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FERNSEHEN<br />
Schauspielerin (und L-MAG-Covermodel) Chloë<br />
Sevigny galt in den Neunzigern als „It Girl“ der<br />
New Yorker Modeszene – erst als Model, später<br />
auch als Designerin. In der amerikanischen Independentfilm-Szene<br />
machte sie sich durch verschiedene<br />
Rollen als sexuelle Außenseiterin einen<br />
Namen, mehrfach spielte sie lesbische Frauen. Für<br />
ihren Auftritt in „Boys Don’t Cry“ 1999 erhielt sie<br />
1999 eine Oscarnominierung. Aktuell spielt die<br />
38-Jährige in der britischen Serie „Hit & Miss“ die<br />
transsexuelle Auftragskillerin Mia, die feststellt,<br />
dass sie aus ihrem früheren Leben als Mann einen<br />
Sohn hat.<br />
L-MAG-Autorin Sahara Schaschek telefonierte mit<br />
Chloë Sevigny, die derzeit einen neuen Film dreht.<br />
L-MAG: In einer der ersten Szenen tritt Mia<br />
aus der Dusche und blickt in den Spiegel –<br />
nackt. Was war Ihr erster Gedanke, als Sie sich<br />
mit Brüsten und Penis sahen?<br />
Chloë Sevigny: Ich habe mich gefragt: Was zum<br />
Teufel tust du hier eigentlich? <strong>Das</strong> ist schon ein<br />
seltsamer Anblick, und im Raum waren Männer,<br />
von denen ich nicht wollte, dass sie mich so sehen.<br />
Noch größer war allerdings meine Sorge, wie die<br />
Produzenten mit den Bildern umgehen würden.<br />
Wegen der Nacktheit?<br />
Ja. Ich war völlig entblößt und wollte nicht, dass<br />
die Produzenten das zu groß aufziehen. Andererseits<br />
entsprach mein Unbehagen wohl recht gut<br />
dem Gefühl einer Transsexuellen, die in den Spiegel<br />
blickt und ihre Geschlechtsteile verachtet, weil<br />
es nicht die richtigen sind. Ich konnte das in dem<br />
Moment gut nachvollziehen.<br />
Der Penis war also keine coole Verkleidung?<br />
Nein, es ist schon eine Tortur, das Ding anzuziehen.<br />
<strong>Das</strong> Rasieren und Ankleben dauert zwei Stunden.<br />
Zum Glück gibt es nur wenige Szenen damit.<br />
Ich wusste zwar, das es eine Rolle war, aber trotzdem<br />
fühlte ich mich ausgeliefert. Auch jetzt, in<br />
diesem Interview, ist das die erste Frage. Ich verstehe,<br />
dass sich das in der Zeitschrift gut macht.<br />
Aber ich will nicht, dass das alles ist, wo<strong>für</strong> sich<br />
die Leute interessieren.<br />
Was hat Sie an der Rolle gereizt?<br />
Mich hat noch nie eine Figur so stark berührt wie<br />
in diesem Drehbuch. Mia lebt völlig zurückgezogen,<br />
als Kind wurde sie geschlagen. Viele, die so<br />
etwas erleben, verschließen sich. Nach dem Tod<br />
ihrer Exfreundin soll Mia plötzlich <strong>für</strong> deren<br />
Familie sorgen. Sie verliebt sich und wird offener.<br />
Diese Entwicklung finde ich viel interessanter als<br />
die körperliche Veränderung.<br />
Im Film herrscht viel Gewalt gegenüber<br />
Frauen. Wir sehen Vergewaltigungen und<br />
Sexismus. Wie ehrlich ist der Film in Bezug auf<br />
Weiblichkeit?<br />
Nordengland, wo die Geschichte spielt, ist ein<br />
rauer Ort. Die Menschen dort sind nicht sehr offen<br />
gegenüber anderen. Nicht alle natürlich. Was die<br />
Gewalt angeht, hat der Drehbuchautor einiges zugespitzt,<br />
auch aus Unterhaltungsgründen, was ich<br />
problematisch finde. Mia allerdings ist eine sehr<br />
starke weibliche Figur.<br />
An Mia wird gezeigt, was es heißt, eine Frau zu<br />
werden. Auch die anderen Charaktere setzen<br />
L-MAG<br />
Die TV-Mini-Serie „Hit & Miss“<br />
Es heißt, man kann sich seinen Job und seine Freunde aussuchen, aber<br />
nicht seine Familie. <strong>Das</strong> war vermutlich ein Teil des Konzepts von „Hit<br />
& Miss“, der zweite dürfte lauten: Den Körper, in dem du geboren wirst,<br />
kannst du dir bei der Geburt zwar nicht aussuchen, aber wie viel bist du<br />
bereit zu tun, um dies zu ändern?<br />
Mia ist Mann-zu-Frau-transsexuell, das Geld <strong>für</strong> die noch fehlenden Operationen<br />
verschafft sie sich als Auftragskillerin. Als eine Exfreundin aus<br />
früheren Zeiten sie in ihrem Testament als Vormund ihrer Kinder (eins<br />
davon ist Mias leiblicher Sohn) bestimmt, wird sie plötzlich mitten hineingezogen in das Leben<br />
anderer. Ausgerechnet sie, die sich Menschen bisher lieber vom Leib hielt, findet sich plötzlich in<br />
einer armen, aber bunten Patchworkfamilie wieder und muss sich entscheiden, wie sehr sie sich<br />
auf die Rolle als Mutter/Vater einlassen will.<br />
„Hit & Miss“ ist eine Mini-Serie aus England zwischen Sozialdrama, Familiensaga der eigenen Art<br />
