten Arbeitsstunden misst,<br />
abnimmt, während Arbeit, die durch Inhalte, Zielvorgaben und<br />
Deadlines definiert wird, an Bedeutung gewinnt. Das Kopenhagener<br />
Institut für Zukunftsforschung hat hierfür den Ausdruck<br />
Genau dass müssten Schüler auch im täglichen Unterrichtsgeschehen<br />
erleben und Lehrer in ihrer täglichen Arbeit, aber wir<br />
arbeiten hier noch oft mit den Denkschemata der Industriegesellschaft:<br />
Wir bewerten die Arbeit in der Schule in Form von<br />
Unterrichtsstunden, Altersjahrgängen, Stundentafeln, Klassengrößen<br />
und Abschlüssen. Das Ergebnis sind mangelndes Engagement<br />
der Schüler und Frustration der Lehrer, die mit immer<br />
größer werdenden Anforderungen letztlich im Klassenzimmer<br />
allein gelassen werden.<br />
Wenn Sie heute nach Finnland gehen, nach Kanada, nach<br />
Japan, dann bekommt der Lehrer dort keinen Lehrplan vorgesetzt,<br />
sondern es ist seine eigene Aufgabe, <strong>Bild</strong>ungsziele, die<br />
das <strong>Bild</strong>ungssystem vorgibt, zu entwickeln und auf den einzelnen<br />
Schüler individuell zuzuschneiden. Es ist Aufgabe des Lehrers,<br />
mit anderen Professionen zusammenzuarbeiten. Es gibt<br />
kaum ein Unternehmen, das einen so hohen Anteil hoch qualifizierter<br />
Menschen beschäftigt wie das <strong>Bild</strong>ungssystem, aber<br />
wohl auch nur wenige Unternehmen, die ihr Potenzial nur so<br />
eingeschränkt nutzen wie das Gros der Schulen. Stellen Sie sich<br />
einmal einen Chirurgen und einen Lehrer aus den 1960er-Jahren<br />
vor, die eine Zeitreise in das Jahr 2006 machen. Der Chirurg,<br />
der zu seiner Zeit mit dem im Studium erarbeiteten Wissen und<br />
einem Instrumentenkoffer als Einzelperson erfolgreich sein<br />
konnte, ist heute in eine dynamische Profession eingebettet,<br />
mit der er im ständigen Austausch steht. Er arbeitet an einem<br />
hoch technologisierten Arbeitsplatz, wo er seine Arbeit nur als<br />
Teil eines komplexen Teams bewältigen kann, mit dem er auf<br />
gleicher Augenhöhe arbeitet. Der Chirurg wird schnell zu der<br />
Erkenntnis kommen, dass ein Zeitsprung über ein halbes Jahrhundert<br />
unmöglich ist.<br />
Der Lehrer der 1960er-Jahre findet sich vermutlich noch<br />
zurecht, weil sich das Arbeitsumfeld Schule, und die dahinter<br />
54
Reformland Deutschland: Eckinger/Ziegon/Hurrelmann/Schleicher<br />
stehenden Anreiz- und Unterstützungssysteme vergleichsweise<br />
wenig verändert haben. Es wird auch immer schwieriger, gute<br />
Leute für eine solche Arbeit zu gewinnen, selbst wenn die Bezahlung<br />
der Lehrer gut ist. Andere Staaten dagegen haben ein<br />
Arbeitsumfeld Schule geschaffen, in dem die Schule zur Lernorganisation<br />
geworden ist, mit einem professionellen Management,<br />
das sich durch interne Kooperation und Kommunikation,<br />
etwa in den Feldern strategische Planung, Qualitätsmanagement,<br />
Selbstevaluation und Weiterbildung auszeichnet, aber<br />
auch durch Dialog nach außen mit den verschiedenen Interessengruppen,<br />
vor allem mit den Eltern. Ein Arbeitsumfeld, dessen<br />
Attraktivität und Ansehen nicht allein auf dem Beamtenstatus<br />
beruht, sondern auf Kreativität, Innovation und Verantwortung,<br />
ein Arbeitsumfeld, das sich durch mehr Differenzierung<br />
im Aufgabenbereich, bessere Karriereaussichten, eine Stärkung<br />
der Verbindungen zu anderen Berufsfeldern, mehr Verantwortung<br />
für Lernergebnisse und bessere Unterstützungssysteme<br />
auszeichnet.<br />
55
Fördern ohne zu überfordern:<br />
Der Übergang Kindergarten – Grundschule<br />
zwischen Verschulungsgefahr und<br />
sinnvoller Neuordnung<br />
In einzelnen Ländern gibt es bereits Neuordnungen, in allen anderen wird es sie bald geben: Das institutionalisierte<br />
Lernen soll nach dem Willen aller Kultusministerien früher beginnen. Dass Kindergarten<br />
und Grundschule enger kooperieren müssen, um früher fördern zu können, ist unumstritten. Jedoch<br />
bleibt die Frage, ob im Zuge des Reformeifers eine Verschulung droht, die die Kinder mehr überfordert<br />
als ihnen nutzt. Mit Professor Dr. Lilian Fried, Universität Dortmund, Professor Dr. Gisela Kammermeyer<br />
von der Universität Koblenz-Landau sowie Maresi Lassek vom Arbeitskreis Grundschule e. V. waren ausgewiesene<br />
Expertinnen aus beiden Bereichen auf dem Podium vertreten, die über eine sinnvolle Kooperation<br />
zwischen Kindergarten und Grundschule diskutierten.<br />
Moderation: Peter E. Kalb, Redakteur der Zeitschrift Pädagogik<br />
Lilian Fried<br />
Lilian Fried, Professor Dr., Studium des Lehramts für Grund- und Hauptschulen. Danach Diplomstudium Erziehungswissenschaften.<br />
1984 Promotion. 1979-91 an der Erziehungswissenschaftlichen Hochschule Rheinland-<br />
Pfalz, Abteilung Landau, 1991 Abordnung an das rheinland-pfälzische Ministerium für <strong>Bild</strong>ung und Kultur in<br />
Mainz. 1993-99 am Institut für Pädagogik der Universität Koblenz-Landau. 1999 Habilitation für das Fachgebiet<br />
Erziehungswissenschaft. Seit 2000 Lehrstuhl für Pädagogik der frühen Kindheit an der Universität<br />
Dortmund.<br />
Gisela Kammermeyer<br />
Gisela Kammermeyer, Professor Dr., Studium für das Lehramt an Volksschulen. 1982-85 Psychologiestudium<br />
mit schulpsychologischem Schwerpunkt. 1979-85 Lehrerin. 1989-2002 Wissenschaftliche Mitarbeiterin bzw.<br />
Assistentin an der Universität Erlangen-Nürnberg. 1998 Promotion. Seit dem WS 2002/03 Professorin für<br />
Pädagogik der frühen Kindheit an der Universität Koblenz-Landau.<br />
56
Fördern ohne zu überfordern: Fried/Kammermeyer/Lassek Blindtext<br />
Maresi Lassek<br />
Maresi Lassek leitet seit mehreren Jahren eine Grundschule in Bremen, die Schule am Pfälzer Weg. Das Konzept<br />
dieser Schule zielt auf die Veränderung des Schulanfangs und eine Zusammenarbeit mit dem Elementarbereich<br />
unter den besonderen Anforderungen einer Schule in schwieriger sozialer Lage. Diese Arbeit wurde für<br />
den Deutschen Schulpreis 2006 nominiert. Maresi Lassek ist stellvertretende Vorsitzende des Grundschulverbands<br />
– Arbeitskreis Grundschule e. V., Frankfurt am Main.<br />
STATEMENT<br />
Lilian Fried<br />
Die beiden Begriffe Überforderung/Unterforderung sind relativ<br />
angelegt, das bedeutet, dass ich, wenn ich fordere, eigentlich<br />
genau wissen muss, mit welchem Potenzial ich es zu tun habe,<br />
um entscheiden zu können, wie ich ansetzen muss. Das genau<br />
scheint mir einer der schwachen Punkte der jahrzehntelangen<br />
Reformdiskussionen um das Verhältnis von Kindergarten und<br />
Grundschule zu sein. Wir tun so, als gäbe es keine Differenzen<br />
zu berücksichtigen. Dabei zeigen uns die wenigen Studien zum<br />
Übergangsbereich, dass es nicht darauf ankommt, eine Grenze<br />
festzulegen, ab der etwas über- oder unterfordernd ist, sondern<br />
darauf, genau zu schauen, wo das einzelne Kind steht. Es<br />
kommt an auf die Passung zwischen den beim Kind vorhandenen<br />
Ressourcen einerseits und den Anforderungen auf der anderen<br />
Seite. Aus diesem Grund sind Lösungen nicht einfach zu<br />
haben. Sie verlangen mehr und spezifischere Professionalität<br />
beim pädagogischen Personal in Kindergarten und Grundschule.<br />
Was die Wissenschaft betrifft, brauchen wir erheblich mehr<br />
Hilfen, die wir anbieten können. Ich meine damit Instrumente,<br />
Beobachtungs-, Test- und Qualitätseinschätzungsverfahren,<br />
aber auch gezielte Hinweise, wie individualisierte Förderung<br />
geleistet werden kann. Meine These ist, dass wir in den jahrelangen<br />
grobschnittigen Diskussionen zu dieser Übergangsphase<br />
übersehen haben, dass es dort anzusetzen gilt. Hier müssen wir<br />
ein Stück weiterkommen.<br />
Wir werden uns in einigen Dingen umorientieren müssen, und<br />
ich will gleich dazusagen, dass das nicht zu Lasten derer gehen<br />
darf, die sich sowieso bis zur Erschöpfung engagieren. Ich<br />
57
möchte betonen, dass ich die pädagogischen Fachkräfte, die<br />
Erzieherinnen in den Kitas, als die reformoffenste Gruppe im<br />
Vergleich zu anderen Gruppen erlebe. Wir müssen aufpassen,<br />
dass das nicht verloren geht. Gleichwohl haben wir, wenn Sie<br />
jetzt das Thema Sprachförderung ansprechen, in diesen Bereichen<br />
noch eine zu wenig spezifische Ausbildung. Das schließe<br />
ich aus dem, was Erzieherinnen in einer Befragungsstudie ganz<br />
„Eltern wollen natürlich, dass es ihrem Kind gut geht, dass es die größtmöglichen Chancen in<br />
seinem Leben bekommt. Zugleich bestehen sie darauf, dass ihr Kind das Recht hat, glücklich<br />
zu sein, sich wohl zu fühlen, seine Bedürfnisse zu leben. Das alles gilt es auszutarieren. Dem<br />
Kind muss neben sprachlicher, kognitiver und fachbezogener Förderung immer genügend Gelegenheit<br />
gegeben werden, auch seine motorischen Bedürfnisse, sein Spielbedürfnis und seine<br />
sozial-emotionalen Bedürfnisse auszuleben.“<br />
dezidiert über das sagen, was ihnen fehlt und wo sie mehr<br />
Kenntnisse bräuchten. Ein Beispiel ist Elternarbeit. Elternarbeit<br />
ist ganz entscheidend wichtig, um in der Sprachförderung<br />
Erfolg zu haben, weil der Einfluss des Elternhauses auf diesem<br />
Gebiet besonders bedeutsam ist. Das wissen die Erzieherinnen,<br />
aber sie wissen nicht genau, wie sie es umsetzen sollen. Wie<br />
gewinnt man Eltern dazu, bei der Sprachförderung mitzuarbeiten?,<br />
lautet ihre Frage. Dazu finden wir in anderen Ländern eine<br />
ganze Reihe von Erfahrungen und können von daher auch<br />
schon sagen, welcher Weg funktioniert und welcher nicht.<br />
Diese Erfahrungen zu übertragen halte ich für sehr wichtig. Wir<br />
versuchen dies zurzeit in Nordrhein-Westfalen, weil wir, wenn<br />
wir einen Test einführen, uns auch in der Pflicht sehen, zu<br />
sagen, welche Maßnahmen bei festgestellten Defiziten ergriffen<br />
werden können.<br />
Die Rolle der Hochschule sehe ich darin, all das Wissen, das es<br />
zum Thema Sprachförderung gibt, weiterzugeben, konkret zu<br />
sagen, welche Übungen, welche Strategien sich tatsächlich<br />
bewährt haben; aber auch visuelle Modelle für Verfahren und<br />
Techniken anzubieten, die bei uns vielleicht noch nicht so weit<br />
verbreitet sind, mit denen man jedoch in anderen Ländern<br />
ermutigende Erfahrungen gesammelt hat. Selbstverständlich<br />
können wir von Seiten der Hochschule nicht alle pädagogischen<br />
Fachkräfte fortbilden, aber es gibt eine Menge empirisch<br />
geprüfter praxisnaher Ansätze, die weiterzugeben eine Hochschule<br />
sich leisten kann.<br />
Im Hinblick auf Überlegungen zu einer Akademisierung der<br />
Erzieherinnenausbildung, also darauf, ein Lehramt für die erste<br />
Lernphase einzuführen, mit Hochschulabschluss und entsprechender<br />
Bezahlung im Beruf, habe ich im Moment den subjektiven<br />
Eindruck, dass die Tendenz dahin gar nicht mehr zu vermeiden<br />
ist. Wir können wohl nicht umhin, uns in diese Richtung<br />
zu bewegen. Ich sehe das aber durchaus mit gemischten<br />
Gefühlen. Einerseits würde ich es außerordentlich begrüßen,<br />
wenn eine Erzieherin die gleiche Art gesellschaftlicher Anerkennung<br />
für ihre Arbeit bekäme wie eine Grundschullehrerin<br />
oder ein Grundschullehrer. Solange die Ausbildung für Erzieherinnen<br />
jedoch kürzer ist und nicht auf akademischem Niveau<br />
stattfindet, werden wir wohl immer das Problem haben, dass<br />
Niveauunterschiede gesehen und zugesprochen werden. Andererseits<br />
haben unsere Ausbildungssysteme beispielsweise bei<br />
der Lehrerausbildung durchaus ihre Schwächen. Daher wäre es<br />
verfehlt, die Ausbildung an den Fachschulen für Sozialpädagogik<br />
mit ihren Stärken über Bord zu werfen und alle ins Boot der<br />
Primarschullehrerausbildung zu hieven. Das wäre in gewisser<br />
Weise ein Verlust, wenngleich nicht so sehr für das Prestige,<br />
das dann eher steigen würde. Deshalb muss man über andere<br />
Modelle nachdenken, die die Fachschulen für Sozialpädagogik<br />
mit ins Boot holen. Die Lösung wird wohl allein aus finanziellen<br />
Gründen darin bestehen, dass man sich dem Ziel einer Akademisierung<br />
in mehreren Schritten nähert, indem man etwa<br />
einen Teil der Erzieherinnen für spezifische Aufgaben und Herausforderungen<br />
speziell fortbildet. In Nordrhein-Westfalen gibt<br />
es die sogenannten Aufbaubildungsgänge, die für verschiedene<br />
Bereiche eine Zusatzausbildung im Umfang von 600 Stunden<br />
anbieten. Solch ein Modell könnte man sich vorstellen. Denn<br />
einfach so weitermachen, geht nicht. Wir kommen nicht an<br />
Reformen vorbei.<br />
Ich glaube, was die Position der Eltern betrifft, befinden wir<br />
uns gegenwärtig in einer Umbruchsphase. Ich erinnere mich<br />
gut daran, wie erstaunt ich war, in einer Untersuchung, die<br />
2004 von Herrn Honig und anderen vorgelegt wurde, zu lesen,<br />
dass die <strong>Bild</strong>ungsfunktion der Kita von den Eltern ganz niedrig<br />
bewertet wurde in einer Zeit, in der die Diskussion um <strong>Bild</strong>ung<br />
aufgrund der Pisa-Ergebnisse ja schon längst hohe Wellen<br />
schlug. Aktuell wird mir vor allem von Fachberaterinnen vermittelt,<br />
dass die Eltern in den Einrichtungen zunehmend nachfragen,<br />
welche <strong>Bild</strong>ungsmaßnahmen konkret stattfinden und<br />
ob dies auch in ausreichendem Maße geschieht. Meines Erachtens<br />
werden wir in diesem Punkt in etwa fünf Jahren ein ganzes<br />
Stück weiter sein. Im Moment finden bei den Eltern sehr<br />
viele Bewusstwerdungsprozesse diesbezüglich statt, und Eltern<br />
wollen natürlich, dass es ihrem Kind gut geht, dass es die<br />
größtmöglichen Chancen in seinem Leben bekommt. Zugleich<br />
58
Fördern ohne zu überfordern: Fried/Kammermeyer/Lassek<br />
bestehen sie darauf, dass ihr Kind das Recht hat, glücklich zu<br />
sein, sich wohl zu fühlen, seine Bedürfnisse zu leben. Das alles<br />
gilt es auszutarieren. Dem Kind muss neben sprachlicher, kognitiver<br />
und fachbezogener Förderung immer genügend Gelegenheit<br />
gegeben werden, auch seine motorischen Bedürfnisse,<br />
sein Spielbedürfnis und seine sozial-emotionalen Bedürfnisse<br />
auszuleben.<br />
Dass wir so strikt trennen zwischen Kita und Grundschule,<br />
daran müssen wir auch arbeiten. Viele Grundschulen haben<br />
das bereits erkannt und machen betont sozial-emotionale<br />
Angebote. Sie achten darauf, dass die Kinder untereinander<br />
in der Schule auch ihr eigenes Leben führen können, dass<br />
sie sich gegenseitig anregen, miteinander etwas aushandeln<br />
können zum Beispiel, denn dafür Freiraum zu haben, ist<br />
besonders wichtig aus der Sicht der Kinder. Wir müssen in<br />
Bezug auf <strong>Bild</strong>ung in der Öffentlichkeit noch viel stärker verdeutlichen,<br />
dass es nicht nur auf das Erlernen von Schriftsprache<br />
und Mathematik ankommt, sondern genauso sehr auf<br />
die Aneignung von sozialer und künstlerischer Kompetenz.<br />
Der Kindergarten, aber auch die Grundschule, diese beiden<br />
untersten Stufen des <strong>Bild</strong>ungssystems sind von ihren Traditionen<br />
her am ehesten in der Lage darauf hinzuwirken, dass<br />
der <strong>Bild</strong>ungsbegriff auch wirklich in seiner ganzen Breite<br />
gesehen wird.<br />
Hier könnten jüngere Ansätze entscheidend weiterhelfen. Es<br />
gibt bereits zahlreiche Versuche, die strikte Trennung zwischen<br />
diesen beiden Bereichen, also dem Kindergarten und der Grundschule,<br />
zu überwinden, so unterschiedlich deren Ideen, Geschichten,<br />
Rahmenbedingungen oder die Art und Weise, wie sie<br />
ihr Personal ausbilden, auch sind. Ich will hier nur ein Projekt<br />
exemplarisch erwähnen, das in fünf Ländern der Bundesrepublik<br />
Deutschland derzeit läuft. Es ist das TransKiGS-Projekt. Dort<br />
versucht man sich einander anzunähern, indem man zum Beispiel<br />
systematisch und in Kooperation miteinander die <strong>Bild</strong>ungspläne<br />
so weiterentwickelt, dass es für die Fachkräfte<br />
leichter wird, die <strong>Bild</strong>ungsplanung auf die jeweiligen Kinder<br />
hin abzustimmen. Solche Kooperationen bedeuten natürlich<br />
einen hohen Aufwand, und erfordern ein hohes Engagement.<br />
Aber derartige Entwicklungen, das zeigen die Erfahrungen in<br />
anderen Ländern, können helfen, Gräben zwischen den <strong>Bild</strong>ungsinstitutionen<br />
zu überwinden.<br />
STATEMENT<br />
Gisela Kammermeyer<br />
1. Bei der Förderung den „Blick in die Breite“ durch einen<br />
„Blick in die Tiefe“ ergänzen<br />
Viele Erzieherinnen favorisieren eine allgemeine und ganzheitliche<br />
Förderung der Kinder, sie nehmen in ihren Förderansätzen<br />
vorwiegend einen „Blick in die Breite“ ein. Da wir heute wissen,<br />
dass Kinder in der Vorschulzeit wesentliche Fähigkeiten erwerben,<br />
die die Basis für das Weiterlernen in der Schule in den spezifischen<br />
Lernbereichen Schriftspracherwerb und Mathematik<br />
darstellen und mit vorschulischen Fähigkeiten Schulerfolg bzw.<br />
Schulversagen bis zum Ende der Grundschulzeit vorhergesagt<br />
werden können, reicht diese allgemeine und ganzheitliche Förderung<br />
nicht mehr aus.<br />
Die unersetzliche und grundlegende ganzheitliche Förderung,<br />
der „Blick in die Breite“, sollte ergänzt werden durch einen<br />
„Blick in die Tiefe“. Die Förderung sollte auch auf anschlussfähige<br />
<strong>Bild</strong>ungsprozesse in den Bereichen Schriftspracherwerb und<br />
Mathematik bezogen werden, die Förderung von phonologischer<br />
Bewusstheit und Wissen über Schrift sowie die Förderung<br />
des mengen- und zahlenbezogenen Vorwissens sollten in Kindertagesstätten<br />
ein stärkeres Gewicht erhalten.<br />
2. Die Förderung an den Interessen der Kinder orientieren<br />
Mit dieser Schwerpunktsetzung verstärke ich die Verschulungsgefahr<br />
und damit auch die Überforderungsgefahr. Sie ist dann<br />
gegeben, wenn die Förderung dieser anschlussfähigen <strong>Bild</strong>ungsprozesse<br />
darin besteht, dass für alle Vorschulkinder zur gleichen<br />
Zeit mit den gleichen lehrgangsmäßig aufgebauten Materialien<br />
eine Zahl nach der anderen, ein Buchstabe nach dem anderen<br />
systematisch eingeführt wird. Das entspricht nicht dem heutigen<br />
didaktischen Erkenntnisstand.<br />
Überforderung und Verschulung können verhindert werden<br />
durch die Orientierung der Förderung am Interesse der Kinder,<br />
am Interesse an Buchstaben und Lauten sowie an Mengen und<br />
Zahlen. Wenn Kinder Interesse haben, ist ihnen eine Sache<br />
wichtig, dann beschäftigen sie sich gerne damit, dann wollen<br />
sie mehr darüber erfahren und erwerben dabei beiläufig wichtiges<br />
anschlussfähiges Wissen. Wenn Kinder sich interessieren,<br />
dann machen sie Lernerfahrungen auf dem Niveau, das sie fördert,<br />
aber nicht überfordert. Bei Überforderung lässt ihr Interesse<br />
dagegen schnell nach.<br />
3. Die Förderung anschlussfähiger <strong>Bild</strong>ungsprozesse erfordert<br />
eine Erziehungs- und <strong>Bild</strong>ungspartnerschaft<br />
Die Förderung des für weiteres Lernen hoch bedeutsamen Vorwissens<br />
in der Kindertagesstätte kann dann effektiver erfolgen,<br />
wenn Erzieherinnen wissen, wie im Anfangsunterricht<br />
darauf aufgebaut wird. Lehrkräfte wiederum können besser an<br />
diesem Vorwissen anknüpfen, wenn sie wissen, was in der Kindertagesstätte<br />
wie gefördert wurde. Zusätzlich zu den bisherigen<br />
Kooperationsformen sollten diejenigen ausgebaut werden,<br />
die die inhaltliche Auseinandersetzung über anschlussfähige<br />
<strong>Bild</strong>ungsprozesse zwischen Erzieherinnen und Lehrkräften<br />
anregen und zu einer Erziehungs- und <strong>Bild</strong>ungspartnerschaft<br />
führen. Besonders wichtig sind dazu gemeinsame Fortbildungsveranstaltungen<br />
für Lehrkräfte und Erzieherinnen, an<br />
denen die kooperierenden Personen als Tandem teilnehmen.<br />
59
4. Die Zusammenarbeit von Erzieherinnen und Lehrkräften<br />
gelingt nur, wenn sie langfristig angelegt, strukturell verankert<br />
ist und sich für alle Beteiligten lohnt.<br />
Es ist sehr viel Kraft, Anstrengung und Engagement notwendig,<br />
um eine Erziehungs- und <strong>Bild</strong>ungspartnerschaft zwischen Erzieherinnen<br />
und Lehrkräften zu etablieren und zu erhalten. Diese<br />
darf weder auf Einzelfälle bezogen bleiben noch von der Sympathie<br />
und vom Engagement einzelner Personen abhängen. Es<br />
ist notwendig, langfristige Strukturen der Zusammenarbeit zu<br />
Ich möchte gleich zu Anfang auf die Bedingungen eingehen,<br />
unter denen Elementar- und Primarbereich zusammenarbeiten<br />
müssen. „Jedes Kind hat ein Recht auf <strong>Bild</strong>ung“, stellt der<br />
Grundschulverband fest. Jedes Kind braucht aber auch förderliche<br />
Bedingungen, und wir haben die Verpflichtung sowohl im<br />
Kindergarten als auch im Grundschulbereich, diese Anforderung<br />
zu erfüllen. Dabei merken wir, dass es in immer höherem Maße<br />
notwendig wird, die Kinder individueller zu betrachten. Das<br />
haben meine beiden Vorrednerinnen bereits sehr deutlich<br />
gemacht.Aber unter welchen Bedingungen können wir das tun?<br />
Aufgrund der durch Pisa ausgelösten Diskussion, in deren Verlauf<br />
die Kritik an den Testergebnissen vor allem nach unten<br />
durchgereicht wurde, ist es zwar soweit, dass für den Elementarbereich<br />
<strong>Bild</strong>ungspläne erarbeitet wurden, der Anschluss an<br />
den Schulbereich ist jedoch bislang erst in einigen Bundesländern<br />
gewährleistet. Doch selbst dabei ist eine Anzahl von Bereichen<br />
offengeblieben. Denken wir etwa an die Möglichkeiten zur<br />
tatsächlichen Kooperation zwischen Erzieherinnen und Lehrerinnen,<br />
eine Kooperation, die auf gleicher Augenhöhe stattfinden<br />
muss, was wiederum etwas mit Akzeptanz, Wertschätzung<br />
von Ausbildungen usw. zu tun hat.<br />
„Zusätzlich zu den bisherigen Kooperationsformen sollten diejenigen ausgebaut werden, die<br />
die inhaltliche Auseinandersetzung über anschlussfähige <strong>Bild</strong>ungsprozesse zwischen Erzieherinnen<br />
und Lehrkräften anregen und zu einer Erziehungs- und <strong>Bild</strong>ungspartnerschaft führen.<br />
Besonders wichtig sind dazu gemeinsame Fortbildungsveranstaltungen für Lehrkräfte und<br />
Erzieherinnen, an denen die kooperierenden Personen als Tandem teilnehmen.“<br />
schaffen, die eine kontinuierliche gemeinsame inhaltliche Auseinandersetzung<br />
ermöglichen, denn es muss immer wieder neu<br />
darum gerungen werden, was Förderung anschlussfähiger <strong>Bild</strong>ungsprozesse<br />
vor Ort bedeutet.<br />
Kooperation muss einerseits verbindlich werden und andererseits<br />
für alle Beteiligten lohnenswert sein. Hierzu gehört, dass<br />
die Kooperation in beiden Systemen einen hohen Stellenwert<br />
erhält. Dies bedeutet, dass nicht nur für die Erzieherinnen und<br />
Lehrkräfte Kooperation wichtig sein sollte, sondern auch für<br />
die Schulverwaltung und die Trägerverbände, für die Städte<br />
und Gemeinden und alle, die mit dem Übergang zu tun haben.<br />
Wichtig ist, dass diese Wertschätzung für die Erzieherinnen<br />
und Lehrkräfte sehr deutlich erkennbar wird, z. B. durch<br />
Anrechnungsstunden, durch finanzielle Unterstützung bei Projekten<br />
…<br />
STATEMENT<br />
Maresi Lassek<br />
Thematisiert wurde auch die Anschlussfähigkeit, die beide<br />
Institutionen schaffen müssten, dabei dürfen wir nicht die<br />
Verantwortung der Eltern außer Acht lassen. Am Schulanfang<br />
bzw. bei der Gestaltung von Übergängen ist es zunehmend<br />
wichtiger zu bedenken, dass wir uns in einem Dreieck<br />
bewegen: Eltern, Kindergarten und Schule. Alle drei sind<br />
gemeinsam verantwortlich für einen guten Übergang und für<br />
dessen Gestaltung, notwendigerweise immer individueller auf<br />
das Kind bezogen.<br />
Entwicklungen verlaufen bei den einzelnen Kindern sehr<br />
unterschiedlich. In Deutschland haben wir bislang so darauf<br />
reagiert, dass wir versucht haben, durch eine Bandbreite im<br />
Einschulungsalter die Kinder zu homogeneren Gruppen<br />
zusammenzufassen. Nun haben wir festgestellt, dass dieses<br />
nicht erfolgreich funktioniert. Wir müssen jedes Kind in seinem<br />
Lernen und in seinem Sich-Entwickeln annehmen und<br />
gemeinsam seine Entwicklung vom Elementar- zum Primarbereich<br />
unterstützen.<br />
Ich erlebe in meinem Umfeld zum Glück nicht, dass die Kooperation<br />
zwischen Kindergarten und Grundschule mühsam wäre.<br />
Wir arbeiten sehr eng zusammen, was aber damit zu tun hat,<br />
dass ich eine Schule leite, die ihr pädagogisches Konzept schon<br />
vor längerer Zeit sehr verändert hat. Diese Schule arbeitet seit<br />
nunmehr 14 Jahren am Schulanfang jahrgangsübergreifend. Wir<br />
haben unsere Entwicklung damit begonnen, dass wir uns mit<br />
den Erzieherinnen aus unseren Kindergärten zusammengesetzt<br />
und besprochen haben, wie wir gemeinsam einen Schulanfang<br />
gestalten können, bei dem wir für die Kinder mehr Kontinuität<br />
erreichen und den Bruch, der vorhanden ist, abmindern. Wir<br />
haben begonnen, voneinander zu lernen, indem wir uns angeschaut<br />
haben, wie Lernräume im Kindergartenbereich und wie<br />
60
Fördern ohne zu überfordern: Fried/Kammermeyer/Lassek<br />
sie in der Schule aussehen. Wir haben uns gefragt, was gestaltete<br />
Lernumgebung bedeutet und was sie bewirkt.<br />
und -bildung muss kostenfrei werden. Der momentane Zeitpunkt<br />
scheint günstig, weil dies auch von den Regierenden<br />
deutlicher gesehen wird. Aber der Forderung ist noch mehr<br />
Nachdruck zu verleihen, denn wir grenzen noch immer<br />
bestimmte Kinder durch den Kostenbeitrag der Eltern von der<br />
Elementarerziehung aus. Das sind gerade die, um die wir uns<br />
besonders kümmern müssten. In diesem Zusammenhang ist<br />
durchaus zu überlegen – und das ist im Übrigen eine Position<br />
des Grundschulverbands –, die <strong>Bild</strong>ungspflicht für Fünfjährige<br />
einzuführen, also ein Jahr vor der Einschulung. So hätten wir<br />
die Chance, auch die Kinder in die Kindergärten zu bekommen,<br />
die wir sonst nicht erreichen und denen unsere Sorgen gelten.<br />
Eltern erlebe ich durch die besondere Situation der Schule, in<br />
der ich arbeite, eher zurückhaltend. Wir haben einen hohen<br />
Anteil von Eltern mit Migrationshintergrund, die eher vorsichtig<br />
sind im Umgang mit Kindergarten und Schule und sich nicht<br />
sehr häufig äußern. Trotzdem, jede Schule und jeder Kindergarten<br />
hat den Auftrag zuzusehen, dass die Eltern mehr ins Boot<br />
geholt werden – eine wichtige Facette der Elternarbeit. Frau<br />
„Wir grenzen noch immer bestimmte Kinder durch den Kostenbeitrag der Eltern von der<br />
Elementarerziehung aus. Das sind gerade die, um die wir uns besonders kümmern müssten.<br />
In diesem Zusammenhang ist durchaus zu überlegen – und das ist im Übrigen eine Position<br />
des Grundschulverbands –, die <strong>Bild</strong>ungspflicht für Fünfjährige einzuführen, also ein Jahr vor<br />
der Einschulung. So hätten wir die Chance, auch die Kinder in die Kindergärten zu bekommen,<br />
die wir sonst nicht erreichen und denen unsere Sorgen gelten.“<br />
Dieser Prozess hat sich in der Betrachtung struktureller Gegebenheiten<br />
und von Lernarrangements fortgesetzt, etwa in zeitlichen<br />
Abläufen und in Möglichkeiten, auf andere Weise zu lernen<br />
als über didaktisch-methodisch aufbereitete Inhalte, wie es<br />
Lehrer scheinbar zu machen haben. Wir haben gelernt wahrzunehmen,<br />
auf wie vielfältige Weise junge Kinder arbeiten und<br />
lernen. Gemeinsam haben wir uns auf den Weg gemacht. Aus<br />
diesem Grund erlebe ich gegenwärtig keine Bruchsituation,<br />
aber ich sehe, dass aufgrund der aktuellen Diskussion die Mitarbeiterinnen<br />
im Kindergartenbereich auf bestimmte Stichworte<br />
plötzliche anders reagieren, etwa wenn es um mathematisches<br />
Lernen und Schriftspracherwerb bzw. Vorläuferkompetenzen<br />
geht. Mir ist wichtig, dass hierbei eine richtige Richtung<br />
eingeschlagen wird und wir nicht dahin kommen, unseren<br />
Fokus überwiegend auf diese Punkte zu richten. Die ganze<br />
Bandbreite von Kompetenzen, die Kinder brauchen, soll von<br />
früh an gefördert und in der Schulzeit weiter ausgebaut werden.<br />
Die Standardorientierung, die wir im Schulbereich sehr<br />
stark erleben, darf uns das nicht vergessen oder hintanstellen<br />
lassen. Dies würde der Entwicklung nicht gut tun.<br />
Ich würde gerne noch etwas zur Ressourcenausstattung bzw.<br />
zur Qualifizierung ergänzen. Das eine betrifft die Wertschätzung<br />
der Arbeit der Erzieherinnen und deren Ausbildung, das<br />
andere die Ausstattung des Elementar- und Primarbereichs<br />
überhaupt. Wir müssen in Deutschland den Wert und die Bedeutung<br />
der Elementarerziehung besser sehen und anerkennen<br />
lernen. Der Gesellschaft muss diese mehr wert sein, d. h. Kostenbeiträge<br />
der Eltern sind abzuschaffen. Elementarerziehung<br />
Fried hat das bereits sehr deutlich gemacht. Wir müssen auch<br />
die Eltern ins Boot holen, sodass sie mit uns gemeinsam die<br />
Entwicklung der Kinder begleiten und den Übergang mit gestalten.<br />
Wir müssen mit den Eltern ins Gespräch kommen, weil auf<br />
der institutionellen Ebene die Hürden zu groß sind, um sich in<br />
ausreichendem Maße über die individuelle Entwicklung von<br />
Kindern austauschen zu können. An der Stelle brauchen wir die<br />
Eltern, damit sie uns beispielsweise über Dinge informieren, die<br />
für die aufnehmende Schule wichtig sind. Insofern sollten wir,<br />
wenn es darum geht, Entwicklung zu dokumentieren und weiterzutragen,<br />
die Eltern unbedingt dabei haben. Meiner Meinung<br />
nach gelingt das in beiden Bereichen noch nicht gut genug.<br />
61
Zwischen Disziplin und Freiheit –<br />
Eine Debatte<br />
Mit seinem 2006 erschienenen Buch „Lob der Disziplin. Eine Streitschrift“ hat Dr. Bernhard Bueb, der<br />
ehemalige Leiter des Internats Salem, eine öffentlichkeitswirksame Debatte über den Erziehungsauftrag<br />
von Schule ausgelöst, bei der er viel Zuspruch, aber auch viel Kritik erhielt. Auf dem Podium diskutierte<br />
er mit dem Tübinger Erziehungswissenschaftler Professor Dr. Ulrich Herrmann darüber, welche<br />
Erziehungskultur wir in Familie und Schule brauchen.<br />
Moderation: Christian Hümmeler, Redakteur Kölner Stadt-Anzeiger, und Ismene Poulakos, Redakteurin Kölner Stadt-Anzeiger<br />
Eine Veranstaltung des<br />
Bernhard Bueb<br />
Bernhard Bueb, Dr., geb. 1938. Studium der Philosophie und katholischen Theologie an der Uni München<br />
und Saarbrücken. 1968 Promotion. 1969 Assistent am Pädagogischen Seminar der Universität Göttingen.<br />
1970-72 Assistent an der Universität Bielefeld bei Hartmut von Hentig. 1972-74 Lehrer an der Odenwaldschule.<br />
1980-99 Mitglied des Vorstands der Studienstiftung des Deutschen Volkes. 1974-2005 Leiter des<br />
Internats Schloss Salem, Autor des Buches „Lob der Disziplin. Eine Streitschrift“.<br />
Ulrich Herrmann<br />
Ulrich Herrmann, Professor Dr., geb. 1939. Studium der Germanistik, Geschichtswissenschaft, Pädagogik,<br />
Philosophie und Politikwissenschaft. 1968 Promotion. Danach Referent im Sekretariat der Studienstiftung<br />
des Deutschen Volkes und Referent des Rektors der Universität Tübingen. 1975 Habilitation im Fach Erziehungswissenschaft<br />
in Tübingen, dort 1976 Professor für Allgemeine und Historische Pädagogik. 1994-2004<br />
Lehrstuhl für Pädagogik an der Universität Ulm. Honorarprofesor an der Universität Potsdam.<br />
62
Zwischen Disziplin und Freiheit: Bueb/Herrmann Blindtext<br />
STATEMENT<br />
Bernhard Bueb<br />
Disziplin und Amtsautorität<br />
Ich habe mir, seitdem ich beruflich mit Pädagogik zu tun habe,<br />
immer gewünscht, dass mehr Disziplin herrsche, und zwar<br />
sowohl unter den Erwachsenen wie in ihrem Verhältnis zu<br />
Jugendlichen und in der Folge natürlich hoffentlich auch unter<br />
Jugendlichen. Das Wort Disziplin ist in Deutschland in Verruf<br />
gekommen. Mir wird immer wieder gesagt, ich solle doch ein<br />
anderes Wort benutzen, dann würden sich die Leute beruhigen.<br />
Ich bin aber der Meinung, dass wir in unserer Sprache wahrhaftig<br />
sein sollen, weil sich unsere Wirklichkeit in unserer Sprache<br />
spiegelt. Wenn wir in der Sprache ausweichen, dann weichen<br />
wir auch in der Sache aus. Ich will das an einem Beispiel<br />
verdeutlichen: Im Spiegel war kürzlich ein Interview mit einer<br />
Autorin des Buchs „Missbrauch der Disziplin“ zu lesen. Es ging<br />
um folgenden Fall: Ein Kind sollte nicht fernsehen, man drohte<br />
ihm an, dass das Fernsehen einfach ausgeschaltet würde, wenn<br />
es unerlaubt fernsieht. Sie nenne das nicht eine Strafe, äußerte<br />
sich die Interviewte, sondern eine Konsequenz. Und das finde<br />
ich unwahrhaftig.<br />
Konsequenz ist neutral, man spricht von einer Folge. Strafe<br />
sagt, dass ich für eine Regelübertretung ein Übel androhe, und<br />
das ist wahrhaftig. Ich soll also die Sache, die ich vorhabe, auch<br />
beim Namen nennen und nicht ausweichen. Deswegen spreche<br />
ich bewusst von Disziplin. Ich will gleich am Anfang definieren,<br />
was ich unter Disziplin verstehe: Disziplin heißt Unterordnung.<br />
Darin ist immer schon das Element der Selbstdisziplin enthalten,<br />
denn im Deutschen sagt man „Ich ordne mich unter“ und<br />
nicht „Ich werde untergeordnet“, aber alle Selbstdisziplin<br />
beginnt mit Disziplin. Sie konkretisiert sich in den sogenannten<br />
Sekundärtugenden, Ordnungssinn, Gewissenhaftigkeit, Fleiß,<br />
Pünktlichkeit, und bekommt ihren Wert durch den Zweck, dem<br />
sie dient. Ein Orchester, das eine Sinfonie aufführen will, bedarf<br />
in hohem Maße der Disziplin, eine Verbrecherbande zur Organisation<br />
ihrer Verbrechen aber auch. Oskar Lafontaine hat einmal<br />
gesagt, die Sekundärtugenden seien die Tugenden der KZ-<br />
Wächter gewesen; Helmut Schmidt hat ihm mit Recht geantwortet,<br />
das seien aber auch die Tugenden der Befreier der KZs<br />
gewesen. Schon daran kann man ermessen, dass Disziplin<br />
zunächst völlig wertfrei ist.<br />
Nehmen wir doch einmal die Familie, in der es ja heute nur<br />
wenige Kinder gibt, meistens ein bis zwei. Worunter leiden Kinder<br />
heute? Sie leiden darunter, dass Erwachsene nicht durch ihr<br />
Vorbild erziehen wollen. Erziehen heißt nach meiner Auffassung<br />
führen wollen, heißt Kindern gegenüber aktiv werden, Orientierung<br />
geben, Grenzen setzen, Konflikte wagen, und das<br />
unterlassen viele Eltern heute – und in der Folge auch viele Lehrer.<br />
Es gibt keinen Konsens mehr darüber, wie man ein Kind<br />
erziehen soll. Wenn ein Kind fünf Freunde hat, erlebt es an<br />
ihnen fünf verschiedene Erziehungsstile. Erziehung ist beliebig<br />
geworden, aber in einem Punkt sind sich sehr viele einig: Man<br />
soll Kinder eher wachsen lassen als sie führen. Daran leiden wir<br />
heute in erheblichem Maße.<br />
In Wirtschaft und Politik spricht man ohne Bedenken von Führung,<br />
Führungsqualitäten usw., genauso wie man unter<br />
Erwachsenen selbstverständlich von Strafen und von Disziplin<br />
spricht. In Bezug auf Kinder und Jugendliche halten wir diese<br />
Begriffe jedoch für verdorben. Führung, weil es einst einen Führer<br />
gegeben hat, der dieses Land menschenverachtend geführt<br />
hat, und deswegen dürfen wir das Wort in der Erziehung nicht<br />
verwenden. Ich vermag das aber nicht recht einzusehen, denn<br />
63
der Sache nach lautet die Übersetzung des aus dem Griechischen<br />
stammenden Worts Pädagoge „Kinderführer“, und warum<br />
soll er es heute nicht mehr sein?<br />
Ich habe seit September etwa 45 Vorträge gehalten. Die Hauptgruppe,<br />
die zu meinen Vorträgen kommt, sind Menschen im<br />
Alter zwischen 25 und 40, Eltern und Lehrer. Darunter sehr viele<br />
Eltern, die in sogenannten intakten Familien leben, mit zwei<br />
oder drei Kindern. Von diesen höre ich beim Signieren meines<br />
Buches immer wieder Äußerungen wie: „Herr Bueb, wir danken<br />
Ihnen, dass Sie uns ermutigen, neu darüber nachzudenken, ob<br />
wir unseren Kindern gerecht werden. In unseren Familien geht<br />
es zu, wie Sie es sagen. Wir diskutieren den ganzen Tag und<br />
Berg bestiegen zu haben löst Glücksgefühle aus, ein Fußballspiel<br />
gewonnen zu haben, eine Sonate vor einem Publikum gut<br />
gespielt zu haben, das löst Glücksgefühle aus – das Glück der<br />
Anstrengung. Und dieses Glück der Anstrengung müssen sie<br />
wiedererkennen, dann lernen sie den Nutzen von Disziplin, und<br />
darum geht es mir.<br />
„Worunter leiden Kinder heute? Sie leiden darunter, dass Erwachsene nicht durch ihr Vorbild<br />
erziehen wollen. Erziehen heißt nach meiner Auffassung führen wollen, heißt Kindern gegenüber<br />
aktiv werden, Orientierung geben, Grenzen setzen, Konflikte wagen, und das unterlassen<br />
viele Eltern heute – und in der Folge auch viele Lehrer.“<br />
bringen deswegen oft Beruf und Familie nicht überein. Wir<br />
erschöpfen uns in diesem täglichen Diskutieren. Und nun ermutigen<br />
Sie uns, einmal andere Wege zu beschreiten.“ Diese Sätze<br />
signalisieren die Ratlosigkeit vieler Eltern.<br />
Manchmal höre ich den Einwand, in der demokratischen Gesellschaft<br />
gehöre das zähe Verhandeln und Diskutieren eben dazu,<br />
und das müssten Eltern und Kinder auch lernen. Aber man sollte<br />
nicht täglich diskutieren, ob der Papierkorb geleert wird oder<br />
nicht. Diese Diskussionen über die kleinen Ordnungsfragen des<br />
Alltags müssen aufhören. Wenn die Mutter heute ein Kind auffordert,<br />
seinen Papierkorb auszuleeren, antwortet das Kind:<br />
„Gleich“, und es geschieht nichts. Das Wort dient dazu, die Mutter<br />
ruhigzustellen und Zeit zu gewinnen. Ich beschreibe in „Lob<br />
der Disziplin“ auch meine eigene Kindheit. Ich hatte vier<br />
Geschwister, und wenn wir anfingen, über diese kleinen Fragen<br />
zu diskutieren, und fragten, warum, dann hat meine Mutter<br />
gesagt: „Darum!“ Es war herrlich irrational. Doch sie hätte den<br />
Tag mit fünf Kindern nicht überlebt, wenn sie mit jedem diskutiert<br />
hätte.<br />
Ich habe in meinem Buch dem Spiel ein eigenes Kapitel gewidmet.<br />
Das Spiel ist für mich der Königsweg, den Nutzen von Disziplin<br />
zu erkennen. Was wir heute den Kindern und Jugendlichen<br />
beibringen müssen, ist ein anderer Begriff von Glück, als<br />
sie ihn durch die Medien erfahren. Jugendliche glauben heute,<br />
dass das Glück von außen kommt, durch Fernsehen, Alkohol<br />
und Drogen. Sie glauben, dass erotisches Glück automatisch aus<br />
der Begegnung schöner Körper erfolgt, dass Reichtum Glück<br />
bringt usw. Wir müssen ihnen aber beibringen, dass Glück<br />
immer die Folge einer Anstrengung ist. Beispielsweise einen<br />
Am Anfang aber steht, wie Kant richtig sagt, der Zwang. Sie<br />
werden ein Kind nicht allein durch Einsicht dazu bringen, eine<br />
Anstrengung zu machen, die nicht in seiner Natur liegt. Wenn<br />
es laufen lernt, ist das quasi eine natürlich gegebene Anstrengung,<br />
die es sehr gut meistert. Wenn es jedoch etwas tun soll,<br />
das in seinem Leben nicht von Natur aus vorkommt, z. B. Klavierspielen<br />
oder gute Manieren beim Essen lernen, oder überhaupt<br />
das Arbeiten lernen, dann bedarf es am Anfang des Zwanges.<br />
Ich kann einem Kind nicht sagen, es solle jetzt bitte einsehen,<br />
dass es arbeiten muss, sondern ich sage: „Du arbeitest<br />
jetzt.“<br />
Ich habe gerade einen Film gesehen, in dem eine Szene vorkommt,<br />
die pädagogisch unglaublich lehrreich ist, und zwar der<br />
Film „La Vie en Rose“ über das Leben Edith Piafs. Ein verwahrlostes<br />
junges Mädchen mit einer genialen Stimme und Begabung<br />
wird entdeckt, und man erkennt, dass sie ohne harte<br />
Schulung nie zu Größe kommen wird. Sie bekommt einen<br />
Gesangslehrer zugewiesen und dieser verlangt von ihr reine<br />
Unterwerfung. Sie wehrt sich mit Händen und Füßen dagegen,<br />
diese harte Schule des Gesangsunterrichts durchzumachen. Der<br />
Gesangslehrer ist von einer unglaublichen Brutalität, und am<br />
Ende behält er recht. Er zwingt sie, sich seinen Anweisungen zu<br />
unterwerfen und diese harte Schule zu durchlaufen, und<br />
schließlich wird sie eine wunderbare Sängerin. Ohne Zwang<br />
hätte sie dieses Ziel nicht erreicht, die Einsicht ist dadurch<br />
gekommen, dass sie merkte, wie die Formung ihr Erfolg brachte.<br />
Ein Schüler wird meiner Ansicht nach nur dann erfolgreich lernen,<br />
wenn ein Lehrer ihm deutlich macht, dass er ihm aus Fürsorge,<br />
aus Liebe etwas abverlangt, und wenn er dies mit einer<br />
strengen Forderung verbindet. Es ist erstaunlich, dass strenge<br />
Lehrer Ansehen haben, aber nur dann, wenn sie etwas können<br />
und wenn ihre Strenge verbunden ist mit Zuwendung und mit<br />
Motivation. Nun sind diese Menschen ja leider rar gesät in der<br />
Welt, in allen Berufen, nicht nur im Lehrerberuf. Wir müssen<br />
dafür eintreten, dass auch langweilige Lehrer geachtet werden.<br />
64
Zwischen Disziplin und Freiheit: Bueb/Herrmann<br />
Ich selbst galt als langweilig, konnte aber überleben, weil ich<br />
geachtet wurde. Doch neben mir gab es ein paar Charismatiker,<br />
mit denen ich nicht zur gleichen Zeit auf freiwilliger Basis<br />
irgendetwas anbieten durfte, denn dann kamen weniger Schüler<br />
zu mir. Kinder müssen auch Lehrer erleben, die mittelmäßig<br />
sind, die nicht so viel können, die ungeschickt sind, aber eines<br />
muss jeder Lehrer haben: Er muss Kinder lieben, das ist für mich<br />
die Voraussetzung für diesen Beruf. Dafür soll ihm eine Art<br />
Amtsautorität zugebilligt werden, die unabhängig von seiner<br />
Person gilt.<br />
Ich bin bislang neun Mal vor Schülern aus der gymnasialen<br />
Oberstufe aufgetreten. In einer dieser Schulen wurde die Debatte<br />
sehr formal nach dem englischen Debating-System<br />
geführt. Es gab einen Chairman,<br />
und man musste eine ganze Reihe von Formen<br />
einhalten. Im Laufe der Diskussion sagten<br />
Schüler zu mir: „Herr Bueb, Sie schreiben<br />
über Amtsautorität, das ist doch etwas ganz<br />
Schlimmes.“ Ich habe ihnen entgegnet: „Was<br />
passiert denn im Augenblick in dieser Diskussion?<br />
Hier ist ein Chairman, der mit Amtsautorität<br />
auftritt, obgleich ihn noch niemand<br />
kennt. Man wusste zu Beginn ja gar<br />
nicht, ob er seine Sache gut machen würde.<br />
Dieser Mann hat kompetent agiert, aber“,<br />
habe ich gesagt, „im Saal wäre, selbst wenn<br />
er es schlecht gemacht hätte, keine Unruhe<br />
entstanden, weil ihr alle gewohnt seid, so zu<br />
debattieren, und weil ihr diszipliniert seid.<br />
Ihr erkennt zunächst seine Amtsautorität an,<br />
wie man etwa auch die Amtsautorität eines<br />
Schiedsrichters anerkennen würde.<br />
Diese Art Amtsautorität hat auch ein Lehrer,<br />
hat auch der Papst. Bei den Päpsten hat man<br />
nicht darauf geschaut, ob sie ihrem Amt<br />
gewachsen waren, sondern sie waren Papst. Diese Amtsautorität<br />
kann missbraucht werden, aber sie kann einen Lehrer auch<br />
schützen. Als Schulleiter kann ich sagen, dass eben nicht nur<br />
charismatische, wunderbare Lehrerinnen und Lehrer vor der Tür<br />
Schlange stehen, durch die man die mittelmäßigen ersetzen<br />
könnte, sondern Sie müssen diese Charismatiker wie die Nadel<br />
im Heuhaufen suchen. Ein mittelmäßiger Lehrer, der in den<br />
Beruf hineingerutscht ist und seine Sache brav macht, muss<br />
geschützt sein und würdig durch die Schule gehen können,<br />
ohne dass ihm in der Klasse einer die Anerkennung verweigert<br />
und ihn respektlos und frech behandelt. Ein Schulleiter muss<br />
dafür sorgen, dass jeder Lehrer, der an seiner Schule ist und zu<br />
dem er als Schulleiter ja sagt, würdig durch die Schule gehen<br />
kann, sonst muss er ihn in der Tat entlassen, auch um des Lehrers<br />
willen.<br />
Foto: Elke Habicht<br />
Ich fordere, dass Lehrer von Schulleitern in Schulen mehr<br />
geführt werden, das findet bislang praktisch nicht statt. Wie<br />
sieht denn der Alltag eines Lehrers aus? Er verschwindet in seinem<br />
Klassenzimmer, und kein Mensch weiß, was da passiert,<br />
außer den Schülern. Die finden es aber nicht interessant genug,<br />
um darüber zu berichten, und folglich bleibt es unbekannt. Lehrerinnen<br />
und Lehrer sind Einzelkämpfer, sie sind individuelle<br />
Künstler. Wenn es in einem Jahrgang vier 10. Klassen gibt, gibt<br />
es vier Mal Englischunterricht, doch kein Lehrer weiß vom<br />
anderen, was er in seiner Klasse macht. Auch der Schulleiter<br />
weiß es nur bedingt. Es wird, zu wenig hospitiert, es gibt zu<br />
wenig Anleitung, es finden zu wenig Personalgespräche statt.<br />
Lehrer werden auch nicht gelobt, erhalten keine Anerkennung<br />
und keine Kritik, nichts dergleichen. Das ist im Grunde eine<br />
Katastrophe. Wenn man sich wirklich gute Schulen anschaut,<br />
mein Beispiel ist etwa die berühmte Helene-Lange-Schule in<br />
Erfolgreich lernen kann nur derjenige, dem auch etwas abverlangt wird, so Dr. Bernhard<br />
Bueb, im <strong>Bild</strong> neben Moderator Christian Hümmeler.<br />
Wiesbaden, dann sieht man, dass es dort meist eine gute und<br />
klare Führung gibt. In den meisten Schulen jedoch mangelt es<br />
an dieser Führung durch die Schulleiter.<br />
Familie ist nicht alles<br />
Ich habe meine Leser sehr irritiert, weil man in der Regel für<br />
Disziplin und gegen Ganztagserziehung ist, oder man ist für<br />
Ganztagserziehung und gegen Disziplin. Die sogenannten Konservativen<br />
sind dafür, dass die Familie alles ist und die Ganztags-<br />
oder Gemeinschaftserziehung vernachlässigt wird. Ich bin<br />
ganz auf der Seite von Frau von der Leyen, was Kinderkrippen<br />
angeht, nämlich Krippen als Angebot für die vielen Frauen, die<br />
berufstätig sein wollen, die wir als Mädchen so erzogen haben,<br />
dass sie sich auch über den Beruf definieren. Frankreich kennt<br />
das Ganztagsangebot auch in der Kinderkrippe seit 1880, übrigens<br />
aus einem ähnlichen Grunde, warum wir es heute einführen,<br />
weil damals ein Geburtenrückgang zu verzeichnen war.<br />
Heute ist Frankreich das einzige westeuropäische Land, in dem<br />
65
mehr Kinder zur Welt kommen, als zur Reproduktion nötig sind.<br />
Und die französischen Mütter verstehen nicht, dass die deutschen<br />
Mütter Hemmungen haben, ihr Kind am Tag in eine gute<br />
Kinderkrippe zu geben und ihrem Beruf nachzugehen. Frankreich<br />
ist ein ungeheuer familienfreundliches Land. Ich bin<br />
dafür, dass wir Kindern Gemeinschaftserziehung anbieten und<br />
später die Jugendlichen verpflichten, den ganzen Tag an der<br />
Schule zu sein, aber das heißt vormittags Schule, gemeinsam<br />
Mittagessen und dann natürlich Spiel, Spiel, Spiel.<br />
Wie kann sonst eine alleinerziehende Mutter ihrem Beruf nachgehen,<br />
um Geld zu verdienen? Sie hat heute keine Chance, ihre<br />
Existenz zu sichern, wenn sie keine Mutter oder sonstige Verwandte<br />
hat, die die Betreuung übernehmen können, und wenn<br />
sie auch nicht Geld hat, um die teuren Krippenplätze zu bezahlen?<br />
Sie ist verlassen. Was wäre es für ein Segen, wenn die Kinder<br />
aus bildungsfernen Schichten am Nachmittag nicht vor dem<br />
Fernsehen verdämmern oder auf der Straße rumlungern würden<br />
oder wenn die Migrantenkinder nicht den Kontakt zu den deutschen<br />
Kindern verlören, sondern in einer Ganztagseinrichtung<br />
aufgehoben wären. Doch wird kein Migrantenkind am Nachmittag<br />
im Kindergarten oder in der Grundschule sein, wenn es<br />
nicht verpflichtend ist. Dies trifft genauso auf die Kinder aus<br />
bildungsfernen Schichten zu. Und deswegen müssen wir heute<br />
fordern, dass die Ganztagserziehung vom Kindergarten an verpflichtend<br />
gemacht wird.<br />
Die Familie sollte natürlich die Kernzelle der Erziehung bleiben.<br />
Nur existieren die Familien ja heute nicht mehr oder vielleicht<br />
höchstens zu etwa einem Drittel in der traditionellen Form.<br />
Dreißig Prozent der Kinder sind außerdem Einzelkinder, und für<br />
diese Einzelkinder ist es doch ein Verhängnis, dass sie sich nie<br />
mit anderen Gleichaltrigen auseinandersetzen müssen, außer<br />
im Schulunterricht und am Vormittag im Kindergarten. Sie erleben<br />
keine Eifersucht, keinen Neid und keine Ungerechtigkeit,<br />
weil sie nie etwas teilen müssen. Für diese Kinder ist es doch<br />
ein Segen, wenn sie in eine Gemeinschaft kommen. Für mich<br />
ist die Gemeinschaftserziehung zunächst einmal eine Ergänzung<br />
und Fortsetzung einer gelungenen Erziehung in der Familie<br />
und somit etwas Positives. Leider ist heute Gemeinschaftserziehung<br />
häufig der Ersatz für mangelnde Familienerziehung.<br />
Das ist kummervoll, ist aber eine Realität. Wir sollten aber<br />
mutig diesen Weg der Gemeinschaftserziehung beschreiten.<br />
STATEMENT<br />
Erziehungsnotstand und Disziplin<br />
Ulrich Herrmann<br />
Ob Herr Bueb mit seinem Buch „Lob der Disziplin“ den „Zeitgeist“<br />
getroffen hat, mag ja sein. Der Zeitgeist wird ja immer<br />
dann beschworen, wenn man nicht so genau weiß, worum es<br />
eigentlich geht. Aber Herr Bueb hat auf alle Fälle einen Nerv<br />
getroffen, sonst wäre das Buch nicht auf den Bestsellerlisten,<br />
und der Nerv, den Herr Bueb getroffen hat, heißt Erziehungsnotstand.<br />
Insofern ist ein Zeitphänomen getroffen.<br />
Wenn man Studien zur Lehrerbelastung zu Rate zieht, in denen<br />
Lehrerinnen und Lehrer gefragt wurden, welches denn ihr größtes<br />
Problem im Schulalltag sei, dann werden an erster Stelle Disziplinprobleme<br />
genannt. Insofern ist das Thema Disziplin richtig<br />
und wichtig, sonst wäre auch die große Aufmerksamkeit,<br />
die es erfährt, nicht zu erklären.<br />
Die Beschreibung des Erziehungsnotstands, die Herr Bueb liefert,<br />
erscheint mir nur zum Teil richtig zu sein. Ich glaube, er<br />
sieht die Sache zu personalisiert. Er spricht von der Schwäche<br />
der Eltern und von der Schwäche der Lehrer, die sich nicht<br />
durchsetzen können oder sich nicht durchsetzen wollen. Ich<br />
würde es vorziehen, die Dinge immer auch strukturell zu sehen.<br />
Etwa so: Lehrerinnen und Lehrer sehen an einem Unterrichtsvormittag<br />
mit sechs Stunden und Klassen mit 30 Kindern 180<br />
Kinder und junge Leute. Danach ist die Schule als Halbtagsschule<br />
zu Ende, den einzelnen Schüler sieht ein Lehrer – wenn<br />
überhaupt – also in einem winzigen Zeitfenster, richtiger: Er<br />
sieht ihn gar nicht! In einer solchen Situation kann niemand<br />
einen Erziehungsauftrag wahrnehmen. Und wenn die Schule<br />
dann noch so konstruiert ist, dass die Inhalte und die Betriebsform<br />
des Unterrichts – Frontalunterricht im 45-Minuten-Takt,<br />
keine Möglichkeit zu konzentrierter Einzel- und Gruppenarbeit<br />
in größeren Zeitfenstern – den Interessen junger Leute und<br />
dem, was sie lernen und arbeiten möchten, nicht entgegenkommen,<br />
dann darf man sich nicht wundern, dass sie mit dem<br />
darauf reagieren, was „Disziplinlosigkeit“ genannt wird.<br />
Herr Bueb hat zu Beginn seiner Ausführungen den präzisen<br />
Gebrauch der Sprache angemahnt. Sprache ist bekanntlich in<br />
ihren Bedeutungen nicht eindeutig. Er hat gesagt, man solle<br />
„wahrhaftig“ sein in seiner Sprache, dann sehe man auch die<br />
Sache, so wie die Sprache sie benennt. Aber „führen“ hat, seitdem<br />
wir einen „Führer“ hatten, einen bestimmten Beiklang,<br />
den wir nicht schätzen. Und Disziplin kann ja auch Kasernenhofdisziplin<br />
sein. Deswegen wäre ich auch mit dem Thema Disziplin<br />
in der Familie ein bisschen vorsichtig. Wenn man heute<br />
davon spricht, dass Kinder immer häufiger verwahrlost werden,<br />
müsste man wieder fragen, woran das liegt. Herr Bueb sagt, für<br />
sehr viele Kinder existiere gar keine vollständige Familie, sondern<br />
nur ein Elternteil, und der ist in der Regel auch noch<br />
berufstätig. Die Kinder sind dann am Nachmittag irgendwo.Vor<br />
dreißig Jahren diskutierte man über eine Karikatur, die zeigt,<br />
wie die Kids vorm Fernseher sitzen, und die Unterschrift hieß:<br />
„Und wo lassen Sie erziehen?“ Das kommt dem Verwahrlosungsproblem<br />
strukturell viel näher, als wir es seit Jahrzehnten<br />
wahrgenommen haben. Herr Bueb macht mit seinem Buch auf<br />
einen Sachverhalt aufmerksam, dem wir – die Berater, die Schulen,<br />
die Pädagogen, die Erziehungswissenschaftler – uns im<br />
Rahmen der Lebensbedingungen und des Lebensalltags der Heranwachsenden<br />
in den letzten dreißig Jahren in der Tat nicht<br />
wirklich zugewandt haben.<br />
66
Zwischen Disziplin und Freiheit: Bueb/Herrmann<br />
Erziehung, meinethalben auch im Sinne von Führung, dient<br />
dazu, dass Heranwachsende Routinen entwickeln und Selbstverständlichkeiten<br />
beachten lernen, weil man anders – das<br />
bestreitet ja kein vernünftiger Mensch – nicht durch den Alltag<br />
kommt. Und jetzt ist die Frage – so hat ja die Pädagogik sie an<br />
ihrem modernen Anfang vor 250 Jahren diskutiert –, wie ich<br />
„die Freiheit bei dem Zwange“ kultiviere, wie Kant gesagt hat.<br />
Also: Wie bekomme ich es hin, dass einerseits die Regel beachtet,<br />
aber andererseits nicht mit diktatorischen oder brutalen<br />
Mitteln durchgesetzt wird. Herr Bueb sagt selbst, dass kein<br />
Kind geschlagen oder gedemütigt werden darf. Also muss ein<br />
Weg gefunden werden, wie diese Disziplin als Selbstdisziplinierung<br />
und Routinisierung eines selbstverständlichen Verhaltens<br />
gelernt werden kann.<br />
Motivation zum Lernen<br />
Was meines Erachtens in Buebs Buch zu kurz kommt, ist<br />
erstens diese Ambivalenz und zweitens die Frage, wie man<br />
eigentlich lernt. Wir lernen nur, wenn wir einen emotionalen<br />
Gewinn haben. Darüber hat uns die Gehirnforschung belehrt.<br />
Bueb selber gibt den Hinweis, dass Sport und Musik disziplinierende<br />
Wirkung haben. Das muss man sich in den Zeiten des<br />
Pisa-Leistungswahns auf der Zunge zergehen lassen: Herr Bueb<br />
sagt, erst wenn das musische Element in Schulen stärker<br />
würde, könnten die Schulen auch besser werden. Aber warum<br />
werden sie dann besser? Weil durch Üben und die Aussicht auf<br />
Erfolg ein Engagement in der Sache entsteht. Wenn ich jedoch<br />
nicht geübt habe, dann bricht die Theateraufführung oder das<br />
Konzert zusammen. Ich habe keinen Erfolg, sondern erlebe eine<br />
Niederlage. Das heißt also, dass die Disziplinierung des Alltags<br />
mit einem gewissen Zugewinn an Freude, mit Erfolg und Beifall<br />
(Belohnung) verbunden sein muss. Selbstdisziplinierung<br />
muss Spaß machen.<br />
ihm beigebracht haben, wo die Grenzen seiner Wirksamkeit<br />
gewesen sind.<br />
Wie wird (Selbst-)Disziplin gelernt?<br />
Kürzlich wurde über Julia Fischer berichtet, eine Geigerin, die<br />
jetzt Professorin an der Musikhochschule in Frankfurt ist. Sie<br />
sagt: Nur so, wie Bueb es geschrieben hat, wird man eine gute<br />
Solistin: Üben, üben, üben. Der Unterschied ist nur, dass sie,<br />
ebenso wie Edith Piaf, freiwillig in dieser Ausbildung war. Aber<br />
Kinder sind nicht freiwillig in der Familie, und sie sind auch<br />
nicht freiwillig in der Schule. Der Ausgangspunkt von Herrn<br />
Bueb ist der Zwang, den die Institution ausüben soll. Ich möchte<br />
lieber beginnen mit dem Ausgangspunkt Motivation oder<br />
Interesse des Einzelnen. Welches Interesse können junge Leute<br />
entwickeln, um Selbstdisziplin zu lernen? Es gibt dafür einen<br />
pädagogischen Weg, den man doch nicht vergessen sollte:<br />
„Herr Bueb sagt, erst wenn das musische Element in Schulen stärker würde, könnten die<br />
Schulen auch besser werden. Aber warum werden sie dann besser? Weil durch Üben und die<br />
Aussicht auf Erfolg ein Engagement in der Sache entsteht. Wenn ich jedoch nicht geübt habe,<br />
dann bricht die Theateraufführung oder das Konzert zusammen. … Das heißt also, dass die<br />
Disziplinierung des Alltags mit einem gewissen Zugewinn an Freude, mit Erfolg und Beifall<br />
(Belohnung) verbunden sein muss. Selbstdisziplinierung muss Spaß machen.“<br />
Die Literatur ist voll von Antworten auf die Frage, wie man<br />
Kinder dazu bekommt, dass sie – auch ein Wort, das ein<br />
bisschen verpönt ist – gehorchen. Kinder müssen gehorchen<br />
lernen, denn als Erwachsene müssen sie den Zwängen des Alltags<br />
gehorchen. Die Frage ist nur, wie man den Weg dahin findet,<br />
dass Kinder dieses auch tun. Dass das nie ohne Auseinandersetzung<br />
abgeht, hat Herr Bueb an seinen eigenen Töchtern<br />
erfahren, denen er in seinem Buch dafür dankt, dass sie<br />
Unser <strong>Bild</strong> von Schule ist eigentlich geprägt durch den einzelnen<br />
Schüler, der im Unterricht sitzt, dort lernt und nachher<br />
Klassenarbeiten abliefern soll. Das ist natürlich ein verkorkstes<br />
<strong>Bild</strong> dieses Unternehmens, wie Herr Bueb aus Salem und der<br />
ganzen Reformpädagogik weiß. Roland Eckert, Soziologe in<br />
Trier, hat mit seinem Forscherteam eine aufschlussreiche Untersuchung<br />
über Cliquen junger Leute, besonders solche mit<br />
abweichendem Verhalten, gemacht. Es ging um die Fragestellung:<br />
Wie kommt es, dass abweichendes Verhalten sich stabilisieren<br />
kann? Grund dafür ist der Gruppenzwang bzw. das Cliquenmilieu.<br />
Daraus lässt sich aber auch der umgekehrte Schluss<br />
ziehen – und das war die Schlussfolgerung der Jugendbewegung<br />
am Beginn des 20. Jahrhunderts, aus der Reformschulen<br />
wie Salem ja hervorgegangen sind –, dass man Gruppenprozesse<br />
initiieren muss, um eine Selbstkontrolle, Selbstregulierung<br />
und Selbstdisziplinierung durch die Gleichaltrigen herbeizuführen,<br />
denn das Motiv für Disziplin liegt ja bei der Peergroup<br />
nicht – wie im Fall von Einzelnen – in Ruhm und Anerkennung.<br />
(Thomas Mann sagte von sich selber, sein Wesen sei „ganz auf<br />
Ruhm gestellt“, und deswegen sitze er morgens am Schreibtisch<br />
und quäle sich seine Texte ab; diese Passage findet sich im „Tod<br />
in Venedig“.) Vielmehr sind es Respekt und Anerkennung in der<br />
Clique und durch die Clique. In dem Moment, wo man durch die<br />
Lehrer, durch die Eltern, durch das, was man tut, Respekt und<br />
67
In Respekt und Anerkennung sieht Professor Ulrich Herrmann (auf dem Podium<br />
rechts neben Moderatorin Ismene Poulakos) die Wurzeln der Motivation zum Lernen.<br />
Foto: Elke Habicht<br />
allen Dingen dafür zu sorgen, dass die Lehrer und<br />
Schüler sich für ihr eigenes Wohlbefinden und dasjenige<br />
ihres Gegenübers mit verantwortlich fühlen.<br />
Über das Personal für ein solches Unterfangen, wie<br />
es Herr Bueb in Salem hatte und das Freie Schulen<br />
häufig haben, verfügen die staatlichen bzw. kommunalen<br />
öffentlichen Schulen normalerweise nicht.<br />
Insofern finde ich es nicht fair, dass plötzlich in der<br />
Führungsstruktur per Dekret Veränderungen eingeführt<br />
werden, wie man das jetzt bei der Diskussion<br />
über die sogenannte „eigenverantwortliche Schule“<br />
(in Niedersachsen) sehen kann. Die Wirtschaft dient<br />
dabei angeblich als leuchtendes Beispiel, wobei man<br />
ja jeden Tag in der Zeitung lesen kann, dass gerade<br />
dort die Führungsstrukturen eben nicht funktionieren!<br />
Und außerdem würde sich ja an der Realsituation<br />
der Lehrkräfte und der Schüler und ihren Beziehungen<br />
nichts ändern.<br />
Anerkennung gewinnt, ist das Motiv gegeben, die gemeinsamen<br />
Regeln zu beachten. Und dann ist Zwang vielleicht ein<br />
Auslöser, aber der Zwang ist nicht der Weg.<br />
Bessere Schule durch mehr Führungsverantwortung?<br />
Herr Bueb plädiert für bedingungslose Amtsautorität: wie beim<br />
Papst, beim Schiedsrichter, beim Chairman einer Debatte. Nur<br />
treffen diese Beispiele nicht den Kern der Sache. Ob ein normaler<br />
Katholik die Amtsautorität des Papstes anerkennt oder<br />
nicht, bleibt für beide Seiten normalerweise folgenlos. Macht<br />
ein Chairman seine Sache wiederholt schlecht, dann wird er<br />
eines Tages kein Chairman mehr sein. Wenn ein Schiedsrichter<br />
beim Fußball Spiele verpfeift, dann wird er abgesetzt.<br />
Das würde bedeuten, dass die Schülerschaft oder die Kollegenschaft<br />
bestimmten Kollegen die erste und die zweite gelbe<br />
Karte zeigen können und dass diese Kollegen mit der roten<br />
Karte vom Platz gestellt werden. Der Schulleiter darf nicht bloß<br />
appellieren, er muss Amtsautorität haben. Gewiss. Aber dann<br />
müssen auch die Systembedingungen dafür geschaffen werden,<br />
dass er sie rechtfertigen muss und nicht einfach durch seinen<br />
Anstellungsvertrag – anders als in Schulen in Freier Trägerschaft<br />
– unbefragt und auf immer übertragen bekommt, egal,<br />
ob er ihr gewachsen ist oder nicht.<br />
Wenn ein Schulleiter eines mittelgroßen Gymnasiums 80 oder<br />
90 Lehrerinnen und Lehrer in seinem sogenannten Kollegium<br />
hat – dieses verdient häufig den Namen nicht, sondern stellt<br />
sich zumeist dar als eine zufällige Ansammlung von Fachlehrern,<br />
die so groß ist, dass sich die Leute meist untereinander<br />
gar nicht mehr kennen –, dann ist die Vorstellung von Herrn<br />
Bueb, dass es einen oder zwei Studienleiter geben müsste, die<br />
nichts anderes zu tun hätten, als regelmäßig durch die Schule<br />
zu gehen, im Unterricht zu sein, Supervision zu machen, Gespräche<br />
mit den Schülerinnen und Schülern zu führen und vor<br />
Führung funktioniert vor allen Dingen dann, so wie<br />
Herr Bueb es erklärt: wenn der Schulleiter sich für sein Kollegium<br />
verantwortlich fühlt und imstande ist, die Mitverantwortung<br />
für den Berufserfolg, die Berufszufriedenheit und für die<br />
Gesundheit im Beruf für seine Kollegen, die mit ihm die Schule<br />
betreiben, auch zu übernehmen. Das ist aber heute nicht der<br />
Fall, denn 80 Prozent der Lehrkräfte erreichen bekanntlich das<br />
vorgesehene Pensionsalter nicht, sondern verlassen so ab Mitte<br />
50 mit psychosomatischen Erkrankungen den „Schuldienst“<br />
und gehen in den vorzeitigen Ruhestand. Da wird in der Regel<br />
nicht hingesehen, sie werden weder geführt noch wird ihnen<br />
gegenüber verantwortlich gehandelt, noch werden sie gelobt.<br />
Der Lehrerberuf ist ein völlig unmöglicher Beruf, weil er ohne<br />
Lob auskommen muss, und das kann natürlich auf die Dauer<br />
nicht funktionieren.<br />
Krippenplätze und Familienerziehung<br />
Die Debatte um die Schaffung von Krippenplätzen und die Kinderbetreuung<br />
nimmt bei uns manchmal die Züge der Frage an<br />
„Sind Sie für oder gegen die Französische Revolution?“ Es geht<br />
