FERNSEHEN DRESSED TO KILL Butch-Lesbe, naive Freundin einer als Mann lebenden Frau oder mörderische Transfrau. Schauspielerin Chloë Sevigny lotet in ihren Rollen Grenzen von Heteronormativität aus Foto: David Luther 16 L-MAG
FERNSEHEN Schauspielerin (und L-MAG-Covermodel) Chloë Sevigny galt in den Neunzigern als „It Girl“ der New Yorker Modeszene – erst als Model, später auch als Designerin. In der amerikanischen Independentfilm-Szene machte sie sich durch verschiedene Rollen als sexuelle Außenseiterin einen Namen, mehrfach spielte sie lesbische Frauen. Für ihren Auftritt in „Boys Don’t Cry“ 1999 erhielt sie 1999 eine Oscarnominierung. Aktuell spielt die 38-Jährige in der britischen Serie „Hit & Miss“ die transsexuelle Auftragskillerin Mia, die feststellt, dass sie aus ihrem früheren Leben als Mann einen Sohn hat. L-MAG-Autorin Sahara Schaschek telefonierte mit Chloë Sevigny, die derzeit einen neuen Film dreht. L-MAG: In einer der ersten Szenen tritt Mia aus der Dusche und blickt in den Spiegel – nackt. Was war Ihr erster Gedanke, als Sie sich mit Brüsten und Penis sahen? Chloë Sevigny: Ich habe mich gefragt: Was zum Teufel tust du hier eigentlich? <strong>Das</strong> ist schon ein seltsamer Anblick, und im Raum waren Männer, von denen ich nicht wollte, dass sie mich so sehen. Noch größer war allerdings meine Sorge, wie die Produzenten mit den Bildern umgehen würden. Wegen der Nacktheit? Ja. Ich war völlig entblößt und wollte nicht, dass die Produzenten das zu groß aufziehen. Andererseits entsprach mein Unbehagen wohl recht gut dem Gefühl einer Transsexuellen, die in den Spiegel blickt und ihre Geschlechtsteile verachtet, weil es nicht die richtigen sind. Ich konnte das in dem Moment gut nachvollziehen. Der Penis war also keine coole Verkleidung? Nein, es ist schon eine Tortur, das Ding anzuziehen. <strong>Das</strong> Rasieren und Ankleben dauert zwei Stunden. Zum Glück gibt es nur wenige Szenen damit. Ich wusste zwar, das es eine Rolle war, aber trotzdem fühlte ich mich ausgeliefert. Auch jetzt, in diesem Interview, ist das die erste Frage. Ich verstehe, dass sich das in der Zeitschrift gut macht. Aber ich will nicht, dass das alles ist, wo<strong>für</strong> sich die Leute interessieren. Was hat Sie an der Rolle gereizt? Mich hat noch nie eine Figur so stark berührt wie in diesem Drehbuch. Mia lebt völlig zurückgezogen, als Kind wurde sie geschlagen. Viele, die so etwas erleben, verschließen sich. Nach dem Tod ihrer Exfreundin soll Mia plötzlich <strong>für</strong> deren Familie sorgen. Sie verliebt sich und wird offener. Diese Entwicklung finde ich viel interessanter als die körperliche Veränderung. Im Film herrscht viel Gewalt gegenüber Frauen. Wir sehen Vergewaltigungen und Sexismus. Wie ehrlich ist der Film in Bezug auf Weiblichkeit? Nordengland, wo die Geschichte spielt, ist ein rauer Ort. Die Menschen dort sind nicht sehr offen gegenüber anderen. Nicht alle natürlich. Was die Gewalt angeht, hat der Drehbuchautor einiges zugespitzt, auch aus Unterhaltungsgründen, was ich problematisch finde. Mia allerdings ist eine sehr starke weibliche Figur. An Mia wird gezeigt, was es heißt, eine Frau zu werden. Auch die anderen Charaktere setzen L-MAG Die TV-Mini-Serie „Hit & Miss“ Es heißt, man kann sich seinen Job und seine Freunde aussuchen, aber nicht seine Familie. <strong>Das</strong> war vermutlich ein Teil des Konzepts von „Hit & Miss“, der zweite dürfte lauten: Den Körper, in dem du geboren wirst, kannst du dir bei der Geburt zwar nicht aussuchen, aber wie viel bist du bereit zu tun, um dies zu ändern? Mia ist Mann-zu-Frau-transsexuell, das Geld <strong>für</strong> die noch fehlenden Operationen verschafft sie sich als Auftragskillerin. Als eine Exfreundin aus früheren Zeiten sie in ihrem Testament als Vormund ihrer Kinder (eins davon ist Mias leiblicher Sohn) bestimmt, wird sie plötzlich mitten hineingezogen in das Leben anderer. Ausgerechnet sie, die sich Menschen bisher lieber vom Leib hielt, findet sich plötzlich in einer armen, aber bunten Patchworkfamilie wieder und muss sich entscheiden, wie sehr sie sich auf die