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Essay<br />

Über das späte Sprechen<br />

von Iris Hölling<br />

Angesichts der vielen Menschen, die sich in diesen<br />

Tagen als Betroffene sexuellen Missbrauchs<br />

besonders in Institutionen öffentlich outen und<br />

darüber zu sprechen beginnen, fragen sich viele,<br />

warum sie solange geschwiegen haben.<br />

Momentan sprechen vor allem Männer und auch Männer<br />

mit einer anerkannten gesellschaftlichen Position,<br />

um Frauen ist es deutlich stiller, obwohl wir doch wissen,<br />

dass mehr Mädchen als Jungen sexuellen Missbrauch<br />

erleben müssen.<br />

Die betroffenen Männer haben bis auf Räume wie<br />

der Anlaufstelle von Tauwetter e.V., in denen Männer<br />

schon seit 15 Jahren von der eigenen Missbrauchserfahrung<br />

sprechen, deutlich länger geschwiegen, was sicher<br />

auch geschlechtsspezifische Ursachen hat. Ebenso wie<br />

das jetzige Gehörtwerden nicht unabhängig vom Geschlecht<br />

der Sprechenden ist.<br />

Warum sprechen die Betroffenen erst jetzt? Warum<br />

stellen sich Menschen, die schon seit vielen Jahren zum<br />

Thema sexueller Missbrauch arbeiten und auch das öffentliche<br />

Sprechen über die eigene Erfahrung gewohnt<br />

sind, sich jetzt plötzlich bestimmte Fragen neu? Warum<br />

haben sie jetzt erst Handlungsimpulse der Veröffentlichung<br />

oder der Intervention, die sie doch schon längst<br />

hätten haben können?<br />

Momentane Welle des Öffentlichmachens<br />

1982 gab es die erste Selbsthilfegruppe von Frauen, die<br />

in der Kindheit sexuellen Missbrauch erlebt hatten, in<br />

Berlin, Wildwasser e.V. wurde 1983 gegründet, damit<br />

begann das öffentliche Sprechen über sexuellen Missbrauch<br />

in der Familie und im sozialen Nahraum. Das<br />

Thema sexueller Missbrauch in Institutionen kam erst<br />

in den 90er Jahren zur Sprache, und das auch vor allem<br />

in Fachkreisen. Die wenigen Male, in denen das Thema<br />

eine gewisse — auch mediale — Öffentlichkeit erreichte,<br />

sind nicht mit der momentanen Welle des Offentlichmachens<br />

zu vergleichen.<br />

Hätten wir damals sprechen können? Welche Worte<br />

hätten wir gehabt? Von den wenigen Anlaufstellen, die<br />

es damals gab, wussten wir in unseren katholischen,<br />

evangelischen, staatlichen Schulen nichts. Wer hätte uns<br />

damals geglaubt und zugehört? Welche Institution hätte<br />

sich damit auseinander gesetzt?<br />

Die Debatte über den Missbrauch mit dem Missbrauch<br />

lag auch noch vor uns.<br />

Als jugendliches Mädchen hätte ich damals nie gesagt,<br />

ich sei sexuell missbraucht worden. Das Missbrauchsverhältnis<br />

habe ich als Beziehung gedeutet und war sogar<br />

verliebt in den kirchlichen Jugendsekretär, der mit mir<br />

heimlich auf der Jugendfreizeit die Nächte verbrachte.<br />

Natürlich alles streng geheim, irgendwas daran war<br />

also doch nicht in Ordnung, sonst wäre das Geheimnis<br />

nicht nötig gewesen. Jahrelang hat das Schweigegebot<br />

gewirkt. Ich bin nicht traumatisiert und fühle mich auch<br />

nicht als Opfer, dennoch war das, was ich erlebt habe<br />

„sexueller Missbrauch Schutzbefohlener“ bzw. sexuelle<br />

Gewalt, obwohl keinerlei Gewalt nötig war, weil es um<br />

Machtmissbrauch geht. Und das ist nicht zu entschuldigen.<br />

Illusionen über eine heile Welt oder die scheinbar glücklichen<br />

Beziehungen habe ich dadurch sehr jung verloren.<br />

Die Gefahr, dass sich sexuelle Gewalt als<br />

Beziehung tarnt<br />

Obwohl es mir seit vielen Jahren klar ist, dass das sexueller<br />

Missbrauch war, kommt der Impuls erst jetzt, es<br />

öffentlich zu machen und herauszufinden, wo der Mann<br />

ist, und ob er noch mit Kindern arbeitet, und ihn zur<br />

Verantwortung zu zwingen.<br />

Die Tarnung von sexueller Gewalt an Jugendlichen als<br />

Beziehung ist besonders gefährlich, gefährlich deshalb,<br />

weil die Jugendlichen selbst verliebt sind, sich aufgewertet<br />

fühlen, weil eine erwachsene, respektierte Person,<br />

um deren Aufmerksamkeit unter Umständen alle konkurrieren,<br />

gerade sie ausgewählt hat, um mit ihnen diese<br />

besondere Beziehung zu haben. Weil es so etwas Besonderes<br />

ist, darf es auch niemand wissen. Das Schweigegebot<br />

wird geschickt in die manipulierende Täterstrategie<br />

integriert und mit dem Bonus der Auserwähltheit<br />

getarnt. Diese perfide Strategie des Beziehungsaufbaus<br />

und Exklusivitätsversprechens führt dazu, dass sexuelle<br />

Gewalt von den Jugendlichen nicht erkannt wird, sondern<br />

nur von außen so bewertet wird. Die Jugendlichen<br />

erfahren in dem Sinne in ihrer eigenen Wahrnehmung<br />

keine Gewalt, sondern erleben eine besondere Beziehung<br />

zu einem bewunderten, geachteten Erwachsenen.<br />

Das Wissen um diesen Zusammenhang ist wichtig, wenn<br />

wir mit Jugendlichen zu diesem Thema arbeiten wollen.<br />

Wir werden sie nicht erreichen, wenn wir sie verurteilen,<br />

von außen die Beziehung als Missbrauch bewerten<br />

und sie untersagen. Das treibt sie nur stärker in die Abhängigkeit,<br />

in Schweigen und Isolation. Wir müssen die<br />

Täter und Täterinnen erreichen, sie mit dem Unrecht,<br />

das sie begehen, konfrontieren und versuchen, die Jugendlichen<br />

für unsere Sicht der Dinge zu gewinnen. Ein<br />

schwieriger Balanceakt, dem wir uns stellen müssen.<br />

Jedes Sprechen braucht ein Gegenüber, eine Chance,<br />

Gehör zu finden. Damals hätte uns niemand zugehört<br />

und geglaubt.<br />

Beziehungen zwischen sehr viel älteren Männern, die<br />

viel jüngere Frauen heiraten, sind immer noch gesellschaftlich<br />

akzeptiert. Wie viele Professoren heiraten<br />

26 Oktober 2010

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