dabei jedoch nicht um die Alternative: Krippe ja oder nein, sondern<br />
das Problem ist, wie manche Kinder in welchem Alter auf<br />
diese Krippensituation reagieren. Es gibt kleine Kinder, die es<br />
gar nicht abwarten können, in ein Getümmel von Gleichaltrigen<br />
einzutauchen, und andere reagieren völlig verstört und müssen<br />
dort dringend wieder herausgenommen werden, weil sie sonst<br />
emotional oder sonst wie entgleisen. Es geht also gar nicht<br />
um die Frage, ob ein solches Angebot da sein sollte, sondern<br />
darum, was eigentlich passiert, wenn dieses Angebot wahrgenommen<br />
wird und wie es dem Kind dann ergeht.<br />
Die Familienerziehung, die durch diese Debatte geistert, basiert<br />
auf dem <strong>Bild</strong> der bürgerlichen Familie des 19. Jahrhunderts, die<br />
immer schon nur einen kleinen Bruchteil der Gesellschaft überhaupt<br />
ausgemacht hat. Wie Herr Bueb sagt, hat die Erziehungsrealität<br />
für die Masse der Bevölkerung immer völlig anders aus-<br />
68
Zwischen Disziplin und Freiheit: Bueb/Herrmann<br />
gesehen. Erstens haben sich Geschwister untereinander erzogen.<br />
Zweitens: Väter und Mütter haben normalerweise immer gearbeitet,<br />
die Erziehungsleistungen wurden viel eher von den Großeltern<br />
erbracht. Diese Struktur der Dreigenerationenfamilie existiert<br />
heute vielfach nicht mehr, und deren Auflösung war der<br />
Grund dafür, dass in den Zeiten der Reformpädagogik, also um<br />
1900, die Forderung aufkam, dass die Gemeinschaft in institutionalisierter<br />
Form die alte Erziehungsstruktur zu ersetzen hätte.<br />
Bei uns heute funktioniert „öffentliche Ersatzerziehung“ auch<br />
deswegen nicht mehr ohne Weiteres, weil wir inzwischen die<br />
elektronischen Miterzieher in diesem System haben, die sich in<br />
diesem Wirkungsfeld querstellen, und das scheint auch die<br />
eigentliche Schwierigkeit zu sein: die „geheimen Miterzieher“,<br />
die ihr Werk längst vor und neben den Krippen, Kindergärten<br />
und Schulen vor allem durch das Fernsehen wirkungsvoll begonnen<br />
haben.<br />
69
Pflichtdeutsch –<br />
Der Schlüssel zur Integration?<br />
Unter der Idealvorstellung von einer „multikulturellen Gesellschaft“ wurden auch in der Schule Rücksichten<br />
genommen, die vielfach den Integrationsprozess der in Deutschland lebenden Kinder aus Familien<br />
mit Migrationshintergrund mehr behindert als gefördert haben. Nun hat sich die Handlungsmaxime<br />
offenbar umgedreht. Infolgedessen befasste sich die Diskussionsrunde, besetzt mit Jutta Steinkamp von<br />
der Herbert-Hoover-Oberschule in Berlin, Yüksel Pazarkaya, Leiter der Türkisch-Redaktion beim WDR,<br />
und Thomas Kufen, Integrationsbeauftragter der Landesregierung NRW, mit der Frage, ob eine Verpflichtung<br />
auf das Erlernen der deutschen Sprache die gesellschaftliche Integration befördern könne.<br />
Moderation: Katja Irle, Redakteurin Frankfurter Rundschau<br />
Eine Veranstaltung der<br />
Jutta Steinkamp<br />
Jutta Steinkamp, geb. 1946. Studium des Lehramts an Grund- und Hauptschulen mit den Fächern Englisch,<br />
Wirtschaftslehre und Religionslehre. Tätigkeiten bei der Internationalen Transportarbeiterföderation in London<br />
sowie beim Weltverband der Arbeitnehmer in Brüssel. Lehrerin an einer Sonderschule für gesundheitsgeschädigte<br />
Kinder sowie in der JVA Tegel, dort stellvertretende Leiterin der Haupt- und Realschule. Seit 1989<br />
Schulleiterin der Herbert-Hoover-Oberschule in Berlin; machte Deutsch auf dem Schulgelände zur Pflicht<br />
und erhielt dafür den Nationalpreis.<br />
Yüksel Pazarkaya<br />
Yüksel Pazarkaya, geb. 1940 in Izmir, Türkei. 1958 Übersiedlung nach Deutschland. Studium der Chemie,<br />
dann Germanistik, Philosophie und Linguistik in Deutschland. Seit 1959 Mitarbeit bei türkischen und deutschen<br />
Zeitungen, Zeitschriften und Rundfunkanstalten. Ab 1961 als Erster Initiator deutsch-türkischer Theaterarbeit.<br />
Übersetzer türkischer Poesie und Prosa. Autor türkischer und deutscher Werke. 1989 für seine Aktivität<br />
mit dem Friedrich-Rückert-Preis ausgezeichnet. Seit 2005 ist Pazarkaya auch verlegerisch tätig.<br />
STATEMENT<br />
Jutta Steinkamp<br />
Zunächst eine Bemerkung zu dem Wort Pflichtdeutsch im Titel<br />
dieses Podiums: Wir haben an unserer Schule niemals von<br />
„Pflichtdeutsch“ gesprochen, sondern immer von einer<br />
„Deutsch-Verpflichtung“, die sich die Schüler selber gegeben<br />
haben.Anders wäre das gar nicht möglich gewesen. Um auf Ihre<br />
Frage zu kommen, wie es jetzt, ein Jahr nach der Einführung<br />
dieser Verpflichtung, aussieht: Endlich können wir wieder das<br />
tun, was wir schon immer gemacht haben. Ich kenne eine Reihe<br />
von Schülern, die sehr viel in den Medien waren und die natürlich<br />
am Anfang gar nicht damit umgehen konnten. Sie sind<br />
jedoch schließlich daran gereift. Wir hatten mehrere perfekte<br />
Schülersprecher, und die Schüler sind immer sehr stolz, wenn<br />
sie darüber berichten können, was sie in der Diskussion erreicht<br />
haben, dass sie eben von Anfang an wollten, dass sich an unse-<br />
70
Pflichtdeutsch? Steinkamp/Pazarkaya/Kufen Blindtext<br />
Thomas Kufen<br />
Thomas Kufen, geb. 1973. Ausbildung zum Bürokaufmann, anschließend Angestellter im elterlichen Betrieb.<br />
Seit 1993 Vorsitzender der Jungen Union, zunächst in Essen, danach für das Ruhrgebiet. 1997 Mitbegründer<br />
des Deutsch-Türkischen Forums der CDU NRW. Seit 1999 Mitglied im Rat der Stadt Essen. 2000-05 MdL NRW<br />
und Mitglied des Fraktionsvorstands der CDU-Landtagsfraktion und deren migrationspolitischer Sprecher.<br />
Seit 2005 Stellvertretender Kreisvorsitzender der CDU Essen. Seit 2006 Stellvertretender Bezirksvorsitzender<br />
der CDU Ruhrgebiet und Stellvertretender Vorsitzender des Vorstandes der Stiftung Zentrum für Türkeistudien,<br />
Essen. Seit 2005 Integrationsbeauftragter der Landesregierung NRW.<br />
rer Schule alle verstehen.Wir haben mittlerweile 13 Sprachen an<br />
unserer Schule, und in dieser Situation müssen wir uns auf eine<br />
Verständigungssprache einigen, da kann man sich nur selbst<br />
verpflichten. Wir wollen alle gemeinsam eine Sprache sprechen,<br />
und das ist natürlich dann Deutsch.<br />
Mir fällt es ganz schwer, eine Erklärung dafür zu finden, weshalb<br />
wir damals zunächst von der türkischen Gemeinde, von<br />
den türkischen Medien so sehr angefeindet worden sind. Wir<br />
haben inzwischen einen Migrantenanteil von 93 Prozent. Das<br />
spricht für sich. Die Eltern und die Schüler, die sich bei uns<br />
anmelden wollen, wissen einfach, dass sie bei uns gut aufgehoben<br />
sind, dass wir mit ihnen so umgehen, wie sie es möchten,<br />
dass man mit ihnen umgeht. Wir wollen keine Assimilation.<br />
Wir möchten eine Integration erreichen. Wir beabsichtigen<br />
nicht, die Wurzeln zu den Herkunftssprachen, zu den Herkunftskulturen,<br />
zu der Geschichte unserer Schüler zu kappen.<br />
Auf gar keinen Fall wollen wir eine Zwangsgermanisierung, ich<br />
71
leibe bei dem Begriff Integration, die wir an unserer Schule<br />
erreichen wollen.<br />
Hier wurde die Frage aufgeworfen, ob es peinlich sei, dass wir<br />
für unsere Bemühungen mit einem deutschen Nationalpreis<br />
ausgezeichnet wurden. Dazu möchte ich gleich Stellung nehmen.<br />
Die deutsche Nationalstiftung wird von der politischen<br />
und der wirtschaftlichen Elite in Deutschland gefördert, und da<br />
kann von Peinlichkeit keine Rede sein. Wir waren zwar sehr<br />
erstaunt, dass wir als kleine Realschule in Berlin mit 370 Schülern<br />
diesen Preis, um den wir uns ja nicht beworben hatten,<br />
bekommen haben.Aber wenn die politische und wirtschaftliche<br />
Elite in Deutschland eine Schule , die den demokratischen Weg<br />
einer solchen Selbstverpflichtung beschreitet, für würdig befindet,<br />
diesen Preis zu erhalten, dann finde ich das eigentlich in<br />
gerieten wir ins Kreuzfeuer der internationalen Presse. Natürlich<br />
kann ich verstehen, dass die Migranten sensibel sind. Die<br />
Integrationspolitik ist teilweise vernachlässigt worden. Wir<br />
haben uns lange Jahre mit uns selbst beschäftigt und über das<br />
Thema Integration gar nicht mehr nachgedacht, geschweige<br />
denn irgendetwas entwickelt. Es entstand ein Vakuum, und<br />
jetzt stehen wir wieder da und müssen uns damit beschäftigen.<br />
Ich möchte Ihnen einmal sagen, was wir an unserer Schule<br />
gemacht haben. Ich habe zusammen mit dem Elternsprecher,<br />
der Türke ist, versucht, muttersprachlichen Unterricht, das<br />
heißt türkischen Unterricht, bei uns an der Schule zu etablieren,<br />
und zwar außerhalb des Regelkatalogs, weil die Schüler<br />
sowieso schon 32, 33 Stunden haben. Der muttersprachliche<br />
Unterricht sollte nachmittags stattfinden. An dem ersten<br />
„Wir wollen keine Assimilation. Wir möchten eine Integration erreichen. Wir beabsichtigen<br />
nicht, die Wurzeln zu den Herkunftssprachen, zu den Herkunftskulturen, zu der Geschichte<br />
unserer Schüler zu kappen. Auf gar keinen Fall wollen wir eine Zwangsgermanisierung, ich<br />
bleibe bei dem Begriff Integration, die wir an unserer Schule erreichen wollen.“<br />
Ordnung. Darüber hinaus haben wir den Preis für unsere Schule<br />
gut gebrauchen können. Wir haben mit den Mitteln unsere<br />
Aula ausgebaut, und ich weiß nicht, was eigentlich daran peinlich<br />
sein soll.<br />
Wir sind eine Oberschule, die die Klassen 7 bis 10 umfasst.<br />
Unsere Schüler sind zwischen 12 und 17 Jahre alt. Wir hatten<br />
eine Reihe von Vorfällen mit Aggressionen, die wir bewältigen<br />
mussten, und ich habe mich ganz persönlich darum gekümmert.<br />
Immer wieder hörte ich in diesem Zusammenhang von<br />
den Schülern, dass sie nicht verstanden hätten, was über sie<br />
geredet wurde. Vermutlich hat man gar nicht über sie oder<br />
einen einzelnen Schüler geredet, aber Jugendliche sind sehr<br />
sensibel. Sie haben darauf reagiert. Wir hatten seit einigen Jahren<br />
bereits Konfliktlotsen, das sind Schüler, die sich um Streitfälle<br />
kümmern. Sie hatten sehr viel zu tun. Als wir die Deutschverpflichtung<br />
eingeführt haben, kamen sie zu uns und berichteten,<br />
dass die Vorfälle, in denen ein Eingreifen nötig war,<br />
so zurückgegangen seien, dass sie kaum noch etwas zu tun<br />
hätten. Das hat uns bestätigt, dass wir den richtigen Weg<br />
gegangen sind.<br />
Unser Pech war, dass man genau in der unseligen Debatte über<br />
den Fragebogen zur Einbürgerung in Baden-Württemberg, den<br />
ich auch nicht gutheiße, auf uns aufmerksam wurde. Zu diesem<br />
Zeitpunkt bestand unsere Deutsch-Verpflichtung bereits seit<br />
zehn Monaten, und bislang hatte sich kein Mensch darum<br />
gekümmert. Plötzlich dann, im Zusammenhang mit der Gesamtdebatte<br />
über Integration und wie diese zu regeln sei,<br />
Elternabend zu diesem Thema waren von 230 türkischen Familien<br />
sage und schreibe 12 interessierte Eltern anwesend. Dann<br />
habe ich mich bemüht, die Eltern noch einmal in Türkisch anzuschreiben,<br />
woraufhin beim zweiten Elternabend 30 von 230<br />
Eltern kamen. Nun war ich es auch leid und habe mich entschlossen,<br />
trotzdem mit dem Vorhaben weiterzumachen. Ich<br />
suchte mir kompetente türkische Lehrkräfte, die für die mittlerweile<br />
34 interessierten Schüler muttersprachlichen Unterricht<br />
anbieten sollten. Eine Wertschätzung der anderen Kultur<br />
von unserer Seite war also vorhanden, aber ich könnte mir vorstellen,<br />
dass die Mehrheit der 230 türkischen Familien meiner<br />
Schule sagt: „Was soll das alles? Wir bleiben sowieso hier und<br />
sollten uns von daher auf Deutsch konzentrieren, auf die zweite<br />
Fremdsprache Englisch, eventuell noch auf die dritte Französisch,<br />
und wir lassen das Türkisch sein, weil wir sowieso nicht<br />
mehr die Verbindungen in unsere alten Heimat haben, die wir<br />
früher hatten.“<br />
Anders als im Fall von ihrer Herkunft nach englisch- oder französischsprachigen<br />
Schülern gibt es offenbar nur ein geringes<br />
Interesse am Fach Türkisch als Fremdsprache. Hier bleibt sicher<br />
ein Potenzial, das in der Mehrsprachigkeit steckt, ungenutzt,<br />
aber es handelt sich einfach um ein Problem mangelnder Nachfrage.<br />
Die Grundschulen im Umfeld unserer Oberschule berichten,<br />
dass die Kinder anfangs noch ein Interesse hätten, die türkische<br />
Muttersprache zu lernen, dass dieses aber im Laufe der<br />
Zeit rapide abbröckelt. Ich habe natürlich auch keine Erklärung<br />
dafür, sondern kann das hier nur feststellen.<br />
72
Pflichtdeutsch? Steinkamp/Pazarkaya/Kufen<br />
STATEMENT<br />
Yüksel Pazarkaya<br />
„Sprachen eröffnen Türen“<br />
Zum europäischen Jahr der Sprachen<br />
„Die Politik gibt vor, mittels der eigenen Sprache den eingewanderten<br />
Menschen einzugliedern. Sie ist noch fern von der<br />
Einsicht, dass Eingliederung nicht Sprache ist, sondern Akzeptanz.<br />
Die allererste Voraussetzung zur Eingliederung ist Akzeptanz<br />
des Menschen als solchen mit seiner Sprache, seiner Eigenart.<br />
Und die vornehmste Aufgabe der Politik und ihre Daseinsberechtigung<br />
liegt darin, den Rahmen zur gegenseitigen Akzeptanz<br />
zu schaffen, unabhängig von Sprache, Religion und Herkunft.<br />
Doch der Bericht der Bundesregierung<br />
über die Stellung der deutschen Sprache in der<br />
Welt vom 1. Oktober 1993 manifestiert das<br />
genaue Gegenteil. In diesem Bericht heißt<br />
es: ,Sprache ist sozusagen ein genetischer Fingerabdruck<br />
der unverwechselbaren kulturellen<br />
Identität.‘ Ebendieser genetische Fingerabdruck<br />
soll den Einwanderern eingebrannt<br />
werden durch Pflichtkurse.“<br />
(Pazarkaya, Nur um der Liebenden willen dreht<br />
sich der Himmel, 2006, S. 87)<br />
Reglementierungen, wie sie in der Herbert-Hoover-Schule in<br />
Berlin-Wedding eingeführt wurden, sind eines modernen Landes<br />
wie Deutschland unwürdig, ein Armutszeugnis. Dieser Weg<br />
ist außerdem völlig ungeeignet, die deutsche Sprache zu erlernen<br />
und zu pflegen. Dafür braucht man besondere <strong>Bild</strong>ungsangebote,<br />
die auf die Lage der Zielgruppe Antworten geben. Mehr<br />
als peinlich ist es, die Deutschpflicht auf dem Pausenhof in dieser<br />
Schule mit dem Nationalpreis auszuzeichnen. Das bedeutet eine<br />
mangelnde Wertschätzung der Fähigkeiten und des Potentials<br />
der Zuwandererkinder. Und ohne Wertschätzung, das bestätigt<br />
jeder Pädagoge, kann man die Menschen auch für Deutsch<br />
nicht gewinnen.<br />
Es besteht ein allgemeiner Konsens darüber,<br />
dass die Landessprache, in unserem Falle<br />
Deutsch, unverzichtbare Voraussetzung für<br />
das Zusammenleben und Wohlbefinden in<br />
diesem Land ist. Das steht außer Diskussion.<br />
Ebenso wenig steht das Erlernen und die<br />
Pflege der Muttersprache zur Disposition.<br />
Das ist kein Widerspruch. Der Widerspruch<br />
liegt vielmehr darin, unter dem Vorwand der<br />
Integration das eine gegen das andere auszuspielen.<br />
Irrtum ist, dass die Pflege der<br />
Muttersprache ein Hindernis für das Erlernen<br />
der deutschen Sprache bildet. Wenn diese Behauptung von<br />
mancher Seite wider besseres Wissen erhoben wird, bedeutet<br />
dies nichts weniger als einen Verrat an der „kulturellen Identität“<br />
des Menschen.<br />
Versäumnisse der Vergangenheit in der <strong>Bild</strong>ung lassen sich<br />
nicht durch Glaubenssätze aus der Welt schaffen.<br />
Sprachbeherrschung ist eine Frage der <strong>Bild</strong>ung. Reglementierungen<br />
und Verbote eignen sich dafür nicht.<br />
Foto: Elke Habicht<br />
Von links nach rechts: Thomas Kufen, Jutta Steinkamp, Yüksel Pazarkaya, Moderatorin<br />
Katja Irle.<br />
Ohne auf ihre besonderen Bedürfnisse zu reagieren, von der<br />
Zielgruppe mit einer anderen Muttersprache die Anpassung an<br />
die herkömmlichen Angebote für deutsche Muttersprachler zu<br />
erwarten, verkennt man das Problem. Es geht darum, die Mehrsprachigkeit<br />
zum Lernziel zu erklären und entsprechende Fördermethoden<br />
zu entwickeln. Es geht darum, die Zielvorgabe<br />
der Europäischen Union, alle Europäer von Kindesbeinen an mit<br />
mindestens zwei Fremdsprachen auszustatten, durch entsprechende<br />
Angebote wirksam umzusetzen. Zielführend wäre es,<br />
die deutsche Sprache zusammen mit der Muttersprache der<br />
Zuwandererkinder im Sinne des primären Erwerbs sehr früh zu<br />
fördern. Die Mehrsprachigkeit fordert nach wissenschaftlicher<br />
Erkenntnis bis zuletzt das menschliche Gehirn heraus und lässt<br />
es dadurch bis ins hohe Alter aktiv bleiben.<br />
Deutschpflicht heißt auf der anderen Seite Verbot der Muttersprache.<br />
Und durch Verbote hat man gerade in der Erziehung<br />
und <strong>Bild</strong>ung keinen Erfolg erzielt.<br />
Bedenklich ist, worauf auch Professor Dr. Rosemarie Tracy aus<br />
Mannheim in einem Interview hingewiesen hat, dass im Hinblick<br />
auf Mehrsprachigkeit eine Doppelmoral an den Tag gelegt<br />
wird. Wenn es um Sprachen wie Englisch, Französisch, Spanisch,<br />
Italienisch geht, wird das Erlernen schulisch wie außerschulisch<br />
mit allen Mitteln bejaht und gefördert. Wenn es aber<br />
73
um Türkisch, die Muttersprache von fast drei Millionen Menschen<br />
in Deutschland, geht, werden alle Vorurteile aktiviert,<br />
Hindernisse gebaut. Diese Hierarchie ist nicht zu verstehen,<br />
insbesondere nicht für Deutsche türkischer Herkunft. Seit<br />
Monaten wird in der deutsch-türkischen Gemeinde und in<br />
deren Medien über die Abschaffung des muttersprachlichen<br />
Zusatzunterrichts an Rastätter Schulen (Baden-Württemberg)<br />
durch die Stadtverwaltung empört diskutiert. In einer Presseerklärung<br />
vom 16. Februar täuscht der Oberbürgermeister, angesichts<br />
der massiven Kritik von türkischer Seite, mit einem Italienisch-Angebot<br />
Scheinheiligkeit vor:<br />
„Die Stadt Rastatt hat zudem schon immer betont, dass zusätzliche<br />
Fremdsprachenangebote, wenn es sie denn geben müsse,<br />
in den Regelunterricht zu integrieren seien und damit alle Kinder,<br />
deutsche wie auch Kinder anderer Herkunftsländer, davon<br />
profitieren würden und nicht nur einige wenige. Bereits am<br />
8. Dezember 2006 hatte Oberbürgermeister Klaus-Eckhard Walker<br />
in einem Gespräch mit dem italienischen Generalkonsul Dr. Faiti<br />
„Mehrsprachigkeit wird nicht als Chance begriffen, nicht akzeptiert<br />
und ignoriert“ (zitiert nach: Marion Schmidt, in: Süddeutsche<br />
Zeitung vom 1. März 2004).<br />
Schlussfolgerungen<br />
Der neuerliche Trend zur autoritären Erziehung taugt nicht<br />
zur Lösung der <strong>Bild</strong>ungs- und Ausbildungsfragen im 21. Jahrhundert.<br />
Eren Ünsal, der Sprecher des Türkischen Bundes in Berlin: „Uns<br />
ist sicherlich bewusst, dass das Erlernen und Praktizieren der<br />
deutschen Sprache sehr wichtig ist, aber mit Verboten wird<br />
man das Gegenteil erreichen.“<br />
„Es macht nicht unbedingt Mut, dass führende Kernländer Europas wie Deutschland, die<br />
Niederlande, Dänemark u. a. für den schwammigen Begriff Integration in Jahrzehnten sonst<br />
keine andere Lösung gefunden haben, als nun die Muttersprache der Migranten und Minderheiten<br />
in den Schulen oder auf der Straße verbieten zu wollen. Es ist ein Armutszeugnis,<br />
diese Verbote in das Kostüm der Freiwilligkeit kleiden zu wollen.“<br />
Salvadori angeregt, ein italienisches Sprachangebot für alle Kinder<br />
ungeachtet ihrer Herkunft in den regulären Stundenplan<br />
aufzunehmen.Wie Oberbürgermeister Klaus-Eckhard Walker ferner<br />
bereits am 8. Dezember in einer Pressemitteilung mitgeteilt<br />
hatte, stellte das Stadtoberhaupt sogar die Gründung einer<br />
bilingualen deutsch-italienischen Grundschule in Aussicht. Dies<br />
würde selbstverständlich bedingen, den muttersprachlichen<br />
Zusatzunterricht abzuschaffen und einen Regelunterricht einzuführen.“<br />
Prof. Claudia Riehl in einem taz-Interview:<br />
„Das Problem ist: Das Türkische hat nicht das Prestige wie<br />
manch andere europäische Sprache. Das liegt nicht zuletzt<br />
daran, dass das Prestige einer Sprache stark mit dem ihrer Sprecher<br />
verknüpft ist. Die Menschen, die aus der Türkei einwanderten,<br />
stammten in der Regel aus sehr einfachen, bildungsfernen<br />
Verhältnissen. Entsprechend niedrig ist das Sozialprestige –<br />
damit auch das Prestige ihrer Sprache“ (in: Migration – Infodienst).<br />
Auf die fehlende Offenheit weist auch Maria Dietzel-Papakryakou,<br />
Professorin für interkulturelle Pädagogik an der Uni Duisburg-Essen,<br />
kritisch hin:<br />
Man geht bei der sogenannten Deutschpflicht auf dem<br />
Schulgelände von einer falschen Annahme aus, da die Kinder<br />
und Jugendlichen untereinander von sich aus Deutsch sprechen,<br />
wie erst im vergangenen Jahr eine von dem Erziehungswissenschaftler<br />
Wilfried Bos geleitete Studie über das Sprachverhalten<br />
von Viertklässlern zeigte. Bei der im Auftrag der <strong>Bild</strong>ungsbehörde<br />
der Hansestadt Hamburg durchgeführten flächendeckenden<br />
Erhebung gaben 88,2 Prozent der Kinder an, mit ihren Freunden<br />
ausschließlich Deutsch zu sprechen, 10,7 Prozent sprechen meistens<br />
Deutsch. Nur 0,9 Prozent gaben an, manchmal Deutsch zu<br />
sprechen und schließlich 0,3 Prozent nie oder fast nie.<br />
Mit Sicherheit würde eine Erhebung zeigen, dass die in<br />
Beruf und Gesellschaft erfolgreichsten Zuwanderer mindestens<br />
beide Sprachen gut beherrschen. (Vgl. Marion Schmidt, „Stark<br />
durch zwei Sprachen“, in: Süddeutsche Zeitung vom 1. März 2004.)<br />
Seit 2004 wird in einem Hamburger Modellversuch die<br />
„Bilinguale Grundschule“ mit der „Teamteaching-Methode“<br />
erfolgreich erprobt – eine mögliche Antwort auf die gesellschaftliche<br />
Anforderung.<br />
Ein motivierendes Beispiel für das gute interkulturelle Miteinander<br />
ist die Dortmunder Grundschule Kleine Kielstraße, die<br />
vergangenes Jahr mit dem Deutschen Schulpreis ausgezeichnet<br />
wurde. Diese Schule wird zu 80 Prozent von Kindern aus Einwandererfamilien<br />
besucht. Die Unterrichtsmethode und ihre<br />
Umsetzung sind ganzheitlich angelegt und auf die Bedürfnisse<br />
74
Pflichtdeutsch? Steinkamp/Pazarkaya/Kufen<br />
der Kinder zugeschnitten. Die Schulleiterin<br />
erklärt den Erfolg ihrer Schule unter<br />
anderem damit, „... dass wir an dieser<br />
Schule abgestimmte Unterrichtskonzepte<br />
haben. Wir haben über die Jahre erarbeitet:<br />
,Wie unterrichten wir hier Rechtschreiben?‘<br />
Und daran hält sich auch jede<br />
Lehrerin.“ Das ganzheitliche Konzept der<br />
Schule bezieht sich nicht nur auf die Unterrichtsinhalte.<br />
Die Erst- bis Drittklässler<br />
werden gemeinsam unterrichtet,<br />
viele Inhalte werden spielerisch und in<br />
verschiedenen Fächern gleichzeitig vermittelt,<br />
die Eltern werden früh mit einbezogen<br />
und dazu aufgefordert mitzuarbeiten.<br />
Und auch auf die Vermittlung<br />
von gesellschaftlichen Werten und einen<br />
sozialen Umgang miteinander wird viel<br />
Wert gelegt. Die Lehrerin Anne Reimann<br />
findet besonders wichtig: „Dass sie lernen,<br />
sich gegenseitig zu helfen, füreinander<br />
da zu sein und trotzdem selbstständig und eigenverantwortlich<br />
zu lernen.“<br />
„Es macht nicht unbedingt Mut, dass führende Kernländer<br />
Europas wie Deutschland, die Niederlande, Dänemark u. a. für<br />
den schwammigen Begriff Integration in Jahrzehnten sonst<br />
keine andere Lösung gefunden haben, als nun die Muttersprache<br />
der Migranten und Minderheiten in den Schulen oder auf<br />
der Straße verbieten zu wollen. Es ist ein Armutszeugnis, diese<br />
Verbote in das Kostüm der Freiwilligkeit kleiden zu wollen“ (in:<br />
Pazarkaya, Nur um der Liebenden willen dreht sich der Himmel,<br />
2006, S. 93).<br />
STATEMENT<br />
Thomas Kufen<br />
Meiner Meinung nach sind bei der Integration mit Pflicht,<br />
Zwang und Druck keine Erfolge zu erzielen. Vielmehr geht es<br />
um Akzeptanz, allerdings auch um bestimmte Spielregeln, die<br />
eingehalten werden müssen, die feststehen und nicht verhandelbar<br />
sind. Ich glaube, dass wir als Deutsche verstehen müssen,<br />
dass die Integration, selbst wenn alle Zuwanderer perfekt<br />
Deutsch sprechen, noch nicht vollendet sein wird. Man kann<br />
unsere Situation nicht vergleichen mit der Situation in Frankreich<br />
und den Unruhen dort. Aber das Problem, dass sie die<br />
Landessprache nicht beherrschten, hatten die jungen Zuwanderer<br />
dort nicht. Alle sprachen Französisch, besser als jede<br />
andere Sprache. Das sagt aber noch nichts aus über die Qualität<br />
ihrer Integration. Das gilt auch für viele Kinder hier in Deutschland.<br />
Die Sprache ist allenfalls die Eintrittskarte, und ich bin<br />
überzeugt, dass wir es versäumt haben, in aller Klarheit zu<br />
sagen, dass man in Deutschland Deutsch spricht. Wichtig ist bei<br />
der Integration nicht nur, dass man eine gemeinsame Sprache<br />
Foto: Elke Habicht<br />
Integration durch <strong>Bild</strong>ung forderte Thomas Kufen, Integrationsbeauftragter der Landesregierung<br />
von NRW.<br />
hat. Eine Sprache dient nicht nur dazu, sich verständlich zu<br />
machen, um etwa beim Bäcker fünf Brötchen zu bestellen, sondern<br />
mittels einer Sprache bemächtigt man sich auch einer Kultur.<br />
Man lernt sozusagen auch etwas über das Land, lernt es<br />
kennen und wächst hinein in eine Gesellschaft. Man bekommt<br />
etwas mit von den Werten, von den Traditionen und von der<br />
großen Erfahrung der Sprache.<br />
Aber darüber hinaus brauchen wir gemeinsame Werte. Dabei<br />
reicht es nicht aus, sich an Recht und Gesetz zu halten. Es ist,<br />
mit Verlaub, für mich in Deutschland eine Selbstverständlichkeit,<br />
dass wir alle rechtstreu sind. Vielmehr brauchen wir mehr<br />
bürgerschaftliches Engagement, gute Nachbarschaft, Solidarität,<br />
Mitmenschlichkeit, und dann erst ist das Rüstzeug für die<br />
Integration gegeben. Frau Steinkamp hat es schon deutlich gemacht:<br />
In der Schule in Berlin ging es nie um Zwang, sondern<br />
darum, dass Schüler, Eltern und Lehrer sich gemeinsam darauf<br />
verständigt haben, dass auf dem Schulhof nur Deutsch gesprochen<br />
wird. Das ist gut und sinnvoll. Aber entscheidend ist ja<br />
nicht, was auf dem Schulhof gesprochen wird, sondern was in<br />
den Klassen gesprochen wird und welche Sprachförderung dort<br />
praktiziert wird. Und da sind wir vielfach noch am Anfang.Auch<br />
im Umgang mit Kindern und Jugendlichen, die Deutsch als<br />
Fremdsprache oder als Zweitsprache lernen, müsste man in<br />
Bezug darauf besser werden. Das Ganze sollte nicht nur mit<br />
Pflicht auf dem Schulhof gehandhabt werden.<br />
Wir diskutieren seit 30 Jahren, was wir machen müssten, tun<br />
es aber nicht. Mit dem Zuwanderungsgesetz haben wir zum<br />
ersten Mal eine klare Aufgabenteilung. Wir haben seit 2005 in<br />
Nordrhein-Westfalen ein Ministerium für Integration. Wer<br />
meint, Integrationspolitik sei Sozialpolitik, nur anders etikettiert,<br />
der muss scheitern. Nicht alle integrationspolitischen Fragen<br />
sind schließlich sozialpolitisch zu beantworten. Es geht um<br />
viel mehr: Es geht um Stadtentwicklung und um Akzeptanz.<br />
75
Aber es geht auch um Gesundheitspolitik, um Wohnungspolitik<br />
und um Innenpolitik. Das alles sind auch integrationspolitische<br />
Fragestellungen und eben nicht nur soziale.<br />
Wie aber schaffen wir es, ein Integrationskonzept in die Gegenwart<br />
zu bringen? Das alte Integrationskonzept der Bundesrepublik<br />
war Integration durch Arbeit. Wir hatten freie Stellen mit<br />
einfach anzulernenden Tätigkeiten anzubieten und haben dafür<br />
Menschen gesucht. Diese Tätigkeiten gibt es heute immer weniger<br />
und wird es zukünftig noch viel weniger geben. Das neue<br />
Integrationskonzept müsste also heißen: Integration durch <strong>Bild</strong>ung.<br />
Nur <strong>Bild</strong>ung kann heute noch Arbeit ermöglichen. Die<br />
wissensbasierten Jobs werden zunehmen, und wenn wir heute<br />
die zukunftsrelevanten Berufe anschauen, IT-Berufe etwa, dann<br />
sind Zuwanderer dort unterrepräsentiert. Das hat auch damit<br />
zu tun, dass sie sich beim Aufstieg mittels <strong>Bild</strong>ung viel schwerer<br />
tun. Oft werden diese Zuwanderer aber auch aufgrund des<br />
dem Generalkonsul, wird ihm simultan übersetzt, weil er kein<br />
Deutsch spricht. Das werfe ich ihm keineswegs vor, denn er ist<br />
Beamter und Diplomat. Und da er demnächst in ein anderes<br />
Land versetzt wird, braucht er kein Deutsch zu lernen. Man<br />
übersetzt ihm Integration mit „uyum“, aber „uyum“ heißt gar<br />
nicht Integration. Für Integration gibt es im Türkischen kein<br />
genau treffendes Wort. „Uyum“, was ihm übersetzt wird, heißt<br />
Anpassung. Ich habe gar nicht Anpassung gesagt, ich habe Integration<br />
gesagt, aber man übersetzt ihm Anpassung. Insofern<br />
sieht man, dass wir bei der Wortwahl beginnen müssen, wenn<br />
wir eine Debatte führen wollen, die nicht ausgrenzt, sondern<br />
einlädt. An diesen beiden Beispielen lässt sich deutlich machen,<br />
wo wir etwas nachzuholen haben in Deutschland.<br />
Wir haben weiterhin das große Problem, dass Zuwanderer<br />
selbst mit einem guten Hauptschulabschluss auf dem Ausbildungsmarkt<br />
wenig Chancen haben. Das gilt zwar nicht nur für<br />
„Das alte Integrationskonzept der Bundesrepublik war Integration durch Arbeit. Wir hatten<br />
freie Stellen mit einfach anzulernenden Tätigkeiten anzubieten und haben dafür Menschen<br />
gesucht. Diese Tätigkeiten gibt es heute immer weniger und wird es zukünftig noch viel weniger<br />
geben. Das neue Integrationskonzept müsste also heißen: Integration durch <strong>Bild</strong>ung.<br />
Nur <strong>Bild</strong>ung kann heute noch Arbeit ermöglichen.“<br />
Nachnamens, aufgrund einer Adresse aus Bewerbungsverfahren<br />
einfach aussortiert. Das sind doch die Fragen, über die wir zu<br />
sprechen haben.<br />
Ich will noch einmal deutlich etwas zu dem Punkt Nationalpreis<br />
sagen: Ich habe weder mit Auszeichnungen ein Problem noch<br />
mit dem Begriff Nationalpreis. Niemand käme auf den Gedanken,<br />
irgendwo auf der Welt die Nationalbibliothek umzubenennen<br />
oder Ähnliches. Ich denke, wir führen hier eine sehr merkwürdige<br />
Debatte. Ich glaube trotzdem, dass das, was Frau<br />
Steinkamp in ihrer Schule getan hat, zur Verbesserung der Kommunikation<br />
beitragen konnte. Aber es ist auch ein Beispiel,<br />
anhand dessen man sieht, wie ein Sachverhalt völlig unterschiedlich<br />
wahrgenommen wird. Frau Steinkamp, Sie haben<br />
gesagt, es sei keine Pflicht gewesen, sondern eine Verpflichtung.<br />
Freiwillig haben die Beteiligten beschlossen, sich auf<br />
Deutsch als gemeinsame Sprache zu verpflichten. Die türkischen<br />
Zeitungen aber haben nicht gesagt Deutsch-Verpflichtung,<br />
sie haben gesagt Türkisch-Verbot. So wird es wahrgenommen.<br />
Insofern wird daran sichtbar, wie die gleichen Sachverhalte<br />
bisweilen völlig unterschiedlich gedeutet werden.<br />
Auch sind die Auffassungen von Integration völlig verschieden.<br />
Es gibt keinen einheitlichen Begriff dafür. Wir reden alle über<br />
Integration und meinen eben nicht Assimilation. Wenn ich<br />
einem türkischen Verhandlungspartner gegenübersitze, z. B.<br />
Zuwanderer, sondern auch für viele andere junge Menschen,<br />
aber es gilt verstärkt für Zuwanderer. Wir haben heute bundesweit<br />
weniger junge Menschen mit Zuwanderungshintergrund<br />
in Ausbildung als noch vor zehn Jahren. Sie gehören zu den Verlierern,<br />
Jungen wie Mädchen. Ich halte das für dramatisch. Das<br />
<strong>Bild</strong>ungssystem muss besser werden, keine Frage. Bis zur Pisa-<br />
Studie, haben wir Deutschen geglaubt, wir hätten das beste <strong>Bild</strong>ungssystem<br />
der Welt, und dann haben wir gemerkt, dass wir<br />
allenfalls im Mittelfeld liegen. Es gab schlaue Leute, die sagten,<br />
wenn wir alle Ausländer aus der Statistik herausrechnen würden,<br />
wären wir wieder Weltmeister. Ich sage Ihnen aber, wenn<br />
wir die Ausländer herausrechneten, wären wir nicht hinter<br />
Mexiko, sondern vor Mexiko. Aber das ist nicht die Perspektive,<br />
die wir anstreben.<br />
Dazu noch zwei Gedanken: Erstens stört mich grundsätzlich bei<br />
der Debatte, dass wir, wenn wir über Integration reden, am<br />
Ende Türken meinen. Als wäre das die Gruppe mit allen Problemen,<br />
und die anderen hätten keine. Das verzerrt unsere Debatte.<br />
Zweitens gebe ich Ihnen völlig recht darin, dass die Akzeptanz<br />
von Sprachen bei uns völlig unterschiedlich ist. Wenn<br />
jemand Deutsch und Englisch spricht, ist er mittlerweile Standard<br />
oder international, wenn jemand Deutsch und Französisch<br />
spricht, dann ist das erotisch, wenn jemand Deutsch und Italienisch<br />
spricht, ist das schick, wenn jemand Deutsch und Türkisch<br />
spricht, dann ist das in den Augen vieler Mist. Und wenn<br />
76
Pflichtdeutsch? Steinkamp/Pazarkaya/Kufen<br />
jemand Deutsch und Arabisch spricht, dann ist er eher potenzieller<br />
Terrorist. So werden die Sprachen unterschiedlich wahrgenommen,<br />
und dagegen kämpfe ich an. Deutsch muss bei uns<br />
jeder sprechen können, und die jungen Leute sollten auch Englisch<br />
sprechen können, wenn sie eine Chance haben wollen.<br />
Wenn sie darüber hinaus die Sprache ihrer Eltern gut sprechen<br />
und schreiben können, ist das ein Wert für diese jungen<br />
Menschen.<br />
Ich habe ein Problem mit dem Wort Muttersprache. Wir haben<br />
nämlich lernen und verstehen müssen, dass diejenigen, die in<br />
der dritten Generation hier sind, nicht mehr Italiener, nicht<br />
mehr Franzosen, nicht mehr Türken, nicht mehr Libanesen sind,<br />
sondern deutsche Kinder und Jugendliche. Und diese Kinder<br />
und Jugendlichen haben übrigens vom Jahr 2000 an alle einen<br />
deutschen Pass. Und trotzdem reden viele von deren türkischer<br />
Muttersprache. Deren Muttersprache ist aber eigentlich<br />
Deutsch, weil sie hier geboren sind und auch keine Sprache so<br />
gut sprechen wie Deutsch. Das Problem ist allerdings häufig,<br />
dass sie keine Sprache richtig gut können, und deshalb ist in<br />
einem Bereich von „doppelter Halbsprachigkeit“ die Rede. Die<br />
jungen Leute sprechen häufig schlecht Deutsch und schlecht<br />
Türkisch. Wenn es aber darauf ankommt, sprechen sie immer<br />
noch besser Deutsch. Und daran ist die Politik nicht ganz<br />
unschuldig. Man hat nämlich den Eltern geraten, zu Hause mit<br />
ihren Kindern Deutsch zu sprechen. Das ist verkehrt. Sie sollen<br />
mit ihren Kindern zu Hause in der Sprache sprechen, die sie<br />
am besten können, damit sie den Kindern nicht das Falsche<br />
beibringen.<br />
Viele Zuwanderer sagen aber auch, die Kinder sollten in der<br />
Schule gar nicht Türkisch lernen, sondern lieber Deutsch, Italienisch,<br />
Englisch, Französisch oder Latein. Schließlich würden sie<br />
Türkisch zu Hause beigebracht bekommen. Doch dort wird<br />
manchmal ein Dialekt gesprochen, und das macht es schwierig.<br />
Wir haben in Nordrhein-Westfalen zehn Gymnasien, wo Türkisch<br />
als ein Fach im Abitur gewählt werden kann. Das muss<br />
man häufig erläutern. Deutsche Eltern empören sich darüber,<br />
dass ihre Kinder Türkisch lernen müssten. Aber darum geht es<br />
gar nicht. Es gibt auch viele türkische Eltern die sich selbst als<br />
dafür zuständig ansehen, ihren Kindern Türkisch beizubringen.<br />
Deren Kinder sollen in der Schule eher andere Sprachen lernen,<br />
die bildungsorientierten Sprachen nämlich. Insofern ist die<br />
Frage, wie wir echte Zweisprachigkeit fördern können. Mir<br />
scheint, dass hier der alte Hut muttersprachlicher Unterricht –<br />
nachmittags, freiwillig, ohne Noten, mit Lehrern, die teilweise<br />
schlechter Deutsch sprechen als die Kinder – nicht unser<br />
Zukunftskonzept sein kann.<br />
77
Neuordnung der Lehrerarbeitszeit –<br />
Das „Mindener Modell“<br />
Korrekturfachlehrer haben eine höhere Arbeitszeit als ihre Kollegen. Mit dem sogenannten „Hamburger<br />
Modell“ wurde dieses Faktum erstmals bei der Bestimmung der Lehrerarbeitszeit berücksichtigt. An<br />
einem Berufskolleg in Nordrhein-Westfalen wird das Modell leicht modifiziert getestet und kann demnächst<br />
landesweit erprobt werden. Michael Paul, Schulleiter am Freiherr-vom-Stein-Berufskolleg in<br />
Minden, und Heinfried Wesemann, der dortige stellvertretende Schulleiter, stellten das sogenannte<br />
„Mindener Modell“ zur Neuordnung der Lehrerarbeitszeit vor; dazu äußerte sich der zuständige Referent<br />
im Ministerium für Schule und Weiterbildung des Landes NRW, Dirk Gellesch.<br />
Moderation: Dr. Bernhard Keller, Landesvereinigung der Arbeitgeberverbände Nordrhein-Westfalen e. V.<br />
Michael Paul<br />
Michael Paul, geb. 1955, studierte Wirtschaftswissenschaft, Deutsch und Sport. Er ist Oberstudiendirektor<br />
und Schulleiter am Freiherr-vom-Stein-Berufskolleg in Minden und Bad Oeynhausen.<br />
Heinfried Wesemann<br />
Heinfried Wesemann, geb. 1952, studierte Wirtschaftswissenschaft, Wirtschaftsinformatik und Mathematik.<br />
Er ist Studiendirektor und stellvertretender Schulleiter am Freiherr-vom-Stein-Berufskolleg in Minden.<br />
STATEMENT<br />
Michael Paul<br />
Meine Damen und Herren, mein Name ist Michael Paul und ich<br />
leite als Schulleiter mit meinem Kollegen Herrn Wesemann als<br />
stellvertetendem Schulleiter seit einigen Jahren das Freiherrvom-Stein-Berufskolleg<br />
in Minden. Wir würden gern vorweg<br />
einmal die Grundzüge des Modells in der gebotenen Kürze darlegen<br />
und dann aus der Praxis zwei Arbeitszeitkontenabrechnungen<br />
zeigen, wie sie derzeit bei uns üblich sind. Im Anschluss<br />
daran wird Herr Gellesch ganz knapp etwas dazu sagen, wie<br />
man im Ministerium solche Überlegungen einschätzt.<br />
Die Grundlage unseres Modells sind vorhandene Arbeitszeitmodelle<br />
in Dänemark, Hamburg usw., wo man schon länger mit<br />
Arbeitszeitkonten arbeitet, in Hamburg etwa seit zweieinhalb<br />
Jahren. Wir haben diese Grundlagen zum Teil mit übernommen,<br />
78
Neuordnung der Lehrerarbeitszeit: Paul/Wesemann/Gellesch Blindtext<br />
Dirk Gellesch<br />
Dirk Gellesch, geb. 1963. Bis 1991 als Verwaltungsfachangestellter tätig. Studium Lehramt Deutsch, Geschichte,<br />
Evangelische Religion für Sek. I und II. Unterrichtstätigkeit an Berufskollegs und einem Gymnasium.<br />
Seit 2005 im nordrhein-westfälischen Ministerium für Schule, Jugend und Kinder, dann Ministerium für<br />
Schule und Weiterbildung. Seit 2006 ebendort Referent für Grundsatzangelegenheiten des <strong>Bild</strong>ungswesens.<br />
zum Teil abgeändert, und das ist auch Thema dieser Präsentation.<br />
Vorweg einige Prämissen, nach denen die Arbeitszeitkonten,<br />
die Sie gleich sehen werden, entstanden sind.<br />
Unsere Definition ist, dass in der Regel etwa 75 Prozent der<br />
schulischen Gesamtarbeitszeit mit Unterrichtszeit zusammenhängen.<br />
Dabei ist es wichtig, dass man die Unterrichtszeit definiert.<br />
Wir haben dies zum Teil übernommen aus der Untersuchung<br />
von Mummert und Partner (NRW 1999), zum Teil aus den<br />
Unterlagen der zweiten Hamburger Lehrerarbeitszeit-Kommission<br />
und aus verschiedenen Gutachten. Und die restliche Zeit,<br />
also etwa 25 Prozent der Arbeit einer Schule, ist die sogenannte<br />
Systemzeit. Wer Hamburg kennt, weiß, dass man dort nach<br />
Aufgaben und nach funktionsbezogenen Zeiten usw. aufteilt.<br />
Wir haben definiert, dass alles, was nicht direkt mit dem Unterricht<br />
zu tun hat, Systemzeit ist.<br />
Ein wichtiger Punkt ist die Verwendung von Unterrichtsfak-<br />
79
toren. Mummert und Partner haben seinerzeit erste Hinweise<br />
gegeben, wie denn solche Unterrichtsfaktoren aussehen könnten.<br />
Hamburg hat dies übernommen, Dänemark hat Ähnliches<br />
schon über einen längeren Zeitraum im Angebot. Wir nutzen<br />
die Hamburger Faktoren; sie dienen unserer Arbeit zunächst<br />
einmal als Grundlage. Solche Faktoren müssten jedoch im<br />
Grunde genommen – und das wäre unsere Forderung – auch<br />
ständig im Zusammenspiel der Kräfte, das heißt vonseiten<br />
des Ministeriums, vonseiten des Hauptpersonalrats usw. daraufhin<br />
überprüft werden, ob sie denn vor dem Hintergrund<br />
der sich ständig ändernden Anforderungen an Schulen noch<br />
richtig sind.<br />
Wir haben vorweg definiert, dass es bei der Aufgabenbeschreibung<br />
und bei der Zeitwertdefinition eine Verbindlichkeit geben<br />
muss, dass diese nicht willkürlich ständig geändert werden<br />
können. So haben wir beispielsweise eine schuljahresbezogene<br />
Definition von Arbeitszeit gewählt, weil die Schuljahre sehr<br />
Weiteres Beispiel: Klassenfahrten. Wenn bei uns jemand zur<br />
Klassenfahrt geht, dann fällt der Unterricht für die Lehrkraft<br />
selbst aus, weil man nicht an zwei Stellen gleichzeitig sein<br />
kann. In Hamburg hat es aus unserer Kenntnis im ersten Jahr<br />
bei den Klassenfahrten einen Einbruch von 61 Prozent gegeben.<br />
Das war ganz verständlich, denn wir haben im schulischen System<br />
ganz viele Teilzeitkräfte. Und eine Teilzeitkraft, die beispielsweise<br />
12 oder 13 Stunden hat, arbeitet, wenn sie auf Klassenfahrt<br />
geht, die ganze Woche. Sie wird genauso behandelt<br />
wie eine Vollzeitkraft. Und ganz abgesehen davon wird nicht<br />
berücksichtigt, was nachmittags und nachts noch passiert. Wir<br />
haben für dieses Dilemma die folgende Lösung gewählt: Wenn<br />
eine Unterrichtsstunde wegfällt, dann wird diese mit einer<br />
Zeitstunde negativiert. Es entfällt ja etwas Vor- und Nachbereitung,<br />
aber Klausuren und Ähnliches bleiben ja erhalten, da sie<br />
spätestens in der nächsten Woche nachgeholt werden. Folglich<br />
negativieren wir den Unterricht, und dafür rechnen wir, egal ob<br />
Teilzeit- oder Vollzeitkraft, 12 Tagstunden und 3 Nachtstunden<br />
„Unsere politische Botschaft bei der ganzen Sache ist nicht der Spareffekt, sondern im Gegenteil,<br />
dass unserer Schule mit ihren 105 Grundstellen, also rund 130 Kolleginnen und Kollegen,<br />
plötzlich nicht Stunden weggenommen und anderswo zugeteilt werden aufgrund der Tatsache,<br />
dass wir unseren Job erfüllen, sondern dass diese Stunden uns erhalten bleiben.“<br />
unterschiedlich lang sind.Sie geht von 36 bis 40 Wochen aus; das<br />
bedeutet also auch eine unterschiedliche Darstellung von Arbeitszeit<br />
für Lehrerinnen und Lehrer in verschiedenen Schuljahren.<br />
Wir wollten u. a. eine exakte Definition der Rolle der Schulleitung<br />
und der Rolle des Lehrerrates.An unserer Schule haben wir<br />
einen Lehrerrat, der grundsätzlich immer den kompletten Einblick<br />
in alle Berechnungen erhält.<br />
Die von uns gesetzte Verbindlichkeit der Aufgabenerfüllung ist<br />
eher eine Frage des Beamten- und Angestelltenrechts.<br />
Ein wesentlicher Bestandteil ist zudem die Negativierung und<br />
Positivierung von Unterrichtszeit und Arbeitszeit.<br />
Wir haben, um Ihnen ein Beispiel zu geben, z. B. folgende Situation:<br />
Das Abitur umfasst schriftliche Klausuren; bis zu diesem<br />
Moment erfassen wir alle Stunden, danach werden die Stunden<br />
nicht mehr angerechnet. Aber alle diejenigen, die Klausuren zu<br />
korrigieren haben, bekommen bestimmte Zeitwerte dafür zugeordnet.<br />
Das sind bei uns derzeit zum Beispiel für eine einzelne<br />
Leistungskursklausur mit dem zugehörigen Gutachten drei Zeitstunden.<br />
Das hat dazu geführt, dass die Lehrkräfte mit großen<br />
Leistungskursen deutlich mehr Gewinn aus der ganzen Berechnung<br />
ziehen, als wenn sie weiter unterrichten würden, während<br />
diejenigen keine Gutschriften bekommen, die keine Klausuren<br />
korrigieren müssen.<br />
für die Arbeit der Kolleginnen und Kollegen bei einer Mehrtagesfahrt<br />
an. Das heißt, wenn ich fünf Tage vollständig weg bin,<br />
hätte ich ein Minus von 25,5 Stunden aus dem negativierten<br />
Unterricht, aber ein Plus von 75 Stunden für die Zeit der Klassenfahrt.<br />
Das sind Stundenarbeitszeiten, die sich an dieser Stelle<br />
vom Unterricht lösen und die Gesamtarbeitszeit in den Blick<br />
nehmen.<br />
Ein weiterer Punkt ist bei uns die Obergrenze des Einsatzes bei<br />
der Unterrichtstätigkeit. Kolleginnen und Kollegen sollen eben<br />
nicht 35 Stunden unterrichten, um ihre Arbeitszeit zu erreichen.<br />
Auch so könnte natürlich eine Arbeitszeit von 1804 Stunden<br />
erreicht werden. Das ist jedoch unzumutbar und auch nicht das<br />
Ziel. Unser Ziel besteht im Wesentlichen darin, möglichst eine<br />
Gleichverteilung an der Schule zu erreichen und den Nachweis<br />
zu erbringen, dass die 1804 Zeitstunden des öffentlichen Dienstes<br />
auch abgeleistet wurden.<br />
So haben wir bei uns beispielsweise in Absprache mit den<br />
Kolleginnen und Kollegen eine Obergrenze für die Sekundarstufe<br />
II bei 28 bis 28,5 Stunden festgelegt, die sonst bei 25,5<br />
Stunden liegt. Ich sage gleich dazu, dass wir dieses Limit in<br />
diesem Jahr nicht in einem einzigen Fall erreicht haben. Ich<br />
betone in diesem Zusammenhang nochmals, dass es uns nicht<br />
darum geht, die Kolleginnen und Kollegen mehr unterrichten<br />
zu lassen.<br />
80
Neuordnung der Lehrerarbeitszeit: Paul/Wesemann/Gellesch<br />
Damit komme ich zu einem anderen Aspekt. Es ist ganz klar,<br />
dass aus bestimmten Gründen auch einmal Überstunden geleistet<br />
werden müssen, aber diese werden ebenso wie Unterschreitungen<br />
registriert und mitgenommen.<br />
Ich will Ihnen ein kurzes Beispiel nennen: In Hamburg wird eine<br />
feste Vertretungsstunde eingeplant; das ist bei uns nicht der<br />
Fall. Wir richten uns vielmehr nach dem, was anfällt. Das wird<br />
erledigt, zeitlicher Mehraufwand wird aber gutgeschrieben und<br />
auch zurückgegeben. Das Hamburger Verfahren hat etwa dazu<br />
geführt, dass man es eigentlich nur schwer<br />
schaffen kann, überhaupt ein Positivum aufzubauen.<br />
Das führt dazu, dass die Kollegen<br />
benachteiligt werden. Wir wollen aber genau<br />
das nicht, sondern sagen, es soll das auch<br />
berechnet werden, was geleistet wird.<br />
Bei all dem wollen wir keine Überbürokratisierungen. Wir arbeiten<br />
mit vielen Pauschalen, und Herr Wesemann wird Ihnen<br />
gleich in Einzelabrechnungen zeigen, wie so etwas aussieht.<br />
Das mag aufgrund der vielen Daten zunächst verwirrend klingen,<br />
aber da wir seit Jahr und Tag mit dem gleichen Stundenplanprogramm<br />
arbeiten, kann ich Ihnen versichern, dass es relativ<br />
gut zu bewerkstelligen ist.<br />
Einen Streitpunkt stellen die Beförderungsämter<br />
dar. Die Schulleitung lasse ich in der<br />
Betrachtung in diesem Zusammenhang einmal<br />
außen vor. Alle Beförderungsämter sind<br />
einbezogen, denn uns geht es auch um die<br />
Vergleichbarkeit des öffentlichen Dienstes.<br />
Bezahlt wird bei uns nach Verantwortung.<br />
Wir wollen, dass unsere Abteilungsleitungen,<br />
Koordinatoren, Oberräte für ihre Funktionen<br />
arbeiten, aber nicht unter dem Aspekt, dass<br />
sie, weil sie 200 Euro mehr bekommen, nun<br />
sechs Stunden in der Woche mehr zu arbeiten<br />
hätten. Das verträgt sich nicht mit unserem<br />
Ansatz.<br />
Foto: Elke Habicht<br />
Referenten auf dem Podium (von links nach rechts): Michael Paul, Moderator Dr. Bernhard<br />
Keller, Dirk Gellesch.<br />
Ein wesentlicher Punkt ist die Einbeziehung<br />
des Entlastungsstundenkontingents in die schulische Arbeitszeit.<br />
Alle Stunden sollen an der Schule verbleiben, das ist uns<br />
wichtig. Dies bedeutet im Klartext, dass jetzt nicht die Entlastungsstunden<br />
wegfallen, sondern dass diese mit den Faktoren<br />
neu in die Arbeitszeit einbezogen werden. Unsere politische<br />
Botschaft bei der ganzen Sache ist nicht der Spareffekt, sondern<br />
im Gegenteil, dass unserer Schule mit ihren 105 Grundstellen,<br />
also rund 130 Kolleginnen und Kollegen, plötzlich nicht<br />
Stunden weggenommen und anderswo zugeteilt werden aufgrund<br />
der Tatsache, dass wir unseren Job erfüllen, sondern dass<br />
diese Stunden uns erhalten bleiben.<br />
Die gesamte Arbeitszeit steht der Schule zur Verfügung. Wenn<br />
in einem Jahr ein Plus erwirtschaftet wird, dann darf es nicht<br />
wieder abgesaugt werden, sondern wir nehmen es im Zweifelsfall<br />
mit und setzen es etwa bei größeren Projekten, bei denen<br />
die Zeit nicht reicht, ein. Auch das wurde mit dem Kollegium<br />
abgesprochen.<br />
Einen letzten Bereich möchte ich anführen, um die Diskussion<br />
gleich in die richtige Richtung zu lenken: Unser Arbeitszeitmodell<br />
ist ein reines Zeiterfassungsmodell. Wir diskutieren in diesem<br />
Modell nicht darüber, ob eine Stunde Sport möglicherweise<br />
anstrengender ist als eine Stunde Deutsch. Ich wähle diese beiden<br />
Fächer als Beispiel, weil ich selbst neben Wirtschaftswissenschaft<br />
auch noch Deutsch und Sport als Unterrichtsfächer<br />
habe. Eine solche Betrachtungsweise würde unserer Ansicht<br />
nach ein derartiges Arbeitszeitmodell überfrachten. Das ist eine<br />
Diskussion, die ganz anders geführt werden muss. Wir haben in<br />
den letzten Jahren zu sehr dazu geneigt, alle Dinge auf einmal<br />
regeln zu wollen; das kann nicht klappen.Als wir im letzten Jahr<br />
dieses Modell in der Lehrerkonferenz vorgestellt haben, brauchten<br />
wir darüber am Schluss nicht mehr zu diskutieren, weil wir<br />
dies in den Wochen vorher ausführlich erörtert hatten. In der<br />
geheimen Abstimmung für dieses Modell votierten ca. 15 Prozent<br />
dagegen und etwa 75 Prozent dafür. Wir arbeiten seitdem<br />
damit, und an dieser Stelle übergebe ich an Herrn Wesemann,<br />
damit er Ihnen zeigen kann, was die Kolleginnen und Kollegen<br />
derzeit in ihren Abrechnungen finden.<br />
STATEMENT<br />
Heinfried Wesemann<br />
Jahresarbeitszeitkonten sind für Schulen in unserer Größenordnung<br />
grundsätzlich nichts Neues, bisher wurde nur nicht in<br />
Jahresarbeitszeit gerechnet, sondern in Unterrichtsstunden.<br />
81
Der Schritt dahin bedeutet nur, dass man Unterrichtsstunden in<br />
Arbeitszeiten umrechnen muss. Erste Setzung, ein Beamter in<br />
Nordrhein-Westfalen hat eine 41-Stunden-Woche und damit<br />
eine Arbeitszeit in einem normierten Kalenderjahr von 1804<br />
Arbeitsstunden. Das gilt in gleicher Weise natürlich für beamtete<br />
Lehrkräfte. Nur ein Hinweis: Hamburg arbeitet mit 1770<br />
Jahresarbeitszeitstunden für Beamte und Lehrkräfte, was damit<br />
zusammenhängt, dass die Hamburger eine 40-Stunden-Woche<br />
für Beamte haben, dafür haben sie zwei Feiertage weniger.<br />
Diese 1804 Stunden gelten als Arbeitszeit für ein normiertes<br />
Jahr. Nun wissen Sie alle, dass Schuljahre nicht gleich lang sind.<br />
Es gibt kurze und lange Schuljahre, und jeder, der seine Arbeit<br />
normal verrichten würde, käme in einem kurzen Schuljahr auf<br />
ein Minus von hundert Stunden. Stellen Sie sich das bei der<br />
Mentalität von uns Deutschen vor: Wir haben lieber ein Zeitguthaben<br />
als ein Minus von 100 Stunden. Wir legen daher für<br />
jedes Schuljahr die für dieses Schuljahr maßgebliche Arbeitszeit<br />
als Normarbeitszeit fest. Das sind in diesem Schuljahr 1756<br />
Arbeitsstunden. Jetzt geht es um die Bewertung von Unterricht,<br />
das heißt die ersten 75 Prozent der gesamten in einer<br />
Schule anfallenden Arbeitszeit.<br />
Dies mal 38 Wochen. In Nordrhein-Westfalen hat ein normiertes<br />
Schuljahr 37 Wochen und 4 Schultage. Ein Schuljahr umfasst<br />
also keine 40 Schulwochen, d. h. die Lehrpläne sind alle zwei<br />
Wochen zu lang. Wenn man die 38 Wochen, wie gesagt, übernommen<br />
aus Hamburg, à drei mal 0,8 Stunden pro Woche rechnet,<br />
sind das pro Schuljahr 91 Zeitstunden. Dann gibt es in der<br />
Arbeitszeituntersuchung von Mummert und Partner aus dem<br />
Jahr 1999 Zeitzuschläge für die Korrektur der Hausaufgaben, für<br />
Konzeption, Korrektur von Klassenarbeiten, Elterngespräche,<br />
die dazugehörige Fachkonferenz bzw. Zensurenkonferenz. Alle<br />
Faktoren zusammen summieren sich auf 95 Zeitstunden. Wenn<br />
ich diese jetzt wieder durch drei und durch 38 teile, komme ich<br />
für dieses dreistündige Fach Mathematik auf einen Zeitfaktor<br />
von 1,6. Das heißt, die 45-Minuten-Stunde Mathematik aus<br />
dem Beispiel hat einen Arbeitswert von 1,6 Zeitstunden im<br />
Durchschnitt. Nicht jede Mathe-, Deutsch- oder Englischstunde<br />
erfordert einen Zeitaufwand von 1,6 Stunden, aber über das<br />
Jahr hinweg sind darin eingerechnet alle Korrekturen, die Vorbereitung<br />
von Unterrichtseinheiten usw.<br />
In der Verordnung von 2003 für Hamburg sind sämtliche Faktoren<br />
auf 9 Seiten für alle Schulformen – von der Grundschule bis<br />
hin zu den Berufsschulen – aufgelistet und für die entsprechenden<br />
Fächer zusammengestellt. Die Fächer, die in unserer<br />
Schule unterrichtet werden, passen auf eine DIN-A4-Seite.<br />
Betrachtet man diese Listen, fallen zwei Dinge auf:<br />
Heinfried Wesemann erläutert die Abrechnungen im Einzelnen.<br />
Foto: Elke Habicht<br />
1. Das Fach Sport hat pauschal einen Zeitwert von 1,25; alle<br />
anderen Fächer liegen höher, bei 1,6 bis 1,8 (vgl. Tabelle S. 83<br />
unten). Das hat nichts damit zu tun, dass Sport weniger wert<br />
ist, es steckt einfach weniger Arbeitszeit drin. Jeder weiß, dass<br />
die Korrektur von Klassenarbeiten einfach Zeit erfordert. Das<br />
macht beim entsprechenden Fachfaktor einen Unterschied von<br />
0,4 aus. Wenn ich also die Korrekturzeiten herausrechne, ist<br />
das Fach Sport arbeitszeittechnisch ähnlich bewertet wie die<br />
anderen Fächer auch.<br />
2. Die sprachlich orientierten Fächer sind im Zeitfaktor etwas<br />
höher angesetzt als die nichtsprachlichen Fächer. Das setzt sich<br />
in den anderen Schulformen so fort. Deutsch, Englisch, Fremdsprachen<br />
allgemein haben einen etwas höheren Zeitwert, was<br />
mit der erhöhten Korrekturzeit zusammenhängt. Diese Fachfaktoren<br />
haben wir angewendet und dann bei den Fächern die<br />
Klassengröße berücksichtigt. Die Korrekturzeit geht nämlich<br />
von einer normalen Klassenstärke aus. Wir haben bei uns im<br />
Berufskolleg Klassenstärken zwischen 16 und 34. Das wird bei<br />
Ihnen in den Schulen teilweise auch nicht anders sein. Und es<br />
bedeutet natürlich einen Unterschied, ob ich 30 Klausuren oder<br />
16 auf dem Tisch habe. Folglich verändern wir den Fachfaktor<br />
im Wesentlichen um die verlängerte oder verkürzte Korrekturzeit.<br />
Wenn ich in der Sekundarstufe I ein dreistündiges Fach habe,<br />
beispielsweise Mathematik (vgl. Tabelle S. 83 oben), sind das in<br />
Hamburg drei Mal wöchentlich 0,8 Arbeitsstunden (48 Minuten),<br />
drei Minuten Weg zur Klasse hin und zurück inklusive.<br />
Unterricht wird so lange angerechnet, wie er erteilt wird. Es<br />
gibt Zeitgutschriften für Prüfungen usw. Ein Beispiel hat Herr<br />
Paul erwähnt: drei Stunden für die Korrektur einer schriftlichen<br />
Abiturklausur. Berücksichtigt werden ebenso Ausfallzeiten, Klas-<br />
82
Neuordnung der Lehrerarbeitszeit: Paul/Wesemann/Gellesch<br />
Berechnung eines Faktors (z. B. Mathematik)<br />
1. Netto-Unterrichtszeit 3 x wöch. 0,80 Std. x 38 Wochen = 91 Zeitstd.<br />
2. Vor- und Nachbereitung; Eltern-<br />
Schülergespräche; Klausuren und<br />
Hausaufgabenkorrektur;<br />
Konferenzen zum Unterricht etc. = 95 Zeitstd.<br />
Quelle: FVS-Berufskolleg<br />
Summe = 185 Std.<br />
ergibt 3-stündig bei 38 Wochen<br />
je Stunde 1,6 Zeitstunden je Unterrichtsstund.<br />
d. h. für 85,5 Std. reine Unterrichtszeit werden 186 Zeitstunden gutgeschrieben.<br />
senfahrten, Kammerprüfungen, Fortbildung – all das, wo zwar<br />
kein Unterricht stattfindet, man aber anderweitig für Schule<br />
aktiv ist. In diesem Fall wird die Unterrichtsstunde mit einer<br />
Zeitstunde negativiert, was im Stundenplanprogramm ein<br />
Leich-tes ist. Und wenn jemand beispielsweise zu einer Fortbildung<br />
fährt, bekommt er die Fortbildungszeit als Arbeitszeit<br />
gutgeschrieben.<br />
Bei der Lösung für Krankheit und Sonderurlaub weichen wir<br />
etwas vom öffentlichen Dienst ab, und zwar mit folgender<br />
Begründung. Wir haben zahlreiche Teilzeitkräfte mit 16 Stunden,<br />
die an vier Tagen in der Schule tätig sind. Wenn ich dort<br />
die Regelung des öffentlichen Dienstes anwende und der Lehrkraft<br />
für einen Schultag die Normarbeitszeit gutschreibe, führt<br />
das relativ schnell dazu, dass durch Krankheit oder Sonderurlaub<br />
ein Zeit-Plus erwirtschaftet wird. Geplatzt ist das System<br />
bei uns, als eine Teilzeitlehrkraft ein Vierteljahr krank war und<br />
diese Krankheitsphase mit 300 Zeitstunden plus abgeschlossen<br />
hat. Hier zeigten sich die Grenzen des Systems. Also verfahren<br />
wir bei Krankheit und Sonderurlaub wie folgt: Es erfolgt keine<br />
Negativierung der ausgefallenen Unterrichtsstunden; es gibt<br />
keine Zeitgutschrift für Krankheitstage oder Sonderurlaub.Vielmehr<br />
werden diese nicht gezählt, weder plus noch minus. Wenn<br />
jemand ein Vierteljahr krank ist, wird für dieses Vierteljahr die<br />
Jahresarbeitszeit einfach um ein Viertel reduziert.<br />
Wir kommen jetzt zur Verteilung der Systemzeiten. Es gibt drei<br />
Gruppen von Systemzeiten, das eine sind die personenbezogenen<br />
externen Systemzeiten, die angerechnet werden für Altersermäßigung,<br />
Ermäßigung wegen Schwerbehinderung, weil die<br />
Lehrkraft in der Lehrplankommission mitarbeitet usw. 1804<br />
Stunden im Jahr geteilt durch 25,5 sind 71 Zeitstunden, d. h. für<br />
eine Stunde Altersermäßigung bekommt die Lehrkraft auf dem<br />
Arbeitszeitkonto 71 Arbeitsstunden gutgeschrieben. Der Person,<br />
die in der Lehrplankommission mitarbeitet und für ein Jahr drei<br />
Entlastungsstunden bekommt, werden 213 Arbeitsstunden gutgeschrieben.<br />
Das ist eine relativ einfache Geschichte.<br />
Auszug aus dem „Hamburger Modell“ – Wertfaktoren für Unterrricht<br />
Wirtschaftsgymnasium Jahrgangsstufe 11 Jahrgangsstufe 12 und 13<br />
Quelle: FVS-Berufskolleg<br />
Unterrichtsfach Faktor Faktor<br />
Sport 1,25 1,25<br />
Literaturkurs 1,60 1,60<br />
Religion 1,60 1,70<br />
Deutsch 1,70 1,80<br />
Datenverarbeitung 1,70 1,80<br />
Volkswirtschaft 1,70 1,80<br />
Betriebswirtschaft/Rechnungswesen 1,70 1,80<br />
übrige Fächer 1,60 1,80<br />
83
Sehr viele Arbeitsvorgänge in der Schule sind ja nicht in jedem<br />
Jahr neu. Zwei Drittel bis drei Viertel der Arbeitsvorgänge<br />
wiederholen sich jährlich. Etwa das Klassenlehrergeschäft, die<br />
Leitung von <strong>Bild</strong>ungsgängen, der Vorsitz in der Fachkonferenz<br />
usw. All diese Dinge sind in jedem Schuljahr gleich; aus den<br />
bestehenden Erfahrungswerten ergibt sich dann eine Pauschale.<br />
Diese wird als Zeitgutschrift der Lehrkraft zugeschrieben,<br />
und erst wenn wir feststellen, dass die Pauschalen nicht passen,<br />
werden sie im gemeinsamen Gespräch angepasst.<br />
Einen dritten Bereich will ich unter dem Begriff singuläre Tätigkeiten<br />
zusammenfassen. Hier geht es um einmalige Tätigkeiten<br />
entweder in dem Sinne, dass sie nur von einer Person, und zwar<br />
jedes Jahr wieder durchgeführt werden, wofür es keine Vergleichs-<br />
und Erfahrungswerte gibt. Oder sie tauchen einmalig in<br />
einem Schuljahr auf. Da gibt es eine ganz einfache Regelung,<br />
zum Beispiel das Entwickeln von Lernsituationen im Großhandel:<br />
Die Abteilungsleitung hat 100 Stunden bekommen, die drei<br />
Personen unter sich aufteilen. Am Jahresende bekomme ich<br />
eine Rückmeldung, ob es gepasst hat oder nicht. Die drei Personen<br />
sind dafür verantwortlich, dass am Ende des Schuljahres<br />
die Lernsituationen so weit fertiggestellt sind, dass die Kolleginnen<br />
und Kollegen sie aus der Tasche ziehen und damit arbeiten<br />
können. Wir weisen also dort auch Zeitwerte zu, die<br />
gemeinsam festgelegt werden. Zweifel können in einem<br />
Gespräch ausgeräumt werden. Das ist eine Frage von gegenseitigem<br />
Vertrauen und hat auch damit zu tun, dass die Kolleginnen<br />
und Kollegen nicht davon ausgehen, dass Herr Paul oder ich<br />
sie über den Tisch ziehen, genauso wie wir davon ausgehen,<br />
dass die Kolleginnen und Kollegen ihre Zeiten ehrlich angeben.<br />
Schließlich sind wir alle Beamte des Landes und als solche zu<br />
Ehrlichkeit verpflichtet.<br />
Das „Mindener Modell“ steht u. a. für mehr Transparenz bei der Lehrerarbeitszeit: Moderator<br />
Dr. Bernhard Keller bei seiner Einführung.<br />
Ich demonstriere Ihnen hier exemplarisch<br />
eine Personenabrechnung, damit Sie auch<br />
diesen Bereich sehen. Die Lehrkraft in unserem<br />
Beispiel hat per 1. Januar noch ein Minus<br />
von sechs Arbeitsstunden auf das gesamte<br />
Schuljahr bezogen. Aus dem Vorjahr brachte<br />
die Lehrkraft ein Minus von 24 Arbeitsstunden<br />
mit, es gibt eine Pauschale für allgemeine<br />
Konferenzen, also Lehrerkonferenzen, <strong>Bild</strong>ungsgangkonferenzen,<br />
und Pausenaufsichten<br />
von 30 Zeitstunden. Die Lehrkraft ist im<br />
Lehrerrat, was 50 Arbeitsstunden ausmacht.<br />
Außerdem hat die Lehrkraft andere Funktionen,<br />
etwa die Pflege einer IHK-Aufgabensammlung<br />
für den Einzelhandel, die anschließend<br />
auch anderen zur Verfügung<br />
steht. Dafür erhält sie pauschal zehn Stunden.<br />
Im August/September, wo mehrfach<br />
Un-terricht ausgefallen ist und Vertretung<br />
geleistet wurde, kommt ein Minus von zwei<br />
Arbeitsstunden zusammen. Im August gab es<br />
Methodentage bei uns, was mit einer Zeitgutschrift<br />
von zwei Stunden zu Buche<br />
schlägt. Die Lehrkraft arbeitet mit einem<br />
Kollegen in einem Projekt „Gesundheit“<br />
zusammen, dessen Ar-beitsaufwand pro<br />
Woche eine Zeitstunde beträgt. Am Schuljahresende<br />
ergeben sich daraus 36 Zeitstunden.<br />
Im Vertretungsbereich verzeichnen wir<br />
von Oktober bis Dezember ein Minus von<br />
drei Stunden, dagegen steht eine halbtägige<br />
Klassenfahrt, macht sechs Stunden. Im<br />
November gab es mehrere kleine Fortbildungseinheiten<br />
am Nachmittag, die gutgeschrieben werden.<br />
Foto: Elke Habicht<br />
Sie sehen ein zweites Beispiel, da kommt ein Plus von 27 Stunden<br />
heraus, wobei eine pauschale Schulberatung zu berücksichtigen<br />
war. Die Lehrkraft ist dafür zuständig, dass die abgebenden<br />
Schulen extern beraten werden, sie besucht also einzelne<br />
Schulen, Realschulen usw., macht dort Elternberatung, dafür<br />
nehmen wir 75 Stunden als Zeitpauschale an. Ein kreatives<br />