Rolle als Mutter/Vater einlassen will. „Hit & Miss“ ist eine Mini-Serie aus England zwischen Sozialdrama, Familiensaga der eigenen Art und Thriller, brutal, blutig, traurig, ergreifend und – hat man sich erst einmal auf den eher unrealistischen Plot eingelassen – wunderbar glaubhaft und ehrlich. „Hit & Miss“, 2012, 1 Staffel à 6 Episoden von 45 Minuten, Tonspur: dt. und engl. sich mit ihrem Geschlecht auseinander: Mias kleiner Sohn zieht Frauenkleider an, um Mia ähnlich zu sein. Die Tochter Riley distanziert sich von ihrem brutalen Freund. Leicht ist diese Emanzipation nicht … <strong>Das</strong> liegt auch an den sozialen Umständen. Die Kinder im Film haben ihre Mutter verloren und kaum Geld. Ich bin in Connecticut aufgewachsen, hatte ein schönes Zuhause und eine liebende Familie, die mir fast alles ermöglichte. Eine Frau zu werden war <strong>für</strong> mich eine sanfte, wunderbare Erfahrung. Hat die Rolle Ihren Blick auf Transsexualität verändert? Ganz sicher. Ich habe ein Treffen von Transfrauen in Manchester besucht, die erzählten, wie sie auf der Straße gehänselt werden. Sie haben es so schwer, gesellschaftlich angenommen zu werden. Und sich selbst anzunehmen. Ja. Aber ich bewundere auch, wie sicher Transsexuelle sind, im falschen Körper zu stecken. <strong>Das</strong>s man sich überhaupt einer Sache so sicher sein kann! Ich muss immer alles hinterfragen. In der britischen Version gibt es eine Szene, die in der internationalen Version fehlt. Mia steht vor dem Spiegel und schlägt voller Hass auf ihren Penis ein. Ich wollte diese Szene nicht spielen. Ich wollte nicht so nackt sein und mich schlagen. Allerdings habe ich gelesen, dass sich Gewalt gegen den eigenen Körper wie ein roter Faden durch die Biografien von Transfrauen zieht. Viele binden ihren Penis ab oder verstümmeln sich. Die Szene mit Mia ist durchaus schlüssig. Wie passt der Job als Auftragsmörderin dazu? Gewalt ist Trost <strong>für</strong> Mia. Sie schaut zu, wenn andere geschlagen werden. Wenn die Dinge aus dem Ruder laufen, zieht sie sich in die Gewalt zurück. Die Macher hatten zwei Shows im Kopf und haben sie vermischt. Allerdings spricht der Mix Zielguppen an, die sonst sagen würden: Eine Transgender-Geschichte gucke ich mir nicht an. Mit Action kriegt man sie. Sie gelten als Mode-Ikone und Kleidung spielt in der Serie eine große Rolle. Wenn Mia einen Mordauftrag hat, ist sie im Kapuzenpulli praktisch geschlechtslos. Als Frau hat sie diesen perfekten Modegeschmack. Fehlt hier nicht das Artifizielle von Transsexualität? Ich hätte gern mehr übertrieben. Aber die Crew hat mir Videos von Frauen gezeigt, die einmal Männer waren, und ich konnte keinen Unterschied erkennen. Ich habe gelernt, auf bestimmte Weise zu gehen und zu reden, sodass es wage bleibt. Was die Haare und glamourösen Kleider angeht: <strong>Das</strong> war <strong>für</strong> mich die weiblichste Rolle, die ich je gespielt habe. Insofern war es doch eine Übertreibung. Sie haben viele Rollen gespielt, in denen Menschen sexuell von der Norm abweichen. In „If These Walls Could Talk“ spielen Sie eine Lesbe, in der HBO-Serie „Big Love“ eine polygame Frau, alle sprachen 2003 über die explizite Blow-Job-Szene mit Vincent Gallo. Was reizt Sie an diesen Rollen, die nicht der klassischen Hollywood-Heterosexualität entsprechen? Es geht mir um die Außenseiterrolle. Ich selbst bin ziemlich konservativ, hatte ausschließlich monogame Beziehungen. Im Film kann ich wilde Fantasien ausleben. In der Kunst bin ich viel radikaler als im Leben. Woran arbeiten Sie gerade? Wir drehen den Film „Little Accidents“ von Sara Colangelo. Es geht um ein Minenunglück in West Virginia mit vielen Toten. Es ist nur ein kleiner Indie-Film, aber es ist mir wichtig, neben dem Fernsehen weiter Filme zu machen. Gibt es eine Rolle, die Sie nach der transsexuellen Mia herausfordern würde? Sehen wir Sie demnächst als Mann? Ha, keine Ahnung. Cate Blanchetts Rolle als Bob Dylan ist schwer zu schlagen. Aber auf lange Sicht hätte ich nichts dagegen. VERLOSUNG L-MAG verlost drei DVDs und drei Blue Rays „Hit & Miss“ auf www.l-mag.de 17