Land mit Aussicht - Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung
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So feiern die angestaubten Begriffe Familie,<br />
Nachbarschaftshilfe, Ehrenamt <strong>und</strong> Vereine<br />
<strong>mit</strong> einem Mal ihre Wiedergeburt als Mehrgenerationenhaus,<br />
Bürgergesellschaft <strong>und</strong><br />
Solidargemeinschaft – Begriffe, die neuerdings<br />
in Parteiprogrammen als Mittel gegen<br />
gesellschaftliche Defizite zu finden sind.<br />
Mit anderen Worten: Die lange als rückständig<br />
belächelten Oldenburger Münsterländer<br />
stehen in der postmodernen, globalisierten<br />
Welt erstaunlich fit <strong>und</strong> fortschrittlich da.<br />
Die Moorbauern von gestern haben keine<br />
schlechten Antworten auf die Herausforderungen<br />
von morgen. Sie liefern kein zwingendes<br />
Modell für urbane Gesellschaften in<br />
<strong>Berlin</strong>, München oder Köln, aber sie können<br />
ein Vorbild sein für ländliche Gebiete, in<br />
denen in Deutschland immerhin 27 Prozent<br />
aller Menschen leben.<br />
Haben die Oldenburger Münsterländer<br />
einfach nur Glück gehabt, dass ihre alten<br />
Gemeinschaftsprinzipien heute wieder mehr<br />
praktischen Wert erlangen? Wäre es nicht<br />
wahrscheinlich gewesen, dass auch die Menschen<br />
zwischen Cloppenburg <strong>und</strong> Vechta den<br />
Weg der Moderne gehen: weg vom <strong>Land</strong>, ab<br />
in die Städte, weniger Kinder <strong>und</strong> die <strong>Land</strong>wirtschaft<br />
ein paar wenigen Großbetrieben<br />
überlassen oder gleich in Länder verlagern,<br />
die billiger Hühner <strong>und</strong> Schweine, Wurst <strong>und</strong><br />
Käse produzieren können?<br />
Die Menschen im westlichen Niedersachsen<br />
hatten wohl das Glück der Tüchtigen. Der<br />
Emslandplan in den 1950er Jahren kam zur<br />
rechten Zeit. Aber die Oldenburger Münsterländer<br />
haben die Hilfen genutzt, um auf Basis<br />
der <strong>Land</strong>wirtschaft weit mehr zu schaffen als<br />
nur die reine Primärproduktion: Sie haben<br />
eine ganze Wertschöpfungskette aufgebaut,<br />
die nicht nur wenigen Großbauern, sondern<br />
tausenden von Menschen Arbeit gibt <strong>und</strong><br />
sie an die Region bindet. Sie konnten, als<br />
Ende der 1980er Jahre in den boomenden<br />
Schlachtbetrieben <strong>und</strong> an den Fließbändern<br />
der Zulieferindustrie ein Arbeitskräftemangel<br />
drohte, eine Welle von Aussiedlern in die<br />
florierende Wirtschaft integrieren. Auch hier<br />
spielt der zeitliche Zufall eine Rolle – aber es<br />
war ein engagierter Pastor aus der Region,<br />
der den Migranten den Weg ins Oldenburger<br />
Münsterland gebahnt hat.<br />
Und noch ein Zufall kommt den Oldenburger<br />
Münsterländern entgegen: Zu einem Zeitpunkt,<br />
da auch in dieser Region ein Fachkräftemangel<br />
droht, erlangen, <strong>mit</strong> einer gewissen<br />
Verspätung gegenüber dem deutschen Durchschnitt<br />
immer mehr junge Frauen hohe Qualifikationen.<br />
Die steigende Erwerbsquote von<br />
Frauen trifft auf eine Zeit, in der die Diskussion<br />
um die neue Familienfre<strong>und</strong>lichkeit zum<br />
Ausbau von Kinderbetreuungseinrichtungen<br />
führt. Familie <strong>und</strong> Beruf werden so<strong>mit</strong> auch<br />
für jene leichter vereinbar, die nicht auf Großeltern,<br />
Nachbarn <strong>und</strong> Fre<strong>und</strong>e zur Betreuung<br />
der Kleinen zurückgreifen können.<br />
Und so ist zu vermuten, dass die Erfolgsgeschichte<br />
des Oldenburger Münsterlandes<br />
weitergehen wird. Hohe Kinderzahlen waren<br />
eine Zeitlang aus der Mode gekommen – aber<br />
(noch) nicht zwischen Cloppenburg <strong>und</strong><br />
Vechta. Jetzt, da Familie auch in der Politik<br />
eine neue Wertschätzung erfährt, besteht<br />
kein Anlass mehr, sich das Kinderkriegen<br />
abzugewöhnen. Schrumpfende Regionen,<br />
vor allem in den neuen B<strong>und</strong>esländern, wo<br />
seit der Wende über 2.000 Schulen wegen<br />
Kindermangels schließen mussten, können<br />
von dieser <strong>Entwicklung</strong> nur träumen. Denn<br />
Nachwuchs bedeutet Stabilität. Kinder sind<br />
auch Konsumenten, sie brauchen eine ganze<br />
Dienstleistungsgesellschaft, von Lehrern<br />
über Schulhausmeister bis zu Busfahrern, sie<br />
schaffen Jobs <strong>und</strong> machen ihre Eltern sesshaft.<br />
Wenn diese erst einmal Häuser bauen,<br />
können die Kommunen auf langfristige Steuerzahler<br />
zählen <strong>und</strong> ihre Infrastruktur besser<br />
planen. Die Kommunen des Oldenburger<br />
Münsterlandes sind wenig oder gar nicht<br />
verschuldet. Kaum irgendwo im ländlichen<br />
Deutschland liegt die Arbeitslosigkeit niedriger<br />
<strong>und</strong> nirgendwo auf dem <strong>Land</strong>e sind in<br />
den letzten Jahren mehr neue Arbeitsplätze<br />
entstanden. Anders ausgedrückt: Die kinderreichen<br />
Familien helfen dem Handel <strong>und</strong><br />
der Wirtschaft, <strong>und</strong> diese wiederum sorgen<br />
dafür, dass die jungen Menschen weiterhin<br />
Arbeit finden, sich wohl fühlen, nicht an<br />
Abwanderung, sondern umso mehr an eine<br />
Familiengründung denken. Dies ist das offene<br />
Geheimnis des Erfolgsmodells Oldenburger<br />
Münsterland. Die Region ist gewissermaßen<br />
ein Vorreiter für postmoderne ländliche<br />
Gebiete.<br />
Die Frage ist, wie es weitergeht, wie das<br />
Olden burger Münsterland auf künftige<br />
Herausforderungen reagieren wird. Ob die<br />
Referenzregion in dieser Studie – die Müritzregion<br />
in Mecklenburg-Vorpommern –, die<br />
um ihre Wirtschaft <strong>und</strong> Bevölkerung kämpfen<br />
muss, von Westniedersachsen lernen kann.<br />
Und ob es umgekehrt Trends in der Müritz -<br />
region gibt, die dem Oldenburger Münsterland<br />
als Vorbild dienen könnten. Diesen Fragen<br />
soll in den folgenden Kapiteln nachgegangen<br />
werden.<br />
Kapitel 4<br />
<strong>Berlin</strong>-<strong>Institut</strong> 39