Schülerprojekt wird gesponsert mit 50 Stunden; die Lehrkraft<br />
ist darüber hinaus im Förderverein als Schriftführer mit tätig,<br />
der Aufwand dafür beträgt 30 Stunden usw. Bei Prüfungen setzen<br />
wir zunächst ein pauschales Guthaben an, damit nicht von<br />
vornherein ein Minus dasteht. In unserem Beispiel hat die Lehr-<br />
84
Neuordnung der Lehrerarbeitszeit: Paul/Wesemann/Gellesch<br />
kraft 20 Schülerinnen und Schüler, für die 40 Stunden veranschlagt<br />
werden. Am Ende sehe ich ja, ob alle 20 die Prüfung<br />
gemacht haben, ob die Lehrkraft 20 Klausuren zu korrigieren<br />
hatte oder nicht. Für eine Klasse im Bereich der gymnasialen<br />
Oberstufe mit 15 Schülern habe ich 45 Stunden eingebucht,<br />
drei Stunden je Klausur für die Korrektur. Aus diesen Annahmen<br />
ergibt sich, dass das Zeitkonto der betreffenden Lehrkraft derzeit<br />
bei 27 Stunden plus liegt.<br />
Wir haben im gesamten Kollegium bei 105 Stellen bzw. 130<br />
Lehrkräften – Referendare usw. haben wir natürlich nicht eingebunden<br />
– eine Schwankung von plus/minus 100 Stunden um<br />
den Mittelwert zum jetzigen Zeitpunkt. Woraus sich, wenn<br />
man es umrechnet, eine Schwankungsbreite von anderthalb<br />
Unterrichtsstunden plus/minus ergibt. Die Lehrkräfte erhalten<br />
vier Mal im Jahr eine Übersicht. Der Lehrerrat ist beteiligt und<br />
hat Einblick in alle Unterlagen.<br />
Ich würde an dieser Stelle gern an Herrn Gellesch übergeben,<br />
denn zu weiteren Dingen sollte uns das Ministerium etwas sagen.<br />
STATEMENT<br />
Dirk Gellesch<br />
Meine Damen und Herren, aus Sicht des Ministeriums sind es<br />
vor allen Dingen vier Punkte, die uns beim Thema Neuordnung<br />
der Lehrerarbeitszeit wichtig sind.<br />
1. Es geht uns vor allen Dingen darum, dass dieses System aus<br />
unserer Sicht transparent ist und eine gerechtere Verteilung der<br />
Arbeitszeit in den Kollegien vornimmt. Es gibt unterschiedliche<br />
zeitliche Belastungen der Lehrkräfte in den Kollegien, und darauf<br />
muss und kann man mit diesem System oder Modell entsprechend<br />
reagieren.<br />
2. Es geht um eine Gesamtsicht der Arbeitszeit. Es ist nicht<br />
richtig, dass Lehrkräfte immer nur auf die Stundendeputate<br />
reduziert werden. Das geschieht vor allen Dingen im populistischen<br />
Bereich. Doch Lehrkräfte leisten ja über den Unterricht<br />
hinaus wesentlich mehr. Das muss auch dokumentiert werden<br />
können, und das bietet dieses Modell.<br />
3. Die Arbeit, die von Lehrkräften an den Schulen geleistet<br />
wird, kann hiermit auch gewürdigt werden. Gerade im Systembereich<br />
oder in der Systemarbeitszeit kann offengelegt werden,<br />
was die Lehrkräfte in die Schule, an der Schule mit einbringen.<br />
4. Und es geht darum, dass insgesamt die Vergleichbarkeit zu<br />
den Beschäftigten im öffentlichen Dienst hergestellt wird.<br />
Dies sind aus Sicht des Ministeriums vier wichtige Punkte, die<br />
zusammengenommen dazu führen, dass das Arbeitsimage der<br />
Lehrkräfte in der Öffentlichkeit deutlich verbessert werden<br />
kann. Und das ist auch notwendig. Wir erhoffen uns sehr davon,<br />
dass möglichst viele Schulen ganz unterschiedlicher Schulformen<br />
im kommenden Schuljahr dieses Modell ausprobieren werden,<br />
weil wir Erfahrungen sammeln müssen, wie dieses Modell<br />
unter den unterschiedlichen Bedingungen funktioniert. Ich würde<br />
aus diesem Grund gerne darum werben, dass Sie sich beteiligen.<br />
Weitere Informationen zum „Mindener Modell“ finden sich im Internet<br />
unter www.arbeitszeit.fvs-berufskolleg.de<br />
85
Die Menschen stärken, die Sachen klären –<br />
Wie entwickelt sich Schule?<br />
Die Anforderungen an Lehrkräfte und Schulleitungen steigen. <strong>Bild</strong>ungsziele wie Persönlichkeitsbildung<br />
und soziale Kompetenzen werden an den Rand gedrängt. Darüber, wie Schule sich unter solchen Bedingungen<br />
entwickeln kann, sprachen Präses Nikolaus Schneider von der Evangelischen Kirche im Rheinland,<br />
Karl Freller, Staatssekretär im Bayerischen Staatsministerium für Unterricht und Kultus, Professor<br />
Dr. Annette Scheunpflug, Universität Erlangen-Nürnberg, sowie Weihbischof Dr. Heiner Koch, Generalsekretär<br />
des Weltjugendtages vom Erzbistum Köln. Dabei ging es u. a. um Fragen wie: Welche Gewichtung<br />
ist welchen <strong>Bild</strong>ungszielen angemessen? Wodurch und durch wen sind Lehrkräfte und Verantwortliche<br />
zu unterstützen und auf berechtigte Anforderungen vorzubereiten?<br />
Moderation: Birgitta Mogge-Stubbe, Redakteurin Rheinischer Merkur<br />
Nikolaus Schneider<br />
Nikolaus Schneider, Präses, geb. 1947. Theologiestudium in Wuppertal, Göttingen und Münster. Mitarbeit<br />
am Institut für neutestamentliche Textforschung, Münster. 1976 Ordination, 1977-84 Gemeindepfarrer in<br />
Rheinhausen, 1984-91 Diakoniepfarrer in Moers; 1991-97 Pfarrstelle in Moers; 1987-97 Superintendent des<br />
Kirchenkreises Moers. Seit 1997 Vizepräsident der Evangelischen Kirche im Rheinland; seit 2003 deren Präses.<br />
Seit 2005 Vorsitzender des Aufsichtsrates des Evangelischen Entwicklungsdienstes.<br />
Karl Freller<br />
Karl Freller, geb. 1956, gehört seit 1998 der Bayerischen Staatsregierung an. Seit 1982 ist er im Bayerischen<br />
Landtag. Zuvor Religionslehrer im Kirchendienst. 1986-94 jugendpolitischer Sprecher der CSU-Fraktion.<br />
1994-98 stellvertretender Vorsitzender des <strong>Bild</strong>ungsausschusses. Stellvertretender Landesvorsitzender des<br />
Arbeitskreises Schule, <strong>Bild</strong>ung und Sport der CSU; stellvertretender Bezirksvorsitzender des CSU-Bezirksverbandes<br />
Nürnberg-Fürth-Schwabach und CSU-Kreisvorsitzender in Schwabach. Karl Freller ist Staatssekretär<br />
im Bayerischen Staatsministerium für Unterricht und Kultus.<br />
STATEMENT<br />
Nikolaus Schneider<br />
Die beiden Themen, die hier schlagwortartig im Titel einander<br />
gegenübergestellt werden, hängen eigentlich zusammen: Menschen<br />
stärken, Sachen klären sind keine Alternativen. Zweitens<br />
hat Schule ein Ziel, nämlich Menschen zu bilden, und deshalb<br />
ist Ausgangspunkt und Zielpunkt von Schule der Mensch. Wenn<br />
ich auf mich selber und meine eigene Schulzeit zurückblicke,<br />
dann muss ich sagen, dass von den Dingen, die ich da gelernt<br />
habe, manches verblasst ist. Manches weiß ich nur noch rudimentär,<br />
anderes wiederum hat sich vertieft. Aber woran ich<br />
mich noch genau erinnere, sind bestimmte Lehrerpersönlichkeiten<br />
und die Erfahrung, wie es sich anfühlte, wenn Lehrerpersönlichkeiten<br />
an uns, den Schülern, Interesse hatten. Wenn<br />
86
Wie entwickelt sich Schule? Schneider/Freller/Scheunpflug/Koch Blindtext<br />
Annette Scheunpflug<br />
Annette Scheunpflug, Professor Dr., geb. 1963. M. A. für Musikpädagogik, Schulpädagogik und Evangelische<br />
Religionspädagogik, 1. Staatsexamen für das Lehramt an Grundschulen. 1994 Promotion. 1999 Habilitation.<br />
Wissenschaftliche Mitarbeit an der Universität der Bundeswehr in Hamburg. 1997-99 Lehrstuhlvertretung an<br />
der Universität Bamberg. 2000-01 Professorin für <strong>Bild</strong>ungsforschung an der Universität Gießen. Seit 2001<br />
Professorin für Allgemeine Pädagogik an der Universität Erlangen-Nürnberg.<br />
Heiner Koch<br />
Heiner Koch, Weihbischof Dr., geb. 1954. 1972-78 Studium der Theologie, Philosophie und Erziehungswissenschaft<br />
in Bonn. Promotion. 1980 Priesterweihe. 1980-89 seelsorgliche Tätigkeit, zuletzt Hochschulpfarrer<br />
in Düsseldorf. 1989 Leiter der Abt. Erwachsenenseelsorge im Erzbischöflichen Generalvikariat. 1992<br />
ebendort Direktor der Hauptabteilung Seelsorge. 1993 Kaplan Seiner Heiligkeit; 1996 Päpstlicher Ehrenprälat;<br />
1998 Residierender Domkapitular; 2002-05 Generalsekretär des XX. Weltjugendtages Köln 2005;<br />
2002-06 Stellvertretender Generalvikar; 2006 Bischofsweihe, Titularbischof von Ros Cré, Irland.<br />
die Lehrenden von ihrer Sache überzeugt waren, für ihre Sache<br />
brannten, kam das bei uns an. Diese Verbindung bei den Lehrern<br />
hat uns am meisten motiviert.<br />
Wenn das sehr zugewandte Lehrerinnen und Lehrer waren, die<br />
für ihre Sache einstanden und auch uns ernst nahmen, dann<br />
haben wir uns sogar für Inhalte interessiert, die gerade nicht<br />
eben nahegelegen haben. Wenn es umgekehrt war, wenn wir<br />
zwar die Gegenstände spannend fanden, aber die Lehrer oder<br />
Lehrerinnen eher distanziert mit uns umgingen, dann war es<br />
für uns schwierig, bei der Sache zu bleiben.<br />
Daraus ziehe ich einige Konsequenzen:<br />
1. <strong>Bild</strong>ung ist ein Beziehungsgeschehen, und in diesem Beziehungsgeschehen<br />
sollen die Erschließung von Welt und die<br />
87
<strong>Bild</strong>ung von Persönlichkeit ermöglicht werden. Dazu brauchen<br />
wir nicht Menschen, die uns festlegen, also in einem engen<br />
Sinne Vor-Denker sind, sondern wir brauchen Menschen, die<br />
uns Pfade eröffnen, uns auf Pfade schicken, uns ermutigen und<br />
auch ermächtigen, eigenverantwortlich solche Entdeckungsreisen<br />
ins Leben und in die Sache hinein zu beschreiten.<br />
Unterrichtsausfall im Kalkül hat, ist deshalb inakzeptabel.<br />
Wir meinen, zumindest in Nordrhein-Westfalen so etwas nachweisen<br />
zu können.<br />
„<strong>Bild</strong>ung ist ein Beziehungsgeschehen, und in diesem Beziehungsgeschehen sollen die Erschließung<br />
von Welt und die <strong>Bild</strong>ung von Persönlichkeit ermöglicht werden. Dazu brauchen<br />
wir nicht Menschen, die uns festlegen, also in einem engen Sinne Vor-Denker sind, sondern<br />
wir brauchen Menschen, die uns Pfade eröffnen, uns auf Pfade schicken, uns ermutigen und<br />
auch ermächtigen, eigenverantwortlich solche Entdeckungsreisen ins Leben und in die Sache<br />
hinein zu beschreiten.“<br />
2. Lernen hat zu tun mit Herausforderung, mit Entdeckungen<br />
und mit Erfahrungen. Das heißt, man muss beim Lernen auch<br />
etwas ausprobieren können. Die Frage ist, wie viel Zeit und<br />
wie viel Interesse am Menschen gegeben ist bei Lehrerinnen<br />
und Lehrern und bei Schulen, um Grenzen zu setzen, aber<br />
auch, um zu ermutigen, um Fehlschläge freundlich zu begleiten<br />
und Korrekturwege mitzugehen und nicht einfach zu<br />
sagen: „richtig“ oder „falsch“, sondern die Bewegungen, die<br />
Wege zu „richtig“ und „falsch“ zu reflektieren. Bei uns scheint<br />
es mir zu viel verkürztes „richtig“ und „falsch“ zu geben, und<br />
das behindert die Entwicklung und Entfaltung von Schülerinnen<br />
und Schülern.<br />
3. Person und Sache sind immer miteinander verflochten,<br />
denn es müssen ohne Zweifel Kompetenzen herausgebildet<br />
werden. Es gibt ja nichts, was wirklicher <strong>Bild</strong>ung hinderlicher<br />
ist als ein beliebiges Herumgelabere zu irgendwelchen Themen.<br />
Wir brauchen Kompetenz, aber wir brauchen auch die Fähigkeit,<br />
die Sachen in die Person zu integrieren und uns zu fragen,<br />
wofür, für welche Lebensziele wir die Kompetenz brauchen.<br />
Erst das macht die <strong>Bild</strong>ung zur <strong>Bild</strong>ung.<br />
4. Von daher wünsche ich mir eine Schule, in der in gleicher<br />
Weise alle Inhalte geschätzt werden. Es irritiert mich außerordentlich,<br />
dass seit Jahren eine <strong>Bild</strong>ungsdebatte geführt wird,<br />
die hinnimmt oder überspielt, dass Unterricht in bestimmten<br />
Fächern überproportional ausfällt – und das seit Jahren. Dazu<br />
gehören Kunst, Musik, Geschichte, aber eben auch Religion.<br />
Wenn nämlich <strong>Bild</strong>ung mit Welt und Selbsterschließung zu tun<br />
hat, dann muss damit ernst gemacht werden, dass es ein nichthierarchisches,<br />
gleichberechtigtes Verhältnis der jeweiligen<br />
Zugänge zur Welt gibt. Dann aber muss das Reden von Hauptund<br />
Nebenfächern beendet werden. Es gibt in diesem Sinne<br />
keine Nebenfächer in der Schule, weil alle Fächer das eine Ziel<br />
haben, selbstbestimmt in einer Welt von morgen angemessen<br />
handeln zu können. Eine Personalpolitik, die strukturellen<br />
5. Aus meiner Sicht hat unser Schulsystem nach wie vor keine<br />
angemessene Lösung für das Problem der Förderung von Schülerinnen<br />
und Schülern. Ich beobachte dies sowohl hinsichtlich der<br />
Förderung der Begabten wie jener Schülerinnen und Schüler<br />
mit besonderem Förderungsbedarf. Wie groß das Problem wirklich<br />
ist, kann man unter anderem auch daran sehen, dass der<br />
größte Teil der musischen, künstlerischen Begabungen vor<br />
allem außerhalb der Schule gefördert wird. In vielen Bereichen<br />
sieht unsere Schule an Begabungen vorbei. Ich begrüße sehr die<br />
Initiative im Ruhrgebiet, dass jedes Kind ein Instrument lernen<br />
sollte. Das finde ich wirklich einen großartigen Versuch mit hoffentlich<br />
guten Ergebnissen.<br />
6. Und Letztens: Es ist gut, wenn möglichst wenig Schulunterricht<br />
ausfällt. Es ist noch immer schiefgegangen, wenn<br />
man strukturelle Lasten auf dem Rücken der Lehrenden auszutragen<br />
versucht hat. Viele Maßnahmen erweisen sich dann<br />
nämlich in der Praxis als Scheinlösungen. Wenn etwa völlig klar<br />
ist, dass man ein entsprechendes Raumangebot braucht und<br />
dass die Klassenstärke, also die Anzahl der Kinder oder Jugendlichen<br />
pro Lehrkraft, das Entscheidende ist, dann helfen keine<br />
guten Schulkonzepte über diese Klippe hinweg. Versucht man<br />
das Problem auf diesem Wege zu verschieben, dann ist das<br />
sozusagen symbolische Politik oder symbolische Reform, die an<br />
der Wirklichkeit in der Schule, an der Wirklichkeit des Unterrichtsgeschehens,<br />
vorbeigeht. Es ist wie beim Fußball: Gespielt<br />
wird auf dem Platz. Deshalb ist die entscheidende Frage, wie es<br />
um die Lehrenden, die Lehrerinnen und Lehrer, steht. Welche<br />
Möglichkeiten haben sie in der Ausbildung und in der Fortbildung?<br />
Wir bedauern es von daher, dass die Fortbildungsangebote<br />
zumindest in Nordrhein-Westfalen so konditioniert sind,<br />
dass es Lehrerinnen und Lehrern schwer gemacht wird, an diesen<br />
Fortbildungen teilzunehmen. Wir wünschten uns, dass<br />
diese restriktiven Maßnahmen überdacht werden und dass<br />
zumindest im selben Maße, wie Instrumente der Inspektion<br />
und Evaluation aufgebaut werden, auch in Fortbildung und Personal<br />
investiert wird.<br />
88
Wie entwickelt sich Schule? Schneider/Freller/Scheunpflug/Koch<br />
Menschen stärken, Sachen klären, genau das ist es, was benötigt<br />
wird, weil wir aufrechte, selbstbewusste, selbstbestimmte<br />
Menschen brauchen in unserem Land und in dieser Welt – für<br />
unser Zusammenleben.<br />
In unserem Land hat es über Jahre, wenn nicht Jahrzehnte eine<br />
öffentliche Diskussion gegeben, die zur Abwertung des Lehrerstandes<br />
führte. Diese gipfelte in dem berühmten Satz von<br />
Gerhard Schröder, der Lehrer als „faule Säcke“ bezeichnet hat.<br />
Der Öffentlichkeit stellt es sich häufig so dar, dass Lehrer und<br />
Lehrerinnen einen bequemen Job mit viel Freizeit haben.<br />
Gleichzeitig führt die Erziehungsarmut in Familien dazu, dass<br />
der Schule Aufgaben zugeschoben werden, die<br />
eigentlich in den Familien zu leisten wären. Das<br />
ist eine merkwürdige Entwicklung, die in den<br />
letzten Jahren zu verzeichnen ist.<br />
Meines Erachtens muss es uns vor allem darum gehen, die<br />
große Aufgabe der Erziehung nicht außer Acht zu lassen. Wir<br />
dürfen nicht in ein Jahrhundert der kalten Intelligenz hineinschlittern,<br />
sondern es muss ein Jahrhundert des gelingenden<br />
menschlichen Miteinanders werden. Deswegen halte ich es<br />
auch für wichtig, dass bei uns im Schulwesen die bayerische<br />
Verfassung umgesetzt wird, die vor 60 Jahren mit einem enormen<br />
Weitblick formuliert worden ist. Die Schule soll nicht nur<br />
Wissen und Können vermitteln, sondern auch Herz und Charakter<br />
bilden. Wir haben in Bayern kein Schulgesetz, sondern<br />
wir haben bewusst ein Gesetz für Erziehung und Unterricht,<br />
das heißt, es ist uns außerordentlich wichtig, dass die Persönlichkeitsbildung<br />
einen breiten Raum einnimmt, weil es viel entscheidender<br />
ist, einen Menschen zunächst in seiner Persönlichkeit<br />
zu stärken, seine Ich-Stärke zu fördern, ihm Anerkennung<br />
und Zuwendung zuteil werden zu lassen und ihn dazu zu befähigen,<br />
sich selber zu motivieren und Verantwortung für andere<br />
zu übernehmen.<br />
Ich halte dies insofern für ein elementares Erziehungsziel unserer<br />
Gesellschaft, als diese auf Dauer einen Bestand haben<br />
möchte mit den Attributen: menschlich, demokratisch, dem<br />
anderen zugewandt. Und das ist mir auch für die Schule wichtig.<br />
Zunächst haben die Eltern natürlich eine große Verantwortung;<br />
es liegt in ihrer Hand, den Menschen, das Kind von früh<br />
In der Art und Weise, wie wir über Schule, Lehrerinnen<br />
und Lehrer reden und sie wertschätzen,<br />
legen wir auch fest, wie die Lehrerinnen und<br />
Lehrer sich selber sehen und mit welchem Bewusstsein<br />
sie auftreten.<br />
Von kirchlicher Seite her möchte ich eine Bitte,<br />
aber auch eine Ermutigung an die Lehrerinnen<br />
und Lehrer richten: In der Schule ihre Persönlichkeit<br />
nicht zu verstecken, sondern zu sagen,<br />
was sie denken. Dabei geht es nicht darum, den<br />
Schülern Ansichten aufzuoktroyieren. Es geht<br />
vielmehr darum, erkennbar zu sein, auch als Persönlichkeit.<br />
Daran sind Schüler durchaus interessiert:<br />
Sie wollen wissen, was Lehrerinnen und<br />
Lehrer selbst glauben, was sie jenseits der Erklärung<br />
von „richtig“ und „falsch“ denken. Enthalten<br />
Sie ihnen das nicht vor, sie benötigen es, um<br />
eigene Meinungen zu bilden und ihre Persönlichkeit<br />
zu entwickeln.<br />
STATEMENT<br />
Karl Freller<br />
Foto: Elke Habicht<br />
Auf dem Podium (v. l. n. r.): Karl Freller, Weihbischof Dr. Heiner Koch, Moderatorin Birgitta<br />
Mogge-Stubbe, Professor Dr. Annette Scheunpflug und Präses Nikolaus Schneider.<br />
an zu stärken. Dass im frühkindlichen Bereich auch wir um der<br />
Chancengerechtigkeit halber eine höhere Verantwortung haben,<br />
als dies bislang wahrgenommen wurde, möchte ich an dieser<br />
Stelle einfließen lassen. Natürlich hat nicht zuletzt die<br />
Schule bei der Persönlichkeitsbildung eine große Aufgabe. Das<br />
heißt, dass der Staat bei der Auswahl der Lehrkräfte darauf<br />
schauen muss, dass sich jemand, der Kinder unterrichtet, als<br />
Pädagoge, als Lehrer versteht. Ich verlange von ihm logischerweise,<br />
dass er fachwissenschaftlich souverän und sicher mit<br />
dem Thema umgehen kann, das er lehrt, aber ich verlange von<br />
ihm mindestens in gleicher Weise die Zuwendungsfähigkeit,<br />
das Eingehenkönnen, das Zuhörenkönnen gegenüber den<br />
Jugendlichen. Hier haben wir eine ganz entscheidende Aufgabe.<br />
Bei der Auswahl junger Lehrkräfte müssen wir diejenigen<br />
zum Lehramt zulassen, die mit jungen Menschen umgehen<br />
können. Ich stimme hier meinem Vorredner durchaus zu, dass<br />
es für eine Lehrkraft noch wichtiger ist, eine Beziehung herzustellen<br />
als zu erziehen. Diese Beziehungsfähigkeit ist wichtig,<br />
die Fähigkeit zuzuhören ist wichtig und darüber hinaus das<br />
Einfühlungsvermögen.<br />
89
Ich war letzte Woche in Finnland und habe mir vieles angesehen.<br />
Ich glaube, ich bin ein Stück weit dem Geheimnis nähergekommen,<br />
warum in den Schulen in Finnland mitunter mehr<br />
gelingt, als es in Deutschland und in anderen Ländern der Erde<br />
der Fall ist. Von 1000 Bewerbern, die Lehrer werden wollen,<br />
werden dort nur 100 genommen, und sie werden danach ausgesucht,<br />
wie sie mit Jugendlichen umgehen können, ob sie<br />
Erfahrungen aus der Jugendarbeit mitbringen. Bei der Zulassung<br />
zur Universität werden sie darauf geprüft, ob sie zuhören<br />
und auf die Argumentation anderer eingehen können. Und im<br />
Kultusministerium von Helsinki durfte ich mit Freude vernehmen,<br />
dass die 13- bis 15-Jährigen in Finnland auf die Frage, welchen<br />
Beruf sie am liebsten ergreifen möchten, seit vielen Jahren<br />
konstant sagen: „Ich möchte Lehrerin oder Lehrer werden.“<br />
Offenbar hat man hier eine ganz andere Form des Bezuges vom<br />
Lehrer zum Schüler, und das ist für mich entscheidend.<br />
die Schule natürlich auch an ihre Grenzen stößt. Ich sehe<br />
jedoch umso mehr die Notwendigkeit zu fragen, was diesen<br />
jungen Menschen fehlt, dass es so weit kommt. In dem Fall<br />
offenkundig die Liebe des Elternhauses. Ich möchte nicht wissen,<br />
wie oft der Schüler von seinem Vater verprügelt worden<br />
ist. Es fehlt Liebe, es fehlt Zuwendung, es fehlt Zeit, es fehlt<br />
Beziehung und vieles mehr. Und das, meine sehr verehrten<br />
Damen und Herren, meine ich mit „Personen stärken“. Denn<br />
wenn ein Mensch sich nicht wohlfühlt in seiner Haut, hat er<br />
auch nicht den Kopf frei, zu lernen und damit das an Fachwissen<br />
einzubringen, was man braucht.<br />
Wir können es uns nicht leisten, schlechte Lehrer einzusetzen,<br />
um es unmissverständlich zu sagen. Doch dazu muss es uns<br />
gelingen, in diesem Land den Lehrerberuf wieder attraktiver zu<br />
machen. Es kann doch nicht sein, dass nach Pisa in unserem<br />
Land alle die <strong>Bild</strong>ung stärken wollen, aber nicht bereit sind,<br />
denen den Rücken zu stärken, die die <strong>Bild</strong>ung vermitteln, nämlich<br />
den Lehrern. In Deutschland fällt für meinen Geschmack die<br />
Gesellschaft den Lehrern zu sehr in den Rücken, anstatt sie zu<br />
stärken. Wir brauchen wieder ein anderes Lehrerbild. Wo ich<br />
„Bei der Auswahl junger Lehrkräfte müssen wir diejenigen zum Lehramt zulassen, die mit jungen<br />
Menschen umgehen können. Ich stimme hier meinem Vorredner durchaus zu, dass es für<br />
eine Lehrkraft noch wichtiger ist, eine Beziehung herzustellen als zu erziehen. Diese Beziehungsfähigkeit<br />
ist wichtig, die Fähigkeit zuzuhören ist wichtig und darüber hinaus das Einfühlungsvermögen.“<br />
Nur wenn der Bezug, vom Lehrer zum Schüler gelingt, nur<br />
wenn die emotionale Brücke stimmt zwischen dem Lehrenden<br />
und dem Lernenden, können die Inhalte transportiert werden,<br />
die wir als Fachwissen bezeichnen. Für mich ist der ganz entscheidende<br />
und zentrale Punkt, dass eine solche Zuwendung<br />
vorhanden ist. Meine sehr verehrten Damen und Herren, in Bayern<br />
ist ohne Zweifel vieles intakt und in Ordnung, und wir sind<br />
stolz auf unsere Pisa-Ergebnisse. Das ist überhaupt keine Frage.<br />
Aber wir wissen auch, dass derjenige, der aufhört, besser sein<br />
zu wollen, aufgehört hat, gut zu sein. Für mich ist für das Gutsein<br />
noch weit entscheidender, dass dieser Bezug zwischen dem<br />
Lehrer und dem Schüler funktioniert, unter Einbeziehung auch<br />
der Eltern. Der Dreiklang zwischen Elternhaus, Kindern und<br />
Lehrkräften muss funktionieren.<br />
Ich habe in dieser Woche drei Nürnberger Hauptschulen<br />
besucht, wo es zu Gewalttaten gekommen ist. Die eine ist<br />
wahrscheinlich auch hier in Nordrhein-Westfalen durch die<br />
Medien gegangen. Schüler und Jugendliche hatten sich mit<br />
einem Polizisten geprügelt. Im Fall eines 14-Jährigen, der mehrfach<br />
straffällig und gewalttätig geworden war und von der Polizei<br />
in Gewahrsam genommen wurde, kam der Vater in die Schule,<br />
riss der Putzfrau den Schrubber aus der Hand, zerbrach den<br />
Schrubber über dem Knie und wollte mit dem Stiel auf den Polizisten,<br />
der für Ordnung gesorgt hatte, losgehen. Meine sehr<br />
verehrten Damen und Herren, hier ist ein Punkt erreicht, wo<br />
kann, kämpfe ich gegen Vorurteile, die gegen Lehrkräfte<br />
gepflegt werden. Ich war selber Lehrer, und ich weiß, dass wir<br />
in jedem Lehrerzimmer einige sitzen haben, von denen ich mir<br />
auch wünschte, dass sie einen anderen Beruf ergriffen hätten.<br />
Aber die meisten Lehrkräfte sind hoch engagierte und tüchtige<br />
Leute, die Zuspruch vonseiten der Öffentlichkeit und durch die<br />
Eltern bräuchten.<br />
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wenn in Finnland<br />
Jugendliche und Erwachsene als Lieblingsberuf Lehrer angeben,<br />
warum gelingt dies nicht bei uns? Irgendetwas hat sich hier<br />
verschoben, zu Ungunsten der Erkenntnis, dass ein Land<br />
eigentlich seine besten Leute in die Ausbildung der nächsten<br />
Generation schicken müsste. Die Besten eines Landes müssten<br />
eigentlich diejenigen sein, die die nächste Generation erziehen.<br />
Deshalb müssen wir unbedingt eine Offensive für den Lehrerberuf<br />
starten. Es liegt nicht allein an der Bezahlung (die finnischen<br />
Lehrer verdienen um ein Drittel weniger), es liegt an der<br />
mangelnden öffentlichen Anerkennung, und diese öffentliche<br />
Anerkennung muss ein Stück weit wieder her, um gute Lehrkräfte<br />
anzuziehen. Was ich an dieser Stelle unbedingt sagen<br />
will: Es braucht eine Erziehungspartnerschaft zwischen Eltern<br />
90
Wie entwickelt sich Schule? Schneider/Freller/Scheunpflug/Koch<br />
und Lehrkräften. Für ein Kind ist es verheerend, wenn die Schule<br />
Hü und das Elternhaus Hott sagt. Dieses Miteinander sollte<br />
uns besser gelingen. Ich sehe eine große Gefahr darin, dass ein<br />
zu hoher Anteil von Eltern ihrer Erziehungsverantwortung<br />
nicht mehr gerecht wird und die Gesellschaft dafür aufkommen<br />
muss, diese Erziehungsdefizite durch Sozialpädagogen oder<br />
andere zu substituieren. Ich befürchte, dass wir immer stärker<br />
in ein solches Dilemma hineinschlittern. Aber dann muss die<br />
Gesellschaft auch mehr Ressourcen zur Verfügung stellen, um<br />
ihre eigenen Schäden durch die Schule reparieren zu lassen. Mit<br />
den Schulmitteln, die für die <strong>Bild</strong>ung taugen, werden wir das<br />
alleine nicht schaffen.<br />
Im großstädtischen Umfeld mit schwierigen Einzugsgebieten<br />
herrscht eine gewisse Anspannung unter den Lehrern, vor allem<br />
wenn die Elternhäuser nicht mitspielen. Meine Beobachtung ist<br />
die, dass sich die Lehrer teilweise im Stich gelassen fühlen.<br />
Diese Einsamkeit ist etwas, worauf wir besonders reagieren<br />
müssten. Das gilt sowohl für die Schulleitung wie für die Schulaufsicht,<br />
die Elternschaft und für die Gesellschaft insgesamt.<br />
Ein Lehrer, der sich mit seinen Problemen allein gelassen und<br />
nicht verstanden fühlt, wird wahrscheinlich sehr schnell Frustrationsgefühle<br />
entwickeln und aus dem Beruf eher innerlich<br />
aussteigen. Daher halte ich es für notwendig, dass man Lehrkräften<br />
weitaus stärker hilft und sie begleitet, als es bislang der<br />
Fall ist, sowie ihre Leistung besser anerkennt.<br />
Vielleicht müssen wir den Leistungsgedanken im Positiven<br />
gesehen in der Lehrerschaft ein Stück weit mehr verwirklichen,<br />
sprich: mehr Möglichkeiten der Beförderung und Anerkennung<br />
schaffen, als es zum Beispiel bei uns in der Hauptschule der Fall<br />
ist. Dort gibt es eindeutig zu wenig Beförderungsmöglichkeiten.<br />
Mir haben Lehrkräfte gesagt, sie hätten sich 20 Jahre lang<br />
angestrengt, am Wochenende gearbeitet, seien doppelt fleißig<br />
gewesen, hätten Eltern besucht usw., aber sie hätten nach 20,<br />
30 Jahren keinen Euro mehr in der Tasche gehabt als der ein<br />
oder andere Kollege, der das Ganze ziemlich locker angegangen<br />
sei. In diesem Punkt müssen wir zu einer stärkeren Gerechtigkeit<br />
kommen, damit nicht die Guten demotiviert werden, weil<br />
sie sich ungerecht behandelt fühlen.<br />
STATEMENT<br />
Annette Scheunpflug<br />
Man könnte den Eindruck gewinnen, dass es der Erziehungswissenschaft<br />
in den letzten fünf bis zehn Jahren alleine darum<br />
gegangen sei, die Schulwirklichkeit zu vermessen. Timss, Pisa,<br />
Desi und die Vergleichsarbeiten der Länder vermessen unter<br />
jeweils unterschiedlichen Aspekten die Schulwirklichkeit. Mit<br />
dieser Beobachtung ließe sich der Vorwurf verbinden, dass es<br />
Erziehungswissenschaftlerinnen und Erziehungswissenschaftlern<br />
eher darum geht, die Sache der Schule zu klären als die<br />
Menschen in ihr zu stärken. Manche Lehrerinnen und Lehrer an<br />
Schulen fühlen sich durch die Schulleistungsforschung wenig<br />
gestärkt. Dieser Vorwurf wird bei Veranstaltungen mit Lehrkräften<br />
nicht selten formuliert.<br />
Dem lässt sich entgegenhalten, dass der messende Blick auf die<br />
Schule die Bedeutung der Stärkung der Persönlichkeit wieder in<br />
den Mittelpunkt gerückt hat. In einer globalisierten Welt, in der<br />
Wissen und der Zugang zu Wissen eine hohe Relevanz haben,<br />
ist die Stärkung der Persönlichkeit nicht unabhängig von deren<br />
Qualifikation zu denken. Schließlich wird der Zugang zu Welt<br />
überhaupt erst ermöglicht, wenn man Lesen, Schreiben und<br />
Rechnen kann. Eine der zentralen Botschaften von Pisa war es,<br />
dass es in Deutschland viel zu viele Jugendliche gibt, die diese<br />
Kompetenz nicht erlernen. Damit wird weder die Stärkung der<br />
Persönlichkeit erreicht, noch werden Menschen in den Stand<br />
gesetzt, Sachen selbstständig klären zu können. Es gelingt in<br />
unserem <strong>Bild</strong>ungswesen offensichtlich nicht, Schulen so zu<br />
gestalten, dass jeder Schüler und jede Schülerin die Möglichkeit<br />
hat, optimal gefördert zu werden.<br />
Diese mangelnde Förderung hat viele Ursachen. Eine der Ursachen<br />
möchte ich Herausgreifen: die fehlende Übernahme von<br />
Verantwortung. Ein afrikanisches Sprichwort sagt, um ein Kind<br />
zu erziehen, brauche es ein ganzes Dorf. Wir haben im Moment<br />
eine Kultur, in der sich eben nicht die gesamte Gesellschaft an<br />
der Erziehung beteiligt. Vielmehr wird diese Verantwortung<br />
jeweils an andere delegiert: von Eltern an Lehrkräfte, von Lehrkräften<br />
an Nachhilfeinstitute oder – über die Politik der Klassenwiederholung<br />
– an die Lehrkräfte darunterliegender Klassen<br />
oder an den Heranwachsenden selbst. In Deutschland gibt es<br />
extrem hohe Quoten der Klassenwiederholung. Dies stärkt<br />
weder die Persönlichkeit, noch klärt es die Sachen.<br />
Das afrikanische Sprichwort lenkt zudem den Blick auf die<br />
Unterstützungssysteme außerhalb des Unterrichts. Welche<br />
Möglichkeiten bietet eine Schule als erziehendes Umfeld? Die<br />
Ganztagsschule ist für manche Schülerinnen und Schüler eine<br />
Option. Konzerte, Theater, Musikbands, Sport, geistliche Veranstaltungen<br />
wie Gottesdienste etc. sind weitere Möglichkeiten.<br />
Tutorensysteme, Hausaufgabenbetreuung, doppelter Lehrereinsatz<br />
in manchen Klassen oder Fächern, Beratungsangebote für<br />
Lehrerinnen und Lehrer sind weitere Möglichkeiten. Im Hinblick<br />
auf eine Verbesserung der Schulkultur lässt sich noch<br />
wesentlich mehr erreichen, als bisher getan wird.<br />
Häufig werden Probleme der Auswahl und der Ausbildung von<br />
Lehrerinnen und Lehrern angesprochen. Werden diejenigen Personen<br />
Lehrerin oder Lehrer, denen es wirklich darum geht, Menschen<br />
zu stärken? In Finnland gehen angehende Lehrerinnen<br />
und Lehrer durch ein Zulassungsverfahren, das wie ein Assessmentcenter<br />
aufgebaut ist. In der Lehrerbildung in Deutschland<br />
gibt es solche Verfahren nicht. Wir bemühen uns in der universitären<br />
Lehrerbildung um eine gute Beratung im Hinblick auf<br />
das Berufsbild des Lehrers und der Lehrerin. Wir bemühen uns<br />
in der Lehrerbildung außerdem darum, sehr schnell, schon in<br />
den ersten Semestern, den Perspektivenwechsel vom Schüler<br />
zum Lehrer zu ermöglichen. Studierende, die an die Universität<br />
91
kommen, haben ja ein ganz genaues <strong>Bild</strong> von ihrem zukünftigen<br />
Beruf, allerdings dieses eben nur aus der Perspektive des<br />
Schülers. Und drittens ist es wichtig, angehenden Lehrerinnen<br />
und Lehrern ein angemessenes und realistisches <strong>Bild</strong> unserer<br />
Gesellschaft zu vermitteln. Wer ein realistisches <strong>Bild</strong> von unserer<br />
Gesellschaft hat, wird weniger über Eltern schimpfen, die<br />
vermeintlich nicht mehr erziehen wollen, sondern deren Überlastung<br />
in einer Multi-Optionsgesellschaft verstehen lernen. Ich<br />
bin sicher, dass wir viele Lehrerinnen und Lehrer ausbilden, die<br />
engagiert ihren Beruf wahrnehmen wollen.<br />
Gleichwohl ist festzuhalten, dass es in einer so komplexen<br />
Gesellschaft wie derjenigen, in der wir leben, es nicht einfacher<br />
werden wird, die Menschen zu stärken und die Sachen zu klären.<br />
Wir brauchen die Mitarbeit des ganzen Dorfes, das heißt<br />
der ganzen Gesellschaft an dieser wichtigen Aufgabe. An vielen<br />
Stellen ist diese Mitarbeit ja auch schon vorhanden. Viele engagierte<br />
Eltern und Familien bemühen sich sehr um die Erziehung<br />
ihrer Kinder. Die Kirchen übernehmen <strong>Bild</strong>ungsverantwortung<br />
durch ihre Schulen, die Mitwirkung im staatlichen <strong>Bild</strong>ungswesen,<br />
die vielen kirchlichen Kindertagesstätten, die Erziehungsarbeit<br />
in Gemeinden, die Konfirmandenarbeit und die kirchliche<br />
Jugendarbeit. Nichtchristliche Religionsgemeinschaften<br />
beginnen, sich ebenfalls an der Erziehungsaufgabe konstruktiv<br />
und in einer für eine offene Gesellschaft förderlichen Weise zu<br />
beteiligen. Allerdings ist unsere Gesellschaft noch nicht weit<br />
genug auf dem Weg, sich gemeinsam und konstruktiv um die<br />
Lösung drängender Erziehungsaufgaben zu bemühen. Die Debatte<br />
um die frühkindliche Erziehung und die Finanzierung von<br />
Kindertagesstätten zeigt dieses. Es bleibt also noch viel zu tun.<br />
STATEMENT<br />
Heiner Koch<br />
Ich möchte zunächst inhaltlich auf unsere Themenstellung eingehen.<br />
Persönlichkeitsbildung ist etwas, das sehr stark von<br />
kommunikativen Elementen abhängt, von Rahmenbedingungen,<br />
wie Frau Professor Scheunpflug sie nannte. Mir scheint<br />
jedoch Unklarheit darüber zu bestehen, zu welchen Inhalten<br />
wir erziehen. In diesem Zusammenhang möchte ich ein großes<br />
Plädoyer für die Philosophie und die Theologie innerhalb des<br />
Fächerkanons halten. Wenn <strong>Bild</strong>ung etwas damit zu tun hat,<br />
den Menschen und sein Leben zur Entfaltung zu bringen – ob es<br />
im Umgang mit der materiellen Welt ist, mit der gesellschaftlichen<br />
Wirklichkeit, mit der Kultur –, dann bleibt zum Schluss<br />
immer die Frage übrig, wohin das Ganze eigentlich führen soll.<br />
Was eigentlich das Ziel des Ganzen ist? Wohin bilden wir eigentlich?<br />
Wenn diese Zielfrage nicht in den Blick kommt, bleibt alles<br />
in der Schwebe wie Astronauten im schwerelosen Raum. Was ist<br />
das Ziel des Lebens, was ist das Ziel des Menschseins? In dieser<br />
Frage ist jeder Mensch ein gläubiger Mensch, jeder.<br />
Die letzten Fragen des Menschen sind nur als Glaubensfragen zu<br />
beantworten. Ist der Tod oder das ewige Leben das Letzte, ist<br />
es der Mensch oder ist es Gott, gibt es nur einen Himmel oder<br />
gibt es die Erde? Wenn ich Menschen zur Persönlichkeit heranbilden<br />
will, dann muss ich ihnen diese offene Frage, von der<br />
Helmuth Plessner gesprochen hat, stellen. Dann muss ich junge<br />
Menschen befähigen, diese Frage zu reflektieren. Ich muss sie<br />
mit verschiedenen Antworten in Berührung bringen, muss sie<br />
nachdenklich machen. Ich muss sie schlicht und ergreifend an<br />
den Punkt bringen, wo sie zu einer Entscheidung kommen können.<br />
Die allgemein bildende Schule hat nicht das Recht, Entscheidungen<br />
vorzugeben oder auf Entscheidungen zu verpflichten.<br />
In dem Punkt wird der unerlässliche Wert des Religionsunterrichts<br />
deutlich. Während sich die anderen Fächer – ob dies<br />
jetzt Sprachen, Wirtschaftswissenschaften oder Naturwissenschaften<br />
sind – alle auf diese Frage hin bewegen, geht der Religionsunterricht<br />
einen anderen Weg. Der konfessionelle Religionsunterricht<br />
geht von einer Antwort aus, die die Basis darstellt<br />
für alle weiteren Überlegungen und versucht, die Konsequenzen<br />
und Implikationen dieser Glaubensantwort zu reflektieren,<br />
zu vertiefen. Er kommt also auf einem anderen Weg zur<br />
Erkenntnis, und deshalb gehört für mich Religionsunterricht<br />
wesentlich zur Schule, zu deren allgemeinem <strong>Bild</strong>ungsauftrag –<br />
an der umfassenden <strong>Bild</strong>ung der jungen Menschen.<br />
Ich fasse zusammen: Ich halte dafür, dass Persönlichkeitsbildung<br />
erst dann gelingt, wenn wir zu diesen letzten und ersten<br />
und grundlegenden Fragen in allen Fächern, in allen Bereichen<br />
kommen, wenn wir jungen Menschen helfen, nachzudenken, sich<br />
Orientierung zu schaffen, und wenn dann auch komplementär<br />
vom Religionsunterricht auf dem Hintergrund einer gegebenen<br />
Entscheidung ein vernünftiges Umgehen mit diesen Fragen und<br />
ihren Implikationen gewährleistet ist. Ich plädiere also in Ergänzung<br />
zu all dem hier Gesagten sehr stark für eine inhaltliche<br />
Fokussierung der Persönlichkeitsbildung. Mir scheint es, dass<br />
man sich heute um diese Inhaltlichkeitsfrage herumdrückt, weil<br />
jeder merkt, dass diese Frage für ein bewusstes Menschsein<br />
unerlässlich ist. Stattdessen weicht man aus auf kommunikative<br />
Persönlichkeitsbildung, Toleranz, Dialogfähigkeit, aber die<br />
Inhalte lassen wir draußen oder diskutieren sie nicht.<br />
Ich war vor Kurzem in der Oper „Aufstieg und Fall der Stadt<br />
Mahagonni“ von Bertolt Brecht und Kurt Weill, die in Düsseldorf<br />
gespielt wurde. In dieser Oper wird ein Gefangener verurteilt<br />
wegen Mangels an Geld – eine ganz abstruse Situation. Der<br />
letzte Satz, den der Verurteilte äußert, lautet: „Denkt ihr denn<br />
wirklich gar nicht an Gott?“ Das ist der letzte Satz der Oper,<br />
dann fällt der Vorhang. Diese Frage, „Denkt ihr denn gar nicht<br />
an Gott?“, die muss auch eine Schule, die Sachen klären und<br />
Persönlichkeiten entwickeln will, stellen.<br />
Die Lehrerinnen und Lehrer sind mit ihrer eigenen Persönlichkeit<br />
das Hauptmedium in der Schule. Wir müssten allerdings<br />
überlegen, ob ihnen im Rahmen ihrer Persönlichkeitsbildung –<br />
und dazu gehört wesentlich die Glaubensbildung – genug Fortbildungsmöglichkeiten<br />
angeboten werden. Man entfaltet ein<br />
Leben lang Persönlichkeit und damit seinen Glauben, oder man<br />
stirbt, das ist klar.<br />
92
Wie entwickelt sich Schule? Schneider/Freller/Scheunpflug/Koch<br />
Das Zweite: wenn ich es richtig aus meinem Studium in Erinnerung<br />
habe, gehörte die Schule in der griechisch-römischen<br />
Welt zum Bereich Muße. Das Leben, so sah man es damals,<br />
würde die jungen Menschen schon selbst aufs Leben vorbereiten.<br />
Muße bedeutete Freiraum. Ich will das jetzt nicht ideologisieren,<br />
aber einen Freiraum in gewisser Weise wieder zurückzugewinnen,<br />
gegen z. B. sehr starke ökonomische Absichten,<br />
wäre eine wichtige Aufgabe für den Raum der Schule. Es wäre<br />
einmal zu hinterfragen, wer welche <strong>Bild</strong>ungsinteressen hat und<br />
wo wir den Freiraum schützen müssen.<br />
„Die letzten Fragen des Menschen sind nur als Glaubensfragen zu beantworten. Ist der Tod<br />
oder das ewige Leben das Letzte, ist es der Mensch oder ist es Gott, gibt es nur einen Himmel<br />
oder gibt es die Erde? Wenn ich Menschen zur Persönlichkeit heranbilden will, dann muss ich<br />
ihnen diese offene Frage, von der Helmuth Plessner gesprochen hat, stellen. Dann muss ich<br />
junge Menschen befähigen, diese Frage zu reflektieren.“<br />
Zudem, glaube ich, ist es notwendig, dass die Schule sich stärker<br />
als bisher mit anderen Einrichtungen und Institutionen vernetzt<br />
und vernetzen kann, etwa mit den Theatern und Stätten der Musik,<br />
mit Stätten der Religion und der Politik. Schule also verstanden<br />
als ein Kommunikationszentrum, das weiter gefasst ist als<br />
die Institution bzw. Organisation in ihrem begrenzten Rahmen.<br />
Ich glaube, dies täte auch allen Lehrern und Schülern sehr gut.<br />
Beim Plädoyer von Herrn Staatssekretär Freller für die Attraktivität<br />
des Lehrerberufs sind mir viele Lehrerinnen und Lehrer<br />
in den Sinn gekommen, denen ich bei Besuchen in Schulen<br />
immer wieder begegnet bin. Sie können junge Menschen nur<br />
für den Beruf begeistern durch das Vorbild glücklicher Lehrer.<br />
Das können Werbeprospekte noch so großer Zahl nicht erreichen.<br />
Was erleben aber viele? Lehrer, die traurig sind, die<br />
belastet sind, die Angst haben in ihrem Beruf. Immer wieder<br />
höre ich in Gesprächen mit Lehrkräften Aussagen wie: „Wir<br />
haben fast keinen Freiraum, wir sind eingemauert in finanzielle<br />
und strukturelle Begrenzungen, wir sind gefangen in<br />
Lehrplänen, wir kennen überhaupt keinen Freiraum, die Schüler<br />
können sich nicht frei entfalten, wir können uns nicht frei<br />
entfalten. Gebt der Schule und dem Lehrer einen größeren<br />
Freiraum, mehr Kreativität, und wir werden zufriedener werden.“<br />
Es ist keine Frage, dass hier auch der Staat in einer Bringschuld<br />
steht.<br />
93
Das neue Schulgesetz in Nordrhein-<br />
Westfalen – das modernste Deutschlands?<br />
Die 2005 ins Amt gekommene nordrhein-westfälische Landesregierung hat eine Reform aller Bereiche<br />
der <strong>Bild</strong>ung in Angriff genommen. Mit dem 2006 verabschiedeten neuen Schulgesetz wurden<br />
bereits durchgeführte Reformen festgeschrieben und noch anstehende ausformuliert. Ingrid Piepervon<br />
Heiden, MdL, FDP-Fraktion, Sigrid Beer, MdL, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, Udo Beckmann,<br />
Vorsitzender des <strong>Verband</strong>s <strong>Bild</strong>ung und Erziehung in NRW, Ute Schäfer, MdL, SPD-Fraktion, und<br />
Klaus Kaiser, MdL, CDU-Fraktion, diskutierten auf dem Podium Zielsetzungen und Konsequenzen<br />
des NRW- Schulgesetzes.<br />
Moderation: Lothar Guckeisen, Moderator der Sendung „Campus & Karriere“ des Deutschlandfunks<br />
Ingrid Pieper-von Heiden<br />
Ingrid Pieper-von Heiden, geb. 1948, Wirtschaftsdolmetscherin und staatlich geprüfte Betriebswirtin.<br />
Seit 1996 Mitglied der FDP; 1998-2000 Vorsitzende des Landesfachausschusses Schule und Weiterbildung der<br />
FDP. Seit 2000 Abgeordnete im Landtag von Nordrhein-Westfalen. Seit 2002 Mitglied im FDP-Landesvorstand.<br />
2000-05 Mitglied im Kuratorium der Sportstiftung NRW; Mitglied im Präsidium des Landessportbundes<br />
NRW. Vorsitzende der 2001 gegründeten Stiftung <strong>Bild</strong>ung zur Förderung Hochbegabter.<br />
Sigrid Beer<br />
Sigrid Beer, geb. 1956. Studium der Erziehungswissenschaften, Psychologie, Soziologie, evangelischen<br />
Theologie an der Gesamthochschule Paderborn. 1978/79 Religionslehrerin in Elsen; 1980-87 in der offenen<br />
Kinder- und Jugendarbeit tätig. 1990-2002 wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Uni Paderborn. Seit 2002<br />
freiberuflich tätig als Gutachterin und Autorin. Seit 1999 Mitglied von Bündnis 90/Die Grünen. 1999-2005<br />
Mitglied im Rat der Stadt Paderborn. Seit 2004 Sprecherin der LAG <strong>Bild</strong>ung/Schule. Delegierte für NRW in<br />
der BAG <strong>Bild</strong>ung. Seit Juni 2005 Landtagsabgeordnete.<br />
Udo Beckmann<br />
Udo Beckmann, geb. 1952. Studium für das Lehramt an Grund- und Hauptschulen an der PH Dortmund bis<br />
1975. Seit 1977 im Schuldienst tätig. 1996-2005 Leiter einer Hauptschule in Dortmund. Seit 1979 Mitglied<br />
im <strong>Verband</strong> <strong>Bild</strong>ung und Erziehung. Seit 1987 Mitglied im Hauptpersonalrat für Lehrerinnen und Lehrer an<br />
Grund- und Hauptschulen beim Ministerium für Schule, Jugend und Kinder NRW, seit 2005 dessen Vorsitzender.<br />
Seit 1996 Landesvorsitzender des VBE NRW und seit 1998 stellvertretender Bundesvorsitzender.<br />
94
NRW-Schulgesetz: Pieper-von Heiden/Beer/Beckmann/Schäfer/Kaiser Blindtext<br />
Ute Schäfer<br />
Ute Schäfer, geb. 1954. Bis 1975 Studium in Münster und Bielefeld. Bis 1996 Lehrerin und Konrektorin<br />
an Grund- und Hauptschulen. Seit 1982 Mitglied der SPD. Ratsmitglied und Fraktionsvorsitzende in Lage<br />
bis 2000. Seit 2000 Kreisvorsitzende der lippischen SPD und Landtagsabgeordnete. 2002-05 Ministerin für<br />
Schule, Jugend und Kinder NRW. Seit 2005 stellvertretende Vorsitzende der SPD Landtagsfraktion und deren<br />
bildungspolitische Sprecherin. Seit 2006 stellvertretende Vorsitzende der nordrhein-westfälischen SPD.<br />
Klaus Kaiser<br />
Klaus Kaiser, geb. 1957. Bis 1982 Studium der Geschichte, Anglistik und Pädagogik für das höhere<br />
Lehramt in Münster. Seit 1984 hauptamtlicher pädagogischer Mitarbeiter, 1991-2000 Leiter der Volkshochschule<br />
für den Hochsauerlandkreis. Seit 1974 Mitglied der CDU. MdL NRW seit 2000. 1988-2000 Vorsitzender<br />
des CDU-Stadtverbands Arnsberg. Seit 2000 Kreisvorsitzender im Hochsauerlandkreis. Seit 1979 Mitglied<br />
des Stadtrats von Arnsberg; seit 1994 dort Fraktionsvorsitzender der CDU.<br />
STATEMENT<br />
Ingrid Pieper-von Heiden<br />
Ein modernes Schulgesetz, ein modernes <strong>Bild</strong>ungssystem ist ein<br />
System, das das Kind mit seiner Individualität in den Mittelpunkt<br />
stellt, das dieses Kind bei seinem Potenzial nimmt und es<br />
ihm ermöglicht, während der Schulzeit seine Möglichkeiten,<br />
seine Anlagen, seine Begabungen und seine Interessen voll entfalten<br />
und in Leistung umsetzen zu können. Dazu gehört eine<br />
sehr starke individuelle Förderung, damit dieses Kind entsprechend<br />
seinem Potenzial lernen kann, das heißt eine hohe Differenzierung<br />
innerhalb der bestehenden Klasse, die Möglichkeiten<br />
zur äußeren Differenzierung, und es gehört dazu, dass wir<br />
Kernlehrpläne haben, die das Wesentliche an Wissen festschreiben,<br />
damit Kinder heute tatsächlich das erlernen, was sie benötigen,<br />
um auf dieser Basis selbstständig in Zukunft weiterlernen,<br />
sich selbst Wissen aneignen zu können und vor allen Dingen<br />
auch unterscheiden zu können zwischen wichtigen Informationen<br />
und weniger wichtigen. Das Ziel lautet: Sie sollen<br />
95
sehr effektiv und effizient ein Leben lang ihr Lernen selbst<br />
organisieren können.<br />
Ich stehe zum Prognoseunterricht aus zwei Gründen. Zum<br />
einen sind auch die Kinder davon betroffen, die in erster Linie<br />
aus Familien mit Aussiedler- oder Migrationshintergrund kommen,<br />
die gute Noten haben, deren Eltern aber aus Tradition<br />
gerne die Hauptschule wählen, obwohl das Potenzial eines Kindes<br />
ein höheres ist. Und auch da soll der Prognoseunterricht<br />
hilfreich sein. Man kann die Eltern nicht dazu zwingen, ihnen<br />
diesen Test aber empfehlen. Zweitens enthält der Prognoseunterricht<br />
auch Elemente der Potenzialanalyse. Es ist eben nicht<br />
bloß Unterricht, vielmehr helfen die Elemente dabei, festzustellen,<br />
ob ein Kind mit schlechten Noten vielleicht doch das<br />
Potenzial hat, aufs Gymnasium zu gehen. Etwa wenn es eine<br />
Grundschule in einem sozial ungünstigen Umfeld besucht hat,<br />
im Unterrichtsstoff noch nicht so weit vorangekommen ist,<br />
dann können wir im Prognoseunterricht feststellen, welches<br />
Potenzial vorhanden ist und ob es aufgrund dessen voraussichtlich<br />
möglich sein wird, dass das Kind in kürzester Zeit den<br />
Anschluss in einer höheren Schullaufbahn finden könnte. Ich<br />
Zur individuellen Förderung möchte ich sagen, dass der Drehund<br />
Angelpunkt für das Gelingen hierbei eine Reform der Lehrerfortbildung<br />
ist. Ich finde es bemerkenswert, dass diejenigen,<br />
die Jahre und Jahrzehnte Verantwortung getragen haben, an<br />
dieser Lehreraus- und -fortbildung niemals etwas geändert haben.<br />
Wir haben das derzeit inhaltlich auf den Weg gebracht.<br />
Dabei müssen wir eine andere Gewichtung vornehmen. Ein Lehrer<br />
muss motivieren können, er muss Psychologie, Motivation,<br />
Didaktik in viel stärkerem Maße als bisher mit der Fachwissenschaft<br />
verknüpfen können. Er muss auch über verschiedene<br />
andere Dinge in der Ausbildung mehr hören als bisher. Manche<br />
Dinge kommen bislang in der Ausbildung überhaupt nicht vor,<br />
und wenn wir ganz ehrlich sind, müssen wir sagen, dass die<br />
Universitäten in der Lehrerausbildung quasi tun, was sie wollen.<br />
Da werden zwar Kurse für Erziehungswissenschaften, Pädagogik<br />
angeboten, aber nicht verpflichtend gemacht. Dadurch,<br />
dass Lehrerinnen und Lehrer zwei Fachwissenschaften studieren<br />
müssen, sind sie derart ausgelastet, dass sie kaum Gelegenheit<br />
haben, diese Seminare zu besuchen. Das zum einen.<br />
Was tun wir ganz praktisch? Gerade gestern haben ich mit der<br />
Ministerin für <strong>Bild</strong>ung und Erziehung hier auf der Messe einen<br />
Leitfaden für individuelle Förderung vorgestellt. Dieser wird in<br />
den nächsten Wochen an jede einzelne Schule dieses Landes<br />
gehen, privat finanziert und zusammengestellt aus der Praxis<br />
heraus, aber unter Mitwirkung von Wissenschaftlern, die sich<br />
viele Jahre damit befasst haben. Diese finden ja erst seit etwa<br />
anderthalb Jahren ein anderes politisches Klima in diesem Land<br />
vor, sodass sie sich erst jetzt mit verstärkten Ressourcen hierum<br />
kümmern und etwas auf den Weg bringen konnten. Diese<br />
Broschüre gelangt an allen Schulen, und darin sind auch übergreifende<br />
Beispiele zu finden: Auch Kindertagesstätten sind<br />
einbezogen, sodass wir individuelle Beispiele bringen und Vorschläge<br />
für eine individuelle Förderung an die Erzieherinnen<br />
und Erzieher, Lehrerinnen und Lehrer machen können. Wir wollen<br />
den Lehrenden und Erziehenden zugleich bessere Diagnoseinstrumente<br />
an die Hand geben, die sie bisher in ihrer Ausbildung<br />
überhaupt nicht kennengelernt haben.<br />
„Zur individuellen Förderung möchte ich sagen, dass der Dreh- und Angelpunkt für das Gelingen<br />
hierbei eine Reform der Lehrerfortbildung ist. Ich finde es bemerkenswert, dass diejenigen,<br />
die Jahre und Jahrzehnte Verantwortung getragen haben, an dieser Lehreraus- und<br />
-fortbildung niemals etwas geändert haben.“<br />
finde, das ist ein zusätzliches Angebot und eine sehr gute Absicherung<br />
für alle Beteiligten, in allererster Linie für das Kind,<br />
aber auch für die Eltern und für die Lehrer, um einfach zu<br />
sehen, ob man das Richtige mit diesem Kind macht und ihm die<br />
richtige Empfehlung für die Zukunft gibt.<br />
Das sind die wichtigen Schritte, die ich für sehr zügig und konsequent<br />
erachte. Individuelle Förderung war in den letzten<br />
Jahrzehnten nicht verboten, wurde hie und da auch erwähnt,<br />
aber für die Umsetzung hat man in der Vergangenheit von der<br />
politischen Seite her tatsächlich so gut wie nichts getan.<br />
STATEMENT<br />
Sigrid Beer<br />
Ich finde es ganz wichtig und richtig, sich zunächst darüber zu<br />
verständigen, was heute „modern“ in Bezug auf die Schulpolitik<br />
eigentlich bedeutet. Es reicht einfach nicht aus, eine Vokabel in<br />
die Diskussion zu werfen und anschließend die damit implizierten<br />
Anforderungen zu verfehlen. Das genau ist das Problem. Ich<br />
verstehe unter einem modernen <strong>Bild</strong>ungssystem, einem modernen<br />
Schulsystem ein solches, das sich auf den Wandel von der<br />
Industrie- zur Wissensgesellschaft einstellt, das diesen erstens<br />
nachvollzieht und zweitens auch entsprechend mitgestaltet. Ein<br />
modernes Schulsystem muss mit Vielfalt individuell und konstruktiv<br />
umgehen können, und es muss auch die soziale Kohäsion<br />
verstärken. Ein modernes Schulsystem muss sich auf Leistungs-<br />
96
NRW-Schulgesetz: Pieper-von Heiden/Beer/Beckmann/Schäfer/Kaiser<br />
„Ein modernes Schulsystem muss sich auf Leistungsentwicklung und Chancengleichheit einstellen,<br />
sie stärken und verbessern, und vor allen Dingen muss es Verantwortung übernehmen<br />
für den Lernerfolg der Schüler und Schülerinnen und darf diese nicht bei den Kindern und<br />
Jugendlichen abladen.“<br />
entwicklung und Chancengleichheit einstellen, sie stärken und<br />
verbessern, und vor allen Dingen muss es Verantwortung übernehmen<br />
für den Lernerfolg der Schüler und Schülerinnen und<br />
darf diese nicht bei den Kindern und Jugendlichen abladen.<br />
Individuelle Förderung und Sortieren nach vorgeblichen Begabungen<br />
schließen sich aus. Beides passt einfach nicht zusammen;<br />
es bedeutet einen Rückgriff auf den Anfang des 19. Jahrhunderts,<br />
den Beginn der Industriegesellschaft mit unterschiedlichen<br />
Rollen- und Berufszuweisungen in der Gesellschaft. Das<br />
passt nicht mehr in unsere Zeit, und es wird den beruflichen<br />
Anforderungen an die Jugendlichen nicht gerecht, die jetzt im<br />
System sind. Ich kann nicht verstehen, wie man das so schnell<br />
verdrängen kann. Uns liegen die Pisa-Ergebnisse vor, und wir<br />
wissen doch, welche Überschneidungen es in den Leistungspotenzialen<br />
zum Beispiel zwischen Hauptschülerinnen und Gymnasiastinnen<br />
gibt. Das Sortieren ist zum einen sozial ungerecht<br />
und zum anderen darf man nicht vergessen, dass wir in den einzelnen<br />
Schulformen schulformspezifische Lernmilieus haben.<br />
Kinder, die einmal auf einen benachteiligenden Schulzweig mit<br />
niedrigerem <strong>Bild</strong>ungsanspruch einsortiert worden sind, werden<br />
dadurch noch weiter benachteiligt. Schon die Startchancen sind<br />
schlechter, und dann haben sie im weiteren Verlauf durch die<br />
Lernbedingungen schlechtere Chancen, weil an der Hauptschule<br />
das Lernmilieu nicht genug positiv motivierend ist. Dies ist, ich<br />
will es ausdrücklich sagen, keine Schuldzuweisung an die Hauptschulpädagogen,<br />
sondern es ist bedingt durch die Rolle, die die<br />
Hauptschule in diesem gegliederten Schulsystem hat.<br />
Das Gymnasium wird heute durch die Schulzeitverkürzung vom<br />
übrigen System abgekoppelt. Das ist ein erster ganz tiefer Einschnitt.<br />
Wer heute sagt, dass an den Schulstrukturen im Augenblick<br />
nichts geändert werden soll, sondern dass zunächst nur<br />
die Qualitätsentwicklung nach innen vorangetrieben werde,<br />
macht eigentlich die erste Falschaussage. Denn es wird sehr<br />
wohl an den Schulstrukturen etwas verändert, die Grenzen werden<br />
verschärft. Zudem gibt es, wie gesagt, bereits schulformspezifische<br />
Lernmilieus, und die CDU kreiert noch ein weiteres.<br />
Sie weicht die <strong>Bild</strong>ungsstandards auf, indem sie schulformbezogene<br />
Lehrpläne noch weiter profilieren will, und weicht ab<br />
von dem, was an Kompetenz für alle Schüler und Schülerinnen<br />
eigentlich wichtig wäre zu erwerben. Durch die Pläne der CDU<br />
werden die <strong>Bild</strong>ungsgänge noch weiter voneinander separiert.<br />
Und dann stimmt die Gleichung auch nicht mehr, dass die<br />
Durchlässigkeit nach oben gegeben ist, weil wir den Kindern<br />
nicht allen gleiche Lernmöglichkeiten bieten.<br />
Der Prognoseunterricht, den ein Kind besuchen muss, wenn<br />
Schulempfehlung und Elternwunsch nicht übereinstimmen, ist<br />
für die Kinder eine Testsituation. Kinder, die diesen Unterricht<br />
besuchen sollen, müssen sich outen, wenn sie in ihrer Klasse gefragt<br />
werden, auf welche Schule sie gehen werden. Sie müssen<br />
diesen Test absolvieren, und das in einer fremden Umgebung mit<br />
fremden Lehrpersonen. Was hier ganz gerne verschwiegen und<br />
beschönigt wird: Es handelt sich wirklich um eine Testorientierung<br />
mit standardisierten Aufgaben. Die unterschiedlichen Lernausgangslagen<br />
finden, auch was den häuslichen Background und<br />
die schulische Ausgangssituation angeht, überhaupt keine<br />
Berücksichtigung.<br />
Ich will aber noch etwas bemerken zu dem, was Frau Pieper-von<br />
Heiden eben ausgeführt hat. Wenn Sie die Leistungen der<br />
Grundschullehrkräfte anschauen, die durch die Iglu-Studien<br />
bestätigt worden sind, lässt sich erkennen, wie es da gelingt,<br />
mit Heterogenität umzugehen, mit den verschiedenen Lerntypen<br />
und den verschiedenen Lernwegen. Das ist genau das, was<br />
uns beim Übergang in die Sekundarstufe I verloren geht. Deswegen<br />
müssen wir dringend daran arbeiten, dass wir das, was<br />
in der Grundschule angelegt wird, nicht wieder verlieren, und<br />
zwar bis zum Ende der Pflichtschulzeit. Das ist wichtig.<br />
Natürlich kann es gelingen, den unterschiedlichen Lerntypen<br />
und -wegen entsprechend entgegenzukommen. Aber wenn wir<br />
ein System weiter aufrechterhalten, das eine Haltung bei den<br />
Lehrkräften bestätigt, die alle Fehler nur bei den Kindern sucht,<br />
nicht aber beim eigenen Unterricht, kommen wir nicht weiter.<br />
Ich habe am Anfang gesagt, dass ein modernes Schulsystem Verantwortung<br />
für den Lernerfolg übernimmt, und eben das passiert<br />
bei uns nicht. Die Frage lautet noch immer: Passt das Kind<br />
zur Schule? Doch wir müssen umgedreht denken: Was muss die<br />
Schule tun, damit das Kind zum Lernerfolg kommt, nur dann<br />
kommen wir auf die richtige Straße.<br />
STATEMENT<br />
Udo Beckmann<br />
„Modern“ bedeutet für mich erstens „zeitgemäß zu sein“ und<br />
zweitens „mit der Entwicklung Schritt zu halten“. Wenn ich das<br />
neue nordrhein-westfälische Schulgesetz daraufhin überprüfe,<br />
mache ich mir natürlich meine Gedanken. Es sind zwei grundlegende<br />
Aspekte im Schulgesetz festgeschrieben, zum einen die<br />
97
individuelle Förderung und zum anderen die Durchlässigkeit.<br />
Diese beiden Aspekte sehe ich für ein modernes, zeitgemäßes<br />
Schulwesen als ganz entscheidend und wesentlich an. Aber wir<br />
haben eben kein solches modernes Schulsystem, sondern wir<br />
haben eines, dessen Grundstruktur aus dem 19. Jahrhundert<br />
stammt.<br />
Dass wir noch etwas verbessern können, steht völlig außer<br />
Frage. Ich glaube, dass wir an einem entscheidenden Punkt sind,<br />
wenn wir die Frage nach Unterstützungssystemen für die Lehrkräfte<br />
stellen. Dies impliziert auch, dass bestimmte außerschulische<br />
Professionen zur Unterstützung herangezogen werden können.<br />
Das heißt, wir müssen Schulen in Netzwerke einbinden, in<br />
„Dass wir noch etwas verbessern können, steht völlig außer Frage. Ich glaube, dass wir an<br />
einem entscheidenden Punkt sind, wenn wir die Frage nach Unterstützungssystemen für die<br />
Lehrkräfte stellen. Dies impliziert auch, dass bestimmte außerschulische Professionen zur<br />
Unterstützung herangezogen werden können.“<br />
Wir werden in Zukunft häufig sogar schon bei 9-Jährigen<br />
bestimmen müssen, was für sie das richtige Schulsystem sein<br />
soll, und je weiter wir das Ganze nach vorne verlegen, umso<br />
schwieriger wird es sein, Prognosen hinsichtlich des Schulerfolgs<br />
zu stellen. Professor Bos hat eine schöne Formulierung<br />
dafür, er spricht von sogenannten suboptimalen Empfehlungen.<br />
Das heißt, wir wissen, dass etwa bei 60 Prozent der Kinder<br />
diese Empfehlung suboptimal ist. Die Frage nach der passenden<br />
Schule muss auch einmal auf dem Hintergrund diskutiert werden,<br />
dass wir in verschiedenen Regionen ganz unterschiedliche<br />
Übergänge zu den Schulen haben. Wenn beispielsweise in Bonn<br />
60 Prozent der Schüler nach der vierten Klasse aufs Gymnasium<br />
gehen, so gibt es andere Regionen, wo es vielleicht nur 20 Prozent<br />
sind. Wenn ich solche Zahlen höre, frage ich mich immer,<br />
woran das liegt. Es kann doch nicht sein, dass die Kinder in<br />
bestimmten Regionen weniger intelligent sind als in anderen.<br />
Das ist viel eher ein deutliches Zeichen dafür, dass wir bei Kindern<br />
viele Chancen schon im Vorfeld verschenken, weil die Kinder<br />
dem Schulangebot vor Ort entsprechend empfohlen werden.<br />
Und wenn nur Haupt- und Realschule vor Ort sind, dann<br />
wird man natürlich mit Blick auf längere Fahrtwege usw. verstärkt<br />
auf diese Schulform hin empfehlen. Existiert ein anderes<br />
Schulangebot, haben wir sofort ein ganz anderes Empfehlungsverhalten.<br />
Auch auf diesem Hintergrund ist die Frage, was denn<br />
eigentlich passende Schule heißt, zu diskutieren.<br />
In Verbindung mit dem Prognoseunterricht muss man natürlich<br />
die Frage stellen, was dieser gesamte Aufwand überhaupt soll.<br />
Wenn davon tatsächlich solch eine geringe Zahl von Schülerinnen<br />
und Schülern betroffen ist, könnte man doch auch dem<br />
Elternwillen Rechnung tragen, um dann zu schauen, wie es<br />
weitergeht. Die Schülerinnen und Schüler, die in einen solchen<br />
Prognoseunterricht geschickt werden, sind ein Stück weit stigmatisiert.<br />
Die anderen Kinder in der Klasse wissen natürlich<br />
davon, so etwas spricht sich doch herum. Sie wissen doch, wie<br />
das unter Kindern üblich ist. Das halte ich für problematisch,<br />
und von daher denke ich, dass dieses Verfahren wirklich verzichtbar<br />
ist.<br />
denen sie bei Bedarf auf außerschulische Fachkräfte zurückgreifen<br />
können, beispielsweise Schulpsychologen oder Sozialpädagogen.<br />
Des Weiteren benötigen wir dringend mehr Lehrerfortbildung.<br />
Lehrerinnen und Lehrer sind nicht hinreichend darauf vorbereitet,<br />
individuelle Förderung zu ermöglichen. Hier haben wir<br />
durchaus Nachholbedarf, und zwar nicht nur in der Lehrerfortbildung,<br />
sondern vor allen Dingen auch in der Lehrerausbildung.<br />
Auch hier brauchen wir ein deutlich anderes Augenmerk.<br />
Wenn ich höre, dass wir die x-te Broschüre in die Schule geliefert<br />
bekommen, in der uns erklärt wird, wie wir was machen<br />
sollen, dann graut es mir schon ein bisschen davor.Auf diese Art<br />
und Weise können wir nicht lernen, mit individueller Förderung<br />
umzugehen, sondern dazu bedarf es der Fortbildungsveranstaltungen.<br />
Dort können Lehrerinnen und Lehrer gemeinsam<br />
bestimmte Dinge erarbeiten, die sie auch umsetzen können.<br />
Dass alle paar Wochen eine neue Broschüre in die Schule<br />
kommt, haben wir lange genug erlebt. Das wird auf Dauer<br />
nichts verändern. Und noch etwas möchte ich zur Frage der<br />
Lehrerausbildung sagen. Hier wurde gerade gesagt, dass es<br />
damit jetzt besser werden soll. Ich aber behaupte, es wird noch<br />
schlechter werden, weil der staatliche Zugriff auf die Hochschulen<br />
ja durch das Hochschulfreiheitsgesetz eingeschränkt<br />
worden ist. Das heißt, Sie werden noch weniger Einfluss darauf<br />
haben, wie sich Lehrerausbildung in Zukunft gestaltet, und die<br />
Universitäten werden sich in noch größerem Maße die feinen<br />
Häppchen raussuchen können. Und das, worauf es uns ankommt,<br />
das wird wahrscheinlich nicht stattfinden.<br />
STATEMENT<br />
Ute Schäfer<br />
Ich unterstreiche alles, was Sigrid Beer zum modernen Schulsystem<br />