und Thriller, brutal, blutig, traurig, ergreifend und – hat man sich erst einmal auf den eher unrealistischen<br />
Plot eingelassen – wunderbar glaubhaft und ehrlich.<br />
„Hit & Miss“, 2012, 1 Staffel à 6 Episoden von 45 Minuten, Tonspur: dt. und engl.<br />
sich mit ihrem Geschlecht auseinander: Mias<br />
kleiner Sohn zieht Frauenkleider an, um Mia<br />
ähnlich zu sein. Die Tochter Riley distanziert<br />
sich von ihrem brutalen Freund. Leicht ist diese<br />
Emanzipation nicht …<br />
<strong>Das</strong> liegt auch an den sozialen Umständen. Die Kinder<br />
im Film haben ihre Mutter verloren und kaum<br />
Geld. Ich bin in Connecticut aufgewachsen, hatte ein<br />
schönes Zuhause und eine liebende Familie, die mir<br />
fast alles ermöglichte. Eine Frau zu werden war <strong>für</strong><br />
mich eine sanfte, wunderbare Erfahrung.<br />
Hat die Rolle Ihren Blick auf Transsexualität<br />
verändert?<br />
Ganz sicher. Ich habe ein Treffen von Transfrauen<br />
in Manchester besucht, die erzählten, wie sie auf<br />
der Straße gehänselt werden. Sie haben es so<br />
schwer, gesellschaftlich angenommen zu werden.<br />
Und sich selbst anzunehmen.<br />
Ja. Aber ich bewundere auch, wie sicher Transsexuelle<br />
sind, im falschen Körper zu stecken. <strong>Das</strong>s<br />
man sich überhaupt einer Sache so sicher sein<br />
kann! Ich muss immer alles hinterfragen.<br />
In der britischen Version gibt es eine Szene, die<br />
in der internationalen Version fehlt. Mia steht<br />
vor dem Spiegel und schlägt voller Hass auf<br />
ihren Penis ein.<br />
Ich wollte diese Szene nicht spielen. Ich wollte<br />
nicht so nackt sein und mich schlagen. Allerdings<br />
habe ich gelesen, dass sich Gewalt gegen den<br />
eigenen Körper wie ein roter Faden durch die Biografien<br />
von Transfrauen zieht. Viele binden ihren<br />
Penis ab oder verstümmeln sich. Die Szene mit<br />
Mia ist durchaus schlüssig.<br />
Wie passt der Job als Auftragsmörderin dazu?<br />
Gewalt ist Trost <strong>für</strong> Mia. Sie schaut zu, wenn<br />
andere geschlagen werden. Wenn die Dinge aus<br />
dem Ruder laufen, zieht sie sich in die Gewalt zurück.<br />
Die Macher hatten zwei Shows im Kopf und<br />
haben sie vermischt. Allerdings spricht der Mix<br />
Zielguppen an, die sonst sagen würden: Eine<br />
Transgender-Geschichte gucke ich mir nicht an.<br />
Mit Action kriegt man sie.<br />
Sie gelten als Mode-Ikone und Kleidung spielt<br />
in der Serie eine große Rolle. Wenn Mia einen<br />
Mordauftrag hat, ist sie im Kapuzenpulli praktisch<br />
geschlechtslos. Als Frau hat sie diesen perfekten<br />
Modegeschmack. Fehlt hier nicht das<br />
Artifizielle von Transsexualität?<br />
Ich hätte gern mehr übertrieben. Aber die Crew hat<br />
mir Videos von Frauen gezeigt, die einmal Männer<br />
waren, und ich konnte keinen Unterschied erkennen.<br />
Ich habe gelernt, auf bestimmte Weise zu<br />
gehen und zu reden, sodass es wage bleibt. Was die<br />
Haare und glamourösen Kleider angeht: <strong>Das</strong> war<br />
<strong>für</strong> mich die weiblichste Rolle, die ich je gespielt<br />
habe. Insofern war es doch eine Übertreibung.<br />
Sie haben viele Rollen gespielt, in denen Menschen<br />
sexuell von der Norm abweichen. In „If<br />
These Walls Could Talk“ spielen Sie eine Lesbe,<br />
in der HBO-Serie „Big Love“ eine polygame<br />
Frau, alle sprachen 2003 über die explizite<br />
Blow-Job-Szene mit Vincent Gallo. Was reizt<br />
Sie an diesen Rollen, die nicht der klassischen<br />
Hollywood-Heterosexualität entsprechen?<br />
Es geht mir um die Außenseiterrolle. Ich selbst bin<br />
ziemlich konservativ, hatte ausschließlich monogame<br />
Beziehungen. Im Film kann ich wilde<br />
Fantasien ausleben. In der Kunst bin ich viel radikaler<br />
als im Leben.<br />
Woran arbeiten Sie gerade?<br />
Wir drehen den Film „Little Accidents“ von Sara<br />
Colangelo. Es geht um ein Minenunglück in West<br />
Virginia mit vielen Toten. Es ist nur ein kleiner<br />
Indie-Film, aber es ist mir wichtig, neben dem<br />
Fernsehen weiter Filme zu machen.<br />
Gibt es eine Rolle, die Sie nach der transsexuellen<br />
Mia herausfordern würde? Sehen wir Sie<br />
demnächst als Mann?<br />
Ha, keine Ahnung. Cate Blanchetts Rolle als Bob<br />
Dylan ist schwer zu schlagen. Aber auf lange Sicht<br />
hätte ich nichts dagegen.<br />
VERLOSUNG<br />
L-MAG verlost drei DVDs und drei Blue<br />
Rays „Hit & Miss“ auf www.l-mag.de<br />
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