STZ No. 7-1 - StadtZeit Kassel

Odysse im Gender Gap
Sonntag ist Brautschautag!
Von Herwig Schreiber
„E
s ist Wochenende und die Arbeit ist vorbei, pack den Kies raus
Junge und du bist dabei“, sang Rio in seinen wilden Zeiten. Ich
habe den Kies schon ausgepackt, um fachlich fundiert und wissenschaftlich
begleitet die Zusammenführung im virtuellen
Brautschaukosmos zu stimulieren. "Premium-Mitgliedschaft"
heißt das gebuchte Programm, das mir bei der nach Eigenlob größten Online-Agentur
für langfristige Beziehungen - also genau das, was bislang immer
panische Fluchtreflexe auszulösen vermochte, so es von der holden
Weiblichkeit an mich herangetragen wurde - spannende Kontakte zur besseren
Hälfte verschaffen soll.
Und der definitive Bräutigamschautag ist Sonntag, wie ich beim Überprüfen
meiner Besucherinnenliste immer wieder feststellen darf. Da sind echte
Spitzen zu verzeichnen. Und da Mann ja a) bei einem derzeitigen Verhältnis
von 51% Damen zu 49% Herren und b) nach Sternaussage als "begehrte
Zielgruppe mit nahezu freier Auswahl" gilt, wenn keinen allzu derben
Unterhaltsverpflichtungen nachzukommen ist, der Job stimmt und
kein akutes Drogen- oder Alkoholproblem zu konstatieren ist, sowieso
schon Vorteile auf der nach oben offenen Prickelfaktorskala haben soll,
kann ich entspannt auf die Kontaktgesuche der Damenwelt harren, ohne
selbst in übersteigerten Aktionismus verfallen zu müssen.
Eines Sonntags ist es soweit. Das System meldet jede Regung: Ob mein
Profil besucht wurde, oder es sonstige Neuigkeiten zu vermelden gibt.
"Sehr geehrter Herr Herwig Schreiber!
Das Kennenlernen geht weiter: Foto-Faltenrock* hat ihr Bild für
Sie freigegeben. Unter www.xyz.de können Sie es ansehen. Öffnen Sie einfach
Ihr gemeinsames Postfach unter Kontakte", lese ich.
"Volle Kraft voraus, wir tauchen ab ins virtuelle Separee", heißt nun die Devise.
Bilder gucken.
Wenn Mann Glück hat, gibt es ansprechende Fotos zu sehen. Manche lassen
allerdings, was ihre Qualität angeht, durchaus an der Ernsthaftigkeit
des fraulichen Suchbegehrens zweifeln. Denke ich. Aber egal. Da halten
wir es mit der künstlerischen Freiheit. Und Mann muss ja nun in Zeiten von
Photoshop auch nicht noch gleich die Interpretationshoheit reklamieren.
Nach der Fotoschau wird aufs Profil der Guten geklickt und ihr "Ich über
mich" goutiert.
Doch was sehe ich da: hinter "Persönlichkeit" ein Blitzsymbol. Ich bin verwirrt.
"Mögliche Spannungsfelder" schreibt das System, verbergen sich hinter
diesem bösen Symbol.
"Trotz der Qualität Ihres Matching-Ergebnisses (damit meint das System
den Abgleich verschiedener Parameter, auf welcher wissenschaftliche
Grundlage auch immer, der in Matching-Punkten - MP - angegeben wird
und über 60 MP liegen sollte, damit ansatzweise Hoffnung besteht) mit
XY8E1GKL* könnte die Kombination Ihrer Kommunikationsstile Ihre mögliche
Partnerschaft beeinträchtigen. Schauen Sie, wenn Sie eine Beziehung
eingehen, ob Sie gemeinsam einen Weg finden, damit umzugehen oder etwas
an Ihrer