gesagt hat, und möchte es um zwei Aspekte ergänzen.<br />
Für mich ist ein Schulsystem oder eine <strong>Bild</strong>ungspolitik vor allem<br />
dann modern, wenn darin umgesetzt wird, was tatsächlich in<br />
98
NRW-Schulgesetz: Pieper-von Heiden/Beer/Beckmann/Schäfer/Kaiser<br />
Wissenschaft erforscht ist. Zum Zweiten ist für mich ein Schulsystem<br />
dann modern, wenn es in der Lage ist, Partizipation,<br />
Teilhabe und Demokratieverständnis zu entwickeln. Schule ist<br />
ein Spiegelbild der Gesellschaft.<br />
Unser mehrgliedriges Schulsystem ist – und dies ist auch selbstkritisch<br />
an die eigene Adresse gerichtet – hoch selektiv und<br />
hoch ungerecht. Herr Beckmann hat ausgeführt, dass es diese<br />
Ungerechtigkeit der <strong>Bild</strong>ungschancen durch die Mehrgliedrigkeit<br />
im Schulsystem gibt. Wenn man ernsthaft Verbesserungen<br />
vornehmen will und mehr Chancengerechtigkeit anstrebt, dann<br />
muss man auch in Deutschland neue Wege beschreiten, so<br />
schwierig das ist. Aber auf diesen Weg müssen wir uns alle<br />
gemeinsam begeben.<br />
Neben der Qualitätsentwicklung der einzelnen Schule mit all<br />
den Rahmenbedingungen, die wir für Lehrerinnen und Lehrer<br />
als Unterstützungssysteme entwickeln müssen, brauchen wir<br />
ein System, das längere gemeinsame Lernzeiten ermöglicht.<br />
Kinder werden bei uns mit neun oder zehn Jahren in unterschiedliche<br />
Schubladen gesteckt, und man geht – wie selbstverständlich<br />
– davon aus, dass sie in homogenen Lerngruppen<br />
bessere Fortschritte machen. Das ist wissenschaftlich erwiesen<br />
falsch. Wir müssen unser System darauf ausrichten, wie wir<br />
jedem Kind individuell am besten gerecht werden können. Hier<br />
müssen wir umdenken.<br />
In puncto Fortbildung war es in der Vergangenheit so, dass die<br />
Lehrerinnen und Lehrer eigenständig entscheiden konnten, ob<br />
sie sich fortbilden wollten oder nicht. Die Verpflichtung zur Fortbildung<br />
finde ich richtig. Fortbildung gehört für mich zum Kerngeschäft<br />
von Lehrerinnen und Lehrern, aber man muss ihnen<br />
auch die Zeit und die Möglichkeit dafür einräumen. Das ist momentan<br />
nicht gegeben. Ich bedaure das deswegen, weil wir in<br />
Nordrhein-Westfalen inzwischen das einzige Bundesland sind,<br />
das kein Landesinstitut für Curriculum-Entwicklung, für Fortbildungsplanung,<br />
für Moderatorenausbildung mehr besitzt. Das<br />
ist nach dem Regierungswechsel mit einem Federstrich abgeschafft<br />
worden oder wird gerade „abgewickelt“, wie übrigens<br />
auch in Hessen geschehen. In Hessen hat man diese Entscheidung<br />
jedoch wieder revidiert, weil man den Fehler erkannt hat.<br />
Schulen brauchen, auch wenn sie eigenverantwortlich sind,<br />
einen Kompass. Sie brauchen einen solchen Richtungsweiser<br />
auch dort, wo es um Fortbildung geht. Es bedarf also eines Instituts,<br />
wo man gute Fortbildung „einholen“ kann. Das darf man<br />
nicht dem freien Markt überlassen. Dafür steht der Staat in<br />
einer Verantwortung gegenüber seinen Beamten und Angestellten.<br />
Diese Verantwortung wird zurzeit gerade komplett delegiert.<br />
Das zieht sich bis in die Schulaufsicht hinein. Ich will hier<br />
ganz klar sagen, dass ich die Tatsache, dass man die Möglichkeiten<br />
für Lehrerinnen und Lehrer, sich fortzubilden, so restriktiv<br />
beschneidet, für eine Fehlentwicklung mit fatalen Folgen<br />
„Kinder werden bei uns mit neun oder zehn Jahren in unterschiedliche Schubladen gesteckt,<br />
und man geht – wie selbstverständlich – davon aus, dass sie in homogenen Lerngruppen bessere<br />
Fortschritte machen. Das ist wissenschaftlich erwiesen falsch.“<br />
Ich würde diese Zahl von zwei Prozent der Kinder, die am Prognoseunterricht<br />
teilnehmen sollen, nicht einfach so abtun. Die<br />
SPD lehnt den Prognoseunterricht komplett ab, weil wir das<br />
als ein Assessmentcenter für Grundschulkinder empfinden.<br />
Man darf Kindern im Alter von neun oder zehn Jahren einfach<br />
nicht zumuten, vor unbekannten Personen ihr Leistungsvermögen<br />
unter Beweis stellen zu müssen. Wir halten das für<br />
nicht kindgerecht. Es muss in einem modernen Land möglich<br />
sein, einen anderen Weg zu gehen, wenn man allen Kindern<br />
die beste <strong>Bild</strong>ungsperspektive eröffnen will. Jedes einzelne<br />
Kind, das diesen Prognoseunterricht durchlaufen muss, leidet.<br />
Deswegen lehnen wir dieses Verfahren auf das Schärfste ab.<br />
Auch die Anhörung von Experten im Landtag dazu hat unsere<br />
Position bestätigt. Das ist ein Instrument, das bereits 1959<br />
abgeschafft worden ist. Ich selbst gehörte damals dem ersten<br />
Jahrgang an, der nicht an dieser „Aufnahmeprüfung“ teilnehmen<br />
musste, um zur höheren Schule gehen zu können. Dass<br />
wir in solche Zeiten zurückfallen würden, das hätte ich nicht<br />
im Traum für möglich gehalten.<br />
halte. Sogar der Besuch einer <strong>Bild</strong>ungsmesse wie der „didacta“<br />
ist ohne Weiteres gar nicht mehr möglich. Das sind Entwicklungen,<br />
die sich langfristig negativ auswirken. Der kurzfristige<br />
Erfolg, dass dadurch keine Stunde ausfällt, ist langfristig teuer<br />
erkauft und schadet der Qualitätsentwicklung unserer Schulen.<br />
STATEMENT<br />
Klaus Kaiser<br />
Ein modernes Schulgesetz ist eines, das unseren jungen Menschen<br />
bessere Lebens- und Berufschancen bietet. Die bestmöglichen<br />
Chancen für die einzelnen Kinder können wir dann<br />
gewährleisten, wenn es uns gelingt, für das Kind die passende<br />
Schulform zu finden. Dazu gibt es schon lange Zeit die Grundschulgutachten.<br />
Wir haben im neuen Gesetz diese Gutachten<br />
nur ein Stück weiter verbindlich gemacht, um einem Phänomen<br />
vorzubeugen, das unser Schulsystem gekennzeichnet hat, näm-<br />
99
lich die Zahl von 15 000 <strong>Bild</strong>ungsverlierern, die alljährlich ihre<br />
Schule ohne Abschluss verlassen. Dadurch, dass wir die Schulwahl<br />
ein Stück weit verbindlicher regeln, wollen wir dafür sorgen,<br />
dass die Frage der <strong>Bild</strong>ungsverlierer entschärft wird, weil<br />
jeder <strong>Bild</strong>ungsverlierer den Beweis dafür liefert, dass die passende<br />
Schulform eben nicht gefunden worden ist.<br />
Das Wesentliche eines gegliederten Systems ist, dass es durchlässig<br />
ist. Wichtig ist ja, dass die in Bezug auf das 5. Schuljahr<br />
getroffene Entscheidung nicht darüber entscheidet, ob jemand<br />
das Abitur machen kann oder nicht. Und genau das zeichnet<br />
das neue Schulgesetz aus, dass es als einen programmatischen<br />
Punkt umfasst, die Durchlässigkeit zu erhöhen. Denn wir brauchen<br />
ja insgesamt mehr Abiturienten. Das Problem unserer<br />
Gesellschaft besteht darin, dass wir zu viele Studienabbrecher<br />
und zu viele Jugendliche ohne Schulabschluss haben. Problematisch<br />
wird es also an der Leistungsspitze und im unteren<br />
Bereich der Leistungsskala. Darauf müssen wir antworten, müssen<br />
uns überlegen, wie wir das verbessern können. Eine Möglichkeit<br />
ist, dass man im Laufe seiner Schullaufbahn Schulen<br />
wechselt, etwa von der Realschule in die gymnasiale Oberstufe<br />
des Berufskollegs, und so den Weg zum Abitur gehen kann. Uns<br />
steht da ja eine ganze Palette zur Verfügung. Die bildungspolitische<br />
Diskussion vor dem Hintergrund eines gegliederten Systems<br />
greift zu kurz, wenn man den Weg zum Abitur nur über<br />
das Gymnasium als gegeben ansieht. In Baden-Württemberg<br />
etwa machen 25 Prozent eines Altersjahrgangs ihr Abitur an<br />
einem beruflichen Gymnasium, in Nordrhein-Westfalen sind es<br />
Wenn sich nun Eltern und Schule in der Empfehlung nicht einig<br />
sind, sieht das Gesetz die Möglichkeit vor, dass die Kinder in<br />
den sogenannten Prognoseunterricht gehen. Das ist auch etwas,<br />
das sehr viele Eltern beschäftigt. Prognoseunterricht heißt,<br />
dass das Kind drei Tage lang an einem Unterricht teilnimmt und<br />
von einem Grundschullehrer, einem Lehrer der weiterführenden<br />
Schule und einem Vertreter der Schulaufsicht begutachtet wird.<br />
Danach wird dann entschieden, welche Empfehlung zum Tragen<br />
kommt, auf welcher Schule das Kind landet. Das Ausmaß der<br />
Aufregung über diese Verfahren korrespondiert jedoch nicht<br />
mit der Zahl der tatsächlich zu erwartenden Fälle. Damit wir wissen,<br />
wovon wir reden: Wir rechnen mit maximal zwei Prozent<br />
von 3600 Schülerinnen und Schülern in Nordrhein-Westfalen.<br />
Zum Prognoseunterricht selber muss man sagen, dass die Praxis<br />
im Land da sehr unterschiedlich aussieht. Wir werden unsere<br />
Erfahrungen damit sammeln. Natürlich sind die Lehrerinnen<br />
und Lehrer, die diesen Prognoseunterricht beurteilen, entsprechend<br />
dafür qualifiziert. Es handelt sich ja nicht um eine dreitägige<br />
Prüfung, sondern bewusst um einen Unterricht, der<br />
neben Leistungsanreizen auch entspannende Sequenzen<br />
umfasst. Diejenigen, die diesen Prognoseunterricht abhalten,<br />
sind, wie gesagt, Fachleute und wissen, wie sie mit Kindern<br />
umgehen müssen. Und sie wissen auch, dass am Ende des Prognoseunterrichtes<br />
alle drei Beteiligten, also der Vertreter der<br />
Schulaufsicht, der Vertreter einer Grundschule und der Vertreter<br />
einer weiterführenden Schule, einstimmig zu einem Urteil<br />
darüber kommen müssen, ob das Kind für die vonseiten der<br />
Eltern angestrebte Schulform geeignet oder ungeeignet ist.<br />
Wenn nur einer von diesen dreien bereit ist, dem Kind an der<br />
Schule eine Chance zu geben, gilt das als Empfehlung mit Einschränkung,<br />
sodass das Kind an der angemeldeten Schule starten<br />
kann. Dies zur Klärung des Sachverhalts. Selbstverständlich<br />
werden wir ihn aber evaluieren müssen, weil dieses Verfahren<br />
in diesem Jahr zum ersten Mal angewendet wird.<br />
„Die bereits erwähnte Zahl von 15 000 <strong>Bild</strong>ungsverlierern in unserem System ist auch ein<br />
Zeichen dafür, wo die Krise ihren Ursprung hat. Natürlich kann in einem Schulgesetz nur ein<br />
programmatischer Satz stehen. Wir haben festgeschrieben, dass wir die individuelle Förderung<br />
wollen und dass die Versetzung den Regelfall darstellt.“<br />
bisher rund 10. Das sind die Fragestellungen, auf die wir reagieren<br />
müssen. Es ist also zu statisch gedacht zu fragen, auf<br />
welchem Schultyp man im 8. Schuljahr ist, das ist sicherlich zu<br />
kurz gegriffen.<br />
Die bereits erwähnte Zahl von 15 000 <strong>Bild</strong>ungsverlierern in<br />
unserem System ist auch ein Zeichen dafür, wo die Krise ihren<br />
Ursprung hat. Natürlich kann in einem Schulgesetz nur ein programmatischer<br />
Satz stehen. Wir haben festgeschrieben, dass<br />
wir die individuelle Förderung wollen und dass die Versetzung<br />
den Regelfall darstellt. Die Umsetzung dieser beiden programmatischen<br />
Sätze bedeutet für manche Schulen eine vollkommene<br />
Umkehr der Schulkultur. Weil nämlich eine Schule,<br />
die sich bereit erklärt, ein Kind aufzunehmen, sagen wir eine<br />
Realschule, damit auch die Pflicht hat, dieses Kind optimal zu<br />
fördern. Wenn dieses Kind eine Realschulempfehlung mit Einschränkung<br />
hat, ist es auf der Realschule dann besonders zu fördern.<br />
Und das muss sich im unterrichtlichen Alltag widerspiegeln.<br />
Das heißt, die Lehrerinnen und Lehrer müssen wissen,<br />
dass dieses Kind, das vielleicht ein Defizit im Bereich Mathematik<br />
hat, in diesem Fach besonders gefördert werden muss,<br />
und dementsprechend ist der Unterricht zu organisieren und<br />
eine angemessene Binnendifferenzierung vorzunehmen. Wir<br />
sehen nach dem neuen Schulgesetz in der Sekundarstufe I dafür<br />
100
NRW-Schulgesetz: Pieper-von Heiden/Beer/Beckmann/Schäfer/Kaiser<br />
zusätzliche Stundenvolumina vor, sodass man auch außerhalb<br />
der Kerngruppe bzw. Klasse über Förderstunden Stärken stärken<br />
und vielleicht Schwächen abbauen kann. Und genau das heißt<br />
individuelle Förderung. Das ist die Maßgabe und das ist der programmatische<br />
Ansatz unseres Schulgesetzes.<br />
Bei der individuellen Förderung brauchen wir eine andere Kultur.<br />
Frau Schäfer hat darauf hingewiesen, dass im Bereich der<br />
Fortbildung das Landesinstitut in Soest aufgelöst worden ist.<br />
Wenn wir die Lehrerinnen und Lehrer hier fragen würden, ob<br />
und inwieweit dieses Institut für ihren unterrichtlichen Alltag<br />
eine Entlastung dargestellt hat, möchte ich einmal sehen, wie<br />
viele Arme hochgingen. Das Problem dabei ist doch, dass unsere<br />
Lehrerinnen und Lehrer auf eine individuelle Förderung noch<br />
nicht ausreichend vorbereitet sind. Wir wissen, dass wir bei der<br />
Fortbildung vor einer Riesenaufgabe stehen, und deshalb arbeiten<br />
wir weiter daran. Niemand weiß besser als die jeweilige<br />
Schule selbst, welcher Fortbildungsbedarf besteht. Liegt dieser<br />
im Bereich der Differenzierung, im Umgang mit heterogenen<br />
Gruppen, im Bereich der individuellen Förderung – ich vermute,<br />
dass dies bei vielen Gymnasien der Fall sein wird –, oder ist<br />
der Fortbildungsbedarf ein anderer. Er wird wahrscheinlich an<br />
einer Grundschule woanders liegen, weil gerade die Grundschulen<br />
gezeigt haben, dass sie mit Methodenvielfalt bereits heute<br />
sehr vertraut sind.<br />
Es scheint uns folglich viel angemessener zu sein, dass jede<br />
Schule sich überlegt, wo ihr besonderer Bedarf liegt, und sich<br />
die dazu passenden Fortbildungsmöglichkeiten sucht. Das kann<br />
eine Stelle allein nicht anbieten. Dadurch, dass wir Soest aufgelöst<br />
haben, sparen wir zudem Geldmittel ein und bringen<br />
Lehrerinnen und Lehrer zurück ins System, wo sie unterrichten<br />
können. Gleichzeitig haben wir die Budgets für die Fortbildung<br />
an den einzelnen Schulen spürbar erhöht. Das ist noch nicht<br />
ausreichend, aber es kennzeichnet gerade den Weg, den wir<br />
gehen müssen. Jede einzelne Schule braucht ihr eigenes Fortbildungsbudget,<br />
um dem Bedarf, den sie hat, entsprechend<br />
nachkommen zu können. Das heißt, dass wir uns hin zu einer<br />
Angebotsstruktur entwickeln, und dies ist auch sinnvoll, wenn<br />
eine Schule beispielsweise eine ausgesprochen naturwissenschaftliche,<br />
technische Orientierung hat. Ich glaube einfach<br />
nicht, dass das Know-how für Fortbildungen einzig und allein<br />
im staatlichen Schulsystem zu finden ist. Es erscheint mir passender<br />
zu sein, dass man Fortbildner auch aus dem Bereich der<br />
freien Wirtschaft, aus den Bereichen Hightech oder IT engagieren<br />
kann. Ein solches System profilieren wir, und genau diesen<br />
Weg müssen wir gehen. Ich halte dies auf die Dauer für die richtige<br />
Linie. Wie alles, was man prozesshaft umorientiert, geht<br />
auch dies nicht von jetzt auf gleich, insbesondere weil uns die<br />
Vorgängerregierung 112 Milliarden Euro Schulden hinterlassen<br />
hat, sodass die Reformen in der <strong>Bild</strong>ungspolitik leider nicht so<br />
schnell durchgeführt werden können, wie man es gerne möchte.<br />
Wir geben mehr in die <strong>Bild</strong>ung als jede Vorgängerregierung,<br />
nur bleibt natürlich vieles Zusätzliche wünschenswert. Zwar<br />
können wir nur Step by Step umstrukturieren, aber den Weg<br />
gehen wir konsequent.<br />
101
Die Hauptschule in der Sackgasse – Brauchen<br />
wir ein Zwei-Wege-Modell im Schulsystem?<br />
Nicht erst seit Pisa wird über die Krise der Hauptschule offen gesprochen. Dass der mangelnde <strong>Bild</strong>ungserfolg<br />
von Schülern aus bildungsschwachen Familien eines der zentralen Defizite des deutschen Schulsystems<br />
ist, hat dazu beigetragen, dass über Veränderungen des gegliederten Schulwesens nicht mehr<br />
nur diskutiert, sondern auch entschieden wird, so in Schleswig-Holstein oder auch in Berlin. Der Frage,<br />
ob unser Schulsystem nach einem Zwei-Wege-Modell umzugestalten sei, stellten sich auf dem Podium<br />
Peter Silbernagel, Vorsitzender des Philologenverbands NRW, Dr. Wolfgang Meyer-Hesemann, Staatssekretär<br />
im <strong>Bild</strong>ungsministerium Schleswig-Holstein, Udo Beckmann, Vorsitzender des <strong>Verband</strong>es <strong>Bild</strong>ung<br />
und Erziehung in NRW, sowie Professor Dr. Jürgen Oelkers, Erziehungswissenschaftler an der Universität<br />
Zürich.<br />
Moderation: Helmut Frangenberg, Redakteur Kölner Stadt-Anzeiger<br />
Eine Veranstaltung des<br />
Peter Silbernagel<br />
Peter Silbernagel, geb. 1952, ist Oberstudienrat am Goethe-Gymnasium in Stolberg mit den Fächern Mathematik<br />
und Katholische Religionslehre. Seit 1981 Mitglied des Personalrats, seit 2002 stellvertretender Vorsitzender<br />
des Hauptpersonalrats für Lehrerinnen und Lehrer an Gymnasien. Seit 1992 Mitglied im Präsidium des<br />
Nordrhein-Westfälischen Lehrerverbandes; seit 2002 dessen Präsident. 1993-96 stellvertretender Vorsitzender<br />
der Bundesarbeitsgemeinschaft der Jungen Philologen im Deutschen Philologenverband; 1996-2002 stellvertretender<br />
Vorsitzender des Philologenverbandes NRW, seit 2002 dessen Vorsitzender. Seit 2005 Sprecher des<br />
„Aktionsbündnisses Schule“.<br />
Wolfgang Meyer-Hesemann<br />
Wolfgang Meyer-Hesemann, Dr., nach Tätigkeit als Richter seit 1984 in der Staatskanzlei NRW. Dort ab 1989<br />
Leiter des Büros des Chefs der Staatskanzlei, Minister Wolfgang Clement. 1993-95 persönlicher Beauftragter<br />
von Ministerpräsident Johannes Rau in der <strong>Bild</strong>ungskommission „Zukunft der <strong>Bild</strong>ung – Schule der Zukunft“.<br />
1995 Abteilungsleiter, seit 1998 Staatssekretär im Ministerium für Schule und Weiterbildung NRW, ab 2002<br />
im Ministerium für Schule, Jugend und Kinder. 2003 bis 2005 Staatssekretär für Schule und Kinder im Kultusministerium<br />
des Landes Schleswig-Holstein. Seit 2005 Staatssekretär im Ministerium für <strong>Bild</strong>ung und Frauen.<br />
STATEMENT<br />
Peter Silbernagel<br />
1. Die Schulstrukturdebatte in Deutschland befindet sich in<br />
einer Endlosschleife. Heftiger denn je wird in den Bundesländern<br />
darüber gestritten, ob vielgliedrige oder integrierte Schulsystemstrukturen<br />
die richtigen Antworten auf die zahlreich vorhandenen<br />
Fragen zu geben vermögen.<br />
Unbeschadet der frustrierenden Erfahrungen vergangener Jahrzehnte,<br />
der unproduktiven Ergebnisse ideologischer Auseinandersetzungen<br />
und der lähmenden Begleiterscheinungen, die<br />
größere Strukturveränderungen nach sich ziehen, wird die<br />
102
Hauptschule: Silbernagel/Meyer-Hesemann/Beckmann/Oelkers Blindtext<br />
Udo Beckmann<br />
Udo Beckmann, geb. 1952. Studium für das Lehramt an Grund- und Hauptschulen an der PH Dortmund bis<br />
1975. Seit 1977 im Schuldienst tätig. 1996-2005 Leiter einer Hauptschule in Dortmund. Seit 1979 Mitglied<br />
im <strong>Verband</strong> <strong>Bild</strong>ung und Erziehung. Seit 1987 Mitglied im Hauptpersonalrat für Lehrerinnen und Lehrer an<br />
Grund- und Hauptschulen beim Ministerium für Schule, Jugend und Kinder NRW, seit 2005 dessen Vorsitzender.<br />
Seit 1996 Landesvorsitzender des VBE NRW und seit 1998 stellvertretender Bundesvorsitzender.<br />
Jürgen Oelkers<br />
Jürgen Oelkers, Professor Dr., geb. 1947. Studium der Erziehungswissenschaft, Germanistik, Geschichte in<br />
Hamburg, 1973 Abschluss für das Lehramt an Haupt- und Realschulen. 1975 Promotion. 1976-79 wissenschaftlicher<br />
Assistent am Lehrstuhl für Allgemeine Pädagogik an der damaligen PH Rheinland/Köln. 1979-<br />
87 Professor für Allgemeine Pädagogik an der damaligen Hochschule Lüneburg. 1987-99 o. Professor für<br />
Allgemeine Pädagogik an der Universität Bern, seit 1999 an der Universität Zürich. Mitglied des <strong>Bild</strong>ungsrates<br />
des Kantons Zürich, Leiter des wissenschaftlichen Beirats der PH Zürich.<br />
Debatte immer wieder neu angeheizt. Dabei fällt die Unverfrorenheit<br />
besonders auf, mit der die Befunde internationaler wie<br />
nationaler Studien verzerrt und falsch dargestellt und für eigene<br />
Interessen instrumentalisiert werden. Auffallend ist zudem,<br />
dass die „Lagerbildung“ früherer Zeiten überholt ist. Pauschalurteile,<br />
Schlagwort-Pädagogik, Vorurteile und populistische<br />
Stimmungsmache zeigen Wirkung.<br />
Die Entwicklung der Schülerzahlen bringt ebenso wie die Akzeptanz<br />
bzw. Nichtakzeptanz verschiedener Schulformen vonseiten<br />
der Eltern und Schüler weitere Dynamik in die Strukturdiskussionen.<br />
2. Die Alternative lautet längst nicht mehr Dreigliedrigkeit<br />
oder Einheitsschule. Es gibt in den Bundesländern ein so unter-<br />
103
schiedliches Schulformangebot, dass nicht zwei Bundesländer<br />
eine identische Schulstruktur besitzen. So gibt es u. a. im Zeitraum<br />
der Sekundarstufe I neben Hauptschule, Realschule und<br />
Gymnasium ebenso integrierte und additive Gesamtschulen,<br />
Regionalschulen, Haupt-/Realschulen, erweitere Realschulen,<br />
Verbundschulen, organisatorische Schulverbünde, Regelschulen,<br />
differenzierte Mittelschulen und Sekundarschulen, künftig<br />
vielleicht auch noch Stadtteilschulen und Gemeinschaftsschulen.<br />
Diese Vielfalt trägt einerseits den unterschiedlichen Begabungen,<br />
Fähigkeiten und Neigungen der Schülerinnen und<br />
Schüler Rechnung, andererseits den ökonomischen Möglichkeiten<br />
und schülerzahlbedingten Erfordernissen.<br />
Zielsetzung muss u. a. sein, der individuellen Förderung gerecht<br />
zu werden, <strong>Bild</strong>ungschancen optimal zu nutzen, Durchlässigkeit<br />
horizontal wie vertikal zu garantieren, Schulformprofile<br />
auszuschärfen und die Schulqualität zu steigern.<br />
3. Entscheidend ist die Leistungsfähigkeit eines Schulsystems.<br />
Dabei stellen Strukturen entscheidende Rahmenbedingungen<br />
dar. Doch schaffen – so die Lehre aus sämtlichen Studien –<br />
nicht bereits Strukturveränderungen per se die besseren Ergebnisse.<br />
Veränderung an sich ist kein Wert. Es muss um eine Optimierung<br />
in den Strukturen gehen. Zu den wesentlichen Voraussetzungen<br />
für eine gelingende <strong>Bild</strong>ungspolitik gehören u. a. ein<br />
umfassendes gesellschaftspolitisches Verständnis für den Wert<br />
von <strong>Bild</strong>ung, besserer, das heißt effizienterer Unterricht, größere<br />
Anstrengungskultur und mehr Leistungsbereitschaft, eine<br />
sachangemessene Erwartungshaltung gegenüber der Schule,<br />
eine funktionierende <strong>Bild</strong>ungspartnerschaft zwischen Eltern,<br />
Schülern und Lehrkräften, akzeptierte pädagogische Schwerpunktsetzungen<br />
und nicht zuletzt eine gerechte und dadurch<br />
motivierende Behandlung der Lehrerinnen und Lehrer. Strukturdebatten<br />
hingegen verselbstständigen sich, lenken ab, etikettieren<br />
nicht selten Schulformbezeichnungen um, binden<br />
Kräfte, blenden oftmals erforderliche Qualitätsdiskussionen aus<br />
und lösen nicht die entscheidenden Probleme.<br />
4. Der Rückgang der Hauptschul-Akzeptanz in Nordrhein-Westfalen<br />
hat unterschiedliche Motive. Die Situation stellt sich in<br />
anderen Bundesländern durchaus anders dar (in Bayern ca.<br />
1600 Hauptschulen, in Baden-Württemberg ca. 1200, in Nordrhein-Westfalen<br />
ca. 700; bundesweit ca. 5000). Die Hauptschule<br />
leidet nicht zuletzt an ihrem Image, an jahrzehntelanger<br />
schulpolitischer Vernachlässigung und am Schlechtgeredet-Werden,<br />
an inakzeptablen Rahmenbedingungen und an fehlender<br />
Profilierung gegenüber anderen Schulformen. In NRW setzt die<br />
Landesregierung mit zusätzlichen Lehrereinstellungen, mit der<br />
Aufwertung der inhaltlichen Arbeit, mit Ganztagsschulangeboten<br />
und dem klaren Bekenntnis zur Schulvielfalt einen notwendigen<br />
Schwerpunkt pro Hauptschule.<br />
Das alles schließt nicht aus, dass in bestimmten Regionen infolge<br />
eines extremen Schülerrückgangs einzelne Schulstandorte<br />
nicht gesichert sind. Intelligenten Lösungen werden sich alle<br />
Betroffenen kaum entziehen können. Allerdings muss der Schülerrückgang<br />
in NRW vorrangig dazu genutzt werden, um vernünftige<br />
Rahmenbedingungen zu erreichen (keine übergroßen Klassen,<br />
unzumutbaren Betreuungsrelationen, überzogenen Anforderungen<br />
an Lehrkräfte, übergroßen Systeme etc.).<br />
5. Ein generelles Zwei-Wege-Modell löst nicht die Probleme.<br />
Abgesehen davon, dass die Kräfte, die für integrierte Systeme<br />
streiten, dieses Modell als inkonsequent ablehnen (vgl. Hamburg,<br />
NRW), sind die Qualitätsfragen damit nicht automatisch beantwortet<br />
und die Förderkonzepte in kleineren, überschaubaren<br />
Einheiten nicht unmittelbar gegeben. Kernprobleme beispielsweise<br />
von Hauptschulen verschwinden damit nicht, wenn sie<br />
mit weiteren Problemkomplexen anderer <strong>Bild</strong>ungsgänge verknüpft<br />
und vermengt werden. Daher empfehle ich flexible Lösungen<br />
dort, wo andere Optionen ausgeschöpft sind. Entscheidend<br />
sind Förderung und Forderung jeder einzelnen Schülerin<br />
und jedes einzelnen Schülers. Qualitätsfragen vor Strukturfragen!<br />
Schulvielfalt vor Schuleinfalt!<br />
STATEMENT<br />
Wolfgang Meyer-Hesemann<br />
Ich bin gerade gefragt worden, ob die Hauptschule in Schleswig-Holstein<br />
tot ist, und ich würde sagen: Tot ist sie nicht,<br />
denn wir haben noch ganz viele Hauptschulen, ja wir sind vielleicht<br />
eines der Länder mit den meisten Hauptschulen und mit<br />
dem höchsten Prozentsatz von Schülern, die diese besuchen.<br />
Wir haben seit Anfang des Jahres ein neues Schulgesetz, und<br />
das besagt ganz klar, dass die Hauptschule eine auslaufende<br />
Schulart ist, die es ab 2010 nicht mehr geben wird. Wenn ich<br />
ein bisschen erzähle über den Prozess, der dazu geführt hat,<br />
finde ich es ganz wichtig, immer im Hinterkopf zu behalten,<br />
dass Schularten nur einen institutionellen Rahmen darstellen.<br />
Der Kern, um den es eigentlich geht, ist aber, dass wir Unterricht<br />
verändern, dass wir Schule insgesamt verändern, also<br />
Unterrichtsentwicklung, Schulentwicklung, all das, was wir im<br />
Vorhinein mit Herrn Klippert und anderen diskutiert haben.<br />
Nur mit Schulform-Änderungen bewirken wir gar nichts. Hier<br />
ein neues Schild davorzuhängen verändert nicht das Geringste.<br />
Ich glaube, dass der Handlungsdruck in ganz Deutschland<br />
inzwischen so groß ist, dass wir überall massive Veränderungen<br />
in der Schulstruktur bekommen werden. In vielen Ländern ist<br />
das bereits im Gange. Sie lesen, was in Schleswig-Holstein passiert<br />
ist, Sie lesen, was in Hamburg diskutiert wird usw., es gibt<br />
eigentlich überall Veränderungen. Und die Auslöser sind überall<br />
die gleichen. Das ist zum einen die demografische Entwicklung.<br />
Bei uns im Land müssen wir bei den Schülerzahlen mit einem<br />
Rückgang von 25 bis 30 Prozent bis 2015 rechnen. Wie will man<br />
unter solchen Bedingungen dann noch ein möglichst wohnortnahes<br />
flächendeckendes <strong>Bild</strong>ungsangebot für alle Kinder, das<br />
auch qualitativ hochwertig ist, bereitstellen? Das bedeutet,<br />
dass man auch die institutionelle Struktur infrage stellen muss.<br />
Das zweite Phänomen besteht darin, dass wir die <strong>Bild</strong>ungs-<br />
104
Hauptschule: Silbernagel/Meyer-Hesemann/Beckmann/Oelkers<br />
potenziale der Kinder in keiner Weise ausreichend ausschöpfen<br />
und auch unsere Ergebnisse im Leistungsvergleich nicht gut<br />
genug sind: Stichwort Pisa. Der dritte Punkt ist die Abhängigkeit<br />
des Schulerfolgs, der <strong>Bild</strong>ungschancen von der sozialen<br />
Herkunft. Diese drei Aspekte umreißen die große Herausforderung,<br />
vor der bei uns alle Länder stehen und mit der wir umgehen<br />
müssen. Wir haben versucht, auf diese Herausforderungen<br />
für die ganz spezifische Situation in Schleswig-Holstein eine<br />
Antwort zu finden.<br />
Das muss man sicherlich von Land zu Land<br />
jeweils verschieden diskutieren. In der Großstadt<br />
Hamburg ist das anders zu lösen als in dem<br />
Flächenland, wo Sie beispielsweise die Inseln<br />
oder Halligen haben sowie ganz dünn besiedelte<br />
Gegenden an der Nordwestküste. Die Problemlage<br />
sieht bei uns so aus: 50 Prozent unserer<br />
Hauptschulen sind heute schon nicht mehr<br />
lebensfähig; sie liegen bereits jetzt unter der<br />
Mindestgröße. Wir haben eine Übergangsquote,<br />
die inzwischen von über 30 auf ungefähr 15 Prozent<br />
gesackt ist. Fast die Hälfte der Schulen<br />
bekommen keine Eingangsklasse mehr zusammen,<br />
und das in einem Flächenland wie Schleswig-Holstein.<br />
Bei den Realschulen steht ein Drittel<br />
der Schulen allein durch die demografische<br />
Veränderung vor ähnlichen Problemen.<br />
In Schleswig-Holstein gibt es ganz gravierende<br />
Probleme durch das Sitzenbleiben, durch Schulabgänger<br />
ohne Abschluss, durch das „Herabschulen“<br />
von Schülern aus den Gymnasien und Realschulen<br />
auf die Hauptschulen. Wir haben außerdem eine viel zu<br />
geringe Abiturquote. Das sind die Problemlagen, auf die wir zu<br />
antworten versucht haben. Wir haben also ein ungeheures<br />
Potenzial, das man ausschöpfen kann. Aber das erfordert mutige<br />
Entscheidungen und eine große Anstrengung. Unsere Antwort<br />
in einer Großen Koalition besteht in der Entscheidung, ein<br />
möglichst flexibles System zu etablieren, das für die verschiedenen<br />
Problemlagen in den Regionen die richtigen Antworten<br />
ermöglicht. Das umfasst ein Abrücken von der frühen Trennung<br />
der Schülerinnen und Schüler nach der Grundschule, von der<br />
Aufteilung auf zu viele Schularten, die zu dem führt, was Baumert<br />
in seiner Analyse mal differenzielle Entwicklungsmilieus<br />
oder Lernumgebungen genannt hat. In manchen Schularten<br />
hatten sich die durch die soziale Herkunft bedingten Probleme<br />
derart gehäuft, dass man in diesen Schulen wirklich nicht mehr<br />
effektiv arbeiten und erfolgreich sein konnte.<br />
Cartoon: Mester<br />
Unser Modell ist eigentlich kein Zwei-Säulen-Modell, wie es in<br />
Hamburg diskutiert wird, sondern ist ein Modell, das wir „Zwei<br />
plus“ nennen. Zum einen werden die Haupt- und die Realschulen<br />
spätestens im Jahre 2010 in die sogenannte Regionalschule<br />
zusammengeführt. Dort gibt es eine gemeinsame Orientierungsstufe<br />
und danach weitere zwei <strong>Bild</strong>ungsgänge, die zum<br />
Hauptschul- und zum Realschulabschluss führen. Das war sozusagen<br />
der politische Preis, den wir von SPD-Seite gegenüber der<br />
CDU bezahlen mussten, die noch sehr stark am gegliederten<br />
System hängt. Daneben gibt es dann die Gemeinschaftsschule,<br />
und das ist eigentlich das Modell, das wir favorisieren. Die<br />
Gemeinschaftsschule ist eine Schule für alle Schülerinnen und<br />
Schüler nach der Grundschule, die sämtliche Schulabschlüsse<br />
anbietet, eine Schule, in der die Schülerinnen und Schüler bis<br />
zum Ende der Sekundarstufe I im Klassenverband bleiben können,<br />
die im Prinzip keine Klassenwiederholung mehr kennt und<br />
die dort, wo die Schule groß genug ist, auch eine eigene gymnasiale<br />
Oberstufe haben kann. Andernfalls vermittelt sie den<br />
Übergang in ein Gymnasium oder in ein berufliches Gymnasium.<br />
Die bestehenden Gesamtschulen werden auch zu Gemeinschaftsschulen<br />
umgewandelt, sodass wir im Grunde ein System<br />
von Regionalschulen und Gemeinschaftsschulen haben und<br />
daneben das Gymnasium, das das Abitur mit einer Profiloberstufe<br />
in zwölf Jahren anbietet. An der Gemeinschaftsschule<br />
dauert der Weg zum Abitur 13 Jahre.<br />
Das ist unser Modell, das ist jetzt Gesetz. Wir haben im Moment<br />
eine unglaubliche Debatte im Land, weil alle Welt natürlich<br />
überlegt, welchen Weg man vor Ort gehen will, ob in Richtung<br />
Regionalschule oder in Richtung Gemeinschaftsschule. Die<br />
Gymnasien bleiben an den meisten Stellen von dieser Debatte<br />
unberührt. Wir erleben einen regelrechten Run auf das Modell<br />
Gemeinschaftsschule, weil sehr viele Eltern es leid sind, ihre<br />
Kinder in eine Schule zu schicken, in der sie ständig mit der<br />
Angst davor leben müssen, dass die Kinder scheitern, dass sie<br />
weggeschoben und demotiviert werden. Sie wollen eine Schule,<br />
in der länger gemeinsam gelernt wird, in der man mehr individuell<br />
fördert, und das erzeugt einen unheimlichen Druck. In<br />
den Kollegien wächst die Zahl der Lehrerinnen und Lehrer, die<br />
die Einführung einer anderen Lern- und Unterrichtskultur ver-<br />
105
langen oder eine andere Schulkultur etablieren wollen. Wir wollen<br />
diesen Weg gehen, wenngleich er sehr anspruchsvoll ist,<br />
aber wir wollen ihn gehen. Und die Schulträger wollen vielfach<br />
auch in diese Richtung, weil sie ganz deutlich sehen, dass auf<br />
diese Art und Weise ein vielfältiges <strong>Bild</strong>ungsangebot in der<br />
Region abgesichert werden kann.<br />
Gegner. Wenn es sich nämlich nicht verändert, wird es irgendwann<br />
von den Schularten, die andere Formen von Lernen etabliert<br />
haben, abgehängt werden.<br />
Für die Unterrichtsentwicklung brauchen wir unterstützend<br />
auch diese Strukturveränderung, weil die bisherigen Strukturen<br />
„Ich finde es ganz wichtig, immer im Hinterkopf zu behalten, dass Schularten nur einen institutionellen<br />
Rahmen darstellen. Der Kern, um den es eigentlich geht, ist aber, dass wir Unterricht<br />
verändern, dass wir Schule insgesamt verändern, also Unterrichtsentwicklung, Schulentwicklung,<br />
all das, was wir im Vorhinein mit Herrn Klippert und anderen diskutiert haben. Nur<br />
mit Schulform-Änderungen bewirken wir gar nichts.“<br />
Das große Problem, vor dem wir in den nächsten Jahren stehen<br />
werden, ist, dass es, wie bereits eingangs gesagt, nicht hilft,<br />
ein neues Etikett vor die Schule zu hängen. Man muss die Schulen<br />
bei der Entwicklung des Unterrichts, des Kollegiums und bei<br />
der Zusammenarbeit unterstützen, und deshalb werden wir<br />
eine große Fortbildungsinitiative starten. Wir werden erhebliche<br />
Mittel aufbringen, um Fortbildungsangebote zu machen,<br />
um den Schulen Budgets zu geben, damit sie die Schulentwicklung<br />
vorantreiben können, um ihnen Zeitbudgets zu geben,<br />
damit sie in die Prozesse einsteigen können. Die Schulen erhalten<br />
externe Berater, die sie professionell unterstützen. Das kostet<br />
Geld, aber ein solcher Strukturwandel, der in drei, vier Jahren<br />
vollzogen werden soll, den bekommt man nicht umsonst.<br />
Das hierfür aufgewendete Geld ist gut investiert, und wir<br />
gewinnen hinterher eine ganze Menge Kapital zurück.<br />
Der Schulträger entscheidet, welche Schulart er wählt. Allerdings<br />
kann man so etwas nicht ohne die Schulen machen. Wenn<br />
ein Schulträger eine Gemeinschaftsschule einrichten will, die<br />
Schulen und die Kollegien das aber nicht wollen, dann ist das<br />
außerordentlich schwierig. Es sollte deshalb immer eine<br />
gemeinsame Initiative sein. In dieser Richtung bewegt sich sehr<br />
viel. Natürlich gibt es auch Widerstand. Und es gibt natürlich<br />
auch Schulen, die sich sträuben. Ich merke aber doch zunehmend,<br />
dass man sich allmählich besinnt und sieht, dass in den<br />
Reformen auch Chancen liegen. Unsere Realschulen sind ja<br />
nicht alle verstaubt, wir haben sehr gute Realschulen, und die<br />
sehen auch eine Chance, sich weiterzuentwickeln entweder zu<br />
einer Regionalschule oder eben zu einer Gemeinschaftsschule.<br />
Die Kampfbegriffe, in die Herr Silbernagel hier verfällt, sind für<br />
mich nur ein Zeichen von absoluter Defensive, statt die<br />
Zukunft offensiv anzugehen und zu sagen, dass auch das Gymnasium<br />
sich verändern muss. Viele Gymnasien gehen bereits<br />
anders mit Schülerinnen und Schülern um und haben inzwischen<br />
eine andere Lernkultur etabliert. Und das ist auch notwendig,<br />
sonst wird das Gymnasium selbst zu seinem größten<br />
im Alltag immer wieder dazu verleiten, in die alten Routinen<br />
und Mechanismen zurückzufallen. Sie behindern wirkliche<br />
Unterrichtsentwicklung, wie wir sie brauchen. Spätestens seit<br />
Timss diskutieren wir über die Notwendigkeit von Unterrichtsentwicklung.<br />
Sehr weit sind wir in diesen zehn Jahren nicht<br />
gekommen. Ich glaube, die Strukturen hindern uns daran. Ich<br />
möchte noch einmal unterstreichen, dass Qualität die oberste<br />
Forderung auch für die Gemeinschaftsschule bleibt. Die billige<br />
Diskreditierung von Gesamtschulen, die von der Breite der<br />
Schülerschaft sich ganz anderen Anforderungen zu stellen<br />
haben als ein Gymnasium, sollten wir uns heute sparen. Dort,<br />
wo es Defizite gab, haben sie sich inzwischen erheblich<br />
umorientiert. Und genau wie in der Schweiz praktizieren wir<br />
inzwischen nationale <strong>Bild</strong>ungsstandards, die für alle Abschlüsse<br />
relevant sind. Alle Länder haben im dritten Jahrgang Vergleichsarbeiten<br />
etabliert. Das Gleiche werden wir im nächsten Schritt<br />
im 6. bzw. 8. Jahrgang einführen. Dazu gehört eine direkte<br />
Rückmeldung in die Kollegien, in die Lerngruppen hinein, mit<br />
der Information darüber, wo sie jeweils stehen, gemessen an<br />
den Erwartungen, die am Ende des <strong>Bild</strong>ungsgangs eingelöst<br />
werden sollen. Darüber hinaus gibt es in fast allen Ländern zentrale<br />
Prüfungen, die für alle Schularten relevant sind; ein Qualitätsdumping<br />
wird es also auf keiner Ebene geben, weder für<br />
den Hauptschulabschluss noch für den mittleren Abschluss,<br />
noch für das Abitur. Mit einer solchen platten Kritik kann man<br />
sich als Gymnasium oder Philologenverband aus der Debatte<br />
nicht mehr herausstehlen.<br />
STATEMENT<br />
Udo Beckmann<br />
Das Thema in der heutigen Veranstaltung heißt ja „Hauptschule<br />
in der Sackgasse. Brauchen wir ein Zwei-Wege-Modell?“ Ich<br />
würde gerne das Thema etwas umformulieren. Es müsste<br />
eigentlich heißen „Deutsches Schulsystem in der Sackgasse.<br />
106
Hauptschule: Silbernagel/Meyer-Hesemann/Beckmann/Oelkers<br />
Brauchen wir ein neues Schulsystem?“, denn wenn wir über die<br />
zweifellos vorhandenen Probleme der Hauptschule reden, dann<br />
können wir nicht so tun, als beträfen diese nur die Hauptschule<br />
allein. Die Hauptschule ist Teil unseres gegliederten Schulsystems.<br />
Und wenn eines dieser Teile krank ist, dann stimmt das<br />
Gesamtsystem nicht mehr. Daher müssen wir unser Augenmerk<br />
auf das Gesamtsystem richten. Vor einigen Tagen hat der UN-<br />
Menschenrechtsexperte Muñoz das deutsche Schulsystem ins<br />
Visier genommen und noch einmal klar gemacht, dass wir viel<br />
zu früh aufteilen und dass unser System viel zu selektiv angelegt<br />
ist. Wir aber lehnen uns nach wie vor zurück und tun so,<br />
als könnte alles so weiterlaufen wie bisher.<br />
Es sind ja nicht nur die Pisa-Ergebnisse, die uns zwingen, nachzudenken,<br />
sondern wir haben darüber hinaus die sich abzeichnende<br />
demografische Entwicklung ernst zu nehmen. Wenn wir<br />
einmal Nordrhein-Westfalen in den Blick nehmen, können wir<br />
feststellen, dass inzwischen von den 700 Hauptschulen in der<br />
Eingangsklasse 500 nur noch einzügig sind. Das heißt, wir müssen<br />
uns darüber Gedanken machen, welche Kinder sich denn<br />
hier noch treffen und ob man diesen Kindern nicht auch noch<br />
andere Angebote machen müsste. Das Problem, das sich uns<br />
hier stellt, ist sehr vielschichtig, und der Druck, den man zurzeit<br />
in Nordrhein-Westfalen verspürt, ist ja auch riesengroß.<br />
Wir können natürlich warten, bis sich das Thema Hauptschule<br />
irgendwie erledigt hat, aber die Schüler sind auch weiterhin da.<br />
Sie landen in der Zwischenzeit vielleicht an einer Realschule,<br />
wie bisher auch schon 70 Prozent der ursprünglichen Schülerschaft<br />
der Hauptschule.Aber wir müssen sie beschulen, und wir<br />
brauchen für diese Kinder eine Hilfestellung und Konzepte. Ich<br />
finde es fatal, dass wir in Nordrhein-Westfalen das Problem<br />
ignorieren und das gegliederte Schulsystem so, wie es zurzeit<br />
vorliegt, weiter zementieren.<br />
Verteilung der Schülerschaft wird dann nämlich stattfinden<br />
zwischen Halbtagshauptschulen und Ganztagshauptschulen.<br />
Aber wir werden nicht mehr Eltern dazu bringen, ihr Kind<br />
demnächst eher an der Hauptschule als an der Realschule anzumelden.<br />
Die ersten Zahlen, die wir in Nordrhein-Westfalen<br />
haben, belegen dies auch. Die Schülerzahlen an den Hauptschulen<br />
gehen nicht nach oben, sondern sind auch weiterhin<br />
rückläufig.<br />
Wir hatten im letzten Jahr einen historischen Tiefstand des<br />
Übergangs auf die Hauptschule von 15,1 Prozent. Ich wette,<br />
dass in diesem Jahr in Ballungszentren wie Dortmund, Bochum<br />
oder Duisburg höchstens noch sechs, sieben Prozent eines Jahrgangs<br />
in die Hauptschule wechseln werden, und das ist nicht<br />
verantwortbar.<br />
Ich halte es für nicht gut, wenn alle neuen Ansätze, die sich<br />
weg vom gegliederten Schulsystem bewegen, gleich mit dem<br />
Etikett „Einheitsschule“ abgebügelt werden. Da müsste man<br />
einmal genauer diskutieren, was eine Einheitsschule ist, denn<br />
diese Begrifflichkeit ist sehr genau belegt aus Zeiten der DDR,<br />
und wir, die wir hier oben sitzen, sollten meiner Ansicht nach<br />
diesen Begriff nicht benutzen. Ein zweiter Aspekt ist, dass die<br />
Situation in anderen Bundesländern sicherlich zum Teil von derjenigen<br />
in Nordrhein-Westfalen abweicht. Doch auch innerhalb<br />
unseres Landes haben wir unterschiedliche Entwicklungen zwischen<br />
Ballungsräumen und ländlichen Räumen. Im ländlichen<br />
Raum stehen wir vor der gleichen Frage wie etwa Schleswig-<br />
Holstein, nämlich wie wir gewährleisten können, dass wir auf<br />
Dauer ein vollständiges wohnortnahes <strong>Bild</strong>ungsangebot erhalten<br />
und im Angebot belassen können. In vielen CDU-Kommunen<br />
hier in Nordrhein-Westfalen ist der Druck dahingehend groß,<br />
auf solche Modelle wie die Gemeinschaftsschule zuzugehen.<br />
„Die Pisa-Ergebnisse stellen uns zusammen mit der sich abzeichnenden demografischen Entwicklung<br />
vor neue Herausforderungen, und deswegen habe ich eingangs ja auch gesagt, dass<br />
mir die Behauptung, die Hauptschule sei in der Sackgasse, schlicht zu kurz greift. Wenn wir<br />
uns in einem gegliederten System befinden, dann ist nicht nur eine Schulform, sondern das<br />
gesamte System in der Krise. Wenn ich irgendwo an einer Stellschraube drehe, dann wird sich<br />
dadurch nichts verändern.“<br />
Unsere nordrhein-westfälische <strong>Bild</strong>ungsministerin ist der<br />
Ansicht, man könne dieses Problem dadurch lösen, dass man<br />
die Hauptschulen attraktiver gestaltet, etwa indem man Ganztagsschulen<br />
daraus macht oder die Reformpädagogik stärkt, die<br />
ja in den Hauptschulen auch vorzufinden ist. Wenn die Landesregierung<br />
zusätzliche Stellen in die Hauptschulen gibt, weil sie<br />
an dieser Schulform festhält, kann man nichts dagegen sagen,<br />
weil das den Kindern, die dort sind, natürlich ein Stück weit<br />
hilft. Aber es wird das Problem der Hauptschule nicht lösen. Die<br />
Der VBE hat ja das Modell von Dr. Rösner, das unter dem Etikett<br />
„Allgemeine Sekundarschule“ fungiert, auf NRW übertragen,<br />
wobei wir uns natürlich darüber einig sind, dass nicht das bloße<br />
Austauschen des Schildes etwas verändert, aber wir brauchen<br />
beides: eine innere und eine äußere Schulreform. Und uns<br />
wird die innere Schulreform nicht gelingen, wenn wir nicht<br />
auch äußere Gegebenheiten der Institution verändern. Das<br />
müssen wir unseren Lehrerinnen und Lehrern auch einmal ganz<br />
klar sagen. Solange wir Lehrenden in Schubladen denken und<br />
107
Kinder danach sortieren, ob sie an unsere Schule passen oder<br />
nicht, so lange wird sich auch nichts verändern. Dies bedeutet<br />
eine ganz strikte Herausforderung an uns, dieses Schubladendenken<br />
aufzugeben und in der Lehreraus-, -fort- und -weiterbildung<br />
die entsprechenden Grundlagen zu legen, die uns befähigen,<br />
mit diesen Kindern so umzugehen, wie wir es in der einzelnen<br />
Schule vorfinden. Das ist der entscheidende Punkt.<br />
Bei all den Diskussionen über die Hauptschule sind die Realschulen<br />
ganz in den Hintergrund geraten, über sie wurde in den<br />
letzten Jahren nur sehr selten gesprochen. Ich denke, man muss<br />
schon ganz klar sagen, dass aus der Hauptschule in den letzten<br />
Jahren viel Innovatives gekommen ist, was die anderen Schulformen<br />
dann aufgegriffen haben. Doch wie man sieht, hat auch<br />
das ihr nichts genützt. Die Pisa-Ergebnisse stellen uns zusammen<br />
mit der sich abzeichnenden demografischen Entwicklung<br />
vor neue Herausforderungen, und deswegen habe ich eingangs<br />
ja auch gesagt, dass mir die Behauptung, die Hauptschule sei in<br />
der Sackgasse, schlicht zu kurz greift. Wenn wir uns in einem<br />
gegliederten System befinden, dann ist nicht nur eine Schulform,<br />
sondern das gesamte System in der Krise. Wenn ich<br />
irgendwo an einer Stellschraube drehe, dann wird sich dadurch<br />
nichts verändern.<br />
Ich glaube, dass Eltern eine neue Schulform wie die als Alternative<br />
diskutierte Gemeinschaftsschule oder allgemeine Sekundarschule<br />
anwählen würden, weil sie darin die Chance sehen,<br />
dass ihr Kind in dieser Schulform alle Abschlüsse erreichen<br />
kann, und weil es dort das Abschulen und die damit verbundene<br />
Demotivierung der Kinder nicht mehr gibt. Das ist ein ganz<br />
entscheidender Punkt, den man nicht außer Acht lassen kann.<br />
Herr Silbernagel diskutiert aus der Sicht des Gymnasiums und<br />
aus der Sicht desjenigen, der Schüler an andere Schulformen<br />
abgibt, wenn sie in seiner Schulform nicht klarkommen. Bei<br />
diesem Abgeben von Schülern steht natürlich die Hauptschule<br />
an der letzten Stelle, und das ist etwas, was die Hauptschule<br />
über Jahre hinweg immer belastet hat. Sie war das Sammelbecken<br />
aller Problemfälle, die die anderen Schulen nicht haben<br />
wollten. Von dieser Rollenzuweisung muss man sie ein Stück<br />
weit befreien, und man muss das Stigma von den Schülerinnen<br />
und Schülern wegnehmen, die an dieser Schulform sind.<br />
STATEMENT<br />
Jürgen Oelkers<br />
Wenn man wie ich 20 Jahre in der Schweiz gelebt hat, gewinnt<br />
man schon den Eindruck, dass man sich dort in einem sehr<br />
anderen System befindet. Generell ist es so, dass gegliederte<br />
Systeme in Europa auslaufende Modelle sind. Es existiert einfach<br />
ganz unabhängig von der demografischen Entwicklung ein<br />
Schub in Richtung gestuftes Schulsystem, wobei man auf den<br />
Stufen bestimmte Zweige unterscheidet. Dass nach vier Jahren<br />
Grundschule selektioniert wird, ist ein Sonderfall, den man nur<br />
in Deutschland und Österreich findet. Die Einschulung mit<br />
sechs Jahren ist auch ein Sonderfall. In den meisten europäischen<br />
Ländern gibt es ausgebaute Vorschulsysteme, die teilweise<br />
obligatorisch, teilweise privat zu nutzen sind. Doch die<br />
Idee, mit sechs einzuschulen und vier Jahre später zu selektionieren,<br />
ist einzigartig mit allen Konsequenzen, die das hat.<br />
Beim Thema Gesamtschule würde ich sagen, dass das Etikett<br />
für sich genommen wenig wert ist. Es gibt sehr schlechte<br />
Gesamtschulsysteme in der Welt. Es gibt Selektion im System<br />
wie in Italien, es gibt Selektion neben dem System wie in<br />
Japan, und es gibt Selektion nach dem System wie in Finnland.<br />
Wenn über Finnland diskutiert wird, erwähnt man nur selten,<br />
dass die Jugendarbeitslosigkeit dort konstant bei 20 Prozent<br />
liegt. Es gibt sozusagen nicht einfach vom System her die eine<br />
beste aller Wahlmöglichkeiten, sondern man muss anschauen,<br />
wie das eigene System entwickelt wird. Das verfolge ich mit<br />
Interesse.<br />
Schon nach der ersten <strong>Bild</strong>ungskatastrophe der Jahre 1964/65<br />
wurde über Systemwechsel diskutiert, doch im Unterschied zu<br />
damals ist man heute sehr viel pragmatischer und sehr viel realitätsgerechter.<br />
Das sehe ich schon als Fortschritt. Die Schweiz<br />
reformiert, wie sie das immer macht, gründlich nach langen<br />
Debatten. Wir werden das System komplett umbauen, dafür<br />
gibt es inzwischen eine klare Entwicklungsstrategie, über die<br />
bereits abgestimmt wurde. Wir werden früher einschulen, und<br />
zwar nach dem Ende des 4. Lebensjahres. Die Gesamtdauer der<br />
Schulpflicht verlängert sich um zwei Jahre. Es wird ein gestuftes<br />
Primarschulsystem geben, in dem die 1. bis 8. Klasse von<br />
allen gemeinsam durchlaufen wird. Eine Gesamtschule für alle,<br />
kantonal unterschiedlich organisiert. Dann folgen die Sekundarstufen<br />
I und II. Nach der 6. Klasse werden die Schüler in eine<br />
bestimmte Strömung gesetzt; es wird in aller Regel vier Jahre<br />
Gymnasium geben, wie auch heute schon in den meisten Kantonen<br />
üblich (eine Ausnahme bildet der Kanton Zürich mit<br />
einer sechsjährigen Gymnasialzeit).<br />
Beim Thema Chancengleichheit wird es um gezielte frühe Förderung<br />
gehen. Wer früher anfängt, hat auch mehr Chancen,<br />
gezielt und individueller zu fördern, ohne Selektionsdruck zu<br />
haben. Weiterhin werden wir Daten erheben, das heißt, wir<br />
werden an drei Zeitpunkten nationale Tests machen, in der 2.,<br />
6. und 9. Klasse. Anders als bei Pisa, wo man im Grunde keine<br />
Rückmeldesysteme hat, sind die Tests so gebaut, dass sie auf<br />
der Unterrichtsstufe ein Feedback vorsehen. Die Lehrkräfte<br />
erhalten die Daten ihrer jeweiligen Tests und müssen sich darauf<br />
einstellen, dass eine Reaktion auf das Ergebnis erfolgen<br />
wird. Wenn man schaut, wie Lehrkräfte auf so etwas reagieren,<br />
dann registriert man in Deutschland eine ablehnende Haltung.<br />
Man hält ein solches Vorgehen für technokratisch und für nicht<br />
statthaft, während wir gute Erfahrungen damit machen, sofern<br />
die Tests nicht selektiv sind. Sie sind so konzipiert, dass die<br />
Lehrkräfte mit den Ergebnissen unmittelbar etwas anfangen<br />
können. Also das Ganze ist sehr viel pragmatischer und mehr<br />
darauf bezogen, wie sich Schulen tatsächlich entwickeln können.<br />
Der Neubau des Systems hat den einzig wirklich wichtigen<br />
Zweck, die Unterrichtsqualität besser zu machen.<br />
108
Hauptschule: Silbernagel/Meyer-Hesemann/Beckmann/Oelkers<br />
Diejenigen, die nicht aufs Gymnasium gehen, kommen auf eine<br />
Sekundarschule und gehen in Richtung Beruf. Wir haben ja eine<br />
noch niedrigere Maturitätsquote als in Deutschland. Vorhin<br />
wurde gesagt, die Quote hierzulande sei zu gering. Bei uns liegt<br />
die Quote der gymnasialen Matura landesweit um 20 Prozent,<br />
dann haben wir etwa 12 Prozent Berufsmatur, aber nur 4 Prozent<br />
Jugendarbeitslosigkeit. Das ist die niedrigste Quote im<br />
ganzen europäischen Vergleich, was damit zusammenhängt,<br />
dass wir viel tun für differenzierte berufliche Ausbildungsmöglichkeiten.<br />
Bis der Erfolg von Maßnahmen zur Schulentwicklung wahrnehmbar<br />
wird, müssen Sie 10, 20 Jahre rechnen. Die dafür notwendige<br />
kohärente Politikstrategie ist mühsam durchzusetzen.<br />
Aber dass das in einer Großen Koalition möglich ist, zeigt, dass<br />
die Fronten von vor 30 Jahren verschwunden sind. Jetzt geht es<br />
darum, den richtigen Weg einzuschlagen, und ich denke, das<br />
wissen wir auch aus Vergleichsstudien. Die Politikstrategie ist<br />
eines solchen Befundes verbietet, Systemdebatten zu führen.<br />
Vielmehr sollten, wenn man so etwas weiß, gerade deswegen<br />
Systemdebatten geführt werden.<br />
Zu den Standards: Wir haben unsere Standards formuliert als<br />
Mindeststandards. Jetzt können Sie sich fragen, warum die<br />
Schweizer sich dafür entschieden haben. Das Ganze ist ein Problem<br />
der Demokratie. Wir wollen, dass alle Schüler einen<br />
bestimmten Mindeststandard erreichen, und das wollen wir<br />
kontrollieren. Alle sollen eine Chance haben, dorthin zu kommen.<br />
Es ist keine Frage des Abschlusses. Wir wollen die Möglichkeit<br />
etablieren, in der Schule einen Mindeststandard zu<br />
erreichen. Wenn bestimmte Kompetenzen nicht erreicht werden,<br />
sind die Schulen, die Kantone aufgerufen, zu investieren,<br />
damit die Schüler gezielt gefördert werden können, um einen<br />
bestimmten Standard zu erreichen. Die Begründung für dieses<br />
Vorgehen ist eine demokratietheoretische und keine schulformtheoretische.<br />
„Bis der Erfolg von Maßnahmen zur Schulentwicklung wahrnehmbar wird, müssen Sie 10, 20<br />
Jahre rechnen. Die dafür notwendige kohärente Politikstrategie ist mühsam durchzusetzen …<br />
(doch sie ist) deswegen so wichtig, weil sie über den Wechsel der Legislatur hinaus kohärent<br />
sein muss. Wenn Sie jedes Mal ein neues Gesetz machen, kommt die Schule keinen Meter<br />
voran.“<br />
deswegen so wichtig, weil sie über den Wechsel der Legislatur<br />
hinaus kohärent sein muss. Wenn Sie jedes Mal ein neues<br />
Gesetz machen, kommt die Schule keinen Meter voran.<br />
Ich möchte noch etwas zu den Pisa-Plätzen sagen. Wir haben in<br />
der Schweiz in Mathematik einen ähnlichen Rang wie Finnland.<br />
Das liegt auch daran, dass Mathematik und Rechnen bei uns<br />
Volkssport sind, aber die Begründung ist, dass wir durch alle<br />
Schulstufen hindurch ein sehr hoch dotiertes Fach haben. Das<br />
ist der Hauptgrund neben sonstigen Faktoren. Wir haben in den<br />
Naturwissenschaften in der zweiten Studie aufgeholt; im Lesen<br />
gibt es kantonal sehr starke Unterschiede, und deswegen gibt<br />
es auch Lesekampagnen. Lesen ist ja nicht nur ein Problem des<br />
Deutschunterrichts, Lesen muss ein Angebot der gesamten<br />
Schule sein. Das zu bearbeiten ist schwieriger als in der Naturwissenschaft,<br />
aber das Problem ist erkannt und seine Lösung<br />
auf den Weg gebracht. Ich glaube nicht, dass es sich angesichts<br />
Wenn eine Systemdebatte sinnvoll sein soll, dann muss man<br />
solche Fragen zulassen. Es muss erlaubt sein zu fragen, ob es für<br />
bestimmte Schülergruppen in einem anderen System mehr<br />
Chancen gibt, als im jetzigen System bestehen. Darauf gibt es<br />
eigentlich nur eine Antwort. Gegliederte Schulsysteme haben<br />
den Nachteil, dass sich die einmal getroffene Selektion relativ<br />
schnell verfestigt. Von oben nach unten gibt es eine starke<br />
Durchlässigkeit, umgekehrt fast nicht mehr. An der Stelle, an<br />
der man einmal gelandet ist, bleibt man zumeist. Das ist übrigens<br />
auch der Grund, weshalb wir im Kanton Zürich eine Änderung<br />
vornehmen wollen. Wir haben dort noch eine Dreigliederung<br />
in der Sekundarstufe I mit einer sehr geringen Durchlässigkeit.<br />
Wenn man etwas verändern und einen praktischen Beitrag<br />
zur Chancengleichheit leisten will, muss man dieses Dreiersystem<br />
auflösen. Das neu eingeführte System, etwa ein Zwei-<br />
Wege-Modell, muss Durchlässigkeit garantieren, und zwar nach<br />
Leistung.<br />
109
Null Bock auf Schule – Was tun?<br />
Es gibt sie: Junge Menschen, die nicht, nicht mehr oder nur gelegentlich in der Schule erscheinen.<br />
Ob es mehr als früher sind, wissen wir nicht, aber es sind zu viele. Denn gehäufte Schulversäumnisse<br />
bedeuten ein erhöhtes Risiko schulischen Scheiterns. Wer Schulversagen reduzieren will, muss Schulversäumnisse<br />
sehr ernst nehmen. Sie sind eine Herausforderung für Schule und Jugendhilfe. Was zu tun<br />
sei, wenn Jugendliche der Schule auf Dauer fernbleiben, fragten sich beim „forum bildung“ Heidrun<br />
Kampe, Leiterin des Referats Prävention und Intervention beim Senator für <strong>Bild</strong>ung und Wissenschaft<br />
Bremen, Hermann Rademacker, Sozialwissenschaftler, Ulrich Thünken vom Ministerium für Schule und<br />
Weiterbildung NRW und Dieter Göbel, Abteilungsleiter Jugendarbeit beim Landesjugendamt Rheinland;<br />
sie diskutierten neue Ansätze und Präventionsprojekte.<br />
Moderation: Peter E. Kalb, Redakteur der Zeitschrift Pädagogik<br />
Heidrun Kampe<br />
Heidrun Kampe, geb. 1955. Lehramtsstudium, Psychotherapeutin. Lange Zeit als Lehrerin und Sozialpädagogin<br />
in der Benachteiligtenförderung tätig. 1996-98 Sachgebietsleiterin in der Beschäftigungsförderungsstelle<br />
des Landkreises Verden. 1998-2004 Abteilungsleiterin der Jugendwerkstatt der Beschäftigungs- und Qualifizierungsgesellschaft<br />
gGmbH im Landkreis Verden. Seit 2004 Referatsleiterin Prävention und Intervention<br />
beim Senator für <strong>Bild</strong>ung und Wissenschaft Bremen.<br />
Hermann Rademacker<br />
Hermann Rademacker, geb. 1939, arbeitete fast 30 Jahre als wissenschaftlicher Referent am Deutschen<br />
Jugendinstitut in München. Seit 2001 im Ruhestand. Seitdem Weiterführung der wissenschaftlichen Arbeit<br />
zu Themen wie Schulversäumnisse, Zusammenarbeit Jugendhilfe/Schule, Übergang Schule/Beruf und Ganztagsschule.<br />
STATEMENT<br />
Heidrun Kampe<br />
In der Diskussion um Schulverweigerer ist häufig die Rede<br />
davon, dass die Schule zu wenig tut, um Schulverweigerung zu<br />
erkennen und sich mit pädagogischen Maßnahmen, die in der<br />
Hand der Lehrer oder der Schule liegen, mit dieser Gruppe zu<br />
beschäftigen. Man unterstellt den Schulen, dass sie eher<br />
erleichtert seien, wenn diese schwierigen Schüler dem Unterricht<br />
fernbleiben. Das halte ich für eine unzulässige Generalisierung.<br />
Schulen bestehen nun einmal nicht nur aus den Gebäuden,<br />
sondern auch aus Menschen, die das Schulleben beleben,<br />
und dazu gehören selbstverständlich auch die Lehrkräfte, die<br />
110
Null Bock auf Schule: Kampe/Rademacker/Thünken/Göbel Blindtext<br />
Ulrich Thünken<br />
Ulrich Thünken, 61 Jahre. Zunächst Lehrer an einer Hauptschule. Fachleiter und stellvertretender Seminarleiter<br />
in der Lehrerausbildung. Schulleitungsmitglied einer Gesamtschule. Dezernent für Gesamtschulen bei der<br />
Bezirksregierung in Düsseldorf. Seit 20 Jahren Referatsleiter im Ministerium für Schule und Weiterbildung<br />
in Nordrhein-Westfalen.<br />
Dieter Göbel<br />
Dieter Göbel, geb. 1964, ist Abteilungsleiter Jugendarbeit beim Landesjugendamt Rheinland.<br />
sich zum Teil sicher nicht gut genug kümmern. Natürlich haben<br />
diese aber auch ihre Not mit solchen Jugendlichen. Wenn sie in<br />
die Schule kommen, stören sie z. B. den Unterricht, weil sie<br />
nicht mehr mitkommen, und unter diesem Gesichtspunkt darf<br />
ich als Lehrkraft auch einmal froh sein, wenn jemand nicht<br />
kommt, dann kann ich nämlich mit dem Rest vernünftigen<br />
Unterricht machen. Das ist die eine Seite.<br />
Die andere Seite ist, dass viele Lehrkräfte sich sehr um diese<br />
Problemschüler bemühen, aber bei ihnen häufig nicht viel ausrichten<br />
können, weil die Konstellationen für die Entwicklung<br />
von schulvermeidendem Verhalten in der Regel sehr komplex<br />
sind und Lehrkräfte diese Probleme allein nicht lösen können.<br />
Wenn ich mit Vertreterinnen und Vertretern der Jugendhilfe zu<br />
tun habe, dann betone ich dabei immer wieder, dass wir hier<br />
111
nicht von Schülerinnen und Schülern, sondern von Menschen<br />
reden: 24 Stunden am Tag sind diese Kinder und Jugendlichen<br />
Menschen, und es lässt sich nicht sauber trennen in ein Jetztist-die-Schule-Zuständig<br />
und ein Jetzt-ist-die-Jugendhilfe-<br />
Zuständig. In diesem Bereich lässt sich über Jahre hinweg auch<br />
bundesweit verfolgen, wie Verantwortlichkeiten hin und her<br />
geschoben werden und wo der eine dem jeweils anderen vorwirft,<br />
nicht richtig zu arbeiten. Wenn wir das so weiter betreiben,<br />
dann werden wir für diese Kinder nichts tun können.<br />
Aus der Erkenntnis heraus, dass wir das Problem der Schulvermeidung<br />
nicht auf die Schule reduzieren können, haben wir in<br />
Bremen ein Verfahren zur Zusammenarbeit verschiedener Institutionen<br />
entwickelt. Wir haben die Zuständigen alle zusammengebracht<br />
und sind gemeinsam diesem Problem nachgegangen.<br />
Die Kompetenzen werden gebündelt und Vernetzung wird<br />
entwickelt. Die Fäden dieser Arbeit laufen in meinem Referat in<br />
der <strong>Bild</strong>ungsbehörde zusammen, das einen Schwerpunkt im<br />
Thema Schulvermeidung hat. Das findet man nicht so häufig in<br />
der Bundesrepublik.<br />
Für das entwickelte Konzept „Schulvermeidung spürbar senken“<br />
sind die Schulen der Ausgangspunkt. Lehrkräfte und anderes<br />
Schulpersonal sind in der Regel die ersten, die hiervon Kenntnis<br />
bekommen. Schauen diese bewusst auf ihre Schülerinnen<br />
und Schüler, nehmen sie wahr, wenn jemand häufiger fehlt. Zur<br />
Unterstützung der Schulen wurde ein „Handlungsleitfaden für<br />
Klassenlehrerinnen und Klassenlehrer im Umgang mit Schulvermeidung“<br />
entwickelt, der in einem 3-Phasen-Modell Maßnahmen<br />
benennt, die notwendig, zu beachten und einzuleiten sind, wenn<br />
ein Schüler oder eine Schülerin länger als drei Tage unentschuldigt<br />
der Schule fernbleibt. Diese Maßnahmen beginnen in der<br />
Regel im schulischen Umfeld und mit der Kontaktaufnahme zur<br />
Familie. Der Handlungsleitfaden ist verbindlich für alle Lehrkräfte.<br />
schriftlich oder telefonisch angekündigter – Hausbesuch in der<br />
Familie durch einen Mitarbeiter oder eine Mitarbeiterin des<br />
Beratungsdienstes, um Hintergründe für das Fernbleiben zu klären,<br />
der Familie und dem Schüler bzw. der Schülerin Unterstützung<br />
anzubieten und/oder zu vermitteln, aber auch die Pflicht<br />
zum regelmäßigen Schulbesuch zu verdeutlichen und auf mögliche<br />
Konsequenzen des Vermeidungsverhaltens hinzuweisen,<br />
denn das unentschuldigte Fernbleiben von der Schule stellt<br />
nach dem bremischen Schulgesetz auch eine Schulpflichtverletzung<br />
dar, die mit einem Bußgeld geahndet werden kann.<br />
Beim Beratungsdienst laufen alle fallbezogenen Informationen<br />
und Entwicklungen zusammen: Aus den Angaben der Schule,<br />
dem Ergebnis des Hausbesuchs und den möglichen Informationen<br />
anderer Beteiligter werden unter Einbeziehung der Familie<br />
mögliche Handlungsschritte entwickelt und eingeleitet. Dazu<br />
gehört gegebenenfalls auch die Einbeziehung weiterer Fachdienste<br />
(schulpsychologischer Dienst, Suchtprävention, Amt für<br />
Soziale Dienste, hier insbesondere die Fachabteilung junge<br />
Menschen, aber auch Jugendgerichtshilfe, schulärztlicher<br />
Dienst und anderer Fachdienste).<br />
Sowohl bei dem Hausbesuch als auch in einer möglichen Fallkonferenz<br />
in der Schule geht es vorrangig darum, mit den<br />
betroffenen Kindern oder Jugendlichen und ihren Familien Vereinbarungen<br />
zur Wiederaufnahme des regelmäßigen Schulbesuchs<br />
zu treffen oder auch befristet geeignete alternative Formen<br />
der Beschulung und Betreuung zu nutzen. Die Erfahrung zeigt,<br />
dass Verabredungen dann am erfolgreichsten eingehalten werden,<br />
wenn zum einen der erste Schritt begleitet wird (der Schritt<br />
zurück in die Schule, zum Gespräch mit der Lehrkraft, zum Jugendamt<br />
…) und zum anderen alle Beteiligten bestimmte Aufgaben<br />
übernehmen und nicht nur vom Schüler oder von der Schülerin<br />
eine Verhaltensänderung auf „Knopfdruck“ erwartet wird.<br />
„Aus der Erkenntnis heraus, dass wir das Problem der Schulvermeidung nicht auf die Schule<br />
reduzieren können, haben wir in Bremen ein Verfahren zur Zusammenarbeit verschiedener Institutionen<br />
entwickelt. Wir haben die Zuständigen alle zusammengebracht und sind gemeinsam<br />
diesem Problem nachgegangen. Die Kompetenzen werden gebündelt und Vernetzung wird<br />
entwickelt.“<br />
Spätestens wenn schulische Interventionen keine Veränderung<br />
des Schulvermeidungsverhaltens bewirken und die Wiederaufnahme<br />
des regelmäßigen Schulbesuchs ausbleibt, soll die Klassenlehrerin<br />
oder der Klassenlehrer (mit Kenntnis der Schulleitung)<br />
Unterstützung beim Beratungsdienst gegen Schulvermeidung<br />
anfordern. Er ist regional organisiert, sodass es für jede<br />
Schule, aber auch andere Ratsuchende wie z. B. Eltern einen<br />
direkten Ansprechpartner für den jeweiligen Stadtteil gibt. Der<br />
Beratungsanforderung folgt in jedem Fall ein – in der Regel<br />
Über die Einzelfallhilfe hinaus haben wir eine Gremienarbeit<br />
in den Schulvermeidungs-/Präventionsausschüssen (Schups)<br />
installiert. Diese arbeiten flächendeckend und ressortübergreifend.<br />
Das <strong>Bild</strong>ungsressort arbeitet sehr eng zusammen mit drei<br />
anderen Ressorts – Jugendamt, Polizei, Justiz. Diese Zusammenarbeit<br />
wird von allen vier Senatoren gestützt und unterstützt.<br />
Die Komplexität der Ursachen und Hintergründe von Schulvermeidung<br />
erfordert die Zusammenarbeit verschiedener Unterstützungssysteme.<br />
Eine solche Zusammenarbeit sollte systema-<br />
112
Null Bock auf Schule: Kampe/Rademacker/Thünken/Göbel<br />
tisch und nicht zufällig erfolgen und setzt die Bereitschaft<br />
aller Beteiligten zur Zusammenarbeit voraus. Um ebendiese<br />
Zusammenarbeit voranzutreiben und Netzwerke aufzubauen<br />
und zu nutzen, wurden diese Schups-Gremien eingerichtet.<br />
Diese Gremien haben auch<br />
dazu geführt, dass das stadtweite<br />
Netzwerk mittlerweile<br />
sehr gut ausgebaut werden<br />
konnte.<br />
Dabei geht es u. a. auch um<br />
Fragen wie: Was ist zu tun,<br />
wenn Jugendliche straffällig<br />
geworden sind, um sie anschließend<br />
wieder zu integrieren?<br />
Dies alles muss man<br />
ja im Blick behalten, wenn<br />
man sich mit strafmündigen<br />
Kindern und Jugendlichen<br />
auseinandersetzt. Unsere Arbeit<br />
läuft zum großen Teil<br />
gut, aber es gibt einen ganz<br />
wichtigen Punkt, den ich<br />
nicht versäumen möchte zu<br />
erwähnen: Wir sprechen sehr<br />
häufig von der Notwendigkeit,<br />
Netzwerke zu schaffen.<br />
Ich bin in diesem Zusammenhang<br />
überzeugt davon, dass<br />
wir voneinander wissen müssen, was wir im Interesse dieser<br />
Kinder und Jugendlichen leisten können. Doch wenn wir von<br />
Netzwerken und Kooperation sprechen, reicht es nicht, die Forderung<br />
danach zu erheben, um sich anschließend gleich wieder<br />
gegeneinander abzugrenzen.<br />
Quelle: Heidrun Kampe<br />
Ständige Mitglieder<br />
Schulleitung FöZ<br />
Projekte<br />
Fallspezifische Mitglieder<br />
Suchtprävention<br />
Beratungsdienst gegen<br />
Schulvermeidung<br />
Beratungslehrer BBfS/ABS<br />
freie Träger der Jugendhilfe<br />
Schulleitung einer Schule<br />
der Region<br />
Schups<br />
Jugendgerichtshilfe<br />
Kontaktpolizist<br />
Amt für soziale Dienste<br />
schulpsychologischer Dienst<br />
Klassenlehrerin<br />
schulärztlicher Dienst<br />
Kinder- und Jugendpsychiatrische<br />
Beratungsstelle (KiPsy)<br />
gehen. In dem Punkt einer schulischen Umstrukturierung spielen<br />
die Eltern eine riesengroße Rolle, auch sie nehmen Einfluss<br />
auf das Schulsystem, sprechen sich z. B. gegen die Einrichtung<br />
einer Schule für alle aus und möchten die Gymnasien als Schulform<br />
beibehalten. Ich befürworte eine lange Zeit gemeinsamen<br />
Lernens verbunden mit einer kontinuierlichen Betreuung und<br />
Begleitung, weil damit auf eine andere Art und Weise die individuelle<br />
Förderung innerhalb dieser Schule gestaltet werden<br />
kann.<br />
Wenn man Kooperation beleben will, muss man sich zunächst<br />
einmal anschauen, was z. B. die Jugendhilfe leistet, wie weit<br />
ihre Unterstützung gehen kann, was z. B. die Schule leistet, ob<br />
sie mehr übernehmen kann als bisher, indem sie möglicherweise<br />
eine andere Sicht auf die Kinder entwickelt. Häufig bleibt<br />
Kooperation genau in dieser Abgrenzung stecken, und die<br />
Schnittstellen und Schnittmengen, die man miteinander erarbeitet<br />
hat, werden nicht belebt. Diese sehr, sehr harte Arbeit<br />
muss jeden Tag von allen Beteiligten geleistet werden, und dies<br />
gilt es auch weiterzuführen.<br />
Auf einer der vorangegangenen Veranstaltungen des „forum bildung“<br />
ging es um das Thema „Hauptschule in der Sackgasse?“<br />
Da konnten wir sehr viel erfahren über die Struktur der Schule<br />
und über die Problematik der Dreigliedrigkeit des Systems. Die<br />
einzelnen Bundesländer reagieren unterschiedlich auf diese<br />
Entwicklungen und auf die Notwendigkeit, uns von der „Vielgliedrigkeit“<br />
unseres Schulsystems verabschieden zu müssen. In<br />
Bremen wurde die Sekundarschule eingeführt, in der nach der<br />
vierten bzw. sechsten Klasse der Grundschule alle Schülerinnen<br />
und Schüler gemeinsam in eine Schule oder aber ins Gymnasium<br />
Wir sprechen hier vor allem über diejenigen Schülerinnen und<br />
Schüler, die vor dem oder am Übergang von der Sekundarstufe I<br />
in die berufliche Schule oder in die weiterführende Schule<br />
stehen. Schulvermeidungsverhalten aber fängt nach meiner<br />
Wahrnehmung und nach unseren Erfahrungen viel, viel früher<br />
an. Durch die Meldungen der Schulen erheben wir Zahlen und<br />
können dadurch, dass wir die Schulvermeider namentlich<br />
genannt bekommen, den Fällen auch im Einzelnen nachgehen.<br />
Der Beratungsdienst Schulvermeidung macht Hausbesuche<br />
gegebenenfalls auch mit den Klassenlehrkräften zusammen in<br />
den Familien von Schulvermeidern, um zu eruieren, warum sie<br />
der Schule fernbleiben.<br />
Schulvermeidungsverhalten beginnt bereits in den Grundschulen.<br />
Diese Kinder werden aus unterschiedlichen Gründen von<br />
der Schule ferngehalten, und zwar durch ihre Eltern. Hier müssen<br />
wir verstärkt den Kontakt mit den Eltern suchen und im<br />
Interesse der Kinder miteinander arbeiten. Es gibt Eltern, die<br />
bestimmte Notwendigkeiten für sich nicht sehen und wahrnehmen.<br />
Doch ich will diesen gar nicht die alleinige Verantwortung<br />
zuweisen; die Schule trägt auch ihren Teil dazu bei. Wenn<br />
113
Lehrkräfte nicht bereit sind, Familien aufzusuchen und sich<br />
dort hinzubegeben, wo das Kind herkommt, weil das nicht ihrer<br />
Vorstellung entspricht, dann ist das ebenso falsch. Solche Haltungen<br />
gilt es zu verändern.<br />
Es geht mir nicht darum, Kinder mit Zwang in die Schule zu<br />
bringen. Da wir in Deutschland eine Schulpflicht haben, muss<br />
ich das in bestimmten Fällen tun, zumindest wenn ich Vertreterin<br />
der <strong>Bild</strong>ungsbehörde bin. Dann bin ich verpflichtet, diese<br />
gesetzliche Grundlage auch einzufordern. Ich muss den Kindern<br />
aber wenigstens die Chance geben, in die Schule kommen zu<br />
können, wenn Eltern sich beispielsweise nicht darum kümmern.<br />
Und wenn die Schule einen bestimmten Teil von Kindern<br />
nicht mehr erreicht, dann muss auch Schule sich fragen, welchen<br />
Anteil sie daran hat und sich gegebenenfalls verändern.<br />
Die Schule ist dazu da, den Kindern einen guten Weg zu bereiten,<br />
sie in ihrer Entwicklung zu begleiten und sie zu stärken;<br />
sie ist nicht dazu da, Kindern das „Kreuz zu brechen“.<br />
Die Feststellung, dass uns bereits die Grundschulen Fälle von<br />
Schulvermeidung in einer doch recht hohen Anzahl melden und<br />
nicht erst die 10. Klassen oder die 9. Klassen der Hauptschulen,<br />
hat dazu geführt, dass die Fälle aus den Grundschulen prioritär<br />
behandelt werden. Für alle Fälle aber gilt: Zunächst müssen wir<br />
alle in ein Boot bekommen. Und wenn die Kinder nicht in die<br />
Schule geschickt werden oder von sich aus nicht gehen, dann<br />
müssen wir sie gegebenenfalls auch abholen, was in manchen<br />
Fällen mit Unterstützung der Polizei geschieht, wenn nichts<br />
anderes mehr geht. Vorher müssen jedoch andere Möglichkeiten<br />
ausgeschöpft sein (siehe Kasten).<br />
Vorgehen des Beratungsdienstes<br />
1. Schriftlich oder telefonisch angekündigter Hausbesuch nach Meldung<br />
durch die Schule<br />
2. Angebot von Unterstützungs- und Hilfsmöglichkeiten<br />
3. Entwicklung von realisierbaren Handlungsschritten in Zusammenarbeit<br />
mit dem Schüler/der Schülerin, den Eltern/Erziehungsberechtigten,<br />
gegebenenfalls der Jugendhilfeeinrichtung, dem Ausbildungsbetrieb<br />
und der Schule und Treffen von Vereinbarungen<br />
4. Verabredung zur zeitnahen Rücksprache über die Einhaltung der Vereinbarungen<br />
(siehe 7.)<br />
5. Einschalten anderer Institutionen; Angebot der möglichen Begleitung<br />
der Betroffenen bei der Kontaktaufnahme<br />
6. Hinweis auf die mögliche Festsetzung eines Bußgeldes bei weiterhin<br />
fehlendem Schulbesuch des Schülers/der Schülerin und Nichteinhaltung<br />
der Absprachen durch die Beteiligten<br />
7. Überprüfung der Einhaltung der getroffenen Verabredungen:<br />
Rücksprache mit der Schule<br />
erneutes Gespräch mit den Eltern, dem Schüler/der Schülerin,<br />
der Jugendhilfeeinrichtung, dem Ausbildungsbetrieb<br />
8. Schulzuführung (§ 64 BremSchG), gegebenenfalls auch mit Unterstützung<br />
durch die Polizei<br />
Selbstverständlich gibt es Vorgaben und Strukturen in den<br />
Schulen. Es wird immer gesagt, dass es zehn Jahre dauert, bis<br />
eine Reform, die man auf den Weg gebracht hat, auch zum Tragen<br />
kommt. Bis dahin haben wir bei der Schnelllebigkeit unserer<br />
Zeit schon wieder eine ganz andere gesellschaftliche Entwicklung.<br />
Aber ich bin der Auffassung, dass jede Schule auch im<br />
Rahmen dieser Vorgaben Entfaltungsmöglichkeiten hat. Wenn<br />
diese von den in der Schule Arbeitenden genutzt werden, dann<br />
kann man auch etwas gestalten und Kindern etwas Gutes mit<br />
auf den Weg geben. Davon bin ich überzeugt. Wir zwingen Kinder<br />
vom 6. bis zum 18. Lebensjahr in das Korsett der Schulpflicht,<br />
das verpflichtet uns auch, diese<br />
Kinder entsprechend zu begleiten – und<br />
zwar alle Beteiligten, die für diese Kinder<br />
zuständig sind, aus allen Systemen.<br />
Quelle: Heidrun Kampe<br />
Um dies zu tun und die Kinder nicht einfach<br />
der Perspektivlosigkeit zu überlassen,<br />
arbeiten wir beispielsweise an den<br />
Übergängen mit der Wirtschaft zusammen,<br />
um genau zu prüfen, was notwendig<br />
ist und was wir gemeinsam erreichen<br />
können. Nicht jeder schulvermeidende<br />
Schüler ist automatisch jemand, der<br />
ohne Ausbildungsplatz bleibt. Und, um<br />
gleich einem anderen Vorurteil zu widersprechen<br />
– nicht jeder Schulvermeider<br />
ist delinquent oder kriminell. Deshalb betone<br />
ich immer wieder, dass wir in jedem<br />
Fall sehr genau hinschauen müssen,<br />
worum es geht. Bei einem Teil derjenigen,<br />
die längerfristig der Schule fernbleiben,<br />
liegt die Ursache in Konflikten mit<br />
Lehrern oder Mitschülern. Die weitaus<br />
häufigste Ursache ist aber, dass zu Hause<br />
so vieles im Argen liegt, dass sie irgendwann<br />
nicht mehr in die Schule kommen.<br />
Ich halte es für überaus wichtig, hier<br />
genau zu differenzieren. Und wir müssen<br />
uns fragen, wie wir die gemeinsame Aufgabe<br />
vom Tisch bekommen. In der Regel<br />
entscheiden wir schnell, dass bei Problemen<br />
in der Familie die Jugendhilfe zuständig ist, bei schulischen<br />
Problemen die Schule. Ich sage aber grundsätzlich: Es<br />
geht immer um das Kind, und es müssen beide zueinanderfinden,<br />
um dieses Kind zu unterstützen.<br />
Bei den außerschulischen Angeboten, die wir Schulvermeidern<br />
machen, unterscheiden wir zwei Gruppen. Bei denjenigen Schülern,<br />
die ihrem Alter nach in eine Berufsausbildung einmünden<br />
könnten, geht es nicht mehr um eine Reintegration in den<br />
114
Null Bock auf Schule: Kampe/Rademacker/Thünken/Göbel<br />
Schulbetrieb. Hier geht es vielmehr darum, diese jungen Menschen<br />
so vorzubereiten, dass sie die Chance erhalten, in einem<br />
Betrieb ein Praktikum zu machen, eine Berufsausbildung aufzunehmen<br />
oder möglicherweise auch „nur“ einen Job zu bekommen.<br />
Es gibt eben Menschen, die eine Ausbildung nicht<br />
bewältigen können, auch das müssen wir zur Kenntnis nehmen.<br />
Nun stehen vonseiten der Wirtschaft heute nicht mehr so viele<br />
Arbeitsplätze zur Verfügung, auf denen wir unsere Schülerinnen<br />
und Schüler unterbringen könnten. Auch sind diejenigen,<br />
die einfach Arbeitsplätze brauchen, heute ganz anders<br />
gestrickt, als sie es vor einigen Jahrzehnten waren. Das Problem<br />
ist folglich, dass wir bestimmte Menschen nicht unterbringen,<br />
auch daran müssen wir arbeiten. Ich habe dafür im<br />
Augenblick keine Lösung; die Kooperation mit Betrieben, mit<br />
der Wirtschaft ist allerdings ein wesentlicher Schritt zu einer<br />
Integration.<br />
Die außerschulischen Lernorte im Sekundarbereich I arbeiten<br />
auf die Reintegration in das Regelschulsystem hin. Wenn ich<br />
möchte, dass ein Schüler bzw. eine Schülerin einen Schulabschluss<br />
schaffen soll, kann ich ihn oder sie nicht ab der 6. oder<br />
7. Klasse ganz aus dem System herausnehmen. Denn dann hat<br />
er oder sie keine Chance mehr. Oder ich muss eine Ersatzschule<br />
gründen. Das wäre eine andere Variante. Ich habe lange Zeit in<br />
Niedersachsen an der Modellphase der Schulverweigerungsprojekte<br />
mitgearbeitet und war Feuer und Flamme für die Etablierung<br />
außerschulischer Lernorte zusammen mit der Jugendhilfe,<br />
raus aus der Schule usw. Heute halte ich es für eine Möglichkeit,<br />
einem Problem zu begegnen, aber es ist nicht das Nonplusultra.<br />
Ich halte eine integrative Förderung innerhalb der Schule für<br />
wesentlich sinnvoller, und dafür muss Schule sich öffnen und<br />
sich auch verändern. Es reicht nicht aus, bei Problemen nach<br />
der Jugendhilfe zu schreien. Wir können – wie bereits gesagt –<br />
diesen Ball immer hin und her spielen, das wird uns nicht<br />
weiterbringen. Ich möchte jetzt auch nicht die Diskussion um<br />
Schulsozialarbeit neu eröffnen. Dazu dennoch eine Bemerkung:<br />
Wenn wir Sozialarbeiterinnen oder -arbeiter in die Schulen nehmen,<br />
was ich für außerordentlich sinnvoll halte, dann muss es<br />
ein gemeinsames Konzept geben. Sozialarbeit darf nicht zum<br />
Auffangbecken für die schwierigen, „nicht beschulbaren“ Schülerinnen<br />
und Schüler werden. Vielmehr müssen Lehrerkollegien<br />
mit den Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeitern gemeinsam<br />
konzeptionelle Vorarbeit leisten. Und um Erfolg zu haben, muss<br />
man an der Basis anfangen. Es können sich noch so viele Menschen<br />
hinsetzen und Willensbekundungen für eine Zusammenarbeit<br />
unterschreiben: Wenn die Basis das nicht hinbekommt,<br />
dann geht es schief. Hierbei sind sowohl Sozialarbeiter als auch<br />
Lehrkräfte gefordert.<br />
Zu der abschließenden Frage, wie man schulvermeidendes Verhalten<br />
möglichst früh und im Ansatz verhindern kann, ein kleiner<br />
Hinweis: Wenn wir bereits in der Grundschule (das gilt auch<br />
für einen späteren Zeitpunkt) schulvermeidendes Verhalten<br />
feststellen, dann müssen wir hinschauen und aktiv werden. In<br />
solchen Fällen haben wir leider jahrzehntelang unsere Hausaufgaben<br />
nicht ordentlich gemacht. Wir dürfen nicht einfach mitansehen,<br />
wie Kinder über Tage und Wochen nicht zum Unterricht<br />
kommen. Wenn ich dem nicht nachgehe, gebe ich einem<br />
Kind doch von vornherein das Gefühl, dass es mir gar nicht<br />
wichtig ist. Es ist also angebracht, sofort zu reagieren, wenn<br />
ein Kind nicht kommt, und nachzufragen, verbunden mit dem<br />
Hinweis, dass man sich Sorgen um dieses Kind macht, weil es<br />
nicht da ist. Allein durch diese mit Zuwendung verbundene<br />
Intervention und durch die Fragestellung kann ich schon die<br />
Weichen anders stellen und muss nicht ein riesengroßes präventives<br />
Konzept entwickeln. Ich muss eigentlich in meinem<br />
Alltagsgeschäft nichts anderes tun, als zugewandt mit anderen<br />
Menschen umzugehen. Das ist eine Frage von Kommunikation<br />
und Beziehungsarbeit, woran es unserem Umgang miteinander<br />
ganz häufig einfach fehlt.<br />
STATEMENT<br />
Hermann Rademacker<br />
Meine Damen und Herren, wenn man das Thema Schulverweigerung<br />
diskutiert, dann wird stillschweigend davon ausgegangen,<br />
dass es das Phänomen heute häufiger gibt als früher. Tatsache<br />
aber ist, dass wir überhaupt keine Zahlen haben, die es<br />
erlauben, solche Aussagen zu treffen. In früheren Jahren wurden<br />
nur selten Erhebungen zu dem Thema gemacht, und auch<br />
heute passiert in dieser Hinsicht nicht allzu viel. Es ist mir allerdings<br />
gelungen, eine Untersuchung von Klauer in westdeutschen<br />
Städten aus dem Jahre 1959 und eine Ostberliner Untersuchung<br />
von Lenz aus dem gleichen Jahr aufzuspüren, in denen<br />
Zahlen zu Schulversäumnissen erhoben wurden, welche sich<br />
mit einer Berliner Erhebung zum regelmäßigen Schulbesuch aus<br />
dem Jahr 2002 vergleichen lassen. Dabei zeigt sich erstaunlicherweise,<br />
dass die Zahlen des Schulbesuchs in Berlin derzeit<br />
geringfügig besser zu sein scheinen als diejenigen von 1959/60.<br />
Wir haben also wenig Anlass zu behaupten, das Phänomen der<br />
Schulversäumnisse habe zugenommen.<br />
Nun bestanden bei der alten Untersuchung von Klauer Zweifel,<br />
ob die Angaben der Schulen als zuverlässig betrachtet werden<br />
durften. Solche Zweifel darf man auch heute hegen.<br />
Ich will eine zweite Merkwürdigkeit erwähnen: Es war nämlich<br />
nicht die Schule, sondern die Jugendhilfe, die das Thema Schulversäumnisse<br />
auf die Tagesordnung der öffentlichen bildungspolitischen<br />
Debatte gesetzt hat. Die Tatsache, dass sich in Einrichtungen<br />
der Jugendhilfe, und zwar in Einrichtungen der<br />
Benachteiligtenförderung, Anfang der 1990er-Jahre Schülerinnen<br />
und Schüler einfanden, die eigentlich noch für die allgemein<br />
bildende Schule schulpflichtig waren, hat der Jugendhilfe<br />
ein neues Arbeitsfeld eröffnet. Sie hat Mittel dafür eingeworben,<br />
und wenn man Mittel braucht, dann muss man Öffentlichkeit<br />
erzeugen. Die Jugendhilfe hat also mit ihrem Interesse,<br />
Projekte für nicht mehr in der Schule aufscheinende schulpflichtige<br />
junge Leute zu finanzieren, das Thema Schulversäumnisse<br />
öffentlich gemacht.<br />
115
Und das Letzte, was ich in meiner einleitenden Bemerkung zu<br />
diesem Thema sagen will, ist etwas zur Verteilung von Schulversäumnissen.<br />
Es gibt in Berlin seit einigen Jahren eine regelmäßige<br />
Erhebung von Schulversäumnissen, und die Ergebnisse<br />
können Sie auch im Internet nachlesen. Dort finden Sie zu jeder<br />
Schule Angaben zur Quote der versäumten Schultage, mit Klassenstufe<br />
und Auskunft zu den unentschuldigt versäumten Fehltagen<br />
in der Schule. Dabei zeigt sich ganz deutlich, dass es eine<br />
eindeutige Konzentration von Schulversäumnissen in den<br />
Schularten Sonderschule für Lernbehinderte und Erziehungsschwierige<br />
sowie Hauptschule gibt. In der Hauptschule sind es<br />
insbesondere die beiden letzten Klassenstufen, in denen sich<br />
über die Hälfte aller Schulversäumnisse konzentrieren. Darüber<br />
hinaus besteht ganz offensichtlich ein enger Zusammenhang<br />
zwischen Schullaufbahn und Schulversäumnissen, denn es<br />
zeigt sich, dass sich die Schulversäumnisse insbesondere bei<br />
denjenigen Schülerinnen und Schülern häufen, die ein oder<br />
zwei Klassenwiederholungen hinter sich haben und folglich in<br />
ihrer regulären Schullaufbahn keine Perspektive mehr haben,<br />
einen Schulabschluss zu erreichen. Das zur Einleitung, um<br />
Ihnen ein kleines Szenario zu den Verhältnissen in diesem<br />
Bereich zu geben.<br />
Ich denke, ein Punkt, den Frau Kampe eben angeschnitten hat,<br />
ist ungeheuer wichtig. Wir müssen sehen, dass es in dieser<br />
Gesellschaft ein quasi verfassungsrechtlich gesichertes Recht<br />
aller jungen Menschen auf <strong>Bild</strong>ung gibt und dass dieses Recht<br />
eingelöst werden muss. In den meisten Bundesländern sind es<br />
die Schulen, die nach dem Schulgesetz oder nach der Landesverfassung<br />
so zu gestalten sind, dass alle jungen Menschen ihr<br />
Recht auf <strong>Bild</strong>ung einlösen können. Von daher ist es natürlich<br />
hoch dramatisch, wenn die Reintegration junger Menschen in<br />
Schule nicht gelingt. Wir müssen uns angesichts dieser Tatsache<br />
fragen, wie wir damit umgehen wollen.<br />
Bei der Jugendhilfe gibt es im Unterschied zur Schule keine<br />
Jugendhilfepflicht, und die Jugendhilfe vermag auch nicht, die<br />
Schulpflicht bzw. den Schulbesuch einzufordern. Es kann zwar<br />
gestattet werden, dass junge Leute ihre Schulpflicht durch den<br />
Besuch von Einrichtungen der Jugendhilfe ableisten und somit<br />
straffrei bleiben. Aber die Angebote der Jugendhilfe bieten<br />
keine Garantie dafür, dass sie alle jungen Menschen, die nicht<br />
in die Schule gehen, auch erreichen. Von daher ist es entscheidend,<br />
dass wir die Schule nicht aus der Pflicht entlassen, für<br />
alle Kinder und Jugendlichen zuständig zu sein – was nicht ausschließt,<br />
dass die Jugendhilfe tätig wird. Es muss aber sichergestellt<br />
sein, dass auch die Schule mit ihren Mitteln ihre Verpflichtung<br />
wahrnimmt.<br />
Wir haben in den letzten Jahren eine ganze Reihe von Erfahrungen<br />
damit gemacht, wie Schule zumindest wesentlich mehr<br />
junge Leute erreichen kann, als es derzeit der Fall ist. Da spielen<br />
insbesondere all die Projekte in den Schulen eine große<br />
Rolle, in denen es um die Vorbereitung junger Menschen auf<br />
den Übergang ins Berufsleben geht. Die Praxisklassen Bayern<br />
und ähnliche Modelle in anderen Bundesländern haben ganz<br />
erstaunliche Erkenntnisse erbracht. Einerseits zeigt sich, dass<br />
ein nennenswerter Teil derjenigen, die die Schule unregelmäßig<br />
besuchen oder zu meiden suchen, über diese Projekte wieder<br />
erreicht wird. Ein großer Teil dieser jungen Leute bewältigt so<br />
durchaus auch den Übergang in eine Ausbildung. Und damit<br />
haben wir schon viel erreicht. An diesem Weg müssen wir weiter<br />
arbeiten. Diese Projekte zeigen auch, dass es sehr lohnend<br />
ist, auch die Kompetenzen und Ressourcen der Jugendhilfe für<br />
diese jungen Leute zu mobilisieren. Aber wir brauchen auch<br />
weiterhin eine rechenschaftspflichtige Institution, die nachweist,<br />
dass sie ihre Pflicht erfüllt und mit allen Mitteln versucht,<br />
die jungen Leute zu erreichen. Und das muss in meinen<br />
Augen die Schule sein.<br />
Das pädagogische Verhalten von Schulen kann sehr wohl Wirkung<br />
zeitigen. Ich habe mir in Berlin viele Schulen angesehen<br />
und festgestellt, dass Schulen mit ganz ähnlichen Rahmenbedingungen<br />
des Sozialraums, der Schülerzusammensetzung<br />
durchaus unterschiedliche, und zwar erheblich unterschiedliche<br />
Schulbesuchsquoten und Schulvermeidungsquoten aufweisen.<br />
In dieser Hinsicht spielt das pädagogische Verhalten der Schulen<br />
eine Rolle und insbesondere ihre Angebote, die die Berufsorientierung<br />
betreffen. Wir hatten in der vorigen Runde auf<br />
diesem Podium Herrn Oelkers aus der Schweiz, der darauf hinwies,<br />
dass in der Schweiz die Jugendarbeitslosigkeit bei vier<br />
Prozent liegt. Dort bemessen die Schulen sich und ihren Erfolg<br />
nicht nur daran, ob ein Abschluss nach schulischen Kriterien<br />
erreicht wird, sondern durchaus auch daran, wie weit es<br />
gelingt, junge Menschen auf den Übergang in Ausbildung und<br />
Arbeit vorzubereiten. Genau das brauchen wir, wenn wir mit<br />
dem Problem Schulversäumnisse umgehen wollen. Dass wir in<br />
Deutschland 10 oder 15 Prozent junge Leute ohne Ausbildung<br />
haben, ist keine universelle Konstante, sondern es hat sehr<br />
wohl etwas damit zu tun, um welche Leute es sich handelt. Das<br />
Ausbildungsplatzproblem erfordert Handeln auf beiden Seiten<br />
des Marktes. Es braucht einerseits selbstverständlich ein auswahlfähiges<br />
Angebot an Ausbildungsplätzen, aber andererseits<br />
auch beruflich orientierte Jugendliche, die eine vernünftige<br />
Vorstellung von ihrer Zukunft entwickelt haben. Vernünftig<br />
heißt für mich: in realistischer Einschätzung ihrer Wünsche,<br />
Möglichkeiten, Interessen und Ansprüche an das Leben und in<br />
Bezug darauf, welches ihr Platz in der Arbeitswelt sein kann.<br />
Doch dieses Thema hat unsere Schule in der Vergangenheit viel<br />
zu wenig behandelt. Daher brauchen wir gerade im Hinblick auf<br />
diese Gruppe von jungen Leuten, die eher aus den Strukturen<br />
herauszufallen drohen, eine Entwicklung der Beziehung zwischen<br />
Schule und Arbeitswelt. Die Schule muss sich zur Arbeitswelt<br />
hin öffnen. Die Erfahrung, die wir mit solchen Projekten<br />
haben, erbringt zweierlei Erfolge. Der eine Erfolg ist, dass der<br />
Schulbesuch regelmäßiger wird, und der andere, dass sich die<br />
Übertrittsquoten in die Ausbildung erheblich verbessern. Man<br />
kann also etwas tun.<br />
Natürlich ist es auch richtig, dass sich das Arbeitsplatz- und<br />
Ausbildungsplatzangebot hinsichtlich der Anforderungen, die<br />
gestellt werden, verändert hat. Doch das bedeutet nicht, dass<br />
116
Null Bock auf Schule: Kampe/Rademacker/Thünken/Göbel<br />
all die jungen Menschen, die keinen Ausbildungsplatz finden,<br />
auch nicht für eine Ausbildung geeignet wären; sie sind lediglich<br />
unzureichend vorbereitet. Alle Lehrer, die sich intensiv um<br />
Arbeitsweltkontakte bemühen, berichten von Überraschungen.<br />
Ein erheblicher Teil der jungen Leute, die in der Schule als leistungsschwach<br />
gelten, blühen im Praktikum auf und kommen<br />
stolz aus dem Betrieb zurück. Sie berichten, dass es ihnen Spaß<br />
gemacht hat, dass sie Anerkennung gefunden haben und man<br />
ihnen sogar in Aussicht gestellt hat, sie in die Ausbildung zu<br />
übernehmen, wenn sie so weitermachen. Diese Beobachtungen<br />
zeigen, dass es Handlungsmöglichkeiten gibt, mit dem Problem<br />
besser umzugehen, als wir es bisher tun.<br />
Ich erinnere mich an eine Geschichte, die mir immer wieder<br />
von Nürnberger zivilen Polizeibeamten erzählt wird, wenn ich<br />
mich für das dortige Schulvermeidungsprojekt interessiere:<br />
Zivile Polizeibeamte treffen Jugendliche in der Musikabteilung<br />
eines Warenhauses und stellen fest, dass diese ihrem Alter nach<br />
eigentlich in die Schule gehen müssten. Die Beamten fahren –<br />
nach Rücksprache mit der Schule und auf deren ausdrücklichen<br />
Wunsch – die Schüler mit dem Auto in die Schule, übergeben<br />
sie dem Schulleiter, die Zivilbeamten verlassen das Schulgebäude<br />
durch den Haupteingang, und die „gefassten“ Schüler gehen<br />
zum Nebeneingang hinaus. Ihre Enttäuschung ist groß, wenn<br />
die Schule sich auf dieses Bringen gar nicht vorbereitet,<br />
obgleich sie die Zuführung selber gewünscht hat.<br />
Wir haben also auf der einen Seite eine Schule, die von ihrer<br />
personellen und professionellen Ausstattung her für soziale Fragen<br />
wenig kompetent ist, und wir haben auf der anderen Seite<br />
die Jugendhilfe, die in Deutschland Leistungen erbringt, wie sie<br />
in anderen Ländern selbstverständlich von der Schule erbracht<br />
würden. In Großbritannien etwa gibt es Einrichtungen, sogenannte<br />
pupil referral units, an die Schulen Schüler „zurückgeben“<br />
können, mit denen sie nicht zurechtkommen. Dies sind<br />
Einrichtungen der lokalen Schulbehörde, die die Verpflichtung<br />
der Schule übernehmen, für diese Schüler ein angemessenes<br />
Angebot zu entwickeln und dafür zu sorgen, dass sie sobald wie<br />
irgend möglich wieder in eine Schule zurückgehen, entweder in<br />
die Schule, aus der sie gekommen sind, oder in eine andere. Die<br />
vergleichbaren Projekte der Jugendhilfe für sogenannte „Schulverweigerer“<br />
in Deutschland haben viel weniger Anlass, die<br />
Rückführung dieser Jugendlichen anzustreben, Schule als Institution<br />
fühlt sich für sie nicht mehr zuständig.<br />
Wir brauchen in Deutschland eine ganz entschiedene Entwicklung<br />
der Zusammenarbeit zwischen Jugendhilfe und Schule, die<br />
die Probleme, über die wir hier reden, als ihre gemeinsame Aufgabe<br />
betrachten und nicht per Delegation damit umgehen.<br />
Wenn wir aber feststellen, dass wir für bestimme junge Leute<br />
keinen Weg zurück in die Schule finden, dann betrifft das auch<br />
unser gegliedertes Schulsystem. Wir müssen erkennen, dass dieses<br />
eine sehr ausgliedernde und sehr marginalisierende Form<br />
„Ein erheblicher Teil der jungen Leute, die in der Schule als leistungsschwach gelten, blühen<br />
im Praktikum auf und kommen stolz aus dem Betrieb zurück. Sie berichten, dass es ihnen<br />
Spaß gemacht hat, dass sie Anerkennung gefunden haben und man ihnen sogar in Aussicht<br />
gestellt hat, sie in die Ausbildung zu übernehmen, wenn sie so weitermachen. Diese Beobachtungen<br />
zeigen, dass es Handlungsmöglichkeiten gibt, mit dem Problem besser umzugehen, als<br />
wir es bisher tun.“<br />
Aus dem, was Frau Kampe angesprochen hat – nämlich den<br />
komplizierten Fragen der Beziehung zwischen Jugendhilfe und<br />
Schule bei uns –, sind auch Schlussfolgerungen für die weitere<br />
Entwicklung zu ziehen. Es darf bei dieser Frage nicht so sehr<br />
darum gehen, nach der Schuldzuweisung zu fragen, also darum,<br />
ob die Eltern, die Schule oder die Jugendhilfe verantwortlich zu<br />
machen sind, sondern es geht darum, dass die öffentlichen<br />
Akteure von <strong>Bild</strong>ung und Erziehung solche Sachverhalte als eine<br />
Herausforderung für ihr Handeln begreifen. Wir alle sollten uns<br />
darauf konzentrieren, danach zu suchen, wo die Ursachen und<br />
Schwierigkeiten liegen, die dazu führen, dass junge Menschen<br />
nicht in der Schule erscheinen. Dabei haben wir in Deutschland<br />
eine besondere Problematik aufgrund der Trennung von Jugendhilfe<br />
und Schule, denn das ist ebenso wie das gegliederte Schulsystem<br />
im internationalen Vergleich eine höchst eigentümliche<br />
deutsche Spezialität.<br />
der Beschulung ist, und wir unterschichten unser ohnehin übermäßig<br />
gegliedertes Schulwesen auch noch durch schulische<br />
Angebote der Jugendhilfe außerhalb des Schulsystems. Dies<br />
halte ich für außerordentlich problematisch, und von daher<br />
muss die Perspektive der Entwicklung wirklich in der Kooperation<br />
liegen.<br />
Ich halte es auf jeden Fall für zutreffend, dass sich viele Hinweise<br />
auf das Risiko späterer gehäufter Schulversäumnisse<br />
schon sehr früh zeigen. Das hängt fast immer mit Risiken des<br />
Schulerfolges zusammen. In einigen Bundesländern werden<br />
mehr als zehn Prozent der Kinder bei der Einschulung zurückgestellt,<br />
das ist das erste Scheitern in der Schule. In Bremerhaven<br />
etwa wiederholen vier bis fünf Prozent der Grundschüler<br />
in jeder Klassenstufe. Das ist natürlich viel zu viel. Diejenigen,<br />
die heute in der Sekundarstufe I zu Schulvermeidern werden,<br />
117
ingen solche Erfahrungen aus der Grundschule mit. Ich<br />
denke, wir müssten sehr viel stärker auf Individualisierung als<br />
auf Sortierung in leistungshomogene Gruppen setzen. Dafür<br />
gibt es in Deutschland ja eine ganze Reihe von wunderschönen<br />
Modellen, etwa dasjenige der integrierten Förderung von Lernbehinderten<br />
in Schulen. Viele dieser Modelle sind außerordentlich<br />
erfolgreich, und diese könnten weiterentwickelt werden<br />
für den Umgang mit schuldistanzierten Kindern und Jugendlichen.<br />
Denn viele dieser jungen Leute sind u. a. deshalb nicht<br />
mehr in die Schule zu bringen, weil sie ihre Beziehung zur Schule<br />
ruiniert haben und sich nicht mehr leisten können, ohne<br />
Gesichtsverlust in die Schule zu gehen. Wenn ich diesen jungen<br />
Leuten einen Weg eröffne, ohne Gesichtsverlust wieder dasselbe<br />
zu tun wie ihre Altersgenossen – und das mögen junge Leute<br />
oft ganz gern, wenn sie noch nicht so weit ausgegrenzt sind,<br />
dass sie etwa als Drogendealer sozusagen alternative Formen<br />
der sozialen Anerkennung entwickelt haben –, dann eröffnet<br />
das durchaus Chancen.<br />
Wir müssen jedes Schulversäumnis ernst nehmen, genauso wie<br />
wir jeden Hinweis auf ein Risiko schulischen Scheiterns ernst<br />
nehmen müssen. Dann besteht die Chance, die Schulversäumnisse<br />
wesentlich zu reduzieren. Von den zehn Prozent Jugendlichen,<br />
die unsere Schulen ohne Abschluss verlassen, kommen<br />
fünf bis sechs Prozent aus der Hauptschule. Neunzig Prozent<br />
derjenigen, die in der Hauptschule massiv abwesend bleiben,<br />
gehören mit großer Wahrscheinlichkeit zu denjenigen, die dann<br />
auch die Schulen ohne Abschluss verlassen. Eine Strategie zur<br />
Verbesserung der Schulabschlussquoten in Deutschland muss<br />
deshalb immer eine Strategie zur Verbesserung des Schulbesuchs<br />
und zur Verbesserung der schulischen Erfolgschancen<br />
umfassen.<br />
Das Thema regelmäßiger Schulbesuch und der Umgang der<br />
Schule damit ist auch eine Grundfrage der demokratischen<br />
Funktion von Schule. Es geht tatsächlich im Kern darum, das<br />
Recht auf <strong>Bild</strong>ung für alle zu sichern In einer <strong>Bild</strong>ungsgesellschaft<br />
wie der unsrigen, in der die gesellschaftliche und berufliche<br />
Positionierung für alle von <strong>Bild</strong>ung abhängt, muss dies ein<br />
zentrales Anliegen eines demokratischen <strong>Bild</strong>ungswesens sein.<br />
Das war bis vor 50 Jahren vielleicht etwas anders, als etwa die<br />
Hälfte der Berufstätigen ihre berufliche Positionierung mittels<br />
Arbeit sichern konnten und dafür wenig <strong>Bild</strong>ung nötig war. In<br />
Duisburg etwa stellte sich für einen männlichen Jugendlichen<br />
ohne Schulabschluss in erster Linie die Frage, ob er zu Thyssen<br />
oder zu Krupp gehen wollte. Dort wurde er dann vielleicht zwei<br />
oder drei Jahre lang als Bote im Stahlwerk beschäftigt und kam<br />
anschließend, wenn er körperlich ausgewachsen war, ebenso wie<br />
seine ausgebildeten Altersgenossen an den Hochofen. Er war<br />
sozial anerkannt und brauchte keine ausgewiesene <strong>Bild</strong>ung. Das<br />
ist heute anders. Und deshalb müssen wir mit Schulversäumnissen<br />
anders umgehen. Vermutlich erklärt es auch die Tatsache,<br />
dass wir früher wahrscheinlich genauso viele Schulversäumnisse<br />
hatten wie heute, dass sie jedoch in der Gegenwart ein<br />
Problem darstellen, worum wir uns intensiv kümmern müssen.<br />
STATEMENT<br />
Ulrich Thünken<br />
Wir haben in NRW ca. 700 sozialpädagogische Fachkräfte – also<br />
Sozialpädagogen und Sozialarbeiter – in Schulen, wobei mir<br />
scheint, dass unser Thema nichts mit der Frage zu tun hat, ob<br />
man die Schulen mit Sozialarbeitern ausstattet oder nicht. Bei<br />
uns gibt es im Sekundarbereich etwa 3000 Schulen, und wenn<br />
wir in jeder Schule einen Sozialpädagogen hätten, wäre das Problem<br />
von Schulversäumnissen noch immer nicht gelöst. Ich will<br />
daher unsere Themenstellung noch einmal aus einer anderen<br />
Perspektive beleuchten. Ich war sehr lange Zeit auch für den<br />
Übergang Schule/Beruf zuständig und für Projekte, die wir in<br />
diesem Zusammenhang mit Jugendlichen gemacht haben.<br />
Wenn man sich die Jugendlichen anguckt, die in Berlin in der<br />
vorletzten Hauptschulklasse nicht mehr zur Schule gehen (in<br />
NRW haben wir keine Statistik dazu), dann sind es Schüler, die<br />
vorher schon Klassen wiederholt haben. Sie kommen in der letzten<br />
Klasse nicht mehr, weil die Schulpflicht für sie schon vorher<br />
zu Ende gegangen ist.Aus deren Sicht kann man durchaus infrage<br />
stellen, ob es sinnvoll ist, noch zur Schule zu gehen, denn<br />
sie wissen garantiert, so weit durchschauen sie das System,<br />
dass sie auf eine Lehrstelle keine Aussicht haben.<br />
Viele Jugendliche, gerade wenn sie in der Schule in einer<br />
schwierigen Situation sind, wissen im Grunde genommen, dass<br />
sich Schulbesuch in dem Sinne, wie Erwachsene es immer sagen<br />
(„Wer fleißig lernt, der wird was, wer in der Schule gut ist, der<br />
hat eine gute Chance in der Gesellschaft, etwas zu werden“),<br />
für sie nicht lohnt. Sie haben diese Perspektive nicht mehr. Man<br />
könnte sich sogar bisweilen fragen, warum eigentlich so viele<br />
noch eine Schule besuchen, die ihnen eigentlich nichts mehr<br />
bringt, ihnen keine Zukunftsaussichten mehr bietet. In meiner<br />
ersten Klasse, die ich als Lehrer hatte, wurde ein Schüler aus<br />
Klasse 8 entlassen, der kaum schreiben konnte, aber er wurde<br />
Tankwart. Darüber musste ich mir damals als Lehrer keine Sorgen<br />
machen. Doch heutzutage hätte dieser Schüler keine Chance<br />
mehr, und damit vergrößert sich die Gefahr, dass er der Schule<br />
den Rücken zukehrt. In diesem Zusammenhang muss man<br />
sehen, dass auch die heutige gesellschaftliche Situation objektiv<br />
den Schulbesuch für die Jugendlichen fragwürdig werden lässt.<br />
Es bringt eigentlich nicht viel, sich zu fragen, wie solches langfristige<br />
Schulschwänzen entsteht. Wenn die soziale Umgebung<br />
eines Jugendlichen stimmt, wird er nicht die Schule schwänzen,<br />
selbst wenn schulisch etwas schiefläuft. Es gibt umgekehrt<br />
natürlich auch den Fall, dass in der Schule massive Fehler<br />
gemacht werden. Doch wenn das Elternhaus in Ordnung ist,<br />
wird sich das trotzdem nicht zu einer Katastrophe auswachsen.<br />
Das heißt, nicht alleine die Schule verursacht Schulversagen,<br />
und sie kann auch nicht allein das Schulversagen, das sich im<br />
Schwänzen letztlich äußert, bekämpfen, sondern man muss den<br />
gesamten Zusammenhang, in dem ein junger Mensch lebt, sehen.<br />
Das Problem lässt sich eben nicht einfach dadurch lösen, dass<br />
die Jugendhilfe für jeden Schulschwänzer 10 000 Euro zusätz-<br />
118
Null Bock auf Schule: Kampe/Rademacker/Thünken/Göbel<br />
lich bekommt. Das ist wirklich ein ganz schwieriges Problem.<br />
Und die Frage ist, wie man das Geld am sinnvollsten verwenden<br />
kann. Ich bin froh, dass das Land jetzt verstärkt Sozialpädagogen<br />
einstellt, aber auch das rührt nicht an den Kern des Problems.<br />
Wir müssen genau überlegen, mit welchen kleinen<br />
Schritten man etwas erreichen kann. Dabei sind meines Erachtens<br />
zwei Stellen ganz wichtig:<br />
Da ich im Ministerium schon lange für die Gesamtschulen<br />
zuständig bin, können Sie sich denken, dass ich zur hier im<br />
Zusammenhang mit Schulvermeidungsverhalten auch angesprochenen<br />
Frage der Vielgliedrigkeit unseres Schulsystems eine<br />
persönliche Meinung habe, die ich aber hier nicht diskutieren<br />
möchte, denn das nützt ja denjenigen, die in einer bestimmten<br />
Schule unterrichten, gar nichts. Ich will einfach ein Beispiel<br />
erzählen: Ich habe eine Hauptschule besucht, die mich eingeladen<br />
hatte, weil sie ein interessantes Berufsförderungskonzept<br />
entwickelt hat. Die Schule hat mir vorgeschlagen, dass wir zum<br />
„Ich würde mir wünschen, dass wir wie in Finnland sagen: Wir brauchen jeden, auch das Kind<br />
aus schwierigen Verhältnissen, das ist uns etwas wert. Wir brauchen diese jungen Menschen<br />
auch aus demografischen Gründen, weil wir nicht mehr so viele Kinder haben. Die Jugendhilfe<br />
und viele, viele Schulen haben das bereits verstanden.“<br />
Zum einen gibt es die massiven Fälle, in denen die jungen<br />
Leute der Schule schon ein Jahr ferngeblieben sind. Für solche<br />
Jugendlichen bieten wir ja schon seit Jahren gemeinsame Projekte<br />
an, in denen Lehrer und Sozialarbeiter aus der Jugendhilfe<br />
in einer Jugendeinrichtung zusammenarbeiten.<br />
Die andere Stelle ist interessanter. Sie lässt sich umreißen<br />
mit der Frage: Wo entsteht denn das Problem? Es entsteht zum<br />
Teil in der sozialen Umgebung, zum Teil auch in der Schule,<br />
doch wichtig ist es, früh aufmerksam zu werden. Dabei kommt<br />
das Thema individuelle Förderung ins Spiel. Wir müssen früh<br />
aufpassen, wo ein Jugendlicher in der Klasse an den Rand zu<br />
geraten droht, wo eine Situation entsteht, in der er nicht nur<br />
bei den Lehrern, sondern auch bei seinen Mitschülern unten<br />
durch ist. Manche Schüler sind zwar keine Schulschwänzer, aber<br />
sie sind in der Schule abwesend. Sie kommen bloß, weil ihre<br />
Mitschüler zum Beispiel ganz nett sind, weil sie dort ein paar<br />
Freunde treffen.<br />
In einer solchen Situation führt es zu nichts, sich zu fragen,<br />
wer jetzt zuständig ist und wer finanzieren muss. Das soziale<br />
Umfeld hat versagt, die Schule hat versagt. Umgekehrt beobachten<br />
wir zahlreiche Fälle, in denen junge Leute eben nicht in<br />
so eine Schulvermeidungskarriere geraten, weil vernünftige<br />
Erwachsene mit ihnen arbeiten. Wenn ein Schüler an den Rand<br />
zu geraten droht, gibt es häufig jemanden, der ihn auffängt.<br />
Sei es, dass er zufällig einen Klassenlehrer hat, der auf die Situation<br />
im Elternhaus mit einer angemessenen Maßnahme reagiert,<br />
der Verständnis dafür hat, sei es, dass er in seinem Jugendheim<br />
einen Betreuer getroffen hat, mit dem er etwas aufarbeiten<br />
kann, was er in der Schule nicht ansprechen konnte.<br />
Dabei ist es mir ehrlich gesagt egal, ob das ein Sozialpädagoge<br />
oder ein Lehrer ist, Hauptsache es ist einer da, der etwas tut.<br />
Kennenlernen zunächst in eine der 5. Klassen gehen, um zu zeigen,<br />
was für tolle Kinder sie an dieser Schule haben. Dann<br />
haben mir die Kinder erzählt, dass der eine ganz toll Kaninchen<br />
züchten kann, davon hat er <strong>Bild</strong>er gemalt. Ein anderer kann toll<br />
schreiben usw.<br />
Diese Schule hat sich darum bemüht, den Kindern, die von der<br />
Grundschule eigentlich aussortiert worden sind, zu zeigen, dass<br />
sie akzeptieren werden und dass sie etwas können. Das fand ich<br />
ausgezeichnet. Das ist eine vorbeugende Maßnahme, wie sie<br />
jede Schule ergreifen kann. Wenn die Kinder spüren, dass sie<br />
akzeptiert werden, müssen sie sich nicht sagen: Ich bin auf<br />
einer Schule, wo keiner hin will, die auch meine Eltern ablehnen,<br />
und deswegen tue ich irgendwann nichts mehr und verabschiede<br />
mich zuerst geistig daraus und anschließend auch<br />
körperlich. Wenn man ein solches System hat, dann kann man<br />
etwas tun, und das sind wir den Kindern schuldig.<br />
So viel zur Prävention. Das Kernproblem liegt natürlich bei den<br />
Jugendlichen, die bereits zwei Jahre die Schule geschwänzt und<br />
eine oder mehrere Klassen wiederholt haben. Wenn solch ein<br />
junger Mensch wieder in die Schule zurückwill, in welche Situation<br />
kommt er dann? Selbst wenn die Lehrer ihn freundlich<br />
empfangen, weiß er doch, dass er in der Klasse nicht mitkommt<br />
oder dass er mit viel Jüngeren zusammenkommt, die dasselbe<br />
nicht können, was er auch nicht kann. Er kommt in eine Umgebung,<br />
wo er nicht respektiert wird. Die Kleinen sagen ihm, er<br />
gehöre nicht dort hin, von den Großen bekommt er Häme zu<br />
spüren, da er ja schon zwei Mal wiederholt hat, und wird gefragt,<br />
wo er denn gewesen sei. Der Jugendliche gerät so in eine<br />
ganz fatale Lage, ganz egal, ob die Schule sich hier sehr verändert.<br />
Aus diesem Grund haben wir ein ganz anderes Projekt<br />
gestartet. Wir lassen die Jugendlichen beispielsweise drei Tage<br />
in den Betrieb gehen und zwei Tage in die Schule, denn dann<br />
haben sie außerhalb der Schule eine Perspektive. Dort bekommen<br />
sie eine Chance, etwas zu werden und mit Erwachsenen<br />
zusammenzuarbeiten. An den beiden Schultagen gehen die<br />
119
Jugendlichen in eine besondere Gruppe, und wenn sie aus dem<br />
Betrieb kommen, dann haben sie etwas vorzuweisen. Sie können<br />
berichten, wie sie mit dem Gesellen zusammen Fenster eingesetzt<br />
haben. Ich war mit einem jungen Mann auf der Messe,<br />
der mir stolz berichtet hat, dass er am nächsten Samstag mit<br />
dem Gesellen schon schwarzarbeiten darf. Er verdient sich<br />
etwas dazu und hatte das Gefühl, jemand zu sein. Ein halbes<br />
Jahr zuvor war er der Bandenführer in der 8. Klasse gewesen.<br />
Wir müssen für die Jugendlichen eine Perspektive schaffen.<br />
Doch wir dürfen uns nicht der Illusion hingeben, die Jugendhilfe<br />
könne diese jungen Leute so bearbeiten, dass diese anschließend<br />
nahtlos in der Schule zurechtkommen. Das ist unrealistisch.<br />
Die Jugendlichen sehen nicht nur den Lehrer und den<br />
Lehrplan, sondern es bedeutet ihnen auch etwas, in welche<br />
Umgebung sie kommen, was ihre Mitschüler von ihnen erwarten<br />
und ob sie dort ihr Gesicht wahren können. Deswegen muss<br />
man sich für sie einen anderen Weg ausdenken. Zu einem früheren<br />
Zeitpunkt, also etwa bei einem 12-Jährigen, ist, wenn<br />
Konflikte mit dem Lehrer oder den Eltern vorliegen, natürlich<br />
eine andere Art des Eingreifens angezeigt. Doch wenn einer die<br />
Schwelle schon überschritten hat, wenn er sich geistig von der<br />
Schule und von seiner Altersgruppe verabschiedet hat und<br />
schon unter den Obdachlosen am Bahnhofsvorplatz als der Tollste<br />
gilt oder mit Drogen handelt, kommt man nicht mehr weiter<br />
damit, dass man ihm droht, in Mathematik eine Fünf oder<br />
eine Sechs zu kriegen.<br />
Zu Frau Kampe möchte ich noch bemerken, dass wir von den<br />
Schulen nicht nur ein Konzept verlangen für den Einsatz des<br />
Sozialpädagogen, sondern auch eine Kooperation mit der örtlichen<br />
Jugendhilfe. Wenn wir einen Konflikt mit einem Schüler<br />
feststellen, muss die Schule sich mit der Jugendhilfe dahingehend<br />
absprechen, wer welche Aufgabe übernimmt, wer was<br />
anbieten und am besten bewältigen kann. Wir wollen mehr<br />
Sozialpädagogen an die Schulen bringen, das beziehen wir ein.<br />
meiner Heimatstadt in ganz schlechten sozialen Verhältnissen<br />
leben. Das ist auch ein Erfolg von Schule und natürlich auch von<br />
Jugendhilfe.<br />
Insofern wäre mein Appell, nicht immer nur zu sehen, dass es<br />
Schulvernachlässigung gibt, sondern auch, dass Schüler durch<br />
viele Maßnahmen bereits daran gehindert werden, der Schule<br />
fernzubleiben. An vielen Stellen besteht schon eine gute Zusammenarbeit<br />
aller Beteiligten. Auch die Polizei hat dazu bei<br />
den runden Tischen häufig eine positive Einschätzung: dass es<br />
vielfach gelingt, Jugendliche aufzufangen, die von der Gesellschaft<br />
an den Rand gedrängt werden. Ich würde mir wünschen,<br />
dass wir wie in Finnland sagen: Wir brauchen jeden, auch das<br />
Kind aus schwierigen Verhältnissen, das ist uns etwas wert. Wir<br />
brauchen diese jungen Menschen auch aus demografischen<br />
Gründen, weil wir nicht mehr so viele Kinder haben. Die Jugendhilfe<br />
und viele, viele Schulen haben das bereits verstanden.<br />
STATEMENT<br />
Dieter Göbel<br />
Herr Rademacker hat natürlich recht damit, dass der erste Blick<br />
auf Schulverweigerer nicht von der Schule selbst kam. Wir<br />
waren in einem interministeriellen Gespräch, in dem thematisiert<br />
wurde, dass unsere Einrichtungen, aber auch die Polizei<br />
immer öfter davon berichten, dass Jugendliche zu einer Zeit, in<br />
der sie eigentlich in der Schule sein sollten, zunehmend am<br />
Bahnhof herumhängen. Natürlich besteht hier ein Hilfebedarf,<br />
der artikuliert wird, natürlich sind das neue Felder, aber es ist<br />
keine Beschäftigung mit sich selbst, sondern darin drückt sich<br />
eine Notwendigkeit zu handeln aus. Ob die Problematik schlimmer<br />
ist als früher, können wir nicht sagen. Wir haben nicht nur<br />
keine Zahlen darüber, wie viel Schulverweigerer es gibt, wir<br />
haben auch keine Definition, über wen wir eigentlich reden.<br />
Ein zweiter Punkt: Ich wohne in Duisburg, in dieser Stadt leben<br />
18 Prozent der Kinder in Armut, das sind meist Kinder von<br />
Arbeitslosen, Sozialhilfeempfängern, d. h. Kinder aus sehr schwierigen<br />
familiären Situationen. Wenn Eltern arm sind, dann geht<br />
es ihnen meist auch gesundheitlich schlecht usw. Hier ist es<br />
wichtig, dass die Kinder wenigstens in der Schule zu essen<br />
bekommen, denn sie kommen häufig ohne Frühstück. Unter<br />
diesen Kindern gibt es sehr viele, die jedenfalls lieber in die<br />
Schule kommen, als etwas anderes zu tun. Ich habe gerade in<br />
der Zeitung einen Bericht von einer Sonderschule für Erziehungsschwierige<br />
gelesen, wo die größte Strafe darin besteht,<br />
dass man nicht so lange in der Schule bleiben darf. Es gibt ganz<br />
viele Kinder, die sich in ihrem Umfeld inzwischen so an den<br />
Rand gedrängt fühlen, dass die Schule für sie eine Anlaufstelle<br />
ist, wo sie Menschen finden, die sie ernst nehmen. Solche<br />
Beispiele sollte man auch einmal hervorheben. Bei vielen Kindern<br />
gelingt es der Schule nämlich zu vermeiden, dass sie dauerhaft<br />
schwänzen. Gott sei Dank ist die Zahl der Schüler ohne<br />
Schulabschluss nicht so hoch wie die Zahl der Schüler, die in<br />
Ist ein Schulverweigerer ein typischer Eckschwänzer, der zwei,<br />
drei Mal die Woche in der ersten und zweiten Stunde fehlt? Ist<br />
das einer, der bloß einmal schwänzt, weil er eine Biologie- oder<br />
Mathearbeit versäumen will? Was ist der Unterschied zwischen<br />
Schulabsentismus, Schulverweigerung und Schulmüdigkeit? Da<br />
fehlt es an einem spezifisch wissenschaftlichen Instrumentarium,<br />
auf das wir uns verlassen können. Wenn man sagt, in den<br />
1960er-Jahren habe genauso viel Schulmüdigkeit geherrscht –<br />
mit welchem Begriff und an welchen empirischen Dingen hat<br />
man das festgemacht?<br />
Ich will das, was wir bearbeiten wollen, auf eine These zuspitzen.<br />
Die Jugendlichen, mit denen wir uns beschäftigen, sind die<br />
aktiven Schulverweigerer, die der Schule für mehr als ein halbes<br />
Jahr den Rücken gekehrt haben. Wir sind zunächst davon ausgegangen,<br />
dass wir diese durch verschiedene sozialpädagogischen<br />
Maßnahmen wieder in die Schule integrieren könnten.<br />
Heute müssen wir festhalten, dass sich die meisten Schulverweigerer<br />
den schulischen Prozessen dauerhaft entzogen haben.<br />
120
Null Bock auf Schule: Kampe/Rademacker/Thünken/Göbel<br />
Von daher erscheinen außerschulische <strong>Bild</strong>ungsorte eher geeignet,<br />
aktive Schulverweigerer für regelmäßiges organisiertes Lernen<br />
zu motivieren. Das Ziel einer Reintegration gelingt unserer<br />
Einschätzung nach in den wenigsten Fällen. Mir liegen Angaben<br />
aus dem Rheinland vor, die hier eine Zahl von nicht mehr als<br />
fünf Prozent nennen. Wir müssen also unser Augenmerk darauf<br />
richten, dass wir es hier mit Jugendlichen zu tun haben, die der<br />
Schule als Ort des Lebens, Lernens und der Gemeinschaft dauerhaft<br />
ihre Aufmerksamkeit entzogen haben.<br />
Wenn davon die Rede ist, dass die Reintegration der Schulverweigerer<br />
ein gemeinsames Anliegen von Schule und Jugendhilfe<br />
ist, dann geht es bei dieser Diskussion letztendlich auch<br />
immer um die Frage der finanziellen Ausstattung und wer<br />
bezahlt. Was ich nie verstanden habe, ist, weshalb die Jugendhilfe<br />
solche Maßnahmen bezahlt, wenn es eine Schulpflicht<br />
gibt. Im Grunde genommen müsste alle Ausstattung, alle Lehrer<br />
und die Gebäude der Reintegrationsmaßnahmen vom Schulministerium<br />
bezahlt werden. Zurzeit ist es leider so, dass wir von<br />
der Jugendhilfe zahlen müssen.<br />
Wenn wir die Gründe für Schulverweigerung anschauen, dann<br />
ist inzwischen empirisch gesichert, dass die ersten Tendenzen<br />
einer Schulmüdigkeit sich mit dem 11., 12. Lebensjahr ausmachen<br />
lassen. 59 Prozent der Jugendlichen geben als Grund für<br />
ihr Fernbleiben von der Schule massive Konflikte mit dem Lehrer<br />
an. Das hat das Deutsche Jugendinstitut herausbekommen. 39<br />
Prozent nennen schlechte Leistungen. Das will ich einmal so<br />
stehen lassen. Sicher haben wir es hier auch mit einer Klientel<br />
zu tun, die wenig Frustrationstoleranz hat und dann aufgrund<br />
dieser Konfliktlage zunehmend der Schule den Rücken kehrt.<br />
Das, was hier als Begründung ins Gespräch gebracht wurde, die<br />
traurigen Zukunftsaussichten, ist doch ein generelles Problem.<br />
In unserer heutigen Gesellschaft funktioniert der Generationenvertrag<br />
eben nicht mehr.Wir hatten zumindest in den Goldenen<br />
Zwanzigerjahren des Kapitalismus die Übereinkunft zwischen<br />
den Generationen. Die Eltern haben als Maxime an die Kinder<br />
weitergegeben: Streng dich an, dann geht es dir besser als uns.<br />
Das funktioniert nicht mehr als Motivation. Das ist das Erste.<br />
Das Zweite ist, dass wir bei den ersten Schulmüdenversuchen<br />
in NRW, die wir mit Herrn Thünken und anderen in einer gewissen<br />
Vorreiterrolle begonnen haben, mit unserer Arbeit beim 6.,<br />
7. Schuljahr angesetzt haben. Denn es hat keinen Zweck, Jugendliche<br />
im letzten Schuljahr motivieren zu wollen, bei denen<br />
sich bereits eine manifeste Schulverweigerung mit zwei, drei<br />
Jahren Abwesenheit aus der Schule verfestigt hat. Wir müssen<br />
früher anfangen, und da wünsche ich mir, dass die Schule für<br />
diese Klientel eine Auffangstation bildet, Maßnahmen mit uns<br />
entwickelt, um das Abgleiten in die Schulverweigerung zu verhindern.<br />
Das Schwierige dabei ist doch, dass Schulen Systeme<br />
sind, und Systeme funktionieren nur, weil dort Menschen sind.<br />
Wenn ich als Lehrer vor einer Klasse mit 25 bis 30 Schülern<br />
stehe und zwei Rabauken darin habe, die mir den Unterricht<br />
zunehmend schwierig machen, dann bin ich eigentlich ganz<br />
froh, wenn die beiden weg sind, und ich laufe ihnen nicht<br />
hinterher und sage, sie sollten bitte wiederkommen.<br />
Wenn ich hier von außerschulischen Lernorten gesprochen<br />
habe, dann denke ich an eine Kooperation mit der Schule. Wir<br />
haben Lehrpersonal, das dort den schulischen Unterricht macht.<br />
Wir wissen nur aus unserer Erfahrung, dass wir bestimmte Jugendliche<br />
nicht mehr dazu bewegen können, ein Schulgebäude<br />
zu betreten. Wenn ich denen sage, du musst wieder in die Schule<br />
gehen, dort kannst du auch am Werkunterricht teilnehmen,<br />
und dann antworten sie mir: „Da gehe ich nicht mehr hin.“<br />
Natürlich gibt es auch strukturelle Differenzen zwischen Lehrern<br />
und Sozialarbeitern. Der eine wird nach A 14 oder A 13<br />
bezahlt und der andere nach A 9. Wenn der Hauptleistungsmotivator<br />
in dieser Gesellschaft automatisch das Geld ist, dann<br />
trennt das natürlich. Trotzdem kann ich Ihnen tausend Beispiele<br />
nennen, wo die Zusammenarbeit funktioniert. Als wir 1994/95<br />
mit dem ersten Modellversuch Schulmüdigkeit angefangen<br />
haben, hatten wir ganz viele Schwierigkeiten zu überwinden.<br />
Heute können wir in NRW 3000 Plätze anbieten. Der Bedarf,<br />
wenngleich er sich schwer schätzen lässt, je nachdem, wen<br />
man hinzurechnet, beläuft sich ungefähr auf 30 000. Man kann<br />
sagen, das sind 27 000 zu viel. Doch es gibt zumindest 3000<br />
Plätze, wo das, was wir beide administeriell verkörpern, im<br />
Grunde genommen sehr gut läuft. Es gibt immer gewisse<br />
Schwierigkeiten, doch es läuft. Vor allem möchte ich vor den<br />
Leuten, die an diesen Projekten mitarbeiten und mit denen ich<br />
mehrere Praktika gemacht habe, den Hut ziehen, denn die<br />
arbeiten im Grunde genommen mit einer Klientel, die keiner so<br />
richtig will. Weder die Schule noch die Jugendhilfe. Denn das<br />
sind keine lieben Jugendlichen, die sozusagen als subversive<br />
Strategie den Unterricht ein bisschen schwänzen, um sich den<br />
Leistungen der Schule zu entziehen, sondern das sind ganz<br />
schön schwierige junge Menschen. Mit denen zu arbeiten, das<br />
ist kein Zuckerschlecken. Sie müssen erst einmal Pädagogen<br />
und Lehrer finden, die sich das tagtäglich antun wollen. Dass<br />
wir dennoch für 3000 Jugendliche einen Platz haben mit sehr<br />
motiviertem Personal, finde ich einen guten Anfang.<br />
121
<strong>Bild</strong>ung entwaffnet –<br />
Strategien zur Krisenprävention<br />
<strong>Bild</strong>ung ist der wichtigste Ansatz für eine konfliktarme Gesellschaft. Wo und wie kann Friedenspädagogik<br />
umgesetzt werden: in Schulen, in Lehrplänen, beim Lehrertraining, bei der Gestaltung von Schulmaterialien<br />
und kulturellen Veranstaltungen? Auf dem Podium trafen sich Renate Grasse, Mitglied im Vorstand<br />
der Arbeitsgemeinschaft für Friedens- und Konfliktforschung, Dr. Sara Jerop Ruto, Erziehungswissenschaftlerin<br />
aus Nairobi, Kenia, Dr. Carlos Felipe Revollo Fernández, Experte für <strong>Bild</strong>ungsförderung<br />
indigener Bevölkerungsgruppen aus La Paz, Bolivien, und Professor Dr. Volker Lenhart, Erziehungswissenschaftler<br />
an der Universität Heidelberg, und diskutierten darüber, welche Wege in einer gemeinsamen<br />
Welt gangbar sind.<br />
Moderation: Dr. Hanns Sylvester, Leiter der Gruppe Entwicklungszusammenarbeit im DAAD<br />
Renate Grasse<br />
Renate Grasse, geb. 1952, Lehramtsstudium 1972-75 in München. 1973-79 Studium der Pädagogik, Psychologie<br />
und Soziologie in München. Seit 1976 Mitarbeit in der AG Friedenspädagogik e. V.; Mitarbeit in einer<br />
kommunalen AG zur Förderung von Kinder- und Jugendpartizipation. Aktiv in einem fachlichen Austauschprogramm<br />
mit Kolleginnen und Kollegen in Kiew 1989-96, mit St. Petersburg seit 2000. Mitglied im Vorstand<br />
der Arbeitsgemeinschaft für Friedens- und Konfliktforschung e. V. in München.<br />
Sara Jerop Ruto<br />
Sara Jerop Ruto, Dr., geb. 1967. Studium der Erziehungswissenschaften an der Kenyatta University in Nairobi.<br />
Dort 1990 Bachelor of Education, 1996 Master of Education. 2004 Promotion an der Universität Heidelberg.<br />
1990-91 Lehrerin für englische Sprache und Literatur. 1994-95 am Kilimambogo Teachers College tätig. Seit<br />
1996 Dozentin für vergleichende und internationale Erziehungswissenschaft und Geschichte der Erziehungswissenschaft<br />
an der Kenyatta University. 1998 Forschungsprojekt für das Institute of Policy Analysis Research<br />
(IPAR). Arbeitsschwerpunkte: Vergleichende und internationale Erziehungswissenschaft, Geschichte der Erziehung,<br />
Gender-Studien.<br />
STATEMENT<br />
Renate Grasse<br />
<strong>Bild</strong>ung kann entwaffnen<br />
1. Wir möchten, dass unsere Kinder und Jugendlichen Gewaltfreiheit<br />
lernen. Mit dieser Bitte treten die Leitungen von<br />
Jugendzentren oder von Kindereinrichtungen, aber auch Lehrer<br />
und Lehrerinnen und Elternbeiräte an Institute und andere Einrichtungen<br />
heran, die zivile Konfliktbearbeitung, Zivilcourage<br />
oder Friedenspädagogik „anbieten“.<br />
2. Es hat sich in den vergangenen zehn bis zwölf Jahren ein<br />
gut bestücktes Methodenrepertoire entwickelt, vor allem was<br />
das Erlernen von Konfliktkompetenz für Kinder und Jugendliche<br />
122
<strong>Bild</strong>ung entwaffnet: Grasse/Ruto/Revollo Fernández/Lenhart Blindtext<br />
Carlos Felipe Revollo Fernández<br />
Carlos Felipe Revollo Fernández, geb. 1972, Experte für <strong>Bild</strong>ungsförderung indigener Bevölkerungsgruppen.<br />
Studierte zunächst an der Universidad Católica Boliviana Sciences of Social Communication. 2000 Master of<br />
Science in Beruflicher und Erwachsenenbildung für Entwicklungsländer; 2005 Promotion in Erziehungswissenschaften<br />
an der TU Dresden. Er lehrte an der Salesians Secondary School in Bolivien; war wissenschaftlicher<br />
Assistent am Istituto Superiore Internazionale Salesiano di Ricerca Educativa (ISRE), Venedig, und Dozent<br />
am Institut für Lateinamerikastudien sowie im Master-Studiengang für Erziehungswissenschaften in Entwicklungsländern<br />
an der TU Dresden.<br />
Volker Lenhart<br />
Volker Lenhart, Professor Dr., leitet die Forschungsstelle für Vergleichende Erziehungswissenschaft und ist<br />
Professor am Institut für <strong>Bild</strong>ungswissenschaft der Universität Heidelberg. Honorarprofessor an der Humboldt<br />
Universität in Berlin. Er publiziert zu den Themenfeldern Schulpädagogik, Historische und Vergleichende<br />
Erziehungswissenschaft, forscht in internationalen Projekten in den Bereichen Menschenrechtsbildung,<br />
friedensschaffende Lehrplanarbeit, Pädagogik der Menschenrechte – <strong>Bild</strong>ung als Menschenrecht,<br />
Merkmale von Kindheit in der „Dritten Welt“.<br />
betrifft. Kern dieser Methodik ist ein Rhythmus von spielerischen<br />
Elementen, die Sensibilität und Aufmerksamkeit schaffen,<br />
von Wissensvermittlung über Konflikte und Gewalt, von<br />
Rollenspielen, Übungen und Simulationen, die dieses Wissen<br />
ins Handeln holen, und von Reflexion.<br />
3. Spielerische Elemente und Rollenspiele sind taugliche<br />
Methoden für Kinder und für Erwachsene, wenn es um das<br />
Lernen von Gewaltfreiheit geht, nicht jedoch für Jugendliche.<br />
Für Jugendliche sind andere Ansätze erfolgversprechend:<br />
Das Lernen am Ernstfall und für den Ernstfall.<br />
Beispiel: De-Eskalationsmethoden und Konfliktregelung bei der<br />
Selbstöffnung<br />
Oder: Kurzfilme für pädagogische Arbeit<br />
Wenn sie die Gelegenheit zur kreativen Selbstdarstellung<br />
bekommen. Kunstprojekte<br />
123
4. Für alle pädagogischen Arbeitsfelder aber gilt: Es können für<br />
die Kinder und Jugendlichen noch so gute Programme, Projekte<br />
und Kurse für gewaltfreie Konfliktbearbeitung angeboten<br />
werden, sie bieten keine Garantie dafür, dass ein von Konfliktfähigkeit<br />
und gegenseitiger Achtung geprägtes Erfahrungsumfeld<br />
entsteht. Dazu brauchen wir auch die Pädagogen, und dazu<br />
brauchen wir Veränderungsfähigkeit in den Einrichtungen.<br />
5. Das klingt banal und selbstverständlich, ist es aber nicht.<br />
Ich möchte drei Beispiele einbringen:<br />
a Pädagogen einer Freizeiteinrichtung beklagen sich, dass die<br />
Kinder, die zu ihnen zum Mittagessen und zur Hausaufgabenbetreuung<br />
kommen, ständig gewaltsame Auseinandersetzungen<br />
untereinander führen. Sobald man eine gleichbleibende<br />
Ansprechperson für die Kinder einsetzt, ändert sich die Situation.<br />
Zuvor war immer kurzfristig vor dem Essen bestimmt worden,<br />
wer vom Personal sich um die Mittagstischkinder kümmern<br />
muss.<br />
6. Abschließend und zusammenfassend möchte ich daher feststellen:<br />
Gewaltfreiheit wird nicht für das Leben gelernt, sondern im<br />
Leben.<br />
STATEMENT<br />
Sara Jerop Ruto<br />
Peace Building through Education: The Case of Kenya<br />
Formal education systems are accorded a critical role in the provision<br />
of peace education. The rationalisation and justification<br />
to „teach peace” is derived from the understanding that positive<br />
values can be promoted through education. Indeed, the UN<br />
preamble to the constitution, that „since wars begin in the<br />
minds of man, it is in the minds of men that defences for peace<br />
must be put”.<br />
b Pädagogen eines Jugendtreffs klagen, dass die älteren<br />
Jugendlichen ihre gewaltgeprägte Macho-Kultur an die nachwachsenden<br />
Kleineren „vererben“. Die Haltung der Pädagogen<br />
zu Gewalt in der Erziehung ist ambivalent. Das Team lässt sich<br />
auf einen Prozess ein, in dem der belastende Arbeitsalltag nachund<br />
vorbereitend reflektiert wird. Mit der Handlungssicherheit<br />
im Team schwächt sich die Gewaltkultur in der Einrichtung ab.<br />
c Die Organisatoren eines großstädtischen Ferienprojekts beobachten<br />
über die Jahre eine Zunahme an Gewaltvorfällen. Veränderungen<br />
im Spielsystem, eine gezielte Ausbildung der Betreuer<br />
und sogenannte „Zoff-Kurse“ für die Kinder vermögen<br />
den Trend umzudrehen.<br />
While education systems can prevent violence, they can also<br />
abet structural violence. One form of structural violence is denial<br />
of access to education. Provision of expanded access has<br />
remained a topical theme in independent Kenya. Successive<br />
governments through policy making, party manifestos and subsequent<br />
political pledges have all sought to increase access. But<br />
despite the concerted efforts, regional variations persist. In the<br />
so called „northern frontier districts” three quarters of the<br />
school aged children do not access school. It is mainly in these<br />
areas, with low school participation, that sporadic ethic based<br />
clashes are witnessed. School have been the targets of conflict.<br />
The most recent example occurred in 2006, in Turbi, Marsabit<br />
where school children were attached and killed in their school<br />
„Es können für die Kinder und Jugendlichen noch so gute Programme, Projekte und Kurse für<br />
gewaltfreie Konfliktbearbeitung angeboten werden, sie bieten keine Garantie dafür, dass ein<br />
von Konfliktfähigkeit und gegenseitiger Achtung geprägtes Erfahrungsumfeld entsteht. Dazu<br />
brauchen wir auch die Pädagogen, und dazu brauchen wir Veränderungsfähigkeit in den Einrichtungen.“<br />
Um es noch einmal auf den Punkt zu bringen:<br />
In allen drei Fällen hatten die Pädagogen angenommen, die<br />
Probleme ließen sich durch eine Art friedenspädagogischen<br />
Benimmkurs für die Kinder oder Jugendlichen in den Griff<br />
bekommen. Der Schlüssel für die Verbesserung hat jedoch bei<br />
ihnen selbst gelegen. Natürlich haben wir auch mit den Kindern<br />
und Jugendlichen gearbeitet, aber das war nur sinnvoll im Kontext<br />
einer ganzheitlichen „Kulturveränderung“.<br />
compound, allegedly by a rival ethnic community. In other incidents,<br />
school buildings have been burnt down.<br />
The school curriculum has been faulted as being more reflective<br />
of urban and agricultural potential areas. The issues symptomatic<br />
of the arid areas (mainly northern districts – North<br />
Eastern province and parts of Rift Valley province) are hardly<br />
reflected in the formal or non-formal curriculum. Arid areas<br />
depend on the pastoral economy. Multiple factors such as environmental<br />
degradation, less pasture land versus larger herds of<br />
124
<strong>Bild</strong>ung entwaffnet: Grasse/Ruto/Revollo Fernández/Lenhart<br />
livestock imply often aggressive competition for available grazing<br />
land and inevitable conflict. Kenya has a centralised curriculum<br />
(leading to nationally set examinations for terminal grades)<br />
that is blind to regional realities. Hence it is not effective in<br />
instituting mechanisms for peace building. Local education<br />
ein Instrument, mit dem wir etwas Gutes anfangen können,<br />
aber wir können damit leider auch eine Kultur zerstören.<br />
In meinem Land gibt es zwei parallele Realitäten. Eine indianische<br />
auf der einen sowie eine moderne und mehr von Europa<br />
„Kenya has a centralised curriculum (leading to nationally set examinations for terminal<br />
grades) that is blind to regional realities. Hence it is not effective in instituting mechanisms<br />
for peace building. Local education officers are aware of the dire needs in their districts of<br />
focus, but often feel impotent to act, given that that centralised and examination oriented<br />
education system constraints them.”<br />
officers are aware of the dire needs in their districts of focus,<br />
but often feel impotent to act, given that that centralised and<br />
examination oriented education system constraints them.<br />
It is vital that education for prevention be integrated even in<br />
countries with relative peace like Kenya. Certain regions may<br />
demand a specific subject on peace education; otherwise children<br />
will grow and reproduce the violence they had been socialised<br />
to. A more proactive approach from the school system<br />
will augment existent interventions. A case in point is the Tecla<br />
Lorupe peace run that encourages „trading the gun for sports<br />
shoes”. The acclaimed athlete has sponsored a state of art<br />
school to give local inhabitants a chance of progressing through<br />
formal education and hopefully acquiring new habits that allow<br />
co-existence.<br />
STATEMENT<br />
Carlos Felipe Revollo Fernández<br />
Zunächst möchte ich mich herzlich für die Einladung bedanken.<br />
Ich möchte Ihnen kurz etwas über Bolivien erzählen. Bolivien<br />
ist ein Land, in dem die Mehrheit der Bevölkerung, wie in<br />
vielen lateinamerikanischen Ländern oder Entwicklungsländern,<br />
jünger als 17 Jahre alt ist. Das heißt, dass die Jugendlichen<br />
eine Priorität für die Formulierung einer bestimmten Pädagogik<br />
darstellen müssen.<br />
Bolivien liegt in der Mitte Südamerikas zwischen Brasilien,<br />
Argentinien, Chile und Peru, und 70 Prozent der Bevölkerung<br />
sind Indianer. Diese ethnische Komponente ist auch sehr wichtig,<br />
wenn wir über Pädagogik sprechen, denn Pädagogik soll die<br />
konkreten Merkmale und Bedürfnisse der Menschen berücksichtigen.<br />
Leider wurde in der Geschichte unseres Landes die<br />
Mehrheit der Bevölkerung lange als Minderheit betrachtet, und<br />
<strong>Bild</strong>ung war dabei ein wichtiges Instrument, um ein dominantes<br />
System zu reproduzieren. Mit anderen Worten ist <strong>Bild</strong>ung<br />
und den USA beeinflusste auf der anderen Seite. Vor Kurzem<br />
haben wir eine Reihe von großen politischen Veränderungen<br />
erlebt. Es ist noch zu früh, um zu sagen, ob diese zum Guten<br />
oder zum Schlechten tendieren, doch sie haben dazu geführt,<br />
dass vor einem Jahr auf demokratische und legitime Weise und<br />
zum ersten Mal in der Geschichte Boliviens ein indianischer Präsident<br />
gewählt wurde. Natürlich sind damit gleichzeitig eine<br />
Reihe neuer Probleme entstanden.<br />
Obwohl die Regierung schon bestimmte <strong>Bild</strong>ungsreformen<br />
durchgesetzt hat, müssen wir noch eine Zeit lang abwarten, bis<br />
sich herausstellt, ob bestimmte pädagogische Alternativlösungen<br />
und Vorschläge günstig oder weniger günstig waren. Doch<br />
in jeden Fall repräsentiert die <strong>Bild</strong>ung in einem Land wie Bolivien<br />
immer noch eine wichtige Waffe oder besser gesagt ein<br />
wichtiges Instrument gegen die Ausbreitung der Armut. Wir<br />
sprechen über Friedenserziehung, um Gewalt zu vermeiden, die<br />
als Konsequenz aus Armut entsteht. Gewalt ist das Resultat der<br />
Diskrepanz zwischen den Bedürfnissen der Menschen und den<br />
Möglichkeiten, diese zu realisieren. Mit dieser Feststellung<br />
benennen wir ein sehr komplexes Phänomen.<br />
Ich möchte noch etwas zur Frage der ethnischen Herkunft hinzufügen.<br />
In Bolivien geht es nicht nur darum, dass es Menschen<br />
mit oder ohne <strong>Bild</strong>ung gibt, sondern dass diejenigen mit einem<br />
bestimmten <strong>Bild</strong>ungsniveau oder Studienabschluss, die einer<br />
bestimmten Minderheit angehören, nicht so einfach akzeptiert<br />
oder ernst genommen werden. Es ist auch eine Frage der Mentalität<br />
und des Verständnisses, dass Differenzen, Konflikte und<br />
Kriege sich zuerst in den Köpfen der Menschen entwickeln. Wir<br />
entwickeln Vorurteile, indem wir Personen bestimmte Eigenschaften<br />
oder Verhaltensweisen zuschreiben, obwohl wir die<br />
Leute in Wirklichkeit gar nicht kennen. Ich glaube, es ist wichtig,<br />
dass wir durch <strong>Bild</strong>ungsprozesse die Möglichkeit erhalten,<br />
auch andere Menschen direkt vor Ort kennenzulernen. Wir können<br />
zusammen über unsere jeweilige Realität sprechen, und wir<br />
haben die Gelegenheit, uns anzufreunden. In vielen Ländern,<br />
auch in Bolivien, kommt es heute noch zu vielen Konflikten,<br />
125
weil wir uns in unserer Gesellschaft nicht kennen. Sogar in vielen<br />
Schulbüchern oder akademischen Texten finden wir nur eine<br />
einseitige und offizielle Geschichte, die von allen akzeptiert<br />
werden muss.<br />
In Zeiten der Globalisierung ist es sinnvoll, bestimmte Sprachen<br />
zu lehren wie etwa Englisch, Französisch oder Deutsch, aber<br />
man darf nicht vergessen, dass es auch Länder wie Bolivien<br />
gibt, wo ein großer Anteil der Menschen jeden Tag in einer ganz<br />
anderen als der offiziellen Landessprache denkt und fühlt (wie<br />
etwa Aymara, Quechua oder eine der 50 anderen Indianersprachen),<br />
aber sich auf Spanisch ausdrücken muss, um in dem System<br />
existieren zu können. Diese beachtenswerte Bilingualität<br />
findet keinerlei Anerkennung.<br />
was die Weltgemeinschaft tut, was Nichtregierungsorganisationen,<br />
nationale Organisationen, Organisationen wie die<br />
Unesco und Unicef unternehmen, um auch durch <strong>Bild</strong>ung Frieden<br />
wieder herzustellen, verfeindete Konfliktparteien zu versöhnen<br />
und eine Fortsetzung der Konflikte zu verhindern im Sinne von<br />
„<strong>Bild</strong>ung entwaffnet“.<br />
„Leider wurde in der Geschichte unseres Landes die Mehrheit der Bevölkerung lange als Minderheit<br />
betrachtet, und <strong>Bild</strong>ung war dabei ein wichtiges Instrument, um ein dominantes<br />
System zu reproduzieren. Mit anderen Worten ist <strong>Bild</strong>ung ein Instrument, mit dem wir etwas<br />
Gutes anfangen können, aber wir können damit leider auch eine Kultur zerstören.“<br />
<strong>Bild</strong>ung sollte uns helfen, einander näherzukommen und unsere<br />
eigene Identität kennenzulernen. Natürlich ist es wichtig,<br />
über Geschehnisse und Neuigkeiten in der Welt informiert zu<br />
sein, aber vielleicht ist es sogar noch wichtiger zu wissen, wer<br />
wir selber sind und woher wir kommen. Wenn wir das erkannt<br />
haben, dann können wir viel einfacher mit anderen Ländern in<br />
Südamerika, wie etwa Chile, bessere Beziehungen aufbauen. In<br />
der Vergangenheit gab es politische und militärische Konflikte<br />
zwischen Bolivien und Chile. Doch vor zwei Jahren hat ein von<br />
beiden Regierungen getragenes Programm begonnen, um die<br />
Zusammenarbeit zwischen Lehrern und Professoren von Schulen<br />
und Universitäten aus beiden Ländern zu fördern und<br />
gemeinsam Geschichtsforschung zu betreiben. Dies ist ein<br />
erster Schritt, unsere gemeinsamen Bedürfnisse und Probleme<br />
kennenzulernen und besser zu verstehen.<br />
STATEMENT<br />
Volker Lenhart<br />
Meine Damen und Herren, ich will Ihnen ein Forschungsprojekt<br />
vorstellen, das meine Arbeitseinheit im Augenblick durchführt.<br />
Es heißt „Friedensbauende <strong>Bild</strong>ungsmaßnahmen bei bewaffneten<br />
Konflikten“. Wir schauen in zehn Konfliktländer hinein, wo<br />
das, was im Titel des Podiums formuliert ist, eben nicht stattgefunden<br />
hat, nämlich dass <strong>Bild</strong>ung entwaffnet. <strong>Bild</strong>ung hat<br />
dort entweder zur Konfliktverschärfung beigetragen oder es<br />
zumindest nicht vermocht, den Ausbruch eines bewaffneten,<br />
kriegerischen Konfliktes zu verhindern. Wir haben untersucht,<br />
Ich will Ihnen einige der Maßnahmen, die wir beobachtet<br />
haben, kurz schildern. Eine wichtige Maßnahme nach Konflikten,<br />
aber auch zur Prävention besteht in der Revision von Lehrplänen.<br />
Es ist schier unglaublich, welche versteckt aggressiven<br />
Momente in Lehrplänen stecken können, und zwar weltweit.<br />
Wir müssen nicht erst in die Länder des Südens gehen. Georg<br />
Eckert, der Begründer des Georg-Eckert-Instituts für Internationale<br />
Schulbuchforschung in Braunschweig, hat als Erster in den<br />
deutsch-polnischen und den deutsch-französischen Schulbuchgesprächen<br />
dafür gesorgt, dass nach dem Zweiten Weltkrieg<br />
Schulbücher so gestaltet wurden, dass sie ein friedliches Zusammenleben<br />
der Deutschen mit ihren unmittelbaren Nachbarn<br />
ermöglichen. Eine solche Lehrplanreform ist in Konfliktländern<br />
erst recht notwendig.<br />
Ich war im Auftrag der Unesco in Bosnien-Herzegowina, wo wir<br />
die Lehrpläne der dortigen drei Konfliktparteien untersucht<br />
haben. Dort haben wir zunächst vorgeschlagen – und das wurde<br />
dann auch durchgesetzt –, dass das Fach Zivilverteidigung aus<br />
zweien der drei Lehrpläne der Konfliktparteien gestrichen<br />
wurde. Dieses Fach hatte unter anderem die Pflichtausbildung<br />
aller Schüler, die älter waren als 16, an der Waffe vorgesehen.<br />
Dies als besonders drastisches Beispiel.<br />
Ein weiterer Schritt besteht in der Auseinandersetzung mit der<br />
Frage integrierter Schulen. In Nordirland z. B. ist es noch immer<br />
nicht selbstverständlich, dass protestantische und katholische<br />
Kinder in ein und dieselbe Schule gehen. Hier wird ein aus dem<br />
17. Jahrhundert datierender Konflikt in das 21. Jahrhundert hinein<br />
verschleppt. Die Auseinandersetzung mit schulischer Integration<br />
ist in zahlreichen Konfliktregionen dieser Welt angesagt.<br />
Vielversprechende Ansätze, wenngleich sie von aufbrechenden<br />
Konflikten immer wieder überwuchert werden, gibt es<br />
insbesondere in dem Konflikt Israel/Palästina. Eine ganze Reihe<br />
von Initiativen, etwa Elterninitiativen, auf beiden politischen<br />
Seiten geduldet, wenn auch nicht gerne gesehen, setzt sich ein<br />
für gemeinsame Schulen, wo sowohl Arabisch als auch Hebräisch<br />
126
<strong>Bild</strong>ung entwaffnet: Grasse/Ruto/Revollo Fernández/Lenhart<br />
gelernt wird, wo man sich um ein wechselseitiges Geschichtsverständnis<br />
bemüht und wo niemand ausgeschlossen wird.<br />
Die dritte beispielhafte Problemzone, in der friedensbauende<br />
Maßnahmen einsetzen können, ist die Frage des gegenseitigen<br />
Sprachenlernens. Zahlreiche Konflikte entstehen auch im <strong>Bild</strong>ungsbereich<br />
dadurch, dass es in einem Land eine dominante<br />
Schulsprache gibt, in der sich bestimmte Minderheiten nicht<br />
repräsentiert fühlen, weshalb sie diese Schulsprache als unterdrückerisch<br />
erleben. Das ist konfliktfördernd und muss dringend<br />
geändert werden. Andererseits kann man natürlich auch nicht<br />
jede Sprache im Schulcurriculum berücksichtigen. Denken Sie<br />
etwa an ein westafrikanisches Land wie Kamerun, wo es über<br />
200 Sprachen gibt. Das Land mit der derzeit besten Schulsprachenpolitik<br />
auf der Welt, bezogen auf seine Vielfalt von Sprachen,<br />
ist Indien. An einer indischen Universität können Sie Ihre Examina<br />
in mehreren Sprachen ablegen, die Ihnen zur Auswahl gestellt<br />
werden. Eine gerechte Sprachenpolitik wirkt friedensfördernd,<br />
wobei man sich die Schulsprachenpolitik genau daraufhin<br />
ansehen muss, was gerecht in einer bestimmten Situation heißt.<br />
Ein letzter Punkt: Ein sehr häufig durchgeführter Versuch, in<br />
die <strong>Bild</strong>ung jene Normbasis einzuführen, auf der sich möglicherweise<br />
alle Konfliktparteien wieder finden können, sind die<br />
Menschenrechte. In vielen Ländern, in denen <strong>Bild</strong>ung einen<br />
bewaffneten Konflikt zu bearbeiten hat, gibt es eine nicht nur<br />
in den Schulen, sondern auch in der außerschulischen Jugendarbeit<br />
und in der Erwachsenenbildung sichtbare Menschenrechtsbildung.<br />
Hierfür muss man die Kinder, wie es bei uns<br />
manchmal der Fall ist, nicht erst interessieren, sondern sie<br />
haben ein Interesse aus ihrer eigenen Erfahrung mit massiven<br />
Menschenrechtsverletzungen. Die Mehrheit der Kinder und<br />
Jugendlichen in der Konfliktregion Sierra Leone beispielsweise<br />
hat Erfahrungen mit Menschenrechtsverletzungen wie Massenexekutionen,<br />
Vergewaltigung, anderem sexuellen Missbrauch<br />
und Zwangsrekrutierung.<br />
Kriegerische Konflikte, gerade kriegerische Konflikte innerhalb<br />
von Staaten, können eine ganze Reihe von Ursachen haben. Wir<br />
unterscheiden zwischen ethnisch-nationalen Konflikten, politisch-ökonomischen<br />
Konflikten und religiös-kulturellen Konflikten.<br />
Der politisch-ökonomische Konflikt etwa ist der vorherrschende<br />
Konflikttypus in Lateinamerika. Selbstverständlich<br />
spielen bei ethnisch-nationalen Konflikten ökonomische und<br />
politische Motive ebenfalls eine Rolle, aber in Lateinamerika,<br />
etwa in Kolumbien ist der Streitgegenstand der Zugang zu politischer<br />
Macht bzw. zu ökonomischen Ressourcen bzw. das Ausgeschlossensein<br />
davon.<br />
In unserem Projekt haben wir einen „Werkzeugkasten“ von 25<br />
friedensbauenden bildungsbezogenen Maßnahmen (Mustern)<br />
entwickelt und auf der Grundlage unserer Daten genau<br />
beschrieben, den wir der internationalen bildungspolitischen<br />
Öffentlichkeit zur Verfügung stellen werden.<br />
„Eine wichtige Maßnahme nach Konflikten, aber auch zur Prävention besteht in der Revision<br />
von Lehrplänen. Es ist schier unglaublich, welche versteckt aggressiven Momente in Lehrplänen<br />
stecken können, und zwar weltweit. Wir müssen nicht erst in die Länder des Südens gehen.“<br />
127
Erziehung heute:<br />
Brauchen wir eine neue Aufgabenteilung<br />
zwischen Schule und Familie?<br />
Die Ansprüche an Schule als Erziehungsagentur wachsen beständig. Vieles, was früher ganz selbstverständlich<br />
die Familie geleistet hat, soll nun Schule übernehmen. Spätestens mit der Einführung<br />
des Ganztagsunterrichts kann sie sich den wachsenden Ansprüchen nicht verweigern. Was läuft falsch<br />
in den Familien? Was kann Schule leisten, und welche Unterstützung braucht sie? Kurzum: Wie müssen<br />
die Aufgaben zwischen Schule und Familie neu verteilt werden? Diesen Fragen stellten sich Rainer<br />
Domisch, Zentralamt für Unterrichtswesen, Helsinki, Ingo Leven, Familienforscher und Mitautor der<br />
Shell-Jugendstudie 2006, Renate Hendricks, MdL, ehemalige Vorsitzende des Bundeselternrats, und<br />
Jürgen Nimptsch, Leiter der Integrierten Gesamtschule Bonn-Beuel, wo regelmäßig die an Schule<br />
Beteiligten über ihre Zufriedenheit befragt werden.<br />
Moderation: Stephan Lüke, Journalist<br />
Eine Veranstaltung des<br />
Rainer Domisch<br />
Rainer Domisch, geb. 1945 in Schwäbisch Hall. Lehrerstudium in den Fächern Deutsch und Englisch. Lehrer<br />
im baden-württembergischen Schuldienst. 1979-89 Entsandter Lehrer der Zentralstelle für das Auslandsschulwesen<br />
an der Deutschen Schule in Helsinki. 1989-91 Rückkehr in den Schuldienst in Baden-Württemberg.<br />
Seit 1991 Entsandter Fachberater für Deutsch im Rahmen der deutschen auswärtigen Kulturpolitik.<br />
Seit 1994 in der obersten Schulbehörde Finnlands, dem Zentralamt für Unterrichtswesen in Helsinki, Leiter<br />
der Lehrplankommission für das Fach Deutsch und zuständig für Lehrerfortbildungsmaßnahmen für Deutschlehrer<br />
in Finnland.<br />
Ingo Leven<br />
Ingo Leven, geb. 1973. Dipl.-Psychologe. 1996-2000 wissenschaftliche Hilfskraft am Max-Planck-Institut für<br />
<strong>Bild</strong>ungsforschung in Berlin. 2000 Einzelfallhelfer im Rahmen von „Hilfe zur Erziehung“ für das Bezirksamt<br />
Berlin-Neukölln. Seit Juni 2001 Studienleiter bei TNS Infratest Sozialforschung im Bereich „Familien und<br />
Generationenbeziehungen”, u. a. Co-Autor der Shell-Jugendstudien 2002 und 2006.<br />
128
Erziehung heute: Domisch/Leven/Hendricks/Nimptsch Blindtext<br />
Renate Hendricks<br />
Renate Hendricks, geb. 1952. Dipl.-Sozialpädagogin. Mutter von fünf Kindern. 1973-77 Leiterin des Sozialen<br />
Dienstes einer Werkstatt für Behinderte. Seit 1979 in der Elternarbeit engagiert. 1995-98 stellvertretende<br />
Vorsitzende des Bundeselternrats, 1998-2004 dessen Vorsitzende. Seit 2005 Mitglied des Nordrhein-Westfälischen<br />
Landtags, stellvertretende schulpolitische Sprecherin der SPD-Landtagsfraktion und deren Sprecherin<br />
für Eine-Welt-Politik. Seit 2006 Sprecherin der SPD-Landtagsfraktion in der Enquête-Kommission „Chancen<br />
für Kinder – Rahmenbedingungen und Steuerungsmöglichkeiten für ein optimales Betreuungs- und <strong>Bild</strong>ungsangebot<br />
in NRW“. Autorin des Buchs „Schicksal Schule“.<br />
Jürgen Nimptsch<br />
Jürgen Nimptsch, 52 Jahre. Studium der Germanistik und Sportwissenschaft. Lehrer am Ganztagsgymnasium<br />
Troisdorf, Didaktischer Leiter an der Gesamtschule Troisdorf. Seit 1996 Schulleiter der Integrierten Gesamtschule<br />
Bonn-Beuel, führt regelmäßig Befragungen über die Zufriedenheit von Lehrern, Eltern und Schülern<br />
mit der Schule durch.<br />
129
STATEMENT<br />
Rainer Domisch<br />
Ich möchte zunächst auf die hier angesprochenen Schulängste<br />
zu sprechen kommen. Natürlich gibt es, solange es Menschen<br />
gibt, auch menschliche Ängste, das hat zunächst einmal nichts<br />
mit Schule zu tun. Es muss nur unsere Frage sein, inwieweit<br />
Schule Ängste verursacht. Im Hinblick auf die Fragestellung, ob<br />
wir eine neue Aufgabenteilung brauchen, möchte ich zunächst<br />
darauf hinweisen, dass die Aufgabenteilung zwischen Schule<br />
und Elternhaus bei der Sozialisation von Kindern und jungen<br />
Erwachsenen schon immer vorhanden ist. Was sich ändert, ist<br />
die Umgebung, ist die Gesellschaft, auf die wir neue Antworten<br />
brauchen. Und wenn in einer Gesellschaft wenig Sensibilität<br />
vorhanden ist für diese Anforderungen, dann gibt es Probleme<br />
und Ängste. Bei der <strong>Bild</strong>ungsplanung sollte man sich nicht an<br />
vergangenen Strukturen orientieren, sondern daran, welche<br />
Anforderungen und Qualitätsansprüche auf die Generation, die<br />
heute eingeschult wird, morgen zukommen. Wenn ich nach<br />
Deutschland komme, habe ich häufig den Eindruck, dass man<br />
sich hier im Gegensatz zu Finnland immer noch an vergangenen<br />
Jahrzehnten orientiert. Eine optimistische Grundhaltung und<br />
eine Orientierung an der Zukunft machen den großen Erfolg<br />
des finnischen Schulsystems aus. Freilich gibt es auch dort<br />
immer noch Probleme, man spricht im Übrigen mehr über Probleme<br />
als über Erfolge, aber man weiß sich auf dem richtigen<br />
Weg und hat vor Jahrzehnten Schulreformen angepackt, die<br />
sich damals in den 1960er-Jahren an den Erfordernissen des Jahres<br />
2000 orientiert haben. Momentan arbeiten wir an den Planungen<br />
für das Jahr 2020. Man darf sich nicht zufrieden zurücklehnen,<br />
sondern muss eben versuchen, die junge Generation<br />
auf das Jahr, in dem sie in den Beruf eintreten wird, vorzubereiten.<br />
Defiziten der Kinder den Eltern zuschiebt und dass diese neben<br />
den Steuern Nachhilfestunden bezahlen müssen, und zwar<br />
anscheinend, auch das halte ich für sehr erschreckend, ohne zu<br />
murren. In anderen Ländern würden Eltern das keinesfalls mittragen<br />
oder sich damit abfinden. Mit diesem Thema müsste<br />
man in die Schulen gehen. <strong>Bild</strong>ungsplanung muss also dafür sorgen,<br />
dass die Schule individuelle Förderung nicht vom Wohlwollen<br />
der Lehrer abhängig macht, sondern dass sie systematisch<br />
in das System eingebaut wird. Solche individuellen Förderungsmaßnahmen,<br />
die natürlich strukturelle Reformen voraussetzen,<br />
wirken vertrauensbildend und führen weg von einem<br />
Kontrollverhältnis zwischen Schule und Elternhaus.<br />
Man müsste zunächst per Gesetz entsprechende Strukturen<br />
schaffen, die die Menschen – etwas salopp gesagt – zu ihrem<br />
Glück zwingen. Wenn die Schule die Möglichkeit hat, Schüler<br />
abzuweisen mit der Begründung, sie gehörten aufgrund ihrer<br />
Noten nicht in diese Schulform, dann schafft das immer Angst,<br />
Misstrauen und ein Gegeneinander. Wenn aber in einer Schule<br />
jeder Schüler angenommen werden muss und dort Fantasie,<br />
Kompetenz und die gesamte Kraft und Fantasie derer, die in der<br />
Schule arbeiten, dazu dienen, den einzelnen Schüler so weit zu<br />
bringen, wie nur möglich, und ihm bis zur 9. Klasse, wie es in<br />
Finnland gefordert wird, keinerlei Weiterbildung verschließt,<br />
dann entsteht Vertrauen. Es wird niemand aussortiert. Es gibt<br />
in Finnland außer dem Zentralabitur nicht eine einzige schulische<br />
Abschlussprüfung. Neben den Zeugnissen gibt es sehr viele<br />
Elterngespräche, die nicht als Information an die Eltern eines<br />
Klassenverbandes ablaufen, sondern sich an der individuellen<br />
Förderung orientieren. Daher sind nicht nur Lehrer daran beteiligt,<br />
sondern nach Bedarf auch Schulpsychologen, Sozialarbeiter<br />
und Mediziner. All das spielt eine große Rolle, und in diesem<br />
gesamten <strong>Verband</strong> fühlen sich die Schüler, aber auch die Eltern<br />
aufgehoben. In vielen Evaluationen hat man festgestellt, dass<br />
„Wenn ich in Deutschland auf das Verhältnis Elternhaus und Schule schaue, dann sind für<br />
mich die vier Milliarden Euro, die jedes Jahr für außerschulische Nachhilfe ausgegeben werden,<br />
ein ganz erschreckender Indikator. Ich finde es skandalös, dass die Schule den Umgang<br />
mit den Defiziten der Kinder den Eltern zuschiebt und dass diese neben den Steuern Nachhilfestunden<br />
bezahlen müssen, und zwar anscheinend, auch das halte ich für sehr erschreckend,<br />
ohne zu murren.“<br />
Wenn man eine effektive <strong>Bild</strong>ungsplanung machen will, die sich<br />
an dem Dreieck Qualität, Chancengleichheit bzw. Gerechtigkeit<br />
allgemein und Effizienz orientiert, dann braucht man eine<br />
ganze Reihe wichtiger Indikatoren. Wenn ich in Deutschland<br />
auf das Verhältnis Elternhaus und Schule schaue, dann sind für<br />
mich die vier Milliarden Euro, die jedes Jahr für außerschulische<br />
Nachhilfe ausgegeben werden, ein ganz erschreckender Indikator.<br />
Ich finde es skandalös, dass die Schule den Umgang mit den<br />
Kinder, je weniger sie früher Konkurrenz und frühem Konkurrenzdenken<br />
bei der schulischen Leistung ausgesetzt sind, umso<br />
besser gestärkt werden für spätere fachliche Kompetenz und<br />
Konkurrenz im Erwachsenenleben.<br />
Eltern sollten auf sich ankündigende Probleme bereits im Kleinkindalter<br />
aufmerksam gemacht werden. Ich war vor Kurzem<br />
beim Großelterntag in der Kindertagesstätte meiner einen<br />
130
Erziehung heute: Domisch/Leven/Hendricks/Nimptsch<br />
Enkeltochter. Da gab es Kinder, die einen Helm trugen, weil sie<br />
motorische Störungen hatten oder sonst irgendwie auffällig<br />
waren. Dennoch waren sie vollkommen integriert. Diese Kindertagesstätte<br />
wird einmal in der Woche von einer für diesen<br />
Bereich ausgebildeten Sonderpädagogin besucht, die die Erzieherinnen<br />
berät und schult. Die Eltern werden immer wieder<br />
angesprochen, und auch die Kinder werden einbezogen; das<br />
setzt sich fort bis zur 9. Klasse, solange alle Kinder zusammen<br />
an einer Schule sind. Momentan wird in der Presse öfter über<br />
Mobbing berichtet – Probleme wie dieses wird es immer geben,<br />
es ist nur die Frage, wie man damit umgeht. In Finnland wurde<br />
ziemlich schnell ein landesweites Netzwerk gegen Mobbing<br />
gegründet, in dem alle Schulen, die Interesse daran haben, mitarbeiten.<br />
Schüler erzählen und stellen dar, was sie erfahren<br />
haben, und die Schulen berichten, wie ihre Problemlösung aussieht<br />
usw. Mit dabei sind auch Erziehungswissenschaftler von<br />
der Universität. Das heißt, man ist immer auf der Suche nach<br />
Lösungen, und eine große Schulreform, wie Finnland sie in den<br />
1960er-, 1970er-Jahren vollzogen hat, ist erst der Beginn.<br />
Bestimmte tiefgehende Reformen sind notwendig, damit man<br />
ordentlich miteinander arbeiten kann. Darüber hinaus ist man<br />
nie am Ende des Verbesserungsprozesses angekommen.<br />
Vorgestern in Helsinki wurde ich von meinen Kollegen, die im<br />
Zentralamt im Bereich <strong>Bild</strong>ungsplanung mitarbeiten, gefragt,<br />
welche Erkenntnisse ich von meinen zahlreichen Besuchen in<br />
Deutschland mitgebracht und ob sich dort denn etwas bewegt<br />
hätte. Ich musste kurz nachdenken und antwortete, dass es<br />
sich immer lohnt, über solche Dinge zu sprechen. Bis vor vier<br />
Jahren konnte man noch von Ministeriumsangehörigen auf<br />
Podien die Ansicht vernehmen, es gebe das dreigliedrige System,<br />
weil es drei Begabungen gibt. Inzwischen traut sich niemand<br />
mehr, so etwas zu sagen. In Mecklenburg-Vorpommern<br />
hat man mich gebeten, in einer Regierungskommission an der<br />
<strong>Bild</strong>ungsplanung für 2008 mitzuarbeiten. Ich habe zur Antwort<br />
gegeben, dass das keinen Sinn habe, sondern dass man den <strong>Bild</strong>ungsplan<br />
bis 2015 oder 2020 und vielleicht noch darüber hinaus<br />
in Angriff nehmen sollte.<br />
Als ich im Flugzeug saß, habe ich in der Frankfurter Rundschau<br />
gelesen, dass Hessen die Hauptschule abschaffen und bis zum<br />
Jahr 2015 eine Gemeinschaftsschule einführen will. Das wird<br />
natürlich dementiert, aber man kann Gedanken nicht mehr<br />
zurücknehmen. Ich glaube, dass es in Deutschland in 10 bis 15<br />
Jahren eine integrierte Schulform geben wird. Es ist die Frage,<br />
wie viele Menschen man davon überzeugt, dass längeres Zögern<br />
einen Standortnachteil für Deutschland bedeutet.<br />
In Finnland ist zurzeit Wahlkampf. In zwei Wochen sind Parlamentswahlen,<br />
und es wird sehr viel gestritten, aber nicht über<br />
Schule. Wollte man über Schulstrukturen streiten, wäre das so<br />
ähnlich, wie wenn man über eine gute Wasserversorgung streiten<br />
wollte, also über etwas, das eigentlich ganz selbstverständlich<br />
ist. Das war nicht immer so. Man hat in den 1960er-Jahren<br />
im Parlament ein Schulgesetz verabschiedet über die Einführung<br />
der gemeinsamen Schule für alle mit unterschiedlichen<br />
Lernern. Das hat nichts mit Einheitsschule, also mit Gleichmacherei<br />
oder Ähnlichem, zu tun. Es geht darum, dass Kinder individuell<br />
so gefördert werden, dass sie so weit wie möglich kommen.<br />
Von 60 000 Schulabgängern der Klasse 9 erreichen 200<br />
dieses Ziel nicht. Etwa 4 bis 6 Prozent dieses Jahrgangs haben<br />
Probleme mit dem Übergang in eine Anschlussausbildung.<br />
Damals hat man mit der praktischen Umsetzung in Lappland<br />
begonnen, wahrscheinlich weil die Gegend dünner besiedelt ist<br />
und dort weniger Widerstand von den Menschen zu erwarten<br />
war, und hat dann den Prozess im Jahre 1977 in Helsinki abgeschlossen.<br />
Es hat fünf Jahre gedauert, es gab große Auseinandersetzungen,<br />
viele Schulstreiks, Bürgerbegehren usw.<br />
Anfang der 1980er-Jahre waren die Proteste vorbei. Die Gegner<br />
bestanden hauptsächlich aus Gymnasiallehrern und akademischen<br />
Elternkreisen, die die Angst hegten, dass ihre Kinder<br />
weniger <strong>Bild</strong>ung und somit weniger Möglichkeiten bekämen.<br />
Doch es ist wichtig, den Eltern zu beweisen, dass es nicht<br />
darum geht, einer Gruppe der Gesellschaft <strong>Bild</strong>ungsmöglichkeiten<br />
wegzunehmen, sondern darum, allen mehr <strong>Bild</strong>ung zu vermitteln.<br />
Das ist der Schlüssel. Und das haben schließlich alle<br />
verstanden.<br />
Ich wollte noch etwas zur Schulaufsicht sagen. In Finnland<br />
wurde Anfang der 1990er-Jahre die Schulaufsicht abgeschafft,<br />
denn Qualitätsentwicklung kann nur auf Schulebene durch die<br />
Menschen, die täglich mit Schule und Unterricht zu tun haben,<br />
geschehen und nicht von außen. Ich war bereits am Dienstag<br />
beim „forum bildung“ und habe mich einerseits gewundert und<br />
andererseits amüsiert über einen Vergleich, der hier angestellt<br />
wurde: Evaluierung sei für die Schule so etwas wie die TÜV-<br />
Untersuchung für das Auto. Genau das sollte es nicht sein. Beim<br />
TÜV werden Autos daraufhin untersucht, ob sie derzeit noch<br />
fahrtüchtig und sicher sind. Doch die Schule muss in bester<br />
Weise für die Qualität einer folgenden und nachfolgenden<br />
Generation in der Zukunft sorgen. Ich kann also nicht alte Einzelteile<br />
austauschen oder versuchen, irgendetwas zu reparieren.<br />
Dies ist ein vollkommen falscher Denkansatz. Qualitätsentwicklung<br />
muss innerhalb eines Rahmens, in dem die Schulen<br />
sehr viel Freiheit und Selbstverantwortung haben, tagtäglich<br />
erfolgen. Evaluierung ist ein fortlaufender Prozess, eine Weitergabe<br />
von Information und nicht eine Messlatte, die von außen<br />
angelegt werden kann.<br />
Innerhalb der finnischen Rahmenlehrpläne oder Standards, wie<br />
man das in Deutschland manchmal auch nennt, gibt es eine<br />
Präambel mit einem Punktekatalog, in dem die Schule sich verpflichtet,<br />
ihre Schulkultur, ihre ganzen Aktivitäten zu beschreiben,<br />
d. h. auch die Umsetzung der Rahmenpläne, und da ist beispielsweise<br />
als fächerübergreifender Punkt enthalten, dass die<br />
Schüler unternehmerisches Verhalten lernen sollen. Sie sollen<br />
keine Unternehmer werden, sondern dies ist eine Umschreibung<br />
für Arbeitsverhalten, für Fleiß. Aufgabe der Schule ist<br />
nicht, herauszufinden, welche Note man dafür gibt, sondern zu<br />
überlegen, wie das täglich im Unterricht umgesetzt wird. Auch<br />
durch Selbstevaluierung. Ich glaube, dass man Schülern durchaus<br />
zutrauen kann, selbst zu evaluieren, wie gut sie arbeiten,<br />
131
wie gut sie ihrer Meinung nach abgeschnitten haben, wie viel<br />
Prozent Energie sie verwendet haben für dieses und jenes Fach.<br />
Schüler können das sehr gut einschätzen. Und daran lernen sie<br />
und sehen die Ergebnisse dafür. Wenn jemand nichts tut, erhält<br />
er auch keine Belohnung dafür. Er fragt dann nicht mehr, weshalb<br />
er nicht anders belohnt wird, sondern er kennt die Ursache.<br />
Solche Einstellungen müssen in den Köpfen von Schülern entwickelt<br />
werden. Da helfen keine Plakate und keine Aufkleber.<br />
Ohne die Pisa-Studie würde ich heute nicht hier sitzen, denn<br />
kein Mensch würde sich für finnische Schulen interessieren. Wir<br />
wären mit unserem Thema in einer ganz kleinen Runde. Wir<br />
haben inzwischen die für <strong>Bild</strong>ung Verantwortlichen aus aller<br />
Herren Länder in Finnland gehabt, alle waren sehr beeindruckt,<br />
und wenn ich meine Kollegen frage, welchen Eindruck sie<br />
gewonnen haben, dann sagen die Älteren immer, es sei wie eine<br />
Zeitreise in die 1970er- oder 1960er-Jahre. In Finnland hat man<br />
'68 den parlamentarischen Beschluss für eine radikale Schulreform<br />
gefasst, man hat von 1972 bis 1977 diese Schulreform<br />
umgesetzt, hat dann die ersten großen Lehrplanreformen und<br />
neuen Standards Anfang der 1980er-, Anfang der 1990er- Jahre<br />
und jetzt wieder 2003 vorgenommen. Man ist nie fertig. Und<br />
angesichts der zum Teil noch von parteipolitischen Standpunkten<br />
geprägten Situation in Deutschland möchte ich prophezeien,<br />
dass Entscheidungen in Form von Weichenstellungen<br />
schnell vor sich gehen können. Die Umsetzung von Reformen<br />
dauert aber etwas länger, etwa 10 bis 15 Jahre. Ich glaube, dass<br />
die Dinge sich rasch ändern könnten. Vielleicht liegen manche<br />
Pläne schon in Schubladen, und dann kommt irgendwann die<br />
Situation, wo man sich auf Änderungen schnell einigt. Ich wünsche<br />
Ihnen in Deutschland sehr, dass Sie in Sachen <strong>Bild</strong>ungsplanung<br />
und Qualitätsentwicklung in Schulen sehr schnell zu erfolgreichen<br />
Zukunftsmodellen kommen, in denen die veränderte<br />
Rolle der Familien beachtet wird.<br />
Weitere Informationen zu den angesprochenen Themen sowie zum<br />
finnischen Schulsystem insgesamt finden sich unter: www.oph.fi;<br />
www.edu.fi; www.pisa-schuleninfinnland.net; www.worldbank.org/<br />
education (dort ein Überblick über die Entwicklung des finnischen<br />
Schulsystems seit 1968).<br />
STATEMENT<br />
Ingo Leven<br />
Guten Morgen meine Damen und Herren. Die Shell-Jugendstudie<br />
hat eine mehr als 50-jährige Tradition, der Jugend ein Gesicht<br />
und eine Stimme zu geben. Ich sehe mich hier folglich auch in<br />
der Funktion, die Jugend zu Wort kommen zu lassen. Zwar bin<br />
ich selber nicht mehr ganz so jung, dennoch glaube ich, dass<br />
aufgrund der Jugendforschung der letzten Jahre sehr eindeutige<br />
Aussagen gemacht werden können. Jugend ist heutzutage<br />
sehr pragmatisch, aber sie ist unter Druck geraten. Die Jugend<br />
hat bereits in sehr jungen Jahren eine große Angst vor Arbeitslosigkeit,<br />
sie nimmt sehr wohl wahr, was an gesellschaftlichen<br />
Problemen auf sie zukommt. Sie braucht letztendlich in ihrer<br />
Gesamtheit Unterstützung von der Gesellschaft. Das Problem<br />
ist, wie wir mit bestimmten <strong>Bild</strong>ungsabschlüssen umgehen, die<br />
eine Entwertung erfahren haben. Sich heutzutage mit einem<br />
Hauptschulabschluss auf dem Ausbildungsmarkt zu verdingen,<br />
heißt eigentlich, die Ansprüche so weit herunterzuschrauben,<br />
dass man vielleicht irgendwo unterkommt und irgendwann<br />
einer qualifizierten Facharbeit nachgehen kann, aber das ist<br />
heutzutage nicht mehr garantiert. Von daher braucht Jugend<br />
Antworten von der Gesellschaft, die nicht allein von der Schule<br />
gegeben werden können.<br />
Jugendliche spüren sehr wohl, dass sie Probleme haben, einen<br />
Einstieg in unsere Gesellschaft zu finden. Wir haben Jugendliche,<br />
die gerade in Ausbildung sind, gefragt, ob sie ihrer Meinung<br />
nach nach ihrer Ausbildung übernommen werden oder nicht.<br />
Die Antworten erwiesen sich als sehr realistisch: 63 Prozent<br />
haben gesagt, sie würden übernommen, 37 Prozent nicht. Vergleicht<br />
man dies mit der offiziellen Arbeitsmarktstatistik, die<br />
auf Betriebsbefragungen basiert, so trifft das ziemlich genau<br />
die tatsächlichen Zahlen. Die Jugendlichen nehmen also sehr<br />
wohl wahr, wo ihnen Türen verschlossen bleiben, und darauf<br />
muss unsere Gesellschaft Antworten liefern. Mit einer Ausbildung<br />
allein ist es nicht getan, sondern es stellt sich die Frage,<br />
was daran anschließt. Wenn ihnen die Türen verschlossen bleiben,<br />
reagieren die jungen Leute sehr sensibel und zunehmend<br />
auch mit Zukunftsängsten.<br />
Dass Kinder bei uns Schule häufig angstbesetzt erleben und den<br />
Lehrer als ihren Feind betrachten, hat schon auch etwas mit<br />
Vertrauen innerhalb des Klassenverbandes zu tun.Von Lehrer zu<br />
Schülern und umgekehrt kann nur schwer ein Vertrauensverhältnis<br />
aufgebaut werden, wenn es etwa um die Versetzung<br />
geht, wenn Schulkarrieren nach bereits vier Jahren Grundschule<br />
entschieden werden. Da stellen sich einfach richtungweisende<br />
Fragen, und man erlebt den Lehrer als jemanden, der einem<br />
sagt, dass man nicht gut genug ist, der einem Chancen zuteilt,<br />
der einem auch dann einmal Grenzen aufweist. Entscheidend<br />
dabei ist, ob das in einem Vertrauensverhältnis geschieht oder<br />
in einem Verhältnis, in dem sich andeutet, hier werden Lebenschancen<br />
zugeteilt. Letzteres kann nie komplett vermieden werden,<br />
auch nicht durch eine Einheitsschule, aber es wäre möglich,<br />
den Druck aus diesem belasteten Verhältnis herauszunehmen,<br />
wenn es eine längere gemeinsame Beschulung gäbe.<br />
Darüber hinaus kann ich aufgrund meiner Vorerfahrung in der<br />
Jugendforschung sagen, dass wir an den Selbstkonzepten der<br />
Schülerinnen und Schüler arbeiten und dafür entsprechende<br />
Strukturen schaffen müssen. Was der Titel unserer Veranstaltung<br />
verdeutlicht, ist ein typisch deutscher Blick auf die gesamte<br />
Diskussion. Wir reden von Aufgabenteilung zwischen Schule<br />
und Familie und lassen alle anderen Akteure außen vor, die in<br />
der Jugendarbeit tätig sind und die in den letzten Jahren auch<br />
mehr Eingang in die Schule erhalten haben, also die gesamte<br />
sozialpädagogische Jugendarbeit, die sich stärker auch mit<br />
Schule und Familie vernetzt. Diesen Ansatz müssten wir in<br />
132
Erziehung heute: Domisch/Leven/Hendricks/Nimptsch<br />
Deutschland weiterverfolgen und auch im Hinterkopf behalten,<br />
wenn wir über die Aufgabenteilung zwischen Schule und Familie<br />
reden.<br />
Jugendstudie hat in den letzten beiden Büchern nachgewiesen,<br />
dass ein Wertewandel bei den Jugendlichen stattgefunden hat,<br />
der verdeutlicht, dass Kopfnoten eigentlich nicht mehr zeitgemäß<br />
sind. Jugend heute unterscheidet sich von Jugendlichen<br />
der 1980er-Jahre so deutlich, dass wir diese Diskussion eigentlich<br />
gar nicht führen müssen. Wir erleben unter Jugendlichen<br />
eine Wiederbelebung von Sekundärtugenden, traditionelle<br />
Werte sind wieder sehr hoch im Kurs. Unter diesem Aspekt ist<br />
die Kopfnotendebatte neu zu bewerten, und es ist fraglich, ob<br />
das Ganze überhaupt noch zeitgemäß ist. Mir scheint es hier<br />
um Bewertungskriterien zu gehen, die in der 9., 10. Klasse,<br />
wenn man sich dem Ausbildungsmarkt nähert, relevant werden.<br />
Und die Frage ist, welche Schüler hier belohnt werden – die<br />
„Dass Kinder bei uns Schule häufig angstbesetzt erleben und den Lehrer als ihren Feind<br />
betrachten, hat schon auch etwas mit Vertrauen innerhalb des Klassenverbandes zu tun. Von<br />
Lehrer zu Schülern und umgekehrt kann nur schwer ein Vertrauensverhältnis aufgebaut werden,<br />
wenn es etwa um die Versetzung geht, wenn Schulkarrieren nach bereits vier Jahren<br />
Grundschule entschieden werden.“<br />
Darüber hinaus müssen wir einfach zur Kenntnis nehmen, dass<br />
wir in unserem Schulsystem Problemherde produziert haben,<br />
die für einen Lehrer nicht mehr zu bewältigen sind. Lehrer sollten<br />
hier nicht individualisiert ihr Versagen auf sich selbst und<br />
mangelnde Fähigkeiten beziehen, sondern die Problematik<br />
muss gesellschaftlich verortet werden. Dass in einer Hauptschule<br />
wie der Rütlischule in Berlin eine Beschulung nicht mehr<br />
möglich ist, haben Lehrer ein Mal gewagt, öffentlich zu sagen.<br />
Das war ein Tabubruch – aber er war notwendig, um zu verdeutlichen,<br />
dass die Hauptschule insofern nicht mehr kontrollierbar<br />
ist, als sie dem eigentlichen Zweck, nämlich dem Kompetenzerwerb<br />
der Jugendlichen, nicht mehr dient. Das kann nur<br />
dann wieder hergestellt werden, wenn die Schülerinnen und<br />
Schüler vor Ort das Gefühl haben, dass Schule sich lohnt. Solange<br />
sie dieses Gefühl nicht haben, ist eine Beschulung, also ein<br />
diszipliniertes Schülerdasein, nicht möglich. Die Schüler dürfen<br />
nicht länger das Gefühl haben, dass die Zeit, die sie in der Schule<br />
absitzen, eine Wartezeit in das gesellschaftliche Elend hinein<br />
ist. Und diese Problematik muss von den Strukturen her angegangen<br />
werden.<br />
Ich glaube, der erste Konstruktionsfehler im deutschen Schulsystem<br />
kam ins Spiel, als die Gesamtschule in Deutschland in<br />
Konkurrenz zum dreigliedrigen Schulsystem eingeführt wurde<br />
und nicht als Ersatz dafür. Wenn ein Herr Wowereit in Berlin<br />
sagt, dass er verstehen kann, wenn deutsche Eltern aus Berlin-<br />
Kreuzberg oder -Neukölln sich melderechtlich verabschieden,<br />
damit ihr Kind woanders beschult werden kann, weil dort<br />
immer noch das Wohnortprinzip gilt, dann macht das deutlich,<br />
was Eltern in komplett nachvollziehbarer Weise tun, dass sie<br />
sich nämlich informieren und dann entsprechend entscheiden.<br />
Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass dieser Konstruktionsfehler<br />
in unserem Schulsystem dazu führt, dass, wenn wir über<br />
Einheitsschule reden, wir nicht über Gesamtschule reden, wie<br />
wir sie heute haben. Das ist deutlich herauszustellen, bevor<br />
man über eine mögliche Reform des Schulsystems nachdenkt.<br />
Eine Kopfnotendebatte, wie sie in NRW gerade geführt wird,<br />
halte ich im Grunde genommen für überflüssig. Die Shell-<br />
braven, ruhigen Schüler werden sicherlich bessere Kopfnoten<br />
bekommen als Schüler, die für etwas eintreten, die nicht gleich<br />
klein beigeben. Wir müssen uns in diesem Kontext fragen, welche<br />
Menschen wir eigentlich erziehen wollen: autoritätshörige<br />
Charaktere, die dem Lehrer folgen, oder demokratisch selbstständige<br />
Menschen. Das ist etwas, was wir meines Erachtens<br />
über Kopfnoten nicht lösen können.<br />
Wir sollten mit all diesen Fragen auch etwas entspannter umgehen<br />
als unsere Elterngeneration. Wie konnten wir denn selbst<br />
erwachsen werden und zu dem werden, was wir heute sind? Wir<br />
sollten nicht alles sofort unter dem Aspekt des Defizitären<br />
sehen. Geben wir den Kindern doch auch die Chance, Erfahrungen<br />
zu sammeln, ihre Neugierde befriedigt zu bekommen. Das<br />
sollte im Vordergrund stehen, ohne dass wir uns sogleich fragen,<br />
ob sie auch richtig Lernen lernen oder ob sie falsch Lernen<br />
lernen. Mit einem etwas entspannteren Herangehen können<br />
wir aufseiten der Elternschaft auch sehr viel realisieren.<br />
Es ist wohl deutlich geworden, dass Reformprozesse auch in<br />
Finnland nicht von heute auf morgen passiert sind. Vom Parlamentsbeschluss<br />
bis zur konkreten Umsetzung im ganzen Land<br />
hat es ein Jahrzehnt gedauert. Ich hoffe, dass es uns gelingt,<br />
etwas Ähnliches in Gang zu setzen. Doch möchte ich auch eine<br />
Befürchtung äußern, wenn ich darf. Im Vergleich mit anderen<br />
Ländern und Erfahrungen sehe ich, dass wir nicht so lange warten<br />
dürfen, bis sich die Qualität aus dem öffentlichen Schulwesen,<br />
auf das man in Deutschland in der Vergangenheit zu Recht<br />
stolz war, verabschiedet und sich in privaten bezahlbaren Bereichen<br />
niederlässt.<br />
133
STATEMENT<br />
Renate Hendricks<br />
Guten Morgen, meine Damen und Herren. Eltern beschweren<br />
sich immer häufiger, dass sie Aufgaben der Schule, sprich <strong>Bild</strong>ungsaufgaben,<br />
übernehmen müssen. Umgekehrt beklagt sich<br />
die Schule, dass ihr immer mehr Aufgaben von den Eltern aufgeladen<br />
werden. Ich glaube, wir stecken zurzeit in einem Dilemma.<br />
Auf der einen Seite wachsen die Ängste der Eltern, dass<br />
ihre Kinder möglicherweise nicht erfolgreich genug in der Schule<br />
sind. Damit verbunden sind ein zunehmender Druck der<br />
Eltern auf die Kinder und hohe Erwartungen an die Schule. Die<br />
Schule andererseits erwartet, dass Kinder bestimmte Leistungen<br />
erbringen und dass Eltern ihre Kinder dabei unterstützen.<br />
Eltern geben in Deutschland, wir haben es gehört, über vier<br />
Milliarden Euro im Jahr für Nachhilfe aus: So viel, wie das Ganztagschulprogramm<br />
der Bundesregierung über vier Jahre an<br />
Mitteln bereitgestellt hat. Dies ist ein Indikator dafür ist, dass<br />
Eltern zu Hause eine Menge an Aufgaben übernehmen müssen,<br />
mit denen sie jedoch häufig überfordert sind. Wer es sich finanziell<br />
leisten kann, delegiert diese Aufgabe an außerschulische<br />
Unterstützer – Nachhilfeinstitute. Andererseits stellt die Schule<br />
in der Tat fest, dass immer mehr Erziehungsaufgaben von ihr<br />
übernommen werden müssen. Ein seit Jahren schleichender<br />
Prozess, der in allen Ländern der Welt feststellbar ist.<br />
Mit der Entwicklung zur Ganztagsschule, erhält die Schule mehr<br />
gemeinsame Zeit und Raum für Erziehungsaufgaben. Schule hat<br />
den Auftrag zu erziehen. Jeder Unterricht ist immer auch Erziehung,<br />
jedes Miteinander-Kooperieren und Zusammenarbeiten<br />
zeigt auch die Shell-Studie ganz deutlich – gibt es einen relativ<br />
großen Anteil von Jugendlichen, die die Schule nicht mit den<br />
erforderlichen Kenntnissen und Fähigkeiten verlassen. Das<br />
könnte anders aussehen, wenn wir ein anderes Schulsystem<br />
hätten, das Kinder und Jugendliche nicht von <strong>Bild</strong>ungschancen<br />
ausschließt.<br />
Die bereits genannte Summe von vier Milliarden Euro, die<br />
Eltern für Nachhilfe ausgeben, ist ein Indikator für die dramatische<br />
soziale Ungleichheit des deutschen Schulsystems. „Wer<br />
hat, dem wird gegeben werden.“ Wer nichts hat, der hat Probleme<br />
und in der Regel auch keine ausreichende Unterstützung.<br />
Das Vertrauensverhältnis von Schule und Elternhaus kann so in<br />
diesem Land nicht funktionieren. Eltern boxen ihre Kinder<br />
mittels Nachhilfe durch die Schulzeit, damit sie einen höherwertigen<br />
Schulabschluss bekommen. Die Aufgabenaufteilung<br />
von Schule und Elternhaus stimmt in Deutschland nicht. Es<br />
fehlt zudem eine Vertrauenskultur. Grundlage einer Vertrauenskultur<br />
sind die Erfahrungen, die Eltern mit der Schule im Hinblick<br />
auf die Zusammenarbeit für ihr Kind machen.<br />
Das deutsche Schulsystem behindert strukturell den Aufbau<br />
eine Vertrauenskultur. Vertrauen kann zwischen Elternhaus und<br />
Schule nur entstehen, wenn die Eltern auch das Gefühl haben,<br />
die Schule will das Beste für mein Kind. Wer aber wie das Land<br />
NRW in der Grundschule für neun- oder zehnjährige Kinder<br />
Lebensentscheidungen treffen lässt, muss sich nicht wundern,<br />
wenn das Verhältnis von Eltern und Schule nicht immer von<br />
Vertrauen geprägt ist. Die alles beherrschende Frage ab dem<br />
Zeitpunkt der ersten Noten in der Grundschule ist: Welche<br />
weiterführende Schule kann/wird mein Kind gehen? Danach<br />
stellt sich die Frage für Eltern oft anders: Kann mein Kind an<br />
„Eltern müssten wissen, die Schule bemüht sich um mein Kind. Wo das gegeben ist,<br />
hören Eltern zu, arbeiten zusammen mit der Schule und unterstützen die Schule in ihren<br />
Bemühungen.“<br />
bedeutet gleichzeitig Erziehung. Dies muss jede Schule sich verdeutlichen.<br />
Dagegen steht die wachsende Zahl von Erziehungsproblemen,<br />
über die man miteinander sprechen muss. Dies<br />
bedeutet, dass die Schule mit den Eltern und den Schülern und<br />
Schülerinnen ihre Ziele, Regeln, ihr Programm kommunizieren<br />
muss. Dies ist ein Prozess, der fortlaufend erfolgen sollte und<br />
der zum Ziel hat, das Schulleben gemeinsam zu gestalten,<br />
Regeln zu definieren und Verstöße zu ahnden. Leider herrscht<br />
dazu in vielen Schulen noch eine gewisse Sprachlosigkeit.<br />
Für viele Schülerinnen und Schüler öffnet die Schule Türen zu<br />
Lebenschancen, vermittelt Wissen, verleiht Abschlüsse, die sie<br />
für den weiteren Lebensweg benötigen. Anderseits – und dies<br />
der weiterführenden Schule bleiben, wird es versetzt, muss es<br />
die Schule verlassen, wird es abgeschult. So lassen sich vertrauensbildende<br />
Maßnahmen nicht aufbauen.<br />
Das Verhältnis zwischen Eltern und Lehrern ist an diesem Punkt<br />
strukturell belastet. Man könnte alle diese strukturellen Gewaltfaktoren,<br />
die in den Schulen zum Tagesgeschäft gehören, den<br />
Menschen ersparen, wenn man Kinder länger gemeinsam lernen<br />
lassen und ihnen sämtliche Chancen möglichst lange offenhalten<br />
würde.<br />
Eltern zur Mitarbeit zu bewegen heißt, vertrauensvoll auf<br />
Eltern zuzugehen. Vertrauensvolle Zusammenarbeit muss mit<br />
134
Erziehung heute: Domisch/Leven/Hendricks/Nimptsch<br />
den einzelnen Eltern anders und kommunikativ praktiziert werden.Vertrauen<br />
gewinnt man nicht, wenn sich Eltern immer nur<br />
anhören müssen, was mit dem Kind nicht „gut läuft“. Das Problem<br />
in Deutschland ist, dass es normalerweise nur Mitteilung<br />
an die Eltern darüber gibt, was ein Kind nicht kann oder<br />
welche Fehler es gemacht hat. Zu einer guten<br />
Gesprächskultur gehört aber, dass man sich über<br />
ein Kind in seiner gesamten Persönlichkeitsentwicklung<br />
unterhält, darüber, was es kann, wie es<br />
sich entwickelt und was es noch lernen muss,<br />
wo es sich ändern sollte. Wir reden lieber über<br />
Entwicklungsdefizite bei Kindern als über Entwicklungsmöglichkeiten.<br />
Landtag verabschiedet worden ist. In diesem Schulgesetz geht<br />
man von einer begabungsgerechten Schule aus, die sich in drei<br />
Schulformen gliedert. In einem Gesetz, das 2006 auf den Weg<br />
gebracht wird, sind folglich alle Erkenntnisse aus 2000, 2001,<br />
2003, 2004 plus der Erkenntnisse der letzten 100 Jahre nicht<br />
Ich habe vor Kurzem mit einer Realschullehrerin<br />
gesprochen, die mir erzählte, sie habe mehr als<br />
der Hälfte ihrer Klasse in diesem Schulhalbjahr<br />
mindestens eine oder gar zwei Fünfen auf dem<br />
Zeugnis geben müssen. Die meisten ihrer Schüler<br />
gehörten eigentlich nicht in die Realschule.<br />
Wenn ich mit einer solchen Haltung in den<br />
Unterricht gehe und den Schülern und Schülerinnen<br />
begegne, kann ich weder zu den Schülern<br />
noch zu den Eltern eine positive Einstellung<br />
bekommen. Vertrauen setzt genau dieses aber<br />
voraus. Eltern müssten wissen, die Schule<br />
bemüht sich um mein Kind. Wo das gegeben ist,<br />
hören Eltern zu, arbeiten zusammen mit der<br />
Schule und unterstützen die Schule in ihren<br />
Bemühungen.<br />
Meine Hypothese zu der Frage, weshalb sich in<br />
Deutschland bislang so wenig bewegt hat: Wir<br />
wollen einfach nicht glauben, dass die Struktur<br />
eines Systems mit ursächlich für sein Versagen<br />
sein kann, da ja eine relativ große Gruppe durchaus<br />
Vorteile aus dem System zieht. Wir wollen es<br />
deshalb nicht glauben, weil wir uns dann mehr<br />
als hundert Jahre geirrt haben müssten und weil<br />
ein Gesellschaftssystem zur Disposition gestellt<br />
würde.<br />
Deshalb nehmen wir lieber ein ministeriell verhängtes Denkverbot<br />
in Deutschland in Kauf. Dies geschah nach Pisa und auch<br />
jetzt wieder nach dem Bericht von Herrn Muñoz. Es bleibt festzustellen:<br />
Strukturfragen durften nicht diskutiert werden. Der<br />
erste Pisa-Bericht wurde in zwei Fassungen veröffentlicht, in<br />
einer offiziellen deutschen Fassung und in einer OECD-Fassung,<br />
die in Teilen voneinander abgewichen sind. Kaum liegt der<br />
Bericht von Herrn Muñoz vor, wird aber bereits erklärt, er wäre<br />
inkompetent, würde das deutsche System nicht verstehen.<br />
Zudem könne er das deutsche System nicht von außen beurteilen:<br />
Warum nehmen wir dann an Pisa teil?<br />
In NRW wurde am 1. August 2006 ein neues Schulgesetz in<br />
Kraft gesetzt, das mit den Stimmen der CDU/FDP-Koalition im<br />
Cartoon: Johann Mayr<br />
berücksichtigt worden. Das bedeutet, dass dieses Schulgesetz<br />
im Grunde eine schwere Hypothek für Eltern, Lehrer und Schüler<br />
in NRW darstellt. Es ist aber auch eine schwere Hypothek für<br />
die Gesellschaft.<br />
Überlegungen zu einer Veränderung des Schulsystems in NRW<br />
gehen interessanterweise davon aus, dass die demografische<br />
Entwicklung zur Folge haben wird, dass in ländlichen Gebieten<br />
nicht mehr flächendeckend alle Schulformen angeboten werden<br />
können und deshalb dort mit der Einführung einer gemeinsamen<br />
Schule begonnen werden könnte. Das ist sozusagen das<br />
Hereinschleichen nach dem lappländischen Prinzip.<br />
In den Ballungszentren von NRW, wo die meisten Menschen in<br />
NRW leben, wird diese finnische Methode wohl nicht funktionieren.<br />
Eine Veränderung des Systems muss von den Menschen<br />
135
gewollt und von der Politik ermöglicht werden. Vielleicht muss<br />
die Politik in NRW durch ein Volksbegehren in die richtige Richtung<br />
gesteuert werden. Wir brauchen eine gemeinsame Schule<br />
für alle Kinder, nicht in 10 Jahren oder 30 Jahren, sondern jetzt.<br />
Wir müssen in den Schulen Kinder auf das Leben vorbereiten.<br />
Das heißt, Menschen aus allen Schichten und mit allen Begabungen<br />
müssen lernen, miteinander auszukommen. In einem<br />
demokratischen Staat müssen sie lernen, mit allen Menschen zu<br />
kooperieren, im Team zu arbeiten und demokratisch zu handeln.<br />
Wir brauchen mehr Inklusion und weniger Exklusion in<br />
unserer Gesellschaft, dazu muss die Schule als gesellschaftliche<br />
Einrichtung ihren Beitrag leisten.<br />
Ein Teil unseres Problems besteht zudem in einer hierarchisch<br />
organisierten Schullandschaft. Bei einer Telefonaktion des Kölner<br />
Stadt-Anzeigers haben viele Eltern angerufen und darauf hingewiesen,<br />
dass sie in dieser bürokratisch und hierarchisch organisierten<br />
Schule entweder über den Schulleiter oder über die<br />
Schulaufsicht immer mit Wünschen und Anliegen ausgebremst<br />
werden. Je größer die Unselbstständigkeit der handelnden Personen<br />
ist, umso fester ist der Blick nach oben gerichtet.<br />
Schule muss für das eigene Tun und Handeln Verantwortung<br />
übernehmen. Dies ist der richtige Weg. Dazu benötigen die<br />
Schulen im Entwicklungsprozess Unterstützung. Solange<br />
jedoch nur der TÜV kommt und ähnlich wie bei den Schülerinnen<br />
und Schülern im wesentlichen Defizite an einer Schule<br />
sucht, solange wird die hierarchische Struktur nicht aufgebrochen<br />
und die Verantwortung vor Ort nicht wirklich ausgebildet.<br />
Verantwortung bedeutet, Zutrauen und Vertrauen in einen zu<br />
setzen. Damit tun wir Deutschen uns sehr schwer.<br />
Noten sagen nur ungenügend etwas über die Entwicklung und<br />
die Leistungsfähigkeit eines Kindes aus. Sie vergleichen und<br />
beurteilen nicht die individuellen Lernzuwächse. Individualisierte<br />
Förderung kann nicht Gleichschritt Marsch bedeuten. So<br />
ist aber unser Unterricht angelegt. Individuelle Förderung muss<br />
es Kindern ermöglichen, Leistungsnachweise zu unterschiedlichen<br />
Zeiten zu erbringen. Klassenarbeiten könnten zu unterschiedlichen<br />
Zeitpunkten geschrieben werden oder Leistungen<br />
könnten wiederholt werden, um Kinder über Erfolgserlebnisse<br />
voranzubringen. Manche Kinder brauchen möglicherweise in<br />
einem Halbjahr mehr Zeit für das eine Fach als für ein anderes.<br />
Wir müssen abrücken von dem Prinzip, für alle denselben Input,<br />
die gleich Überprüfung zum selben Zeitpunkt, zu dem jeder das<br />
Gleiche können soll. In den deutschen Ministerien bestehen<br />
derzeit nur vage Vorstellungen davon, was individuelle Förderung<br />
wirklich bedeuten würde.<br />
In einem solchen Kontext könnte man bei einer Schülerin oder<br />
einem Schüler zunächst die musische Begabung stärken, um<br />
dann die Möglichkeit zu haben, etwas später auch die mathematische<br />
Fähigkeit besser zu fördern oder umgekehrt. Die<br />
Notenfixierung bedeutet oft, dass die Neugierde, die Begeisterung<br />
und das natürliche Lernverhalten von Kindern verloren<br />
gehen. Sobald wir über Noten Lernen regulieren, lernen die<br />
Kinder eine sekundäre Motivation: Sie lernen nicht mehr, dass<br />
Lernen ihnen Freude macht, sondern sie tun es wegen der<br />
Note. Andere tun es dann gar nicht mehr. Der natürliche Drang,<br />
zu lernen und Neues zu erfahren, geht in den Schulen allzu oft<br />
verloren.<br />
Die Erfahrungen lehren uns: Je früher Kinder Noten in der<br />
Grundschule bekommen, desto früher fängt der Nachhilfeunterricht<br />
an, und damit wächst der Druck auf Kinder, für ein<br />
bestimmtes Fach eine gute Note zu bekommen. Die Note steht<br />
im Vordergrund, nicht mehr die entsprechende Fähigkeit.<br />
Die Schulgesetzgebung in NRW hat uns in unseren Reformbemühungen<br />
um Jahrzehnte zurückgeworfen. Insofern glaube ich,<br />
dass wir, je nachdem, wie stark der Druck der Bürger wird, erst<br />
in frühestens zehn oder erst in zwanzig Jahren zu nennenswerten<br />
Veränderungen kommen werden. Andererseits dürfen wir,<br />
angesichts der Leistungen unserer Schüler und Schülerinnen in<br />
unserem System, nicht mehr lange warten, weil alle anderen<br />
Länder um uns herum sich bewegen, sich seit Jahren bereits auf<br />
den Weg gemacht haben. Wir müssen aufholen und an Tempo<br />
zulegen. Wir stehen mit unserer Wirtschaft, mit unserem <strong>Bild</strong>ungssystem,<br />
mit unserer Gesellschaft in Konkurrenz zu anderen<br />
Ländern der Welt. Wir haben folglich nicht so viel Zeit!<br />
STATEMENT<br />
Jürgen Nimptsch<br />
Wir geben den Schülerinnen und Schülern unserer Schule im<br />
Rahmen unseres Schulthemas die Gelegenheit, in jedem Jahr,<br />
mit jedem Lehrer und jeder Lehrerin, in jeder Lerngruppe ein<br />
geregeltes Feedback durchzuführen, sich zu äußern – auch über<br />
Ängste, Schwierigkeiten und Vorbehalte. Darüber hinaus sollen<br />
sie in jedem zweiten Jahr das ganze System bewerten, ihre<br />
eigenen Empfindungen, ihre Befindlichkeiten äußern und auf<br />
unsere Schule hin überprüfen und sich überlegen, was sich an<br />
dieser Schule ändern müsste. Wir führen ein sogenanntes Schulbarometer<br />
durch, bei dem sich Schüler, Eltern, Lehrerinnen und<br />
Lehrer jeweils auf einer eigenen Plattform zu der Situation<br />
äußern, und daraus ziehen wir Erkenntnisse. Die Schülerinnen<br />
und Schüler an unserer Schule haben keine Angst; sie kommen<br />
gerne in die Schule, und sie nehmen in aller Regel auch mit<br />
Hilfe und Unterstützung von Expertinnen und Experten von<br />
außen sowie mit unserer Unterstützung die Zukunft in den<br />
Blick. Uns hilft natürlich, dass bei uns so gut wie kein Kind<br />
unsere Schule ohne Schulabschluss verlässt, und damit hat man<br />
zunächst einmal das Wichtigste geschafft.<br />
Alles, was man tun kann, geschieht in unserer Ganztagsschule.<br />
Was daneben geschehen soll, dazu geben wir Rat und Hilfe.<br />
Doch eigentlich ist es nicht notwendig, hier zusätzlich zu<br />
investieren.Aber Eltern haben natürlich immer das Beste für ihr<br />
Kind im Sinn und wollen manchmal noch etwas Unterstützung<br />
136
Erziehung heute: Domisch/Leven/Hendricks/Nimptsch<br />
geben; doch für den normalen Durchlauf der Schülerinnen und<br />
Schüler halten wir das nicht für erforderlich. Am Ende sind es<br />
in einer Jahrgangsstufe mit 170 Kindern vielleicht vier oder fünf<br />
Eltern, die noch einmal Geld investieren, allerdings ohne dass<br />
das zu großen Veränderungen führt. Das System reizt die Möglichkeiten,<br />
die die Kinder haben, schon aus. Und da wir gerade<br />
bei Zahlen sind: Wir erheben auch, was wir dem Staat dadurch<br />
sparen, dass Kinder bei uns nicht sitzenbleiben. Unsere Schule<br />
spart jedes Jahr, wenn man davon ausginge, dass bei uns genauso<br />
viele sitzenblieben wie im nordrhein-westfälischen Landesdurchschnitt,<br />
170 000 Euro. Diesen Betrag hätte ich im Übrigen<br />
gerne zur Verfügung. Ich wüsste, wie ich ihn gut investieren<br />
könnte.<br />
sehr im Vordergrund stand, ist schade. Doch nun ist es wirklich<br />
höchste Zeit, dass das Vertrauen zwischen den Eltern und den<br />
Lehrerinnen und Lehrern in einer geregelten Weise herbeigeführt<br />
wird. Das fällt nicht vom Himmel, sondern man muss es<br />
fördern. Denn Kinder sind an der Ganztagsschule zumindest<br />
länger mit ihrem Klassenlehrer zusammen und besprechen mit<br />
ihm mitunter auch viel mehr als mit ihren Eltern. Wenn die<br />
Eltern und die Lehrer nicht miteinander reden, kann es nicht<br />
funktionieren.<br />
Wenn dieses Vertrauensverhältnis entstanden ist und gepflegt<br />
wird, dann kann man in 80 Prozent aller Fälle auch ganz<br />
schwierige Situationen zwischen Schule und Elternhaus in den<br />
Die wichtigsten Partner für unsere Arbeit<br />
sind die Eltern. Wir fragen alle Eltern, ob<br />
sie sich vorstellen können, sich in der<br />
Schule einzubringen, nicht nur im Rahmen<br />
der normalen Mitwirkung, sondern<br />
auch als Partner. Die Überschrift dieses<br />
ganzen Bereiches heißt: Irgendetwas<br />
kann jeder gut. Bei tausend Eltern gibt<br />
es immer irgendeine Kompetenz, die man<br />
zu irgendeinem Zeitpunkt gut brauchen<br />
kann. Sei es, dass jemand hilft, bei einer<br />
Theaterkulisse etwas zu schrauben oder<br />
zu malen, oder sei es auch, dass jemand<br />
ein Angebot im Rahmen des Ganztagsbereichs<br />
macht. Die Eltern sind schon zahlenmäßig<br />
der wichtigste Partner. Darüber<br />
hinaus gibt es feste Partnerschaften über<br />
Kooperationsverträge mit Betrieben, von<br />
wo Experten und Expertinnen in die<br />
Schule hineinkommen, um im Rahmen<br />
der Berufswahlvorbereitung und der Berufsberatung<br />
ihre Kompetenzen einzubringen.<br />
Zurzeit sind wir dabei, die ehemaligen<br />
Schülerinnen und Schüler in einem<br />
Alumni-Portal auch auf der Internet-<br />
Ebene so miteinander zu vernetzen, dass<br />
unsere jetzigen Schüler mit den ehemaligen<br />
Schülern in Kontakt treten können.<br />
Wenn jemand etwa an einer bestimmten Universität ein bestimmtes<br />
Fach studieren möchte, dann kann er in dem Portal<br />
nachschauen, ob einer unter den dreitausend Ehemaligen schon<br />
dort war, und verfügt dann über ganz andere Unterstützungsmöglichkeiten,<br />
als das sonst der Fall ist.<br />
Partnerschaften braucht man, selbstverständlich. Ich möchte<br />
aber gerne, wenn Sie gestatten, noch eines zur Fragestellung<br />
dieser Veranstaltung sagen. Ich bin jetzt seit fast 30 Jahren<br />
Lehrer und kann mich genau erinnern, dass ich die Lehrpläne<br />
und Richtlinien schon am ersten Tag genau gelesen habe. Die<br />
Anforderung an Schule, zu bilden und zu erziehen, ist ganz alt.<br />
Das sollte eigentlich schon immer passieren. Dass Schule sich<br />
daraus lange verabschieden konnte, weil das Fachwissen so<br />
Foto: Elke Habicht<br />
Das Interesse an <strong>Bild</strong>ung boomt – die Besucherzahlen der „didacta 2007“ erreichten mit mehr<br />
als 95 800 Messegästen Rekordhöhe.<br />
Griff bekommen. Eltern sind manchmal unendlich dankbar<br />
dafür, wenn die Schule mit ihnen zusammen ein schwieriges,<br />
auch häusliches und privates Problem in Angriff nimmt und<br />
eine bestimmte Entscheidung verlangt. Es gibt aber mindestens<br />
zwei Bereiche, in denen es nicht ganz so einfach ist und wo das<br />
Vertrauen nicht ausreicht. Zum einen gibt es natürlich Eltern,<br />
die sich entziehen. In diesem Fall ist es umso mehr Aufgabe der<br />
öffentlichen Schule, gemeinsam mit den Partnern aus der<br />
Jugendarbeit tätig zu werden und sich nicht etwa darüber zu<br />
freuen, dass das Kind gar nicht mehr zur Schule kommt, oder<br />
ein Bußgeld zu verhängen, was auch folgenlos bleibt. Man muss<br />
dann dorthin gehen, wo dieses Kind wohnt, und dafür braucht<br />
man Partner, die mitgehen. Wir müssen dafür sorgen, dass<br />
geschaut wird, was da los ist.<br />
137
Das ist – und dies ist das zweite Problem – natürlich in manchen<br />
Schulen so leicht nicht zu schaffen. Es geschieht in unserem<br />
dreigliedrigen Schulsystem, dass in einer Hauptschule<br />
mehr als 50 Prozent der Schüler problematisch sind. Lehrerinnen<br />
und Lehrer können das nicht alleine bewältigen. Dort, wo<br />
eine gesellschaftliche Mischung in der Schülerschaft vorhanden<br />
ist, können wir das Problem lösen, da wo aber ganze gesellschaftliche<br />
Gruppen ausgegrenzt und in die Hauptschule abgeschoben<br />
werden, muss das System versagen. So viel Geld können<br />
Sie gar nicht in die Hauptschulen pumpen, um all das zu<br />
lösen. Eine gemeinsame Schule für alle von Klasse 1 bis 9 ohne<br />
die Mitarbeit und Installation von Kuratoren, also von Sozialarbeitern,<br />
im Kollegium der Schule, die in die Familien gehen und<br />
die Verbindung zu den Familien von Anfang an aufrechterhalten,<br />
ist von Anfang an zum Scheitern verurteilt.<br />
Man verleitet die Menschen zu Fehlurteilen oder Fehleinschätzungen<br />
über Gesamtschule. Das kann sie gar nicht leisten,<br />
wenn sie völlig unterschiedliche Standortbedingungen hat.<br />
In allen Schulen hat sich in den letzten Jahren schon einiges in<br />
Bezug auf individuelle Förderung und Individualisierung getan,<br />
doch das ist natürlich noch viel zu wenig. Ich will Ihnen eine<br />
Antwort der Frau Ministerin auf die Frage einer Mutter im Rahmen<br />
eines öffentlichen Dialogs mit dem Bonner General-Anzeiger<br />
in der vergangenen Woche hier nicht verheimlichen. Diese Mutter<br />
führte Klage darüber, dass die individuelle Förderung an der<br />
Schule ihres Kindes, einem Gymnasium, nicht stattfände. Und<br />
die Antwort der Ministerin war, da müsse Sie sich an die<br />
Bezirksregierung wenden. Die würde dann sicherlich von oben<br />
durchgreifend dafür sorgen. Das zeigt natürlich, dass die jetzige<br />
Struktur mit einer Schulaufsicht, die von oben durchgreifen<br />
soll, nicht dazu führt, dass sich etwas ändert. Der Weg der<br />
selbstständigen oder selbstverantwortlichen Schule ist schon<br />
der richtige, aber er ist natürlich noch lange nicht mutig<br />
„Doch nun ist es wirklich höchste Zeit, dass das Vertrauen zwischen den Eltern und den Lehrerinnen<br />
und Lehrern in einer geregelten Weise herbeigeführt wird. Das fällt nicht vom Himmel,<br />
sondern man muss es fördern. Denn Kinder sind an der Ganztagsschule zumindest länger<br />
mit ihrem Klassenlehrer zusammen und besprechen mit ihm mitunter auch viel mehr als mit<br />
ihren Eltern. Wenn die Eltern und die Lehrer nicht miteinander reden, kann es nicht funktionieren.“<br />
Der UN-Sonderbeauftragte für Menschenrechte, Herr Muñoz,<br />
hat unsere Schule als einzige in NRW besucht und war so<br />
freundlich zu sagen, dass es ihm gefallen hat. Ich hätte natürlich<br />
gerne seinen Bericht. Wir werden sehen, was daraus wird.<br />
Wenn Sie gestatten, würde ich gerne den Versuch einer Antwort<br />
auf die Frage unternehmen, warum sich das alles nicht<br />
schneller in die angedeutete Richtung bewegt. Wir haben es<br />
mit Menschen zu tun, und diese entwickeln immer ein gewisses<br />
Beharrungsvermögen. Das geht bis ins Skurrile hinein. Dieselben<br />
Menschen, die im Landtag für dieses Schulgesetz stimmten,<br />
haben trotzdem ihre Kinder auf meine Schule geschickt.<br />
Der Fraktionsvorsitzende der CDU hatte seine Kinder auf meiner<br />
Schule, er wusste, warum. Dass er sich politisch anders entschieden<br />
hat, hat sicherlich auch damit zu tun, dass die schulische<br />
Entwicklung in NRW mit Fehlern behaftet ist.<br />
Die Gesamtschule konnte nicht überall und flächendeckend die<br />
Attraktivität herstellen, die sie gebraucht hätte. Da sind in der<br />
Vergangenheit Fehler begangen worden, und deswegen wäre es<br />
umso wichtiger, einen Neuanfang zu wagen und von einer<br />
Schule für alle Kinder zu sprechen. Das sage ich auch den Kolleginnen<br />
und Kollegen an den Gesamtschulen. Ich war selber<br />
auch an einer, bei der die Mischung der Schülerschaft nicht so<br />
günstig gewesen ist. Man muss eigentlich redlich sein: Wo<br />
Gesamtschule draufsteht, muss auch Gesamtschule drin sein.<br />
Wenn das nicht der Fall ist, muss man das Schild abschrauben.<br />
genug. Die einzelne Schule müsste noch viel mehr Verantwortung<br />
übernehmen, und die Eltern müssten, etwa mit <strong>Bild</strong>ungsgutscheinen,<br />
eine viel größere Einflussmöglichkeit auch in<br />
wirtschaftlicher Hinsicht haben, damit die einzelne Schule<br />
unter Druck gerät, sich zu verändern. Die Wege der Selbstständigkeit<br />
auch im Hinblick von Budgetierung müssen noch viel<br />
intensiver beschritten werden.<br />
Bezogen auf diesen Einzelfall muss man natürlich auch zugestehen,<br />
was denn die Ministerin auch anderes hätte sagen sollen.<br />
Die Schule ist in NRW so organisiert, dass die individuelle<br />
Förderung in der Schule stattfinden soll, und wenn dies nicht<br />
geschieht, muss der Staat kommen und es bestrafen. Aber die<br />
dafür erforderlichen Instrumente gibt es ja nicht. So etwas<br />
muss natürlich in der Schule von unten wachsen, was aber nur<br />
über Anreizsysteme erfolgen kann, sodass Lehrerinnen und Lehrer<br />
in sachlicher, materieller und räumlicher Weise in die Lage<br />
versetzt werden, das zu tun und Belohnung für ihr Tun erfahren<br />
können.<br />
Im Rahmen des Projektes „Selbstständige Schule“ konnten wir<br />
es ermöglichen, dass unsere Schulkonferenz drittelparitätisch<br />
besetzt ist. Schüler und Eltern haben dort zur Frage der Kopf-<br />
138
Erziehung heute: Domisch/Leven/Hendricks/Nimptsch<br />
noten eine sehr engagierte Diskussion darüber angestoßen, wie<br />
wir es an unserer Schule damit halten werden. Dies wird sich im<br />
Laufe der nächsten Monate herauskristallisieren. Wir sind<br />
gebunden an Recht und Gesetz, aber es gibt ja die Möglichkeit,<br />
statt Noten zu vergeben lieber Texte zu schreiben. Letzteres<br />
haben wir immer schon gemacht, und wir werden wohl dabei<br />
bleiben, dass wir in Bewerbungszeugnissen und in Abschlusszeugnissen,<br />
dort wo Kopfnoten steht, „Siehe Anlage“ hinschreiben<br />
und eben einen Text beifügen. Darin werden wir die Stärken<br />
und die Entwicklungsfortschritte des Kindes bewerten, was<br />
bei dem einen Kind natürlich umfangreicher und mehr sein<br />
wird als bei dem anderen. Das ist so, weil die Menschen unterschiedlich<br />
sind.<br />
Auf das, was Frau Hendricks vorschlägt, also ein individuelles<br />
Timing für die einzelnen Schüler, etwa Klassenarbeiten zu<br />
unterschiedlichen Zeiten, einzuführen, kann die Schule natürlich<br />
teilweise eingehen. Doch mit dem Gedanken zentrale<br />
Abschlussprüfung, Zentralabitur im Hinterkopf muss man<br />
natürlich auch darauf seriös vorbereiten. Und das kann man<br />
nur, indem man auch parallelisiert schreibt. Das ist in Ordnung<br />
und hat auch Vorteile, aber gerade im Neigungsbereich, wo<br />
Schülerinnen und Schüler ihre Stärken noch weiterentwickeln,<br />
wo sie sich stärker entfalten und ihre ganz besonderen Persönlichkeitsmerkmale<br />
zeigen können, da kann sich Schule flexibel<br />
zeigen und ihnen zugestehen, dass sie nach einem eigenen<br />
Zeitplan Leistungen erbringen. Die Seriosität besteht ja darin,<br />
dass man mit dem Kind Zeitmanagement übt, und wenn das<br />
Kind klar erläutern kann, weshalb es etwas nicht jetzt, sondern<br />
zu einen späteren Zeitpunkt erledigen will, und sich ein Konsens<br />
finden lässt, dann ist das natürlich denkbar, und das ist im<br />
Neigungsbereich auch in der Schule möglich.<br />
139
Die beste Schule für mein Kind –<br />
Was Qualität in der <strong>Bild</strong>ung bedeutet und<br />
wie Eltern die richtige Schule auswählen<br />
Bei der Schulwahl in unserer Wissens- und Kommunikationsgesellschaft geht es neben den jeweils eigenen<br />
Qualitäten einer Schule, die zu berücksichtigen sind, auch um allgemeine Fragen wie: Welche Kriterien<br />
weisen eine zukunftsfähige Schule aus? Was ist heute überhaupt <strong>Bild</strong>ungsqualität? Wie sollen<br />
unsere Kinder in Zukunft lernen? Carola Möllemann-Appelhoff, Lehrerin in Münster, Renate Hendricks,<br />
MdL und vormals Bundeselternratsvorsitzende, Professor Dr. Claudia Solzbacher, Erziehungswissenschaftlerin<br />
an der Universität Osnabrück, sowie Detlef Timp, Schulpsychologe aus Gelsenkirchen,<br />
beleuchteten diese und weitere Aspekte des Themas Schulwahl.<br />
Moderation: Mathias Brüggemeier, stellvertretender Chefredakteur FOCUS-Schule<br />
Eine Veranstaltung von<br />
Carola Möllemann-Appelhoff<br />
Carola Möllemann-Appelhoff, geb. 1949, ist FDP-Politikerin und Lehrerin am Immanuel-Kant-Gymnasium in<br />
Münster. Von 1979-94 sowie erneut seit 1999 im Rat der Stadt Münster. Seit 1999 ist sie dort Fraktionsvorsitzende<br />
der FDP. Sie kandidierte 1999 und 2004 für die Wahl zur Oberbürgermeisterin in Münster.<br />
Renate Hendricks<br />
Renate Hendricks, geb. 1952. Dipl.-Sozialpädagogin. Mutter von fünf Kindern. 1973-77 Leiterin des Sozialen<br />
Dienstes einer Werkstatt für Behinderte. Seit 1979 in der Elternarbeit engagiert. 1995-98 stellvertretende<br />
Vorsitzende des Bundeselternrats, 1998-2004 dessen Vorsitzende. Seit 2005 Mitglied des Nordrhein-Westfälischen<br />
Landtags, stellvertretende schulpolitische Sprecherin der SPD-Landtagsfraktion und deren Sprecherin<br />
für Eine-Welt-Politik. Seit 2006 Sprecherin der SPD-Landtagsfraktion in der Enquête-Kommission „Chancen<br />
für Kinder – Rahmenbedingungen und Steuerungsmöglichkeiten für ein optimales Betreuungs- und <strong>Bild</strong>ungsangebot<br />
in NRW“. Autorin des Buchs „Schicksal Schule“.<br />
STATEMENT<br />
Carola Möllemann-Appelhoff<br />
Für Eltern im ländlichen Bereich oder in kleineren Gemeinden,<br />
in denen es nur jeweils eine Schule pro Schulform gibt, besteht<br />
im Grunde leider gar keine Wahlmöglichkeit. Im Gegensatz dazu<br />
haben Eltern in vielen größeren Städten in Nordrhein-Westfalen<br />
die Möglichkeit, gezielt zwischen vielen Schulformen und<br />
Schulen mit unterschiedlichen Profilen auszuwählen. Wenn<br />
Eltern ihre Kinder an einem Gymnasium anmelden möchten,<br />
haben sie bei uns in Münster-Hiltrup die Möglichkeit, sie entweder<br />
an einem bischöflichen Gymnasium anzumelden oder an<br />
einem städtischen. Das städtische Gymnasium bietet den gro-<br />
140
Schulwahl: Möllemann-Appelhoff/Hendricks/Solzbacher/Timp Blindtext<br />
Claudia Solzbacher<br />
Claudia Solzbacher, Professor Dr., geb. 1956. 1976-82 studierte sie die Fächer Germanistik, Philosophie und<br />
Erziehungswissenschaft (Lehramtsstudiengang Gymnasium) an der Universität Bonn, wo sie als wissenschaftliche<br />
Mitarbeiterin im Fach Erziehungswissenschaft 1986 promovierte und sich 1992 habilitierte. Nach Stationen<br />
an den Universitäten Koblenz und Duisburg hat sie seit 1997 den Lehrstuhl für Schulpädagogik an der<br />
Universität Osnabrück inne. Schwerpunkte ihrer Arbeit in Lehre und Forschung liegen in den Bereichen Schulentwicklung,<br />
<strong>Bild</strong>ungsnetzwerke und in der Begabten- bzw. Begabungsförderung.<br />
Detlef W. Timp<br />
Detlef W. Timp, geb.1958 in Krefeld, Studium der Psychologie an der TU Berlin; 1988 Diplom in Psychologie.<br />
Seither Arbeit mit Kindern und Jugendlichen in der Therapie und Beratung und Lebensweltlichen Forschung,<br />
Supervision für Lehrer und Erzieher, 1996-98 Schulpsychologe an der Regionalen Schulberatungsstelle für<br />
die Stadt Gelsenkirchen (Landesstelle), 1999 Approbation und Niederlassung in Gelsenkirchen-Buer (Praxis-<br />
Schwerpunkte Ängste, Prüfungsängste, Burn-out und Depressionen).<br />
ßen Vorteil, dass die Kinder von der 6. Klasse an auch bilingual<br />
in Englisch unterrichtet werden. Reizvoll ist zudem, dass das<br />
Immanuel-Kant-Gymnasium ein umfassendes musikalisches Angebot<br />
in der nachmittäglichen freien Arbeit bietet, also bewusst<br />
ein Kontrapunkt zum sprachlichen Bereich im Unterricht<br />
gesetzt wird. Die Kinder sollen ihre musikalischen Fähigkeiten<br />
im Rahmen dieses Angebots so weit entwickeln, dass sie beispielsweise<br />
in der Lage sind, im Orchester mitzuspielen oder bei<br />
einer Musical-Aufführung mitzuwirken.Alle Eltern, die diese Profile<br />
wünschen, sind bei uns mit ihren Kindern gut aufgehoben.<br />
Bezogen auf die Frage von Klassenwiederholungen stellt es sich<br />
in Münster-Hiltrup als Vorteil dar, dass unsere Schule in ein<br />
Schulzentrum eingegliedert ist.Stellen wir fest, dass ein Kind bei<br />
141
uns am Gymnasium überfordert ist, dann ist es oft sinnvoller,<br />
nach der Klasse 6, also nach Beendigung der Erprobungsstufe,<br />
zu entscheiden, dass das Kind erst einmal die Realschule besuchen<br />
soll. Das stellt an unserer Schule schon einmal kein<br />
Problem dar, da das Kind nicht den Schulort wechseln muss.<br />
Möglicherweise kommt dieses Kind, das haben wir auch erlebt,<br />
dann in der Jahrgangsstufe 11 wieder zu uns zurück, ohne<br />
ein einziges Jahr verloren zu haben. Nur konnte es nach der<br />
6. Klasse vielleicht unbeschwerter und ohne Angst zur Schule<br />
gehen, dort endlich einmal Erfolg erleben und nicht immer nur<br />
Fünfen kassieren.<br />
Ich finde es daher zwar durchaus verständlich, wenn Eltern<br />
nicht wollen, dass ihr Kind sitzenbleibt, möchte aber auch<br />
darauf hinweisen, dass das Sitzenbleiben bzw. der Schulwechsel<br />
für ein Kind auch eine Wende zum Besseren bedeuten<br />
kann, weil es endlich aus der Schulform herauskommt, in der<br />
es überfordert ist. Wenn ein Kind von der Realschule zur<br />
Hauptschule oder von der Realschule zum Gymnasium wechselt,<br />
so ist der Kontakt zwischen den einzelnen Schulformen<br />
bei uns in Münster-Hiltrup wegen der genannten räumlichen<br />
Einheit leicht herzustellen. Selbstverständlich spricht man<br />
sich in solchen Situationen unter den Kollegen ab. Eine inhaltliche<br />
Zusammenarbeit der einzelnen Schulen gibt es indes<br />
kaum.<br />
Ich möchte jedoch in diesem Kontext noch auf eine andere<br />
Entwicklung hinweisen: Wir haben in NRW die Berufskollegs,<br />
und diese bieten sowohl einen allgemein bildenden Abschluss,<br />
die Fachoberschulreife, als auch die Fachhochschulreife nebst<br />
einer berufsqualifizierenden Ausbildung an. Und es gibt auch<br />
die Möglichkeit, in vier Jahren den allgemein bildenden Abschluss<br />
für das Abitur zu erwerben und anschließend direkt ein<br />
Studium zu beginnen. Die vielfach eingeforderte Durchlässigkeit<br />
ist also heute nach der Klasse 10 bereits gegeben. Wir<br />
haben in vielen Städten die Berufskollegs als echte Alternative<br />
für Schüler, die nach der Klasse 10 das Gymnasium verlassen<br />
wollen, weil sie zusätzlich zum Abitur auch einen Berufsabschluss<br />
oder zumindest berufliche Kenntnisse im Bereich beispielsweise<br />
der Naturwissenschaften oder auch der Wirtschaftslehre<br />
erlangen möchten.<br />
Gerade in der letzten Zeit wird viel über das Fordern und Fördern<br />
der Kinder in der Schule diskutiert. Dafür, dass es mit der<br />
individuellen Förderung an der Grundschule etwas besser zu<br />
klappen scheint als am Gymnasium, gibt es sicherlich verschiedene<br />
Gründe:<br />
Erstens haben Gymnasiallehrer eine andere Ausbildung als<br />
Grundschullehrer. Bei ihnen steht die Wissensvermittlung im<br />
Vordergrund, und auch die Richtlinien am Gymnasium sind<br />
darauf angelegt, am Ende einer jeden Klasse ein bestimmtes<br />
Pensum erreicht zu haben. Dies ist neuerdings über Lernstandserhebung<br />
genau überprüfbar. Das gerade eingeführte<br />
Zentralabitur reglementiert uns Gymnasiallehrer hier noch<br />
weitaus stärker, als ich das vorher vermutet hätte.<br />
Zweitens haben sich die äußeren Bedingungen am Gymnasium<br />
in den letzten Jahren erheblich verschlechtert. Wenn<br />
Sie sich vorstellen, dass die Klassen heute häufig eine Stärke<br />
von 33 Kindern erreichen, dann ist in den Gymnasien eine ähnlich<br />
individuelle Förderung wie im Bereich der Grundschulen,<br />
wo bisweilen nur 20 Kinder in einer Klasse sind, kaum noch<br />
möglich.<br />
Am Immanuel-Kant-Gymnasium sind wir dieser Herausforderung<br />
dadurch begegnet, dass wir beispielsweise Förderinseln für<br />
alle Kinder, die versetzungsgefährdet sind, eingerichtet haben.<br />
Dass wir ein Förderprogramm aufgelegt haben und Förderempfehlungen<br />
gegeben werden, ging noch auf die alte Landesregierung<br />
von SPD und Grünen zurück. Heute sind diese Förderprogramme<br />
durch das neue Schulgesetz in Nordrhein-Westfalen<br />
systematisch weiterentwickelt worden. Sobald sich bei einem<br />
Kind Defizite in einem Hauptfach abzeichnen, sollte die Schule<br />
gemeinsam mit den Eltern eine Förderempfehlung besprechen;<br />
die Eltern sollten mit den Fördermaßnahmen nicht allein gelassen<br />
werden. Dazu bilden wir ebensolche Förderinseln, wo nachmittags<br />
schulische Defizite mit drei bis vier Kindern aufgearbeitet<br />
werden können.<br />
Wir sagen den Eltern dabei ganz bewusst, dass es hierbei nicht<br />
um eine Art Nachhilfeunterricht geht, sondern darum, Mängel<br />
in den Wissensgrundlagen möglichst früh aufzuarbeiten. Deshalb<br />
starten die Förderinseln auch bereits sechs Wochen nach<br />
dem Halbjahresbeginn. Manche Kinder können relativ rasch aus<br />
diesen Förderinseln entlassen werden. Sie wollen aber häufig<br />
gerne bleiben, weil sie es als eine große Sicherheit empfinden,<br />
zusätzlich über die Schule gefördert zu werden. Die Förderinseln<br />
werden von qualifizierten Lehrkräften betreut, während<br />
wir beim normalen Hausaufgabenbetreuungsangebot ältere<br />
Schüler der Oberstufe einsetzen, die natürlich auch einen anderen<br />
Zugang zu und einen anderen Umgangston mit den Mitschülern<br />
haben. Trotz dieses guten Angebots der Förderinseln<br />
bleibe ich dabei: Die Annahme, man könnte am Gymnasium mit<br />
Klassen von 33 Kindern eine ähnlich intensive individuelle Förderung<br />
wie in der Grundschule betreiben, ist eine Illusion. Darüber<br />
hinaus wird das Gymnasium heute auch von sozialen Problemen<br />
der Schülerschaft eingeholt, die früher im Wesentlichen<br />
die Hauptschule betroffen haben und auch heute noch betreffen.<br />
Die schulische Situation ist also heute auch an den Gymnasien<br />
wesentlich schwieriger geworden.<br />
Aber um auf die Themenstellung zurückzukommen: Eltern sollten<br />
sich sehr genau über die Profile der einzelnen Schulen<br />
informieren. Gerade auf die Förderung der Zweisprachigkeit<br />
in bilingualen Gymnasien lassen sich z. B. sehr häufig auch<br />
Eltern ein, deren Kinder nichtdeutscher Abstammung sind,<br />
weil sie in der Sprache Englisch eine Chance auf mehr Internationalität<br />
sehen.<br />
Ansonsten würde ich zumindest im Grundschulbereich dafür<br />
plädieren, dass möglichst Kinder aus allen sozialen Schichten in<br />
einer Klasse vereint sind; die Trennung findet dann in Nord-<br />
142
Schulwahl: Möllemann-Appelhoff/Hendricks/Solzbacher/Timp<br />
rhein-Westfalen spätestens in der 5. Klasse mit der Differenzierung<br />
in verschiedene Schulformen statt. Deshalb lehne ich auch<br />
eine völlige Abschaffung der Grundschuleinzugsbezirke ab. Ich<br />
möchte nicht, dass wir wie in England auf der einen Seite<br />
Grundschulen bekommen, in denen nur die Kinder „gutbetuchter“<br />
Eltern sitzen und die Eltern dann möglicherweise<br />
auch noch Sozialpädagogen für den Nachmittagsbereich zur<br />
besseren Förderung der Kinder aus eigener Tasche finanzieren,<br />
und wir auf der anderen Seite Grundschulen haben, die fast<br />
ausschließlich von Migrantenkindern und Kindern aus schwierigen<br />
sozialen Verhältnissen besucht werden, denen im Unterricht<br />
die sprachlichen Voraussetzungen fehlen. In Hamm beispielsweise,<br />
einer Nachbarstadt, die in der Vergangenheit sehr<br />
stark vom Bergbau gelebt hat, gab es Grundschulklassen, in<br />
denen der überwiegende Teil der Kinder türkischer Herkunft<br />
war und kein Deutsch sprach. In einer solchen Situation war es<br />
völlig verständlich, wenn deutsche Eltern versuchten, eine<br />
andere Schule für ihr Kind zu finden. Damit solche Entwicklungen<br />
verhindert werden, bin ich ein ausgesprochener Befürworter<br />
von Sprachtests und Sprachförderung im Kindergarten,<br />
sodass in den Grundschulen relativ homogene Ausgangsvoraussetzungen<br />
vorherrschen, was die Sprachkenntnisse<br />
anbelangt.<br />
Ich halte es für völlig richtig, wenn Eltern das Klima in einer<br />
Schule quasi als weichen Standortfaktor bei ihrer Schulwahl<br />
hinzuziehen, denn es spielt eine ganz wichtige Rolle. Und es<br />
kann sich in ganz vielen Kleinigkeiten äußern: Wie viele Lehrer<br />
engagieren sich beispielsweise am Nachmittag mit Schülern in<br />
Projekten außerhalb des normalen Unterrichts? Engagieren sich<br />
bei diesen Angeboten Lehrer und Schüler gemeinsam? – Gerade<br />
bei solchen Projekten lernen sich Lehrer und Schüler auf einer<br />
ganz anderen Ebene kennen, und der Lehrer erscheint nicht<br />
ausschließlich als derjenige, der Zensuren vergibt. Wir haben<br />
beispielsweise bei uns an der Schule eine Arbeitsgemeinschaft<br />
„Schüler treffen Unternehmer“, kurz: STU, die ich im Zusammenhang<br />
mit dem Thema „Studien- und Berufswahlvorbereitung“<br />
ins Leben gerufen habe. Ich bin ein Mitglied der Arbeitsgruppe,<br />
aber nicht mehr. Ich habe bessere Kontakte zu den<br />
Referenten, aber meine Oberstufenschüler geben die Pressekonferenz,<br />
sie erstellen die Powerpoint-Präsentation, stellen den<br />
Referenten vor und schreiben nach den Veranstaltungen gegebenenfalls<br />
Presseartikel. Sie organisieren alles selbstständig.<br />
Lehrer und Schüler müssen sich in der Schule also auch auf einer<br />
anderen gleichberechtigten Ebene begegnen als nur in ihrer<br />
Funktion als Lehrer und Schüler.<br />
Wenn Eltern sich viele solcher unterschiedlichen Aktivitäten an<br />
Schulen im Stadtteil ansehen und nicht erst drei Monate vor<br />
dem Anmeldetermin mit der Suche nach der geeigneten Schule<br />
beginnen, dann werden Sie auch die richtige Schule für ihre<br />
Kinder finden. Welche Gesichtspunkte bei der Entscheidung<br />
letztlich ausschlaggebend sind, muss jede Mutter, jeder Vater<br />
selbst entscheiden. Bei der Suche nach einer geeigneten Schule<br />
sollten die Eltern ihre Kinder auf jeden Fall zu den einzelnen<br />
Schulen mitnehmen, denn es sind die Kinder, die in der Schule<br />
lernen und leben werden. Die Schule ist ein wichtiger Lebensraum,<br />
in dem sie sich wohlfühlen sollten. Eltern sollten sich<br />
daher auch sehr gut überlegen, ob sie die Entscheidung für eine<br />
Schule trotz vehementer Ablehnung des Kindes tatsächlich über<br />
dessen Kopf hinweg treffen wollen.<br />
Eine wichtige Rolle bei der Schulwahl spielt auch das Betreuungsangebot.<br />
In NRW gibt es unterschiedliche Möglichkeiten<br />
der ganztägigen Betreuung. In Münster haben wir drei echte<br />
Ganztagsschulen, das heißt, alle Kinder besuchen dort die Schule<br />
von 8 bis 16 Uhr. Der große Vorteil dieser Schulen besteht<br />
darin, dass dort ein anderer Rhythmus des Lernens stattfindet.<br />
Ich muss beispielsweise nicht mehr fächerbezogen meinen<br />
Unterrichtsstoff vermitteln, sondern kann fächerübergreifend<br />
in Projekten arbeiten. Doch das ist eine sehr arbeitsintensive<br />
Form des Unterrichts von 8 bis 16 Uhr, die eine wesentlich bessere<br />
Lehrerversorgung und auch einen anderen Raumbedarf<br />
erforderlich macht. Die Schülerinnen und Schüler können bei<br />
dieser Unterrichtsform natürlich nicht den gesamten Vormittag<br />
in einem Raum verbringen, sondern brauchen Räume für die<br />
Freizeitgestaltung, Stilleräume, wohin sie sich zurückziehen<br />
können, Räume zum Toben usw.<br />
Die meisten Ganztagsangebote finden in NRW im Rahmen der<br />
offenen Ganztagsgrundschule statt. Wir haben diese Form in<br />
Münster wesentlich eher entwickelt, als sie in NRW eingeführt<br />
worden ist. Bei uns sind heute zwei Drittel aller Schulen<br />
offene Ganztagsgrundschulen, wobei jede Grundschule ein<br />
eigenes Modell entwickelt hat, an dem Eltern und Lehrer<br />
gemeinsam arbeiten. Eine solche Zusammenarbeit ist jedoch<br />
nur möglich, wenn beide Seiten bereit sind, aufeinander zuzugehen.<br />
Der gute Kontakt zwischen Lehrern und Eltern, der in den<br />
Grundschulen relativ einwandfrei klappt, muss in den weiterführenden<br />
Schulen fortgeführt werden. Die Erfahrung zeigt<br />
leider, dass der Kontakt zwischen Lehrern und Eltern in der<br />
Klasse 5 oder 6 noch ganz gut funktioniert, dass sich die Eltern<br />
jedoch mit zunehmendem Alter der Kinder immer stärker aus<br />
diesem Prozess zurückziehen. Natürlich kann das Verhältnis<br />
zwischen Lehrern und Eltern auch einmal belastet sein, weil<br />
Lehrer und Eltern das Kind aus einer anderen Perspektive<br />
betrachten.<br />
Aus der Sicht der Kommunalpolitikerin muss ich schlicht und<br />
einfach feststellen, dass es Eltern gibt, die sich nicht dafür<br />
interessieren, wie ihr Kind in der Schule zurechtkommt. Sie<br />
kümmern sich nicht darum und haben auch keine Lust, sich<br />
abends mit den Angelegenheiten ihrer Kinder zu beschäftigen.<br />
Ich meine keinesfalls, dass die Eltern die kostenlosen Nachhilfelehrer<br />
der Nation sein sollten. Aber sie sollten ihr Kind in der<br />
häuslichen Schularbeit, wenn es notwendig ist, unterstützen.<br />
Und sie sollten sich um ihr Kind kümmern, wenn es beispielsweise<br />
in der Klassengemeinschaft Probleme hat. Eltern müssen<br />
dafür sensibilisiert werden, Interesse dafür zu zeigen, ob ihr<br />
Kind sich in der Schule wohlfühlt und gern in der Schule lebt.<br />
143
STATEMENT<br />
Renate Hendricks<br />
Wie finde ich die beste Schule für mein Kind. Diese Frage stellen<br />
sich viele Eltern. Diese Frage ist jedoch nicht einfach zu<br />
beantworten.<br />
Bei der Auswahl einer weiterführenden Schule für mein Kind<br />
würde ich mich u. a. an den <strong>Bild</strong>ungsangeboten einer Schule<br />
orientieren. Mindestens so wichtig ist das Klima, das Miteinander<br />
in einer Schule. Wichtig wäre mir auch die Bereitschaft einer<br />
Schule, Kinder zu fördern. Deshalb sind meine Kernfragen an<br />
eine Schule: Wie viele Kinder sind im letzten Jahr sitzengeblieben,<br />
wie viel Kinder wurden abgeschult, wie viele Kinder wurden<br />
wie individuell gefördert, wie viele Kinder, die in der 5. Klasse die<br />
Schule besucht haben, machen welchen Abschluss an der Schule?<br />
Das sind Fragen, deren Antworten über die Qualität einer Schule<br />
etwas aussagen. Sie belegen nämlich, wie stark Kinder an<br />
einer Schule gefördert werden, wie die Lehrer und Lehrerinnen<br />
sich um die Schüler und Schülerinnen bemühen. Eltern wollen,<br />
dass ihre Kinder optimal ausgebildet werden und die Schule<br />
ohne biografische Brüche durchlaufen.<br />
In Bezug auf die Grundschule gestaltet sich die Auswahl einfacher.<br />
Oftmals ist es die nächstgelegene Grundschule. Dennoch<br />
schauen sich Eltern hier mehr und mehr die Leistungsprofile<br />
einer Schule an, ob das Kollegium innovativ wirkt, ob die Schule<br />
über ein Ganztagsangebot verfügt. Für viele Eltern ist dies<br />
oftmals sogar ein vorrangiges Kriterium. Nach der Grundschule<br />
wird es schwierig, weil nicht mehr nur die Eltern über die<br />
Schulwahl zu entscheiden haben. In NRW gelten ab diesem<br />
Schuljahr Übergangsgutachten, die festlegen, welche Schulart<br />
ein Kind besuchen darf. Damit sind Konflikte zwischen Schule<br />
und Eltern vorprogrammiert.<br />
Eltern wünschen für ihre Kinder generell die besten <strong>Bild</strong>ungschancen.<br />
Die am stärksten nachgefragte Schulform in NRW ist<br />
das Gymnasium. In einem hierarchisch geordneten Schulsystem<br />
stellt es die höchste Hierarchiestufe dar. Dort wollen möglichst<br />
viele Eltern mit ihren Kindern hin. Die gesellschaftlichen Entwicklungen<br />
geben den Eltern recht. Es gibt ein Oben und<br />
Unten, und jeder weiß, dass mit einem Hauptschulabschluss<br />
allein wenig bis gar keine qualifizierten Berufe erreicht werden<br />
können. Das ist heute de facto in unserer Gesellschaft so.<br />
Wenn die Eltern mit den Füßen abstimmen könnten, gäbe es<br />
viele Hauptschulen nicht mehr. Trotz einer Hauptschuloffensive<br />
in NRW gehen die Anmeldezahlen in den Hauptschulen dramatisch<br />
zurück. Eltern wollen das Gymnasium oder die Gesamtschule.<br />
Folglich beobachten wir in beiden Schulformen einen<br />
deutlichen Überhang an Anmeldungen. In diesem Jahr mussten<br />
allein in Köln 600 Schüler an den Gymnasien abgelehnt werden.<br />
Tausende von Schülern und Schülerinnen in NRW haben in diesem<br />
Jahr keinen Platz an einer Gesamtschule erhalten. Die beste<br />
Schule für ein Kind ist für die Eltern zunächst mit einer<br />
bestimmten Schulform verbunden. Die Frage lautet: An welcher<br />
Schulform hat mein Kind die besten <strong>Bild</strong>ungsaussichten, die<br />
besten Zukunftschancen, die höchsten Abschlussmöglichkeiten.<br />
Die Hauptschule gehört nicht dazu. Für viele Menschen in unserem<br />
Land sind die Hauptschulen Schulen für <strong>Bild</strong>ungsversager.<br />
Man kann die Grundschule in Deutschland als erfolgreiche Schulform<br />
bezeichnen. Sie fördert ihre Kinder in heterogenen Gruppen<br />
relativ gut und individuell, wie die Iglu-Untersuchung bestätigt.<br />
Diese positiven Erfahrungen lassen sich in einigen Gesamtschulen<br />
und Hauptschulen ebenfalls nachweisen. Deutlich<br />
schlechter schneiden die Gymnasien und Realschulen ab. Wie<br />
eine Realschullehrerin individuelle Förderung versteht, will ich<br />
an folgendem Beispiel aus den letzten Tagen verdeutlichen.<br />
So berichtete mir die Realschullehrerin über die fürchterlichen<br />
und falschen Schüler und Schülerinnen in ihrer Klasse, sodass<br />
sie zum Halbjahreszeugnis der Hälfte ihrer Klasse mindestens<br />
eine oder teilweise sogar zwei Fünfen auf dem Zeugnis hätte<br />
geben müssen.<br />
Die typische Reaktion vieler Lehrer ist: „Die Schüler gehören<br />
nicht hierher.“ In der Regel fragen diese Lehrer nicht, was man<br />
für diese Kinder hätte tun können. Solange wir aber Kinder<br />
nach unten abschieben können, wird sich die Frage der individuellen<br />
Förderung nicht wirklich stellen. Denn entsprechend<br />
der dem Schulsystem zugrunde liegenden begabungsgerechten<br />
Theorie führt die Schule die Schüler und Schülerinnen nur der<br />
richtigen Schulform zu.<br />
Dies ist pädagogischer Nonsens und den Kinder gegenüber verantwortungslos.<br />
Die Verantwortung und das Bewusstsein zur<br />
individuellen Förderung wächst bei den Lehrern und Lehrerinnen<br />
dann, wenn sie die Verantwortung für Schüler bis zum<br />
Schulabschluss übernehmen müssen.<br />
Meiner Ansicht nach haben wir in NRW mit dem Modell „Selbstständige<br />
Schule“ einen sehr vielversprechenden Weg gefunden,<br />
Schulen mehr Verantwortung zu übergeben. Dazu muss die<br />
Verantwortung der Schule für den einzelnen jungen Menschen<br />
kommen. Schulen sollen über Ressourcen, Budget, Personal und<br />
die Art und Weise, wie sie diese einsetzen zum Wohle der<br />
Kinder, selber entscheiden können. Ich bin ein engagierter Befürworter<br />
dieses Modells. Alle Erfahrungen, die bisher gemacht<br />
wurden, sind zudem positiv. Schulen sollen selbstständig in der<br />
Lage sein, projektbezogenes Lernen einzuführen, Stundentafeln<br />
zu verändern, Klassengrößen zu variieren, Epochenunterricht<br />
einzuführen, integrativ Naturwissenschaften zu unterrichten<br />
und technische, methodische und organisatorische<br />
Wege zu suchen, die ihren Schülern und Schülerinnen helfen,<br />
besser zu lernen.<br />
Doch zurück zur Frage der Schulauswahl. Ich glaube, nach den<br />
Untersuchungen, die wir über viele Hauptschulen in Ballungsgebieten<br />
haben, wird man keinem Elternteil ernsthaft zumuten<br />
144
Schulwahl: Möllemann-Appelhoff/Hendricks/Solzbacher/Timp<br />
wollen, sein Kind in die Hauptschule zu geben. Angesichts der<br />
dort vorhandenen homogenisiert problematisch zusammengesetzten<br />
Schülergruppe werden sich Eltern mit Händen und<br />
Füßen dagegen wehren, ihre Kinder auf die Hauptschule zu<br />
schicken. Das ist ein strukturelles Problem des Systems. Diese<br />
Einschätzung ist übrigens zwischenzeitlich bei den Eltern mit<br />
Migrationshintergrund ebenfalls angekommen, die ihre Kinder<br />
nicht mehr in die Hauptschule schicken wollen, oft jedoch<br />
keine andere Wahl haben. Eltern entscheiden sich aus diesem<br />
Grund häufig für eine Gesamtschule, weil diese längere Möglichkeiten<br />
zur Entwicklung für Kinder offenlässt.<br />
Finnland hat eine gemeinsame Schule. Die dortigen Schulen<br />
werden unterstützt, sie haben eine Schulentwicklung zurückgelegt,<br />
sind weitgehend gleich in den Leistungen, und wenn<br />
sie vom Standard abweichen, erhalten sie Unterstützung. In<br />
Deutschland kämpfen Eltern mit Problemen, die Eltern in anderen<br />
Ländern der Welt sich so nicht vorstellen können.<br />
Ist man erst einmal in einer bestimmten Schulform gelandet,<br />
wird man von <strong>Bild</strong>ungschancen nicht nur rein formal, sondern<br />
auch tatsächlich ausgeschlossen, weil man nicht mehr die <strong>Bild</strong>ungsangebote<br />
bekommt, die man auf Grund seiner Potenziale<br />
gebrauchen könnte. Ein Kind mit den gleichen Potenzialen, den<br />
gleichen intellektuellen Fähigkeiten, das am Ende der Grundschule<br />
ein Gymnasium besucht, hat am Ende der Sekundarstufe<br />
I im Gymnasium dem Hauptschüler gegenüber einen durchschnittlichen<br />
Leistungsvorsprung von 40 Prozent. Umgekehrt<br />
hat ein Hauptschüler deutliche Leistungsrückstände.<br />
Unterstützung der Eltern, Beratung, Hilfen und Anleitungen<br />
durch die Lehrer sowie ergänzendes Personal in der Schule sind<br />
auch wichtige Faktoren, die Eltern bei der Wahl einer Schule<br />
mit beachten sollten. Die Pisa-Untersuchung hat übrigens darauf<br />
aufmerksam gemacht, dass wir aktive und passive Schulen<br />
haben und dass der höchste Anteil der passiven Schulen bei den<br />
Gymnasien liegt. Sie bewegen sich häufig wenig von ihren tradierten<br />
Bahnen weg. Gymnasien in sozial schwierigem Umfeld<br />
sind häufig viel innovativer und wirkungsvoller als Schulen in<br />
einer guten Mittelschichtgegend.<br />
Bei der Auswahl der weiterführenden Schule für ein Kind würde<br />
ich zunächst andere Eltern fragen, deren Kinder diese Schule<br />
besuchen. Am objektivsten sind solche, die mehrere Kinder an<br />
einer Schule haben oder hatten. Diese sind erfahrungsgemäß<br />
die kritischsten Eltern, die die Stärken und Schwächen der<br />
Schule am besten kennen.<br />
Zweitens würde ich mir eine Schule nicht nur am Tag der offenen<br />
Tür anschauen, weil „Tage der offenen Tür“ Showveranstaltungen<br />
sind. Schulen schaut man sich am besten dann an,<br />
wenn dort Schulalltag gelebt wird. Das Klima einer Schule kann<br />
man durchaus erfühlen, wenn man im Laufe eines Schultages<br />
durch die Schule geht, die Regeln liest, den Umgang mit den<br />
Schülern und Schülerinnen beobachtet. Man sollte aufmerksam<br />
beobachten, wie sich die Schüler und Schülerinnen in der<br />
Pause verhalten, wie das Verhältnis von Lehrern und Schülern<br />
in der Pause ist. Wichtig ist es, nach Räumen für Schüler und<br />
Schülerinnen zu forschen, denn Schule ist für sie zukünftig<br />
„Schulen schaut man sich am besten dann an, wenn dort Schulalltag gelebt wird. Das Klima<br />
einer Schule kann man durchaus erfühlen, wenn man im Laufe eines Schultages durch die<br />
Schule geht, die Regeln liest, den Umgang mit den Schülern und Schülerinnen beobachtet.<br />
Man sollte aufmerksam beobachten, wie sich die Schüler und Schülerinnen in der Pause verhalten,<br />
wie das Verhältnis von Lehrern und Schülern in der Pause ist … Außerdem würde ich<br />
mit Schülern reden. Schüler sind die besten Beobachter des Systems, übrigens schon in der<br />
Grundschule, die können genau benennen, was in der Schule gut ist und was nicht.“<br />
Der Anteil der Migrantenkinder am Schulsystem in NRW in den<br />
Grundschulklassen beträgt zurzeit etwa 30 Prozent. Sieben Prozent<br />
von ihnen erhalten eine Gymnasialempfehlung, das heißt,<br />
das Verhältnis entspricht nicht den natürlichen Begabungserwartungen.<br />
Und die Schulforschung sagt uns, dass es weniger<br />
auf die tatsächlichen Leistungen ankommt als auf die Einstellung<br />
der Lehrer und Lehrerinnen zum Kind und auf deren<br />
Bewertung, ob sie glauben, die Eltern könnten ihrem Kind die<br />
entsprechende Unterstützung geben, damit das Kind anschließend<br />
in der Schule reüssieren kann. Hier stehen nicht die<br />
Potenziale des Kindes im Vordergrund, sondern die soziale<br />
Herkunft.<br />
Heimat über einen langen Abschnitt des Tages hinweg. Außerdem<br />
würde ich mit Schülern reden. Schüler sind die besten<br />
Beobachter des Systems, übrigens schon in der Grundschule,<br />
die können genau benennen, was in der Schule gut ist und was<br />
nicht. Die Gesamtschule in Bonn-Beuel stellt ein Stimmungsbarometer<br />
ins Netz, mit Aussagen der Eltern und der Schüler<br />
zur Schule, sodass man sich auch da über die Bewertungen<br />
der Abnehmer informieren kann. Andere Schulen fangen damit<br />
an.<br />
Zurzeit wird die Ganztagsgrundschule von den Eltern massiv<br />
nachgefragt. Wir werden im kommenden Schuljahr die letzte<br />
145
unserer 52 Grundschulen in Bonn mit einem Ganztagsangebot<br />
ausgestattet haben. Noch immer ist die Nachfrage deutlich<br />
höher als die Zahl der Plätze, die wir anbieten können. Familie<br />
und Beruf müssen miteinander vereinbar sein. Je höher die Qualifikation<br />
der Frauen ist, umso stärker streben sie in den Beruf<br />
zurück. Wir können nicht mehr von der Vorstellung ausgehen,<br />
dass Frauen im Wesentlichen zu Hause sind und die Kinder versorgen.<br />
Wir brauchen Schulen, die den Bedürfnissen der Familie<br />
entsprechen. Deshalb ist die Frage des Ganztagsangebotes für<br />
viele Eltern ein hartes Kriterium der Schulwahl bei der Grundschule<br />
und bei den weiterführenden Schulen. Darüber hinaus hat<br />
die Ganztagsschule mehr Möglichkeiten zu fördern, weil sie einfach<br />
mehr Zeit zur Verfügung hat. Pisa hat uns dargelegt, dass<br />
unsere Kinder im deutschen Schulsystem zu inputorientiert<br />
unterrichtet werden, zu wenig Zeit zum aktiven Lernen haben.<br />
Diese Zeit haben sie in einer Ganztagsschule.<br />
Natürlich gibt es auch viele Eltern, die keinen Kontakt zur<br />
Schule suchen. Über diesen hochproblematischen Anteil von<br />
Eltern müsste sich auch die Politik, aber vor allem jede einzelne<br />
Schule Gedanken machen.Viele dieser Eltern haben übrigens<br />
in ihrer Biografie selber ein <strong>Bild</strong> von Schule gewonnen, das mit<br />
vielen Verlusterlebnissen, Negativerlebnissen gekoppelt ist. Als<br />
Tony Blair 1997 angefangen hat, vehement Elternarbeit durch<br />
Early Excellent Center anzukurbeln, wollte er diesen Eltern, die<br />
zu Hause ihren Kindern Negativbeispiele vorleben: arbeitslos<br />
sind, schlecht ausgebildet sind, mit den Ämtern schlechte<br />
Erfahrungen gemacht haben, Hilfe anbieten, damit sie ihre Kinder<br />
besser fördern können. Sie leiden daran, dass sie ihr eigenes<br />
Selbstbewusstsein verloren haben, und wissen, dass sie am<br />
Ende der Gesellschaftsskala angekommen sind oder sich im<br />
Grunde genommen bereits außerhalb dieser Gesellschaft befinden.<br />
Die Erfahrungen haben ihm Recht gegeben.<br />
Es wäre eine reale Chance, über Schule mit diesen Eltern anders<br />
zusammenzuarbeiten, wenn man andere Zugangsmöglichkeiten<br />
zu den Eltern schaffen würde. Dazu müssen die Schulen anders<br />
ausgestattet werden. Sie brauchen anderes Personal: Sozialarbeiter,<br />
Schulpsychologen, Schulassistenten. Die Elternarbeit ist<br />
mit allen Eltern wichtig. Das ständige Lamento, dass die Eltern<br />
nichts tun, hilft nicht überhaupt nicht weiter, wir müssen die<br />
Elternarbeit mit diesen Eltern verändern. Auch an dem Punkt<br />
müssen wir mehr Verantwortung zeigen.<br />
Es gibt kein Land der Welt, in dem so viel professionelle Nachhilfe<br />
geleistet wird wie in Deutschland. 4 Milliarden Euro geben<br />
die Eltern in Deutschland jedes Jahr für Nachhilfe aus; das ist<br />
so viel, wie die Bundesregierung über vier Jahre für ein Ganztagsschulprogramm<br />
aufgelegt hat. Vier Milliarden für Nachhilfe<br />
ist eigentlich ein Offenbarungseid des Schulsystems. Und damit<br />
kommen wir wieder zur Frage der individuellen Förderung.<br />
Hausaufgaben führen in vielen Familien zum Hausfriedensbruch<br />
oder, milder formuliert, zu heftigen Konfliktanlässen. Oft entsteht<br />
hier ein immenser Druck, und die Last der Schule wird auf<br />
diese Art und Weise in der Familie abgeladen.<br />
Viele Eltern trauen sich nicht, ihre Kinder einfach ohne Hilfe<br />
Hausaufgaben machen zu lassen, weil sie Angst haben, dass<br />
ihre Kinder am Ende nicht das Schulziel erreichen. Andere Kinder<br />
kommen grundsätzlich ohne Hausaufgaben in die Schule.<br />
Hausaufgaben in der heutigen Form mit den sehr unterschiedlichen<br />
Hilfestellungen, die Kinder erhalten, unterstützen das<br />
selektive Schulsystem und benachteiligen Kinder aus schwierigen<br />
familiären Hintergründen. Hausaufgaben führen oft zu<br />
individuellen Benachteiligungen, aber dienen nicht der individuellen<br />
Förderung.<br />
STATEMENT<br />
Claudia Solzbacher<br />
Wesentliches Zeichen einer guten Schule ist, dass es eine<br />
gemeinsame Zielsetzung auf verschiedenen Ebenen gibt. Kollegien<br />
müssen sich zusammensetzen und sich fragen, was denn<br />
das gemeinsame Ziel ist, wohin sie die Schule bringen wollen,<br />
wo die Stärken der Schule liegen, worin die Lehrerkompetenzen<br />
bestehen, was noch ausgebaut werden könnte – und mit welchen<br />
Maßnahmen sie das Ziel erreichen können. Ein Hauptmerkmal<br />
guter Schulen ist, ob sich die Schule eine solche reflektierte<br />
Richtung gegeben hat, und das vermag man an ganz<br />
unterschiedlichen Merkmalen abzulesen.<br />
Welche Chancen den Kindern im Laufe ihres Schullebens offenstehen,<br />
hängt auch sehr von der Durchlässigkeit der einzelnen<br />
Schulformen ab, und diese ist in den letzten Jahrzehnten<br />
immer schlechter geworden. Es gab früher die Möglichkeit – an<br />
das sogenannte „Pudding-Abitur“ werden sich einige noch erinnern<br />
–, in gesonderte Gymnasialklassen zu wechseln, wenn<br />
Schüler und Schülerinnen sich in Haupt- oder Realschule<br />
bewährt hatten. Das ist heute nicht mehr der Fall. Dieses fehlende<br />
Moderieren von Übergängen in unserem Schulsystem<br />
halte ich für ein großes Problem. Folglich müssen wir darüber<br />
nachdenken, wie wir dieses System durchlässiger gestalten und<br />
wie zu diesem Zwecke z. B. auch Schulen vernetzter zusammenarbeiten<br />
können. Wir brauchen (um ein Beispiel zu geben) die<br />
Möglichkeit, einen sogenannten „Underachiever“, einen<br />
besonders begabten Minderleister, der auf der Hauptschule ist,<br />
aufs Gymnasium schicken zu können. Möglicherweise ist er vorher<br />
nicht als besonders begabt identifiziert worden. <strong>Bild</strong>ungsnetzwerke<br />
zwischen Schulen in Regionen wären eine Möglichkeit,<br />
um <strong>Bild</strong>ungsbiografien nahtloser zu gestalten. Darauf<br />
legen wir im Moment jedoch viel zu wenig Wert. Eine gute<br />
Schule erkennt man also auch zunehmend daran, dass und wie<br />
sie vernetzt ist.<br />
Ein weiteres Beispiel, was Vernetzungen bewirken können: Es<br />
gibt eine ganze Reihe Hauptschulen, die sich bemühen, dem<br />
Image, dass in der Hauptschule nur die „Loser“ landen, entgegenzuwirken.<br />
Ich habe einen großen Modellversuch wissenschaftlich<br />
begleitet, bei dem es darum ging, den sogenannten<br />
„Benachteiligten“ durch Förderung zu einer höheren Lernkom-<br />
146
Schulwahl: Möllemann-Appelhoff/Hendricks/Solzbacher/Timp<br />
petenz zu verhelfen. Zunächst fragten<br />
wir in den Hauptschulen danach, wer<br />
dort als benachteiligt galt. Da gab es<br />
Lehrkräfte, die antworteten, bei ihnen<br />
seien alle benachteiligt, nicht zuletzt<br />
weil die Chancen, einen Arbeitsplatz zu<br />
bekommen, so gering sind. Was zieht<br />
diese Haltung wohl für eine Pädagogik<br />
nach sich? Ich fand es erschreckend, in<br />
die Augen mancher Kinder und Jugendlicher<br />
zu schauen, die schon in der Schule<br />
ausdrückten, dass aus ihnen sowieso<br />
nichts werden kann.<br />
Wenn diese Mentalität sich nicht ändert<br />
und selbst die Lehrer davon überzeugt<br />
sind, dass alle ihre Schüler keine Chancen<br />
haben, dann wird aus diesen Kindern<br />
auch nichts werden. Doch ich<br />
kenne genügend Hauptschulen, die dem<br />
aktiv entgegenwirken, die sich vernetzen, um die Kinder optimal<br />
zu fördern. Es gibt auch dort genügend Kinder, die sehr<br />
leistungsstark sind. Um die Lernkompetenz der Schüler zu fördern<br />
und dem Gefühl der Benachteiligung entgegenzuwirken,<br />
haben Schulen in unserem Modellversuch „Regionen des Lernens“<br />
z. B. begonnen, mit Betrieben zu kooperieren. Man hat<br />
Hauptschüler und Hauptschülerinnen in betriebseigenen<br />
Assessmentcentern getestet, mit hervorragenden Diagnosemethoden,<br />
über die Lehrer manchmal nicht verfügen. Ergebnis<br />
war, dass die Prognosen, die manche Grundschulen abgegeben<br />
hatten, hinter den tatsächlichen Möglichkeiten der Kinder<br />
zurückblieben. Wenn man ihre Fähigkeiten nun noch in der<br />
Schule individuell fördert, reüssieren diese Kinder, die andernfalls<br />
im System untergehen.<br />
Ich habe in den letzten Monaten Untersuchungen bei 250 Lehrkräften<br />
an weiterführenden Schulen (an normalen Regelschulen<br />
und an solchen Schulen, von denen ich wusste, dass sie intensiv<br />
mit individueller Förderung arbeiten) gemacht. Auf meine<br />
Frage, was denn die Schüler machen müssten, um von ihnen<br />
gefördert zu werden, haben die Lehrer, die nicht viel Erfahrung<br />
hatten mit individueller Förderung, geantwortet, dass die Kinder<br />
eine solche Förderung wollen müssten und motiviert sein<br />
müssten, etwas zu leisten. Auf Nachfrage hatte man den Eindruck,<br />
es handele sich um eine Bringschuld der Kinder. Während<br />
Lehrer aus Schulen mit großer Erfahrung in individueller Förderung<br />
geantwortet haben, dass alle Kinder individuell gefördert<br />
werden, egal ob sie „wollen“ oder nicht. Die individuelle Förderung<br />
solle ja gerade die Kinder da abholen, wo sie stehen. Wenn<br />
ein Kind unmotiviert ist, benötigt es eben eine andere individuelle<br />
Förderung als ein hoch motiviertes, leistungsstarkes<br />
Kind. Gute Schulen strahlen eine solche fördernde Atmosphäre<br />
ab: Sie wird in Vorgesprächen mit Lehrkräften und der Schulleitung<br />
deutlich, vielleicht sogar im Stundenplan (in dem Förderstunden<br />
und Freiarbeit, Arbeitsgemeinschaften oder andere<br />
Instrumente und Methoden der individuellen Förderung etc.<br />
Foto: Elke Habicht<br />
vorgesehen sind) und auch an Schwarzen Brettern, auf denen<br />
Kinder öffentlich gelobt werden o. Ä.<br />
Ein weiteres, aber eng damit zusammenhängendes Kennzeichen<br />
guter Schulen ist die Frage, wie Schulen mit Heterogenität<br />
umgehen. Ich habe im Rahmen einer anderen Untersuchung<br />
zur Lernkompetenzförderung eine ganze Reihe Schulen<br />
besucht und festgestellt, dass manche Schulen etwa mit sehr<br />
vielen Migranten sich besonders gut entwickelt haben, weil sie<br />
sich des Themas offensiv angenommen haben. Die Lehrer waren<br />
durch die vielen Sprachen und vielen Kulturen zunächst sehr in<br />
Bedrängnis. Sie mussten ihre Schule also zwangsläufig auf individuellere<br />
Förderung und den Umgang mit Heterogenität<br />
umstellen. Die Kenntnisse, die die Lehrkräfte dafür brauchten,<br />
kamen letztlich allen Kindern zugute. Der Vorwurf, der hier auf<br />
dem Podium angeklungen ist, war ja, dass Finnland so leicht<br />
bei Pisa reüssierten konnte, weil es einen nur geringen Migrantenanteil<br />
hat. Lehrkräfte in deutschen Schulen mit hohem<br />
Migrantenanteil haben ebendieses genutzt. Ich will nicht in<br />
einen Romantizismus verfallen: Das war wahnsinnig schwierig,<br />
und die Lehrer mussten alles Mögliche dazulernen und sich<br />
enorm engagieren. Aber man kann die Tatsache der Zweisprachigkeit<br />
von Schülern und Schülerinnen z. B. auch als eine<br />
Chance sehen. Dennoch brauchen wir Sprachtests oder frühkindliche<br />
Förderung, aber Schulen haben gezeigt, dass gute<br />
Schulen auch mit hohem Migrantenanteil gelingen können.<br />
Mit Ganztagsschulen habe ich mich in meiner Forschungsarbeit<br />
nicht beschäftigt, aber es gibt genügend Untersuchungen dazu.<br />
Als Erstes müssen wir uns anschauen, um welche Form von<br />
Ganztagsschule es geht: Ist es eine, die nachmittags die Kinder<br />
bloß verwahrt, eine die AGs anbietet? Oder ist es eine Ganztagsschule,<br />
die tatsächlich ihren Schulrhythmus so umstellt,<br />
dass sie morgens und nachmittags unterrichtet, ohne dass die<br />
Kinder acht Stunden Frontalunterricht erdulden müssen, die<br />
also die Lehr- und Lernkultur so umgestellt hat? Viele Schulen,<br />
147
die Erfahrung mit individueller Förderung haben, stellen zunehmend<br />
den Antrag, Ganztagsschule zu werden, aus der Erkenntnis<br />
heraus, dass sie ihre Vorstellungen von guter Schule nicht<br />
bloß am Vormittag mit einem 45-Minuten-Takt umsetzen<br />
können. Sie wollen Ganztagsschule werden, um ihre Lernkulturen<br />
umstellen zu können auf Projektunterricht z. B., auf<br />
einen Zweistundenrhythmus, in dem man selbsttätig arbeiten<br />
kann etc.<br />
In diesem Punkt hat die Lehrerausbildung bisher eher versagt.<br />
Die Bachelor/Master-Ausbildung in den Universitäten halte ich<br />
in Bezug auf die Lehrerbildung zusätzlich für ein Problem:<br />
Ergibt es einen Sinn, dass zukünftige Lehrer und Lehrerinnen<br />
semesterlang nur das Unterrichtsfach studieren und erst hinterher<br />
die dazugehörige Pädagogik? Zielt man darauf ab, die Pädagogik,<br />
die Psychologie und die Diagnostik in den Schulen zu<br />
verbessern, muss man auch die Lehrerbildung verbessern.<br />
„Ich fand es erschreckend, in die Augen mancher Kinder und Jugendlicher zu schauen, die<br />
schon in der Schule ausdrückten, dass aus ihnen sowieso nichts werden kann. Wenn diese Mentalität<br />
sich nicht ändert und selbst die Lehrer davon überzeugt sind, dass alle ihre Schüler<br />
keine Chancen haben, dann wird aus diesen Kindern auch nichts werden. Doch ich kenne<br />
genügend Hauptschulen, die dem aktiv entgegenwirken, die sich vernetzen, um die Kinder<br />
optimal zu fördern. Es gibt auch dort genügend Kinder, die sehr leistungsstark sind.“<br />
Noch eines zum Thema Ganztagsschulen: Bei Besuchen in<br />
Ganztagsschulen habe ich bemerkt, dass die Kinder in der<br />
Ganztagsschule ein viel höheres Maß an Mitbestimmung und<br />
Verantwortung für das Schulleben haben. Sie engagieren sich<br />
plötzlich für alle möglichen Aktionen, übernehmen Verantwortung<br />
für ganz bestimmte Maßnahmen, die an der Schule gestaltet<br />
werden müssen. Wenn die Kinder erleben, dass auch die<br />
Lehrkräfte den ganzen Tag da sind, sich zuständig fühlen für<br />
Materialwände, für Projekte, für eine angenehme Atmosphäre<br />
in der Schule, werden die Kinder auch verantwortungsvoller.<br />
Demokratie-Lernen scheint an solchen Schulen leichter möglich<br />
zu sein.<br />
Auch die Lehrerausbildung muss im Hinblick auf das bisher<br />
Gesagte verändert werden, um derartigen Innovationen gerecht<br />
zu werden. Das beginnt damit, dass man heute als Lehrer<br />
viel mehr als früher „Manager“ in seiner Schule sein muss, dass<br />
man in Teams Konzepte entwickeln muss oder in Steuergruppen<br />
arbeitet u. a. m. Unsere Studierenden benötigen viel mehr<br />
Kenntnisse in Fragen der Schul- und Unterrichtsentwicklung.<br />
Die Veränderung der alten Konzepte, die noch in den Köpfen<br />
vieler Lehrkräfte festsitzen, empfinde ich als wahnsinnige Herausforderung<br />
für die Ausbildung, weil wir überwiegend theoretisch<br />
Sachverhalte deutlich machen müssen, die nicht so<br />
schnell als „best practice“ vor Ort zu finden sind. Exkursionen<br />
zu Reformschulen mit Studierenden zu unternehmen ist sehr<br />
aufwendig. Ich frage mich manchmal, welche Vorstellungen<br />
Studierende entwickeln, wenn ich ihnen theoretisch schildere,<br />
wie offener Unterricht funktioniert. Insofern wäre mein Traum<br />
eine einphasige Lehrerbildung, in der man mit den Studierenden<br />
in die Schulen geht, um nachher die Theorie an der Praxis<br />
zu orientieren und die richtigen Konstrukte in die Köpfe zu<br />
bekommen.<br />
Fehler in der ersten Ausbildungsphase haben zur Folge, dass<br />
nicht selten junge Lehrer unter völlig falschen Voraussetzungen<br />
in die Schule kommen und sehr schnell ausbrennen, weil<br />
ihnen die nötige Kompetenz fehlt. Der Schock der Referendare,<br />
wenn sie in die Praxis kommen, ist enorm. Wenn ich<br />
mit meinen Studenten und mit Referendaren zusammen Seminare<br />
mache, dann kommen von den Referendaren, die vorher<br />
als Studierende bei mir noch ganz eifrig waren, Äußerungen<br />
wie: „Kommt ihr erst mal in die Schule, hier ist gar nichts<br />
möglich.“<br />
Was ebenfalls in der Ausbildung zu kurz kommt, ist die Elternarbeit.<br />
Ich habe den Eindruck, dass Lehrer und Lehrerinnen mitunter<br />
gar nicht mit Eltern zusammenarbeiten wollen. Warum?<br />
Weil Eltern eine Form von Evaluation, Überprüfung darstellen?<br />
Weil sie Angst davor haben, dass die Eltern ihnen vorwerfen,<br />
die Lernleistung des Kindes hänge von ihrem Lehrinput ab?<br />
Wenn Eltern sich also beschweren, dass ihr Kind nicht vernünftig<br />
lernt, oder wenn sie ein vertrauensvolles Gespräch führen<br />
wollen, weil das Kind nicht lernt, fühlt der Lehrer sich häufig<br />
angegriffen. Das ist ein Grundproblem in der Zusammenarbeit<br />
von Elternhaus und Schule. Der Lehrer hat meist die ganze<br />
Gruppe im Blick, die Eltern dagegen ihr einzelnes Kind. Das<br />
wird vermutlich noch extremer, je mehr wir es mit Einzelkindern<br />
zu tun haben.<br />
Beide Seiten haben recht: die Eltern, wenn sie Ansprüche stellen,<br />
aber auch die Lehrkräfte, wenn sie sagen, ihr mischt euch<br />
zu viel ein. Die Lehrkräfte verlangen, dass Eltern nicht bei den<br />
Hausaufgaben helfen. Die Eltern beschweren sich, dass sie den<br />
ganzen Nachmittag mit den Kindern über den Hausaufgaben<br />
sitzen. Die Eltern werden zunehmend zu Nachhilfelehrern der<br />
148
Schulwahl: Möllemann-Appelhoff/Hendricks/Solzbacher/Timp<br />
Nation und sehen die Ursachen darin weniger im System als –<br />
vielleicht allzu vorschnell – bei der einzelnen Lehrkraft. Dies<br />
führt zu Reibungen und Missverständnissen. Elternarbeit ist<br />
nach wie vor schwierig, und wirklich funktionierende Konzepte<br />
sind noch nicht erfunden.<br />
Etwas Weiteres kommt hinzu: In der eben schon genannten<br />
Studie zur individuellen Förderung haben wir festgestellt, dass<br />
viele Lehrkräfte zunehmend an Selbstbewusstsein verlieren.<br />
Das halte ich für die verheerendste Erkenntnis aus meinen Befragungen<br />
von Lehrern. Sie fühlen sich zunehmend inkompetent<br />
und können das, was sie vermeintlich nicht wissen, im<br />
Zusammenhang mit den zahlreichen Reformen, die an sie herangetragen<br />
werden, auch nur schwer aufholen, da ihnen dazu<br />
die Zeit fehlt – ein Teufelskreis. Gute Schulen und besonders<br />
gute Schulleitungen zeichnen sich dadurch aus, dass die Lehrkräfte<br />
sich ihres Könnens bewusst sind und wissen, dass sie bei<br />
Problemen die Unterstützung der Schulleitung und der Kollegen<br />
haben. Mit ängstlichen Lehrkräften, denen man sukzessive das<br />
Selbstbewusstsein nimmt, kann man keine Reformen machen,<br />
und solche Lehrkräfte können sich auch nicht fördernd auf<br />
Kinder einlassen.<br />
Dazu gehören auch bildungspolitische Rahmenbedingungen<br />
wie z. B. neue Arbeitszeitmodelle, die einen Zeitrahmen und<br />
Aufgabenstellungen berücksichtigen, die realistisch sind. Wir<br />
müssen die Lehrer so stark machen, dass sie selbstbewusst<br />
diese Reformen tragen können, die wir im Moment von ihnen<br />
erwarten.<br />
Zur Frage, ob es die Entscheidung für eine Schule erleichtern<br />
würde, wenn wir demnächst ein Schul-Ranking aufstellen würden,<br />
kann ich sagen, dass es im Moment noch nicht genügend<br />
Kriterien für ein solches Ranking gibt. Wir wissen viel zu wenig,<br />
wie und auf welcher Grundlage Schulen tatsächlich wirken. Wir<br />
sollten den Lehrern und Lehrerinnen erst einmal die Chance<br />
geben, ihre Schule anhand vorgegebener Kriterien zu entwickeln,<br />
damit wir sie dann ranken können. Viel wichtiger ist<br />
aber, dass wir interne Qualitätsentwicklung betreiben. Danach<br />
muss sehr wohl irgendwann überprüft werden, ob Schule das<br />
auch wirklich leistet, was wir von ihr erwarten. Wenn wir jetzt<br />
konstatieren, dass vieles im Argen liegt, hilft es uns nicht weiter,<br />
alle Beteiligten unter Druck zu setzen, sondern wir sollten<br />
ihnen zunächst den Rücken stärken und das System verbessern.<br />
Meiner Ansicht nach sind wir zum Erfolg verdammt. Wer die<br />
große <strong>Bild</strong>ungseuphorie der 1970er- und 1980er-Jahre miterlebt<br />
hat und feststellen musste, wie sie zu Resignationserscheinungen<br />
gerade bei den Engagierten geführt hat und wie deshalb<br />
lange Jahre nichts mehr aufgebaut werden konnte, der weiß,<br />
dass die Arbeit an der eigenverantwortlichen oder selbstständigen<br />
Schule und das Vorhaben individueller Förderung – zurzeit<br />
die größten Reformen – nicht scheitern darf. Andernfalls droht<br />
uns eine neue lange Resignationsphase, die uns noch hinter das<br />
zurückfallen ließe, was wir jetzt haben. Das ist meine feste<br />
Überzeugung.<br />
STATEMENT<br />
Detlef Timp<br />
Versagensängste<br />
Ein Kind, das erst auf dem Gymnasium war und dann zur Realschule<br />
soll, fühlt sich leicht als Versager abgestempelt, weil es<br />
von seinen Freunden weg muss und ihm zu verstehen gegeben<br />
wird, dass es hier nicht mehr hinpasst. Doch ist die Frage, ob<br />
es sich nicht vorher schon als Versager gefühlt hat. Wenn Sie<br />
ein Kind, wie das der Sauerländer so schön formuliert, „das das<br />
Zeug nicht dafür hat“, auf ein Gymnasium schicken, ist das eine<br />
Quälerei für das Kind. Es führt im Regelfall nicht nur dazu, dass<br />
die Schulnoten nach unten gehen, sondern auch dazu, dass die<br />
Stimmung nach unten geht: Die Kinder schlafen schlecht, sie<br />
weinen, reagieren häufig psychosomatisch, also mit Bauchschmerzen,<br />
mit Schlafstörungen, mit allem Möglichen, was<br />
man so kriegen kann, auch als junger Mensch. Im Übrigen<br />
haben solche Kinder meist nur wenige Freunde in der Klasse,<br />
weil sie ja sowieso die Loser sind und sich selber auch so fühlen.<br />
Sie können auf einer Realschule hervorragende Leistungen<br />
bringen, blühen dort auf, finden auch relativ schnell neuen<br />
Anschluss, und ich kenne einige, die es – mit dem Umweg nach<br />
der Klasse 6 auf die Realschule – nach der Klasse 10 aufs alte<br />
Gymnasium wieder zurückgeschafft und dort dann prima das<br />
Abitur hingelegt haben.<br />
Die Kernfrage ist, wie das Umfeld damit umgeht. Wenn man<br />
diesen „leichteren“ oder anderen Weg über die Schulform Realschule<br />
als Karriereknick betrachtet und das dem Kind zurückmeldet,<br />
dann ist es ein Problem bzw. kann für das Kind zu<br />
einem Problem werden; wenn man dagegen sagt, es ist eigentlich<br />
eine Schulform, die denselben Abschluss bietet wie die<br />
Abschlussklasse 10 am Gymnasium, dann ist es kein Problem,<br />
zumindest kein größeres.<br />
Was können Eltern machen, um ihren Kindern trotzdem irgendwo<br />
das Gefühl zu geben, dass sie etwas leisten, um sie aufzubauen?<br />
Zum einen können sie Druck wegnehmen. Es gibt viele<br />
Schüler mit Prüfungsängsten, die an sich gute Schüler sind,<br />
doch dann wird die Klausur geschrieben, und alles ist weg. Oder<br />
sie sollen an die Tafel kommen und wissen ihren eigenen Vornamen<br />
nicht. Bei Prüfungsängsten muss man sehr genau prüfen:<br />
Habe ich es mit jemandem zu tun, der an sich ein guter<br />
Schüler ist, der gut lernen kann und einfach nur ein Problem<br />
damit hat, dass er geprüft wird? Hier können Eltern nicht sehr<br />
viel machen. Das sollten sie vielleicht besser einem Schulpsychologen<br />
überlassen.<br />
Etwas anderes ist es, wenn ein Schüler sowieso schon schlecht<br />
ist, im unteren Leistungsniveau rangiert und mit massiver Prüfungsangst<br />
reagiert, weil die nächste Arbeit darüber entscheidet,<br />
ob auf dem Zeugnis eine Vier oder eine Fünf steht. Da kann<br />
ich als Elternteil zum einen darauf hinweisen, dass es wenig<br />
sinnvoll ist, zwei Tage vor der Klausur ein bisschen zu lernen<br />
149
und sich dann zu wundern, dass es nicht sitzt, und mit dem<br />
Kind adäquate Lern- und Arbeitstechniken entwickeln. Auf der<br />
anderen Seite muss ich zusehen, dass ich das Kind nicht prinzipiell<br />
überfordere.<br />
Wenn ich mein Kind permanent überfordere, dann hat es irgendwann<br />
nicht mehr Prüfungsangst, sondern es schafft das<br />
Verlangte einfach nicht. Das ist der entscheidende Unterschied.<br />
Man muss erkennen, ob es sich um Unvermögen oder um Prüfungsangst<br />
handelt. Es gibt einen klaren Unterschied: Im einen<br />
Fall beherrscht der Schüler den Stoff im Prinzip und versagt nur<br />
in der Prüfung (Prüfungsangst); doch dann gibt es diejenigen,<br />
die einfach nicht das Leistungsvermögen haben, um den an sie<br />
gestellten Anforderungen zu genügen. Sie bekommen irgendwann<br />
Schulangst und gehen schließlich gar nicht mehr zur<br />
Schule, aber das hat nichts mit Prüfungsangst zu tun. Das<br />
erkennen Eltern leider oftmals sehr spät, um nicht zu sagen zu<br />
spät. Hier scheitern die Kinder nicht an der Schulform, sondern<br />
am Ehrgeiz der Eltern.<br />
Ausgebrannte Lehrer?<br />
Hier wurde die Frage aufgeworfen, ob ich als Schulpsychologe<br />
den Eindruck habe, dass es viele ausgebrannte Lehrer gibt. Das<br />
scheint mir in der Tat der Fall zu sein, und es hat eine ganze<br />
Reihe von Gründen. Der eine ist, dass, wer auch immer in einem<br />
Ministerium – also gerade im Kultusministerium (NRW), zumindest<br />
in der Vorgängerregierung – das Sagen hatte, garantiert<br />
irgendwelche Reformen machte, von jeglicher Sachkenntnis<br />
ungetrübt, ohne Beteiligung von Leuten, die wissen könnten,<br />
was dabei herauskommt, sondern es wurde auf Ministerialebene<br />
irgendetwas beschlossen. Die Bereitschaft von Lehrern, das<br />
Weite zu suchen, wenn sie das Wort „Schulreform“ hören, ist<br />
sehr groß. Und die meisten Schulreformen haben zum Teil nicht<br />
einmal ihr Erscheinungsdatum überlebt, weil dann schon die<br />
nächste Reform kam. Es gab einige Kultusminister, bei denen<br />
man nur noch schreiend abschalten konnte, wenn sie im Fernsehen<br />
auftraten. Das muss man einfach einmal deutlich sagen.<br />
Lehrer sind sich reihenweise „vergackeiert“ vorgekommen, weil<br />
in NRW an Schüler-, Lehrer- und Elterninteressen vorbei Schulreform<br />
gemacht wurde. Und das ist eigentlich immer noch so.<br />
Man überlegt sich nicht im Vorhinein, was sich ändern sollte.<br />
Habe ich ein Modellbild vom Gymnasium als „Elite“-Schule, die<br />
auf ein Hochschulstudium vorbereitet bzw. vorbereiten sollte,<br />
dann muss ich diese Schule entsprechend ausstatten. Stellt man<br />
dann aber fest, dass die Hauptschule in Verruf geraten ist, wird<br />
im Prinzip „Hinz und Kunz“ auf das Gymnasium geschickt, doch<br />
das Gymnasium bekommt nicht mehr Lehrer, weil das zu teuer<br />
ist. Dann müssen Gesamtschullehrer einspringen, die sind nämlich<br />
billiger. Und damit wir weiter sparen, machen wir die Klassen<br />
größer. Und weil die Klassen so groß sind, kann der Lehrer<br />
nicht individuell fördern. Außerdem wird den Lehrern durch<br />
viele unsinnige Verwaltungsaufgaben und die Mitarbeit in der<br />
Schul- und Unterrichtsorganisation immer mehr aufgebürdet.<br />
Hier muss man einfach mal genau hinsehen, wo sich die Katze<br />
in den Schwanz beißt, und solange die Politik dies nicht tut,<br />
beantworte ich hier die Frage vom letzten Podium: „Wir werden,<br />
wenn sich politisch nichts ändert, auch in 50 Jahren noch<br />
hier sitzen und diskutieren, warum wir bei Pisa ganz hinten<br />
hängen.“ Ganz einfach.<br />
Darüber hinaus werden Lehrer mit immer mehr Aufgaben<br />
betraut, die eigentlich Sache der Eltern sind, worum diese sich<br />
aber nicht kümmern. Und als dritter Punkt: Die Motivation, die<br />
Leistungsbereitschaft und das Leistungsniveau der Schüler sinken<br />
seit Jahren ebenso wie die soziale Kompetenz. Parallel dazu<br />
sind aber spätestens seit der ersten Pisa-Studie in der Öffentlichkeit<br />
die Lehrer die Versager und nicht die Schüler, in summa<br />
also steigen die Anforderungen bei reduziertem Erfolg. Engagierte<br />
Lehrer brennen aus, andere vollziehen die innere Kündigung<br />
und machen unbefriedigt „Dienst nach Vorschrift“.<br />
Welche Schule ist die richtige?<br />
Bei der Frage, welche Schule das Kind besuchen soll, sollte der<br />
Wunsch des Kindes sicher nicht der allein ausschlaggebende<br />
Punkt sein, andererseits muss das Kind im Zweifelsfall neun<br />
Jahre dort hingehen. Normalerweise gibt es ja andere Kinder in<br />
der neuen Schule, ältere Brüder, ältere Schwestern, die auf<br />
irgendeinem Gymnasium oder auf irgendeiner weiterführenden<br />
Schule sind. Und die Kinder informieren sich bei ihnen und<br />
überlegen sich selbst, wo sie denn hinwollen. Außerdem orientieren<br />
sie sich an ihren Freundinnen und Freunden: Man würde<br />
zur Not auch gemeinsam auf die Sonderschule gehen, Hauptsache<br />
man bleibt zusammen. Das sollte man vielleicht nicht unbedingt<br />
nachvollziehen. Aber die Kinder fragen etwa auch ihre<br />
Spielkameraden. Manchmal bestehen Kontakte zur neuen Schule,<br />
weil Schüler vom Gymnasium wieder in die Grundschulklassen<br />
gehen und berichten, wie es ihnen jetzt an dieser Schule<br />
geht. Die Kinder haben Möglichkeiten genug, sich zu informieren,<br />
und sie sollten schon ein gewisses Mitspracherecht haben,<br />
vollkommen zu Recht.<br />
Es kann wirklich hilfreich sein, wenn ein Kind sich mit Freunden<br />
aus der Grundschule, also mit einem kleinen Teil seines<br />
sozialen Umfeldes, an einer Schule wiederfindet, um sich erst<br />
einmal daran zu gewöhnen und da ein kleines bisschen Fuß zu<br />
fassen. Das kann immens sinnvoll sein, wenn ich keinen großen<br />
Wert darauf lege, mein Kind frühzeitig zu verschrecken. Ich<br />
kann natürlich auch mein Kind ins kalte Wasser werfen, das<br />
heißt, ich tue es auf die beste Schule am Ort, weil diese überall<br />
besonders gelobt worden ist, wo es aber leider niemanden<br />
kennt und sich auch überhaupt nicht wohlfühlt. Diese Schule<br />
kann noch so toll sein, wahrscheinlich wird das Kind dort keine<br />
guten Leistungen bringen. Es erweist sich gegebenenfalls als<br />
sinnvoller, das Kind auf eine Schule zu schicken, die vielleicht<br />
keinen ganz so guten Ruf etwa in Naturwissenschaften oder<br />
anderen Schwerpunkten hat, wo es sich aber wohlfühlt. Nach<br />
Klasse 10 kann es in NRW und meistens in den anderen Bundesländern<br />
auch immer noch in eine gymnasiale Oberstufe wechseln,<br />
wenn es das denn will.<br />
150
Schulwahl: Möllemann-Appelhoff/Hendricks/Solzbacher/Timp<br />
Was muss sich an Schule ändern?<br />
Bei der Diskussion darüber, was sich auf der Lehrerseite ändern<br />
muss, sollte uns eines deutlich werden: So schön es auch ist,<br />
wenn Lehrer Pädagogen sind, und so wünschenswert es wäre,<br />
wenn sie mehr Ahnung von Pädagogik und Psychologie auch im<br />
Studium vermittelt bekämen, im Endeffekt sind Lehrer vor<br />
allem eines: Vollzugsbeamte. Das klingt jetzt ziemlich gemein,<br />
aber sie sind nichts anderes als Vollzugsbeamte, und sie vollziehen<br />
Verwaltungsrecht, und so werden sie auch behandelt. Sie<br />
bekommen eine Dienstanweisung und haben gefälligst danach<br />
zu handeln. Das ist etwas, das viele Lehrer, mit denen ich auch<br />
in meiner Praxis zu tun habe, wahnsinnig frustriert, insbesondere<br />
wenn sie politisch gewollte, d. h. ohne pädagogischen<br />
Sachverstand getroffene Entscheidungen umsetzen sollen.<br />
Wenn Sie einen Lehrer mit allem beauftragen, was an der Schule<br />
so anliegt, dann hat er nicht mehr viel Zeit und Elan, sich um<br />
etwas anderes zu kümmern. Tenor in der Lehrerschaft ist<br />
momentan: „Nicht das auch noch!“ Da gibt es ein Attentat in<br />
Thüringen, und die erste Reaktion war: Die Schule muss<br />
„Gewaltprävention“ machen. Dann gibt es einen Aufschrei, die<br />
Kinder seien alle zu dick, jetzt muss die Schule zudem noch<br />
„gesunde Ernährung“ vermitteln. Die dicken Kinder kriegen<br />
Bluthochdruck, und alle Schulen haben über den Bluthochdruck<br />
zu informieren, und wenn die Leute nicht mehr imstande sind,<br />
einen Vertrag zu lesen, werden wir demnächst alle Lehrer dazu<br />
verpflichten, an Schulen Vertragsrecht zu vermitteln. Heute<br />
morgen habe ich im Radio gehört, dass Kinder zu wenig Zeitung<br />
lesen. Ich warte auf die Reaktion des Ministeriums, das<br />
per Dienstanweisung alle Schulen verpflichtet, die Kinder darauf<br />
hinzuweisen, Zeitung zu lesen.<br />
Die Lehrer werden praktisch mit Sachen beauftragt, die die<br />
Eltern heute nicht mehr tun. Ich erlebe gerade etwas sehr Lustiges.<br />
Es ist immer wieder zu hören, dass Familie und Beruf<br />
schwer zu vereinbaren seien. Ich lebe in Gelsenkirchen, einer<br />
Stadt, die in weiten Teilen eine Arbeitslosenquote fast höher als<br />
Ostdeutschland hat, so an die 20 Prozent. Da können Sie mir<br />
nicht erzählen, dass die Eltern keine Zeit haben, denn die sitzen<br />
arbeitslos zu Hause. Sie tun aber nichts. Und da kann auch<br />
die beste Schule nicht viel erreichen. Es gibt Eltern, die sind<br />
beratungsresistent, und es gibt Eltern, die haben die Schule das<br />
letzte Mal betreten, als sie ihr Kind angemeldet haben. Sie werden<br />
regelmäßig schriftlich aufgefordert, in der Schule zu einem<br />
Gespräch über ihr Kind zu erscheinen, und sie ignorieren dies<br />
mit konstanter Boshaftigkeit oder komplettem Desinteresse.<br />
Schule kann den Eltern auch nur soweit helfen, wie Eltern mitmachen.<br />
Und die Eltern sind nicht gänzlich aus ihrer Verantwortung<br />
entlassen. Die Eltern ersetzen kann der beste Lehrer nicht.<br />
Thema Nachhilfe<br />
Als Schulpsychologe habe ich oft genug genau die Situation<br />
gehabt, dass Eltern sich bei mir darüber beklagt haben, sie<br />
könnten ihr Kind nicht mehr aufs Gymnasium schicken, da sie<br />
so viel für Nachhilfe in Englisch, Mathe und Deutsch bezahlen<br />
müssten. Überall stehe das Kind auf einer Fünf. Wenn ein Kind<br />
in allen drei Fächern auf Fünf steht, und das nicht, weil es<br />
monatelang krank war, sondern konstant, die berühmte Beton-<br />
Fünf also, dann sollte man als Elternteil so viel Verantwortung<br />
haben, zu überlegen, ob es denn wirklich die richtige Schulform<br />
ist, und nicht der Schule immer wieder den Vorwurf machen,<br />
dass sie dem Kind so wenig individuelle Förderung angedeihen<br />
lässt. Wenn ich als Elternteil die falsche Schule oder Schulform<br />
wähle, dann ist Scheitern vorprogrammiert. Hier sollten die<br />
Eltern dem Rat der Lehrer folgen, das Kind die Klasse wiederholen<br />
lassen oder danach die Schulform wechseln.<br />
Warum ich zu wenig das System kritisiere? Zum einen weil der<br />
Platz nicht reicht, zum anderen weil Systemkritik immer Kritik<br />
an Schulpolitik ist. Und weil aktuell bei der Fragestellung „Was<br />
ist die richtige Schule für mein Kind?“ Systemkritik keine hilfreiche<br />
Antwort auf die Frage ist.<br />
Ich bin beratender und behandelnder Psychologe, mein Job ist<br />
es, dafür zu sorgen, dass es Ihrem Kind besser geht. Ich kann<br />
die Schule, das Schulsystem, nicht ändern, ich habe überhaupt<br />
keinen Einfluss darauf. Was ich tun kann, ist, mit Ihnen darüber<br />
zu reden. Das könnte auch ein guter Lehrer tun, wenn er<br />
denn die Ausbildung dafür hätte, Sie so zu beraten, dass Sie<br />
erkennen, dass aller Ehrgeiz, den Sie für Ihr Kind haben, ins<br />
Leere läuft, weil ihr Kind den Anforderungen dieser Schule<br />
nicht gewachsen ist.<br />
Dazu will ich Ihnen ein vielleicht drastisches Beispiel geben. Ich<br />
hatte vor drei, vier Jahren einen jungen Mann bei mir in der<br />
Praxis mit der Diagnose „Prüfungsangst“. Er studierte im ersten<br />
Semester an der Fachhochschule in Gelsenkirchen. Dann habe<br />
ich bei ihm, was ich bei der Diagnose „Prüfungsangst“ meistens<br />
mache, einen Intelligenztest gemacht, um zu überprüfen, was<br />
er denn kann. Hat er ein Leistungsdefizit oder ist es einfach ein<br />
normal entwickelter Mensch, der klar und logisch denken<br />
kann, aber in der Prüfung scheitert. Ich habe dabei festgestellt,<br />
dass dieser junge Mensch einen Intelligenzquotienten an der<br />
Grenze zum Schwachsinn hat. Ich habe dann noch einen –<br />
anderen – Intelligenztest gemacht und dasselbe festgestellt;<br />
also ich habe mich wahrscheinlich nicht „vermessen“. Dieser<br />
junge Mann hatte eine Fachhochschulreife von einer Gesamtschule<br />
in NRW.<br />
Wäre er früher bei mir gelandet, hätte man ihm vieles erspart,<br />
u. a. das Wissen, dass er eine Hochschule, an der er zugelassen<br />
ist, nie, aber auch niemals bestehen kann. Dieser Mensch hat<br />
dort einfach keine Chance, und hätte man ihn rechtzeitig beraten,<br />
wäre es ihm viel, viel besser ergangen als mit dem Gefühl<br />
und Wissen: „Ich habe ein Zertifikat: Fachhochschulreife NRW,<br />
bin aber den banalsten Anforderungen dieser Einrichtung auf<br />
mich allein gestellt nicht gewachsen.“<br />
151
Wenn die Schule zum Tatort wird – Konzepte<br />
für eine erfolgreiche Gewaltprävention<br />
Glaubt man der Forschung, so nimmt zwar nicht die Zahl der Gewaltakte an Schulen zu, erschreckenderweise<br />
aber deren Brutalität. Erfolgreiche Gewaltprävention ist deshalb weiterhin eine zentrale<br />
Aufgabe von Schule. Jenseits der Amokläufe von Einzeltätern wie in Emsdetten stellt sich neu auch die<br />
Frage nach dem Umgang mit der Ankündigung von Gewalttaten. Als Experten waren zum „forum bildung“<br />
geladen: Dirk Friedrichs, Erziehungswissenschaftler und Leiter des Gewaltpräventionsprojekts<br />
„PiT – Prävention im Team“ der Hessischen Landesregierung, sowie Lothar Dunkel, Leiter des schulpsychologischen<br />
Dienstes der Stadt Münster. Bei der Veranstaltung sprachen sie über die Ursachen<br />
von Gewalt unter Schülern und stellten erfolgreiche Strategien zu deren Eindämmung vor.<br />
Moderation: Peter E. Kalb, Redakteur der Zeitschrift Pädagogik<br />
Dirk Friedrichs<br />
Dirk Friedrichs, Diplompädagoge und Diplomsozialarbeiter, konnte berufliche Erfahrungen in verschiedenen<br />
Funktionen sammeln: u. a. als Geschäftsführer in einer Institution der Freien Wohlfahrtspflege, im Direktorium<br />
einer Behinderteneinrichtung, als Leiter eines Jugendamtes; in einem Landesjugendamt und bei einer<br />
obersten Landesjugendbehörde sowie in der Organisationsentwicklung bei öffentlichen und privaten Trägern.<br />
Er arbeitet im Hessischen Sozialministerium und ist Leiter des Projektes „PiT-Hessen“ (Prävention im Team),<br />
des Gewaltpräventionsprojekts der Hessischen Landesregierung.<br />
Lothar Dunkel<br />
Lothar Dunkel, geb. 1948. Studium der Psychologie und Pädagogik in Münster; 1972 Diplom. 1973 Master in<br />
Educational Psychology an der University of Wisconsin, Milwaukee (USA). Auswanderung und Tätigkeit als<br />
Schulsozialarbeiter in North Vancouver, Kanada. Dort Lehrerstudium, 1976 Professional Teaching Certificate.<br />
Lehrer und Schulpsychologe in North Vancouver. 1980 Rückkehr nach Deutschland; 1980-86 Schulpsychologe<br />
an einer Gesamtschule, 1994-2000 Vorsitzender der Sektion Schulpsychologie im Berufsverband Deutscher<br />
Psychologen. Seit 1986 Leiter der Schulpsychologischen Beratungsstelle der Stadt Münster.<br />
STATEMENT<br />
Dirk Friedrichs<br />
Eine Situation aus dem täglichen Leben:<br />
Matthäus und Sammet aus Frankfurt-Höchst haben keinen besonders<br />
idyllischen Schulweg. Er kann für 13- bis 14-jährige Jungs dort<br />
schnell zum heißen Pflaster werden. Erst in der vergangenen Woche<br />
ist ein Freund der beiden in einem Fußgängertunnel von Gleichaltrigen<br />
überfallen worden:<br />
„Also, ich und er waren verabredet, mit zwei anderen Jungs, und als<br />
die gekommen sind, war der eine Junge alleine, dann kamen drei<br />
andere Jungen, die waren eben in der Überzahl und wollten die Handys<br />
von uns klauen. Als wir kamen, sind noch zwei andere dazuge-<br />
152
Erfolgreiche Gewaltprävention: Friedrichs/Dunkel Blindtext<br />
kommen, dann waren wir in der Mehrheit, und die anderen haben<br />
Angst bekommen und sind halt weggegangen.“<br />
Aggression und Gewalt auf der Straße sind natürlich auch ein<br />
akutes Problem für die Schule. Vor zwei Jahren beschlossen die<br />
Lehrer einer Frankfurter Hauptschule, der Gewalt entgegenzutreten.<br />
Sie beteiligten sich an einem Modellprojekt.<br />
Das Ziel: Ein besseres Klima an der Schule, Gewalt in all ihren<br />
Ausprägungen soll erkannt und vermieden werden.<br />
Der Plan: Neben dem Unterricht ein vielschichtiges Hilfsangebot<br />
für die Jugendlichen.<br />
„Prävention im Team“, kurz PiT genannt, funktioniert so: Die<br />
Lehrer erhalten Unterstützung von außen, die Jugendhilfe<br />
schickt eine Sozialarbeiterin, die Polizei einen Kontaktbeamten.<br />
Gemeinsam überlegt man, wie die Schüler für das Präventionsprogramm<br />
zu gewinnen sind.<br />
Das Wichtigste: Es muss gelingen, ein Vertrauensverhältnis<br />
zu den Schülern aufzubauen. Ein Lehrer: „Ich glaube, für unsere<br />
Schüler spielt das Gefühl, betreut zu werden, nicht mit ihren<br />
Problemen allein zu sein, eine ganz entscheidende Rolle dabei,<br />
dass wir einigermaßen friedlich miteinander auskommen.“<br />
Ein PiT-Instrument sind die Rollenspiele. Ausgangspunkt ist der<br />
Gedanke, dass jeder ein potenzielles Opfer von Gewalt sein<br />
kann. Wie kann man sich davor schützen?<br />
Das Szenario: Ein Schüler ist auf dem Nachhauseweg und<br />
wird von vier anderen angesprochen. Er hält an und lässt sich<br />
auf das Gespräch ein. Ein Fehler, denn nun muss er ohnmächtig<br />
erleben, wie schnell er zum wehrlosen Spielball anderer werden<br />
kann. Das Opfer kommt nicht mehr aus der Situation heraus.<br />
Die Szene wird gemeinsam besprochen und analysiert.<br />
Der erste Schritt: eigene Gefühle preisgeben können. Die<br />
Schüler sollen lernen, dass es manchmal ratsam ist, feige zu<br />
sein, auszuweichen statt Konfrontation zu suchen. Die Sozialarbeiterin<br />
hat einen eigenen Raum in der Schule. Einer ihrer<br />
Tipps lautet: „Auch wer schwach ist, kann der Gewalt wirksam<br />
begegnen.“<br />
Eine Schülerin: „Wir haben im PiT an einem Tag für uns Mädchen<br />
Schreiübungen gemacht. Da haben wir richtig laut geschrien, dass<br />
uns alle hören konnten. Damit, wenn so was auf der Straße passiert,<br />
man weiß, mein Schrei kann auch helfen, damit andere Leute aufmerksam<br />
werden.“<br />
PiT kommt offenbar an, es spricht die alltäglichen Probleme der<br />
Schüler an, und sie erleben die Schule als eine Art Zufluchtsstätte.<br />
„Wir führen das Programm seit fast zwei Jahren an unserer<br />
Schule durch, und wir bemerken und sehen ganz deutliche<br />
Veränderungen. Immer mehr Schüler kommen mit ihren Problemen<br />
auf uns zu, schon bevor Gewalteskalationen auftreten.<br />
Dann können wir uns zusammensetzen und die kritischen Punkte<br />
ansprechen.“<br />
Neu ist auch die Rolle der Polizei. Der Polizeibeamte ist bei<br />
den Schülern als Ansprechpartner akzeptiert. Sie wissen, dass er<br />
nicht als Strafverfolger zu ihnen kommt, sondern als eine Art<br />
Trainer für das alltägliche Getümmel des Lebens. „Wir wollen<br />
den Kindern Möglichkeiten, Handlungsoptionen an die Hand geben,<br />
um frühzeitig aus Konflikten auszusteigen. Wir wissen, dass<br />
sie draußen in solche Fallen hineinlaufen, in denen sie oft keine<br />
153
Handlungsoptionen mehr haben. Die Luft bleibt ihnen weg, der<br />
Tunnelblick setzt ein, und es ist nur noch die Angst da.“<br />
Manchmal trifft er die Schüler auch zum Ortstermin. Matthäus<br />
und Sammet müssen auf ihrem Heimweg einige brenzlige polizeibekannte<br />
Orte passieren. Das an der Schule eingeübte Verhalten<br />
bekommt hier einen realen Hintergrund. Wieder der Rat,<br />
mögliche Gefahren erst zu erkennen und dann auszuweichen.<br />
Entweder die Ecke selbst meiden und einen Umweg in Kauf<br />
nehmen oder eben geradeaus durchlaufen, ohne sich ansprechen<br />
zu lassen, und dann direkt nach Hause.<br />
(Der obenstehende Text stammt im Wesentlichen aus einem Film des<br />
ZDF, der im April 2006 im „Länderspiegel“ und während der Veranstaltung<br />
gezeigt wurde.)<br />
„Eltern fragen häufig, ob PiT- Schulen Einrichtungen sind, an denen es besonders gewalttätig<br />
zugeht. Das wird unsererseits verneint; wir gehen davon aus, dass es sich bei Gewalt um ein<br />
generelles Problem handelt und Gewaltprävention eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe ist.<br />
Wir gehen deshalb an Schulen, weil wir dort alle Kinder aufgrund der allgemeinen Schulpflicht<br />
erreichen.“<br />
„PiT-Hessen“ (Prävention im Team) ist das Gewaltpräventionsprogramm<br />
der Hessischen Landesregierung im „Netzwerk gegen<br />
Gewalt“, getragen vom Hessischen Ministerium des Innern und<br />
für Sport, vom Hessischen Kultusministerium und vom Hessischen<br />
Sozialministerium.<br />
Auf Anregung der Arbeitsgruppe Jugendkriminalität des hessischen<br />
Landespräventionsrats begannen 2002 nach den Vorkommnissen<br />
von Erfurt erste Überlegungen über ein hessisches<br />
Gewaltpräventionsprogramm. Aus dem Kultusministerium, aus<br />
dem Innenressort und dem Sozialministerium trafen sich unterschiedliche<br />
Fachleute, um gemeinsam zu überlegen, was man<br />
zum Thema Gewaltprävention beitragen kann.Was gab es bereits<br />
in anderen Bundesländern? Es wurden Informationen eingeholt,<br />
Erfahrungsberichte gelesen und mit Akteuren diskutiert. Am<br />
Ende stand die Entscheidung: Das hessische Präventionsprogramm<br />
sollte sich auf Gewaltprävention beschränken und einen<br />
ganzheitlichen, lebensweltorientierten Ansatz verfolgen. Daraus<br />
folgte, dass die Jugendhilfe als dritter Partner neben Polizei und<br />
Schule mit ins Boot geholt werden musste. Diese Form der Teambildung<br />
auf Regierungsebene hat so gut funktioniert, dass wir<br />
beschlossen, dies auch in den Schulen zu implementieren. PiT-<br />
Hessen wurde ein zunächst auf drei Jahre angelegtes Modellprojekt,<br />
das vom Schuljahr 2007/2008 an in die Fläche gehen wird.<br />
Die angebliche Hierarchie zwischen Schule und Jugendhilfe und<br />
die unterschiedlichen Finanzierungen sind auf diesem Podium<br />
gestern schon einmal Thema gewesen. Ich kann mich an nicht<br />
allzu ferne Zeiten erinnern, in denen die Jugendhilfe eine Kooperation<br />
mit der Polizei abgelehnt hat und die Schule die<br />
Jugendhilfe immer nur dann geholt hat, wenn sie nicht mehr<br />
weiterkam. Die Polizei wurde nur geholt, wenn es gar nicht<br />
anders ging. Doch inzwischen ist bei allen Professionen die Einsicht<br />
gewachsen, dass viele Probleme in unserer Gesellschaft<br />
allein nicht zu schaffen sind. Wir müssen kooperieren, und was<br />
mich an PiT so begeistert, ist diese Form der Teambildung. Das<br />
PiT-Team ist fest in die Schule integriert. Der Polizist muss sich<br />
Gedanken darüber machen, was in der Schule möglich ist und<br />
wie der rechtliche Rahmen aussieht, in dem sich Lehrer bewegen.<br />
Und die Lehrer erfahren, dass es ein Kinder- und<br />
Jugendhilfegesetz gibt und welche Aufgaben das Jugendamt hat<br />
und dass Jugendhilfe nicht nur Erziehungshilfe ist. Im PiT-Team<br />
setzt man sich grundlegend mit der anderen Profession auseinander.<br />
Und das führt dazu, dass innerhalb des Teams eine<br />
Arbeitsebene entsteht, die von Vertrauen und Akzeptanz<br />
geprägt wird und dadurch sehr unkonventionelle Lösungen<br />
möglich macht.<br />
Das PiT-Team, das an jeder PiT-Schule gebildet wird, besteht im<br />
Regelfall aus zwei Lehrern, einem Polizisten und einem Sozialarbeiter,<br />
wobei die Sozialarbeiter und die Polizisten im Unterschied<br />
zu anderen Projekten nicht nur zu ganz bestimmten Fragestellungen<br />
von außen herangezogen werden, also zum Thema<br />
Drogen beispielsweise, sondern für eine Schule fest installiert<br />
werden und zusammen mit den Lehrern ein Team bilden, das<br />
gemeinsam eigenverantwortlich plant. Die Teammitglieder führen<br />
die Präventionsmaßnahmen in den zahlreichen Rollenspielen<br />
durch. Sie übernehmen auch Verantwortung für innerschulische<br />
Prozesse, und die Schule muss deshalb auch Kompetenzen<br />
an diese Personen abgeben. Eine Schule hat sich entschlossen,<br />
diese Form der Teambildung mit ihrem integrativen Ansatz<br />
nicht nur bei Gewaltprävention einzusetzen, sondern auch bei<br />
der Frage, wie man Schülerinnen und Schüler, vor allem solche,<br />
die vielleicht keinen Hauptschulabschluss erreichen werden,<br />
besser ins Berufsleben überführen kann. Das macht mir Mut,<br />
solche Projekte weiter zu forcieren.<br />
PiT-Hessen ist opferzentriert und ausschließlich gewaltfrei. Es<br />
wendet sich an Schülerinnen und Schüler in der Sekundarstufe<br />
I, vorwiegend an die Klasse 7. Diese Altersstufe wird deshalb<br />
bevorzugt, weil die Kinder einerseits schon in der Lage sind, die<br />
154
Erfolgreiche Gewaltprävention: Friedrichs/Dunkel<br />
Inhalte des Programms zu verstehen, andererseits aber in ihrer<br />
Pubertät noch nicht so weit sind, dass sie das Mitmachen bei<br />
Rollenspielen albern und peinlich finden.<br />
Wie wird in dem Programm gearbeitet? Es ist wichtig, die Persönlichkeit<br />
des Kindes zu stärken, damit es in Gewaltsituationen<br />
in der Lage ist, eine eigene Entscheidung zu treffen. Bei<br />
den Trainings mit den Schülerinnen und Schülern geht darum,<br />
eine Gewaltsituation rechtzeitig zu erkennen und sich nicht,<br />
wie sonst immer, in sie hineinzubegeben. Wie kann ich, wenn<br />
ich trotzdem drinnen bin, ohne Schaden zu nehmen aussteigen?<br />
Wie helfe ich anderen wirkungsvoll, ohne dadurch selbst zum<br />
Opfer zu werden? Wenn ich opferzentriert vorgehe, will ich mich<br />
nicht in das Magnetfeld der Gewalt begeben. Jungen wollen oft<br />
mitten durch und sich das blaue Auge holen, andere Optionen<br />
werden von ihnen oft als feige tituliert. Nur eine Persönlichkeit<br />
mit Durchsetzungsfähigkeit hat den Mut, sich in solchen Situationen<br />
anders zu verhalten. PiT-Hessen beantwortet Fragen und<br />
entwickelt mit den Schülerinnen und Schülern auf sie zugeschnittene<br />
Handlungsoptionen. Hierzu finden in einem Schuljahr<br />
mehrere Projekttage statt, in denen in Rollenspielen und<br />
Übungen das neue Verhalten reflektiert und eingeübt wird.<br />
Eltern fragen häufig, ob PiT-Schulen Einrichtungen sind, an denen<br />
es besonders gewalttätig zugeht. Das wird unsererseits verneint;<br />
wir gehen davon aus, dass es sich bei Gewalt um ein generelles<br />
Problem handelt und Gewaltprävention eine gesamtgesellschaftliche<br />
Aufgabe ist. Wir gehen deshalb an Schulen, weil wir<br />
dort alle Kinder aufgrund der allgemeinen Schulpflicht erreichen.<br />
Das Projekt ist erfolgreich. Die Evaluation der Philipps-Universität<br />
in Marburg hat gezeigt, dass die Trainings Einstellungsänderungen<br />
bewirken. Belegt durch viele Einzelfälle stellen wir<br />
fest, dass Kinder sich anders und reflektierter verhalten. Auch<br />
in der Schule hat sich etwas bewegt. Die Tatsache, dass es ein<br />
PiT-Team an einer Schule gibt, dass Polizeibeamte normal zum<br />
Schulalltag gehören und nicht nur kommen, wenn etwas vorgefallen<br />
ist, führt zu neuer Auseinandersetzung mit dem Thema<br />
Gewalt. Lehrerinnen und Lehrer machen sich Gedanken darüber,<br />
wie sie selbst als Erwachsene mit Gewalt umgehen, welche Formen<br />
subtiler, psychischer, struktureller Gewalt es in ihrer<br />
Umgebung gibt. Es gibt eine Diskussion nicht nur im Kollegium,<br />
es findet auch eine Auseinandersetzung mit fremden Professionen<br />
und deren anderer Sichtweise statt, und dadurch werden<br />
Veränderungen bewirkt.<br />
An PiT-Schulen haben wir nicht unbedingt weniger Gewalt als<br />
an anderen Schulen, aber man geht anders mit ihr um. An einer<br />
Schule ist es vor Kurzem zu einem Fall schwerer Körperverletzung<br />
gekommen, wo normalerweise eine Strafanzeige mit den<br />
sich anschließenden juristischen Schritte erfolgt wären. Das<br />
PiT-Team hat versucht, das Ganze in einer Form eines Täter/<br />
Opfer-Ausgleichs zu lösen, es hat die beiden Betroffenen, die<br />
Eltern und die Lehrer an einen Tisch geholt, und man ist tatsächlich<br />
zu einer befriedigenden Lösung gekommen. Das war<br />
nicht nur für die unmittelbar Betroffenen eine wichtige Erfahrung,<br />
sondern auch für die gesamte Schule. Das sind sehr positive<br />
Ansatzpunkte, die man fördern muss.<br />
Für uns ist wichtig, dass wir nicht als ein neues Programm an<br />
die Schulen kommen, das sich nur als weiteres Projekt neben<br />
Bestehendes stellt. Die unterschiedlichen Aktivitäten, die eine<br />
Schule im Rahmen des sozialen Lernens unternimmt, müssen<br />
vernetzt werden. Viele Schulen haben beispielsweise Lehrerinnen<br />
und Lehrer zu Mediatoren ausbilden lassen, doch diese werden<br />
häufig nicht eingesetzt, und das ist doch eigentlich schade.<br />
Wir schauen, welche Ressourcen eine Schule aufzuweisen<br />
hat und wie man diese für PiT-Hessen nutzen kann.<br />
Es ist immer gut, wenn in einer Schule mehrere Aktivitäten<br />
zusammenlaufen. In der sechsten Klasse gibt es häufig das so<br />
genannte Eingangsprogramm im Bereich des sozialen Lernens.<br />
In der siebten folgt PiT-Hessen. In einer Schule bildet man beispielsweise<br />
Buslotsen aus, das sind Schülerinnen und Schüler<br />
aus der 8. Klasse, die vorher das PiT-Projekt durchlaufen und<br />
sich dadurch qualifiziert haben. Andere haben durch die Teilnahme<br />
am PiT-Programm ihr Interesse an Gewaltpräventionsmaßnahmen<br />
entdeckt, wollen sich weiterqualifizieren und werden<br />
hinterher als Mentoren tätig. PiT-Hessen ist ein Programm,<br />
das das Opfer und nicht den Täter und damit die Gewaltfreiheit<br />
in den Mittelpunkt stellt. Darin liegen die Stärken, aber auch<br />
die Grenzen des Programms.<br />
In einigen anderen Bundesländern gibt es auch Programme, die<br />
sich PIT (Prävention im Team) nennen. Doch es gibt gravierende<br />
Unterschiede. Im Gegensatz zu PiT-Hessen ist dort die<br />
Jugendhilfe nicht beteiligt. Deshalb findet auch die hier<br />
beschriebene Teambildung nicht statt. Wir haben in Hessen<br />
ganz bewusst die Jugendhilfe miteinbezogen, weil wir ganzheitlich<br />
arbeiten und die gesamte Lebenswelt von Kindern und<br />
Jugendlichen einbeziehen wollen.<br />
Wir betreiben mit PiT kein flächendeckendes Programm, sondern<br />
die Schulen müssen sich bewerben, und wir haben gerade<br />
damit positive Erfahrungen gemacht. Die Tatsache, dass Polizei<br />
und Jugendhilfe in der Schule eine andere Stellung einnehmen,<br />
enthebt die Schule ja nicht ihrer eigentlichen Aufgaben, sondern<br />
stärkt sie. Lehrerinnen und Lehrer lernen eine Außenperspektive<br />
auf ihre Arbeit kennen. Machen wir uns doch nichts<br />
vor, wenn wir lange in einem Berufsfeld arbeiten, werden wir<br />
in ganz bestimmten Bereichen betriebsblind. Die Sicht von<br />
Fremden auf das, was wir tun, ist oft hilfreich. Dadurch dass<br />
Jugendhilfe und die Polizei sich auch mit innerschulischen Prozessen<br />
auseinandersetzen müssen, wird die Schule gestärkt.Solche<br />
Kenntnisse helfen, bestimmte Entscheidungen besser nachvollziehen<br />
zu können; das sind sehr hilfreiche Erfahrungen, und<br />
ich bin davon überzeugt, dass wir den richtigen Weg eingeschlagen<br />
haben.<br />
Viele fragen: Ist es nicht zu spät, erst in der Sekundarstufe I mit<br />
Prävention anzufangen? Es ist sicherlich sinnvoll, mit solchen<br />
Programmen so früh wie möglich zu beginnen. Es gibt schon<br />
155
undesweit Überlegungen, sogenannte Früherkennungssysteme<br />
in Kindergärten zu implementieren, um problematische Entwicklungen<br />
so früh wie möglich zu diagnostizieren, damit Eltern<br />
bereits zu einem Zeitpunkt Unterstützung erfahren, zu dem<br />
noch leicht die Erziehung positiv beeinflusst werden kann.<br />
Wenn wir Gewalt an der Schule betrachten, dann haben wir<br />
häufig nur ein Segment der Gesellschaft vor Augen und blenden<br />
das gesellschaftliche Umfeld aus. Dabei ist gerade das interessant:<br />
Sind die Eltern möglicherweise schon seit Jahren Hartz-IV-<br />
Empfänger, fallen sie unter die Kategorie Armut, bekommen die<br />
Kinder überhaupt morgens ein Frühstücksbrot mit, gibt es möglicherweise<br />
Erziehungsschwierigkeiten, bei denen man schon<br />
früher Unterstützung hätte geben können, wäre man informiert<br />
gewesen. Ein auf die Altersstufe abgestimmtes Programm bereits<br />
fest im Kindergarten zu etablieren wäre zumindest eine<br />
gute Ausgangsbasis dafür, schon sehr früh Unterstützung zu geben.<br />
Ein Gewaltpräventionsprogramm wäre aber ganz anders.<br />
PiT- Hessen arbeitet auf einer anderen methodischen Ebene, die<br />
sich in erster Linie an Schülerinnen und Schüler der siebten<br />
Klassen wendet.<br />
PiT ist ein hessisches Programm, aber andere Bundesländer können<br />
und sollen es natürlich übernehmen. Wir sind zum zweiten<br />
Mal auf der „didacta“ vertreten. Das Programm zeigt eine Leistung<br />
des Landes Hessen. PiT-Hessen ist das Gewaltpräventionsprogramm<br />
der Hessischen Landesregierung. Wenn ein anderes<br />
Bundesland an uns herantreten würde, würden wir mit Sicherheit<br />
unsere Konzepte und gemachten Erfahrungen gern zur Verfügung<br />
stellen. Wichtig wäre aber, dass diese Form der Teambildung<br />
verinnerlicht und auch auf Landesebene zwischen den<br />
zuständigen Ressorts für Schule, Polizei und Jugendhilfe praktiziert<br />
würde. Wer sich für das Programm näher interessiert,<br />
findet alle wichtigen Informationen unter www.pit-hessen.de.<br />
STATEMENT<br />
Lothar Dunkel<br />
Nach der audiovisuellen Präsentation jetzt einige Erläuterungen.<br />
Dies sind die Bausteine mit ihren Schwerpunkten:<br />
Magic Circle ist für Klassen von der Vorschule bis hin zu Klasse<br />
6 entwickelt worden, also für den gesamten Grundschulbereich<br />
und die ersten beiden Klassen der weiterführenden Schule.<br />
Dabei geht es im Wesentlichen um die Persönlichkeitsbildung<br />
von Kindern. Wir wollen starke, persönlich und sozial kompetente<br />
Kinder entwickeln. Magic Circle ist ein Instrument für die<br />
Hand des Lehrers oder der Lehrerin, und es sollte mehrmals in<br />
der Woche mit allen Kindern durchgeführt werden. Einzelne Sitzungen<br />
zu Magic Circle dauern zwischen 10 und 15 Minuten<br />
und lassen sich sehr gut in den Schulalltag integrieren. Die Lehrerinnen<br />
und Lehrer, die es regelmäßig anwenden, berichten<br />
uns, dass sich das Klima in der Klasse verändert, dass die Kinder<br />
anders miteinander umgehen, und zwar nicht nur während<br />
der Magic-Circle-Sitzung, sondern auch danach in den Pausen<br />
und auf dem Schulhof. Dieser Baustein setzt schon bei den jüngeren<br />
Kindern ein und ist im Gegensatz zu dem, was Herr Friedrichs<br />
eben sagte, überhaupt nicht opferzentriert. Alle Kinder in der<br />
Klasse oder Schule sind angesprochen, es geht um die Persönlichkeitsbildung,<br />
um die Entwicklung von sozialen Kompetenzen.<br />
Beim Baustein Fair-Mobil fahren in einem Auto morgens an<br />
einer Schule sechs Pädagogen vor, die Spielstationen aufbauen<br />
und mit einer ganzen Jahrgangsstufe Spiele durchführen. Das<br />
Ganze wird vorher mit der Schule abgestimmt, die Schule rekrutiert<br />
Helfer, die die Sozialpädagogen, welche die Stationen leiten,<br />
unterstützen. Es geht dabei in spielerischer Art und Weise<br />
um das Thema „Konstruktive Konfliktlösung“. Am Ende des<br />
Tages werden die Lehrerinnen und Lehrer und die Schulleitung<br />
von dem Team informiert, was es am Morgen von den Jugendlichen<br />
der Jahrgangsstufe über etwaige Problempunkte erfahren<br />
hat, wo Gefahrenpunkte an der Schule oder auf dem Schulweg<br />
sind und was die Schule vielleicht weiter tun kann, um an diesen<br />
Problemen zu arbeiten.<br />
Der dritte Baustein hat das Thema Mobbing. Um sich dieser<br />
Problematik zu nähern, haben wir einen theaterpädagogischen<br />
Ansatz gewählt. Acht Schauspieler kommen in die Schule und<br />
präsentieren ein Stück für eine ganze Jahrgangsstufe – die Klassen<br />
7, 8 und 9 sind hier am ehesten gefragt. Das Stück hat ein<br />
offenes Ende. Danach gehen diese acht Schauspieler, jeweils ein<br />
Mann und eine Frau, in eine Klasse und arbeiten mit den Schülerinnen<br />
und Schülern einige Stunden unter theaterpädagogischen<br />
Methoden an Lösungen. Hinterher kommt man zusammen,<br />
und die einzelnen Klassen stellen die erarbeiteten Lösungen<br />
vor. In diesem theaterpädagogischen Ansatz haben alle<br />
Jugendlichen der Klasse die Möglichkeit, sich ganz direkt und<br />
hautnah mit den Emotionen von Mobbern, Gemobbten oder<br />
auch Zuschauern auseinanderzusetzen.<br />
Der vierte Baustein, Cool at School, hat den Vandalismus an<br />
Schulen zum Thema. Es geht um die Unterstützung von schulischen<br />
Initiativen gegen Vandalismus. Mitarbeiter aus unserem<br />
Projekt stehen bereit, um den Schulen dabei Hilfestellung zu<br />
geben, schuleigene Projekte zu entwickeln oder auch Wettbewerbe<br />
auszuschreiben. Wir hatten vor Kurzem einen bundesweiten<br />
Wettbewerb ausgeschrieben, um den coolsten Spruch<br />
zum Thema Vandalismus zu finden. Die Schulen, die gewonnen<br />
haben, haben einen Preis bekommen, es sind kleine Sticker<br />
gedruckt worden, die großflächig verteilt werden, um auf das<br />
Thema Graffiti aufmerksam zu machen.<br />
Für uns ist es weniger wichtig, was eine Schule in ihr Schulprogramm<br />
geschrieben hat, sondern was eine Schule de facto<br />
macht. Da gibt es teilweise sehr große Unterschiede. Die entscheidende<br />
Frage ist, was eine Schule für das soziale Lernen<br />
tut, welche Aktivitäten in diesem Bereich stattfinden. Soziales<br />
Lernen sollte gleichrangig neben allen anderen Unterrichtsfächern<br />
bestehen und behandelt werden, ganz gleich, ob eine<br />
Schule sich ein PiT-Programm holt, irgendeine andere Institution<br />
sucht, die sie unterstützt, oder jemanden, der die Streit-<br />
156
Erfolgreiche Gewaltprävention: Friedrichs/Dunkel<br />
schlichter ausbildet und betreut. All diese Programme funktionieren<br />
nur, wenn es in der Schule Lehrkräfte gibt, die bereit<br />
sind, sich darum zu kümmern.<br />
Bei unserem Projekt ist einer der wesentlichen Punkte die<br />
Nachhaltigkeit gewesen. Es bringt gar nichts, wenn an einem<br />
Vormittag das Theaterprojekt Mobbing in der Schule durchgeführt<br />
wird, und nach diesem unterhaltsamen Vormittag alles<br />
wieder auf null zurückfällt. Es ist gut, wenn man etwa die Personen,<br />
die in der Schule Theaterprojekte machen, dafür gewinnen<br />
kann, das Projekt weiterzuführen. Oder wenn Kinder sich<br />
sowohl mit Magic Circle befassen und dann auch das Fair-Mobil<br />
in die Schule kommt, oder hinterher noch das Theaterprojekt<br />
gegen Mobbing. Alles muss ineinandergreifen und Soziales Lernen<br />
muss ständig auf der Tagesordnung der Schule stehen, nur<br />
dann hat es Sinn.<br />
Ich leite eine kommunale schulpsychologische Beratungsstelle,<br />
bin also nur für die Stadt Münster zuständig. Wir haben uns mit<br />
anderen Institutionen in der Stadt zusammengetan, mit der<br />
Polizei, mit Erziehungsberatungsstellen, mit Familienbildungsstätten,<br />
und haben alle danach gefragt, welche Angebote sie<br />
den Schulen machen können, die in eine ähnliche Richtung zielen<br />
wie PiT oder wie das, was ich Ihnen eben vorgestellt habe.<br />
All das haben wir dann in einer Broschüre aufgeführt, die großzügig<br />
an Schulen verteilt wurde, sodass Lehrer über einen Katalog<br />
verfügen, aus dem sie sich etwas auswählen können. Einige<br />
Angebote wie den Service der Schulpsychologie bekommen sie<br />
umsonst, andere Träger müssen sie teuer bezahlen. Jeder, der<br />
Schule gute Angebote machen kann, findet dort seinen Platz.<br />
Solche Projekte funktionieren letztlich nur, wenn sie in der<br />
Schule verankert sind, wenn Lehrerinnen und Lehrer, die jeden<br />
Tag in der Schule sind, sich diese Dinge zu eigen machen, diese<br />
Themen auch im Alltag leben, mit ihren Kollegen diskutieren<br />
und sie auch weiter praktizieren. Das, was eben mit dem PiT-<br />
Projekt vorgestellt wurde, hat für meine Begriffe nur dann<br />
Sinn, wenn es von der ganzen Schule getragen wird, wenn alle<br />
Lehrerinnen und Lehrer die Ideen von PiT im Alltag umsetzen<br />
und immer wieder beleben. Nur dann sind solche Projekte sinnvoll.<br />
Es gibt Schulen, die bewerkstelligen das ganz alleine, und<br />
es gibt Schulen, die sich lieber Partner von außen holen. Beides<br />
ist sinnvoll, aber beide Ansätze sollten so gestrickt sein, dass es<br />
die Aufgabe der Lehrerinnen und Lehrer bleibt, diese Dinge mit<br />
den Kindern zu bearbeiten.<br />
Daher möchte ich in Bezug auf das Thema Kooperation eine<br />
andere Position einnehmen als die von Herrn Friedrichs vertretene.<br />
Als von außen in die Schule kommender Schulpsychologe<br />
muss ich auch sehen, dass ich mit meiner Profession und mit<br />
der Profession der Lehrer klarkomme. Wir müssen gemeinsam<br />
gute Lösungen finden.Von daher finde ich es völlig in Ordnung,<br />
wenn Schule mit unterschiedlichen Institutionen oder Professionen<br />
kooperiert. Dabei vertrete ich aber den Standpunkt, dass<br />
das Konzept bei der Schule bleiben muss. Schule muss für sich<br />
entscheiden, wo sie hin will, hier sind die Lehrerinnen und Lehrer<br />
die Experten für das, was passiert, und all die anderen, die<br />
man sich herbeiholt, müssen und dürfen nur eine nebengeordnete<br />
Rolle spielen. Ich halte es teilweise für eine Katastrophe,<br />
wie wir den Ausverkauf von Schule betreiben und wie Schule<br />
sich immer mehr ihrer ureigensten Aufgaben entledigt: vom<br />
Boom der Nachhilfeinstitutionen am Nachmittag bis hin zu<br />
Lese-Rechtschreib-Programmen, die jetzt schon während der<br />
Schulzeit von außerschulischen Institutionen gemacht werden.<br />
Das finde ich nicht in Ordnung. Schule muss wieder ganz klar<br />
das Heft in die Hand nehmen und sagen, wo sie hin will und<br />
wie sie ihre Arbeit machen will.<br />
Doch zurück zu unserem Angebot: Das Magic-Circle-Programm<br />
ist so angelegt, dass die gesamte Schülerschaft in den Genuss<br />
kommen kann, wenn alle Lehrerinnen und Lehrer einer Grundschule<br />
sich dafür entscheiden. Aber wir setzen eigentlich bei<br />
einzelnen Lehrerinnen und Lehrern an. Über die Internet-Adresse,<br />
die sich am Ende des Beitrags findet, können Sie die entsprechenden<br />
Broschüren bestellen und sich einen Eindruck verschaffen,<br />
ob das Programm Sie als Lehrerin oder Lehrer<br />
anspricht. Dann wird es erst mit einer Klasse durchgeführt, vielleicht<br />
in einer ganzen Klassenstufe. Wir haben in Münster aber<br />
auch Schulen, in denen es von fast allen Lehrerinnen und Lehrern<br />
mit sehr gutem Erfolg durchgeführt wird. Ich möchte noch<br />
einmal darauf hinweisen, dass Magic Circle kein Instrument ist,<br />
um Probleme zu lösen, sondern es dient dazu, die Persönlichkeit<br />
der Kinder zu stärken, eine bessere Klassenatmosphäre<br />
herzustellen. Wenn eine Lehrkraft bei einem Kind auf Probleme<br />
aufmerksam wird, dann sind die üblichen Dinge gefragt, die<br />
sowieso geschehen müssen. Das Kind ansprechen, sich mit<br />
anderen Kollegen, Kolleginnen beraten, Hilfe von außen holen,<br />
wie beispielsweise die Schulpsychologie befragen.<br />
Alle Materialien und Informationen können Sie auch im Internet<br />
abrufen unter der Adresse www.miteinandern.de.<br />
„Solche Projekte funktionieren letztlich nur, wenn sie in der Schule verankert sind, wenn Lehrerinnen<br />
und Lehrer, die jeden Tag in der Schule sind, sich diese Dinge zu eigen machen, diese<br />
Themen auch im Alltag leben, mit ihren Kollegen diskutieren und sie auch weiter praktizieren.<br />
Das, was eben mit dem PiT-Projekt vorgestellt wurde, hat für meine Begriffe nur dann<br />
Sinn, wenn es von der ganzen Schule getragen wird …“<br />
157
Für <strong>Bild</strong>ung stark machen – Ehrung der<br />
didacta-<strong>Bild</strong>ungsbotschafter 2007<br />
„FÜR BILDUNG STARK MACHEN“ lautet das Motto der „didacta-<strong>Bild</strong>ungsbotschafter“-Ehrung, die 2007<br />
erstmalig veranstaltet wurde. Ausgezeichnet werden Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, die in<br />
besonderem Maße dazu beigetragen haben, wichtige Themen der <strong>Bild</strong>ungsförderung und der Wissensvermittlung<br />
in die Öffentlichkeit zu tragen. Mit der Ehrung wollen die beiden ideellen Träger der<br />
Messe, der Didacta <strong>Verband</strong> e. V. und der VdS <strong>Bild</strong>ungsmedien e. V., auch stellvertretend den unermüdlichen<br />
Einsatz der vielen privaten <strong>Bild</strong>ungsinitiativen würdigen und zur Nachahmung animieren. Die<br />
Auszeichnung ist mit einem Preisgeld von jeweils 2000 Euro verbunden, das die Preisträger einer<br />
gemeinnützigen, im Bereich des ausgezeichneten Engagements tätigen Institution spenden.<br />
Moderation: Gaby Miketta, Chefredakteurin FOCUS-Schule<br />
didacta-<strong>Bild</strong>ungsbotschafter 2007<br />
Peter Lohmeyer<br />
Peter Lohmeyer, geb. 1962 im Sauerland als eines von drei Geschwistern. Sein Vater war Pfarrer. Wir kennen<br />
ihn als einen der erfolgreichsten deutschen Schauspieler unter anderem aus „Tatort“, „Hausmänner“, „Das<br />
Wunder von Bern“, wofür er 2004 den Deutschen Filmpreis – Publikumspreis „Schauspieler des Jahres“<br />
erhielt. In Hagen hat er im Schultheater gespielt; seine Familie zieht nach Stuttgart – wo er beim VfB Stuttgart<br />
kickt – und von dort nach Dortmund. Er besucht 1982-84 zunächst die Westfälische Schauspielschule<br />
in Bochum und debütierte an den Kammerspielen des Schauspielhauses Bochum unter dem Intendanten Claus<br />
Peymann auf der Bühne. Nach Engagements in Stuttgart und Düsseldorf geht Lohmeyer 1990 nach Berlin<br />
ans Schillertheater. Peter Lohmeyer hat vier Kinder, lebt in Hamburg und ist begeisterter Freizeitfußballer.<br />
Frank Rost<br />
Frank Rost, geb. 1973, stammt aus einer Sportlerfamilie. Beide Eltern waren in der DDR erfolgreiche Handballspieler.<br />
Seine sportliche Karriere begann bei Lokomotive Leipzig; erst mit 13 wurde er Torhüter. 1982<br />
wechselte er zum SV Werder Bremen, wo sein sportlicher Aufstieg begann. 1993 wurde er mit Bremen Deutscher<br />
Meister und gewann mit der Mannschaft zwei Mal den DfB-Pokal. 2002 Wechsel zu Schalke 04; in der<br />
Winterpause 2006/07 Wechsel zum Hamburger SV. Vier Mal spielte er in der Deutschen Nationalmannschaft.<br />
Frank Rost ist verheiratet und hat eine Tochter. Seine Hobbys sind Reiten und Motorradfahren. Er frühstückt<br />
sehr gerne ausgiebig, liebt klassische Musik, vor allem Brahms und Beethoven, aber auch Marius Müller-<br />
Westernhagen. Und er liest gerne Biografien und Bücher über Geschichte. Sein Motto lautet: Lesen soll wie<br />
Fußball Volkssport werden.<br />
158
didacta-<strong>Bild</strong>ungsbotschafter Blindtext/Blindtext: Titel 2007<br />
Die Auszeichnung<br />
Als „didacta-<strong>Bild</strong>ungsbotschafter“ 2007 wurden in Köln der<br />
Schauspieler Peter Lohmeyer und der HSV-Torhüter Frank Rost<br />
geehrt.<br />
Peter Lohmeyer setzt sich seit Jahren für die Einrichtung von<br />
mehr Ganztagsschulen ein, damit das musisch-künstlerische<br />
Unterrichtsangebot erweitert werden kann. Er spendete das<br />
Preisgeld dem Förderverein der Max-Brauer-Gesamtschule in<br />
Hamburg, vertreten durch Markus Sturzenhecker.<br />
Frank Rost engagiert sich bei der Aufklärung über funktionalen<br />
Analphabetismus.Aufgrund des Trainings für ein terminlich vorgezogenes<br />
Bundesligaspiel konnte ihm seine Urkunde leider<br />
nicht persönlich übergeben werden. Peter Hubertus, Geschäftsführer<br />
des Bundesverbands Alphabetisierung und Grundbildung<br />
e. V., nahm jedoch die von Rost zur Verfügung gestellte Spende<br />
entgegen.<br />
Die Auszeichnung wurde durch die Vorsitzenden der beiden<br />
ideellen Träger der Messe, Wilmar Diepgrond (VdS <strong>Bild</strong>ungsmedien<br />
e. V.) und Prof. Dr. mult. Wassilios Fthenakis (Didacta <strong>Verband</strong><br />
e. V.) vergeben. Die anschließende Talkrunde mit Peter<br />
Lohmeyer, den beiden <strong>Verband</strong>svorsitzenden und den Spendenempfängern<br />
moderierte Gaby Miketta, Chefredakteurin von<br />
FOCUS-Schule.<br />
Foto: Kölnmesse<br />
Peter Lohmeyer, bei der „didacta-<strong>Bild</strong>ungsbotschafter“-Ehrung. Links im <strong>Bild</strong> Moderatorin Gaby<br />
Miketta von FOCUS-Schule.<br />
159
LAUDATIO auf Peter Lohmeyer<br />
Wassilios Fthenakis<br />
Meine sehr verehrten Damen und Herren,<br />
ich spreche zu Ihnen als Präsident des Didacta <strong>Verband</strong>es und<br />
zugleich in engster Kooperation mit meinem Kollegen, dem Vorsitzenden<br />
des VdS <strong>Bild</strong>ungsmedien, Herrn Diepgrond. Es ist für<br />
uns eine besondere Freude, die „didacta – die <strong>Bild</strong>ungsmesse<br />
2007“ unter das Motto <strong>Bild</strong>ung als öffentliche Pflichtaufgabe<br />
gestellt zu haben. Die logische Konsequenz daraus ist, es nicht nur<br />
zu behaupten, sondern auch etwas zu tun, damit diese Pflichtaufgabe<br />
in der Öffentlichkeit präsent ist. Deshalb haben sich<br />
beide Verbände auf Initiative des VdS <strong>Bild</strong>ungsmedien entschlossen,<br />
zwei <strong>Bild</strong>ungsbotschafter zu ernennen, und wir tun das mit<br />
großer Freude, weil wir zwei Persönlichkeiten finden konnten,<br />
die mit besonderer Hingabe, mit viel Energie und Engagement<br />
sich der <strong>Bild</strong>ung verpflichtet fühlen und verpflichtet haben.<br />
Wenn ich heute die besondere Ehre habe, Peter Lohmeyer auszuzeichnen,<br />
dann möchte ich Ihnen dies sehr gerne begründen.<br />
Peter Lohmeyer hat diesen Titel bereits durch eine viel höhere<br />
politisch-administrative Instanz verliehen bekommen, nämlich<br />
im Jahre 2005 vom Bundesministerium für <strong>Bild</strong>ung und Forschung.<br />
Wir wollten nun dieses Amt nicht lediglich auf unserer<br />
Ebene erneuern oder ihm einen weiteren Botschafterposten<br />
verleihen. Wir ehren ihn vielmehr deshalb, weil er thematische<br />
Akzente gesetzt hat, die Bestandteil moderner <strong>Bild</strong>ung sind.<br />
In der Bundesrepublik sind 20 Prozent der Familien binationale<br />
Familien. Die kulturelle Diversität in diesem Land hat bereits<br />
ein Ausmaß angenommen, das unsere <strong>Bild</strong>ungsaufmerksamkeit<br />
längst auf sich hätte lenken müssen. Infolgedessen ist es notwendig,<br />
unsere Konzepte über die <strong>Bild</strong>ung von Kindern im Umgang<br />
mit kultureller Diversität zu reflektieren und aus meiner<br />
Sicht sogar zu verändern. Die Bundesrepublik hat in der Vergangenheit<br />
ein <strong>Bild</strong>ungsverständnis entwickelt, das mit der angesprochenen<br />
kulturellen Diversität nicht umzugehen versteht.<br />
Das kulturell Fremde und Andersartige wird eher beseitigt, eliminiert<br />
statt systematisch genutzt, um Lerneffekte für die Kinder<br />
und kulturellen Gewinn für die Öffentlichkeit daraus abzuleiten.<br />
Es ist das Verdienst von Herrn Peter Lohmeyer, sich öffentlich<br />
dafür ausgesprochen zu haben, die kulturellen Aspekte stärker<br />
in die <strong>Bild</strong>ungspläne, stärker in die konkrete Arbeit mit den<br />
Kindern vor allem in Ganztagsschulen zu integrieren und diese<br />
systematisch für mehr individuellen Lerngewinn zu nutzen.<br />
Aber ich möchte noch einen weiteren Aspekt hervorheben, der<br />
mir besonders wichtig erscheint: Das Engagement dieses Künstlers<br />
richtet sich nämlich nicht nur nach außen, es ist genauso<br />
stark ausgeprägt, was das Innenleben seiner Familie betrifft.Sie<br />
alle wissen, dass ich in der Bundesrepublik die Vaterforschung<br />
initiiert und eine große Studie geleitet habe, die repräsentativ<br />
untersucht hat, wie Vaterschaft sich in diesem Land entwickelt<br />
und konkretisiert. Ich könnte sagen, dass Peter Lohmeyer den<br />
Prototypen meines Forschungsbefunds verkörpert, denn 67 Prozent<br />
der Väter konzeptualisieren sich nicht mehr als Brotverdiener,<br />
sondern als Erzieher ihrer Kinder. Diese sanfte Revolution<br />
in den Köpfen findet bislang in der Bundesrepublik keine<br />
Umsetzung im täglichen Leben. Denn die Gesellschaft in der<br />
Bundesrepublik ist so hochgradig effizient organisiert, dass die<br />
Umsetzung solcher an sich wünschenswerten Konzepte effizient<br />
verhindert wird.<br />
Meine Damen und Herren, die beiden genannten Aspekte bieten<br />
Anlass genug, um diesen Künstler zu ehren. Einen Künstler,<br />
der sich in seiner Familie engagiert und in der Öffentlichkeit für<br />
mehr <strong>Bild</strong>ung für alle Kinder eintritt. Ich freue mich, und es ist<br />
für den <strong>Verband</strong> und für mich persönlich eine besondere Ehre,<br />
Ihnen heute diese Urkunde überreichen zu dürfen.<br />
Ich danke Ihnen.<br />
Wassilios Fthenakis, Professor Dr. mult., geb. 1937. Studium der<br />
Pädagogik (Griechenland), Anthropologie und Humangenetik, Molekulargenetik<br />
und Psychologie (LMU München). 1975-2006 Direktor<br />
des Staatsinstituts für Frühpädagogik in München, 1987-2002 Professor<br />
für angewandte Entwicklungspsychologie und Familienforschung<br />
in Augsburg, seit 2002 ordentlicher Professor für Entwicklungspsychologie<br />
und Anthropologie an der FU Bozen, Berater vieler<br />
Institute, Experte für Frühpädagogik und Familienforschung in<br />
Deutschland sowie Initiator der neueren <strong>Bild</strong>ungspläne.<br />
Preisgeldempfänger<br />
Die Max-Brauer-Schule in Hamburg besuchen etwa<br />
1200 Schüler aus über 30 Nationen. Seit 20 Jahren lernen<br />
die Grundschüler in einem ihnen gemäßen Lerntempo.<br />
Die älteren Schüler wählen in der Profiloberstufe<br />
nicht mehr einzelne Kurse, sondern Fächerpakete<br />
wie z. B. „Sprache und Kultur“. Im Ganztagsunterricht<br />
macht die Schule über 40 Angebote, von Cheerleading,<br />
Web-Design, Flugzeugmodellbau bis Gebärdensprache.<br />
Dieses außerordentlich vielfältige Angebot wird auch<br />
durch das besondere Engagement der Eltern und des<br />
Fördervereins der Schule ermöglicht. Die selbstverantwortete<br />
Schule wurde bereits 1998 als „Umweltschule in<br />
Europa“ und 2006 mit dem „Deutschen Schulpreis“ ausgezeichnet.<br />
www.maxbrauerschule.de<br />
160
didacta-<strong>Bild</strong>ungsbotschafter 2007<br />
LAUDATIO auf Frank Rost<br />
Wilmar Diepgrond<br />
Meine Damen und Herren,<br />
nicht nur im schulischen Sektor ist prominentes Engagement<br />
wichtig. Gelernt werden soll lebenslang –<br />
und wer in der schulischen Ausbildung den Anschluss<br />
verloren hat, verliert ihn oft auch beim Einstieg ins<br />
Berufsleben. Gerade in diesem Bereich ist persönlicher<br />
Einsatz, sind Vorbilder gefragt.<br />
Für <strong>Bild</strong>ung stark gemacht hat sich auch Frank Rost,<br />
Torhüter beim Hamburger Sportverein.<br />
Frank Rost gehört mit rund 300 Bundesligaspielen<br />
zu den erfahrensten und bekanntesten Torhütern<br />
Deutschlands. Er setzt sich neben seinem Profisport<br />
intensiv für ein Problem ein, das eigentlich nie eines<br />
der großen Öffentlichkeit war – für den funktionalen<br />
Analphabetismus.<br />
Foto: Kölnmesse<br />
Von links nach rechts: Wilmar Diepgrond, Peter Hubertus, Peter Lohmeyer, Professor<br />
Dr. mult. Wassilios Fthenakis, Markus Sturzenhecker.<br />
Funktionaler Analphabetismus: Nicht jeder kennt diesen Begriff,<br />
aber jeder wird verstehen, was sich dahinter verbirgt.<br />
Funktionale Analphabeten sind erwachsene Personen, die über<br />
geringe Lese- und Schreibkenntnisse verfügen. Manche von ihnen<br />
kennen die Buchstaben, können aber nicht lesen. Andere verstehen<br />
mit Mühe leichte Texte, haben jedoch große Probleme<br />
beim Schreiben. Alle haben gemeinsam, dass sie aufgrund individueller<br />
Umstände Lesen und Schreiben nie richtig gelernt haben.<br />
Frank Rost ist Schirmherr des Projekts F. A. N. (Fußball. Alphabetisierung.<br />
Netzwerk) und war Alphabetisierungsbotschafter<br />
2006, mit dem Ziel, über unzureichende Lese- und Schreibkompetenz<br />
in Deutschland zu informieren und den Betroffenen<br />
Unterstützungsmöglichkeiten aufzuzeigen.<br />
Viele Fälle hat Frank Rost erlebt, in denen junge Menschen ihre<br />
schulische Ausbildung vernachlässigen, in dem Glauben, sie später<br />
nicht mehr gebrauchen zu können. Deshalb hebt er immer wieder<br />
hervor, wie wichtig es ihm ist, sein Engagement vorzuleben:<br />
„Ich habe selbst erfahren, wie wichtig es ist – gerade als<br />
Mensch, der in der Öffentlichkeit steht –, auf eine fundierte<br />
Grundbildung zurückgreifen zu können, auch um diese sukzessive<br />
zu erweitern. Die Möglichkeit, Lesen und Schreiben lernen<br />
zu können und als Folge dann aktiv am Leben teilnehmen zu<br />
können, sollte ein Leben lang gegeben sein.“<br />
Deshalb freuen wir uns, dass Frank Rost, unser „Starkmacher“<br />
in Sachen funktionaler Analphabetismus, heute hier als <strong>Bild</strong>ungsbotschafter<br />
der „didacta – die <strong>Bild</strong>ungsmesse 2007“ geehrt wird.<br />
Wilmar Diepgrond, geb. 1953. Studium der Betriebswirtschaftslehre.<br />
Er ist Geschäftsführer der <strong>Bild</strong>ungsverlag Eins GmbH, eines Schulbuchverlags<br />
mit dem Schwerpunkt berufliche <strong>Bild</strong>ung, der digital spirit<br />
gmbh und des VERLAGS JUGEND & VOLK Gesellschaft m. b. H.<br />
Seit dem 22. Juni 2006 ist Wilmar Diepgrond Vorsitzender des VdS<br />
<strong>Bild</strong>ungsmedien e. V.<br />
Preisgeldempfänger<br />
Der Bundesverband Alphabetisierung und Grundbildung<br />
e. V. setzt sich für die Förderung des Lesens und<br />
Schreibens in der Erwachsenenbildung ein und unterstützt<br />
Personen und Institutionen, die in der Alphabetisierungsarbeit<br />
und Grundbildung tätig sind. Mit dem<br />
Projekt F. A. N. (Fußball. Alphabetisierung. Netzwerk)<br />
unter der Schirmherrschaft von HSV-Torwart Frank Rost<br />
informiert er zum Beispiel durch verschiedene Medien<br />
in Verbindung mit Fußball über das Phänomen des funktionalen<br />
Analphabetismus. Beim bundesweiten Service-<br />
Telefon können sich Menschen mit Lese- und Schreibproblemen<br />
informieren und beraten lassen.<br />
www.alphabetisierung.de<br />
Herzlichen Glückwunsch!<br />
161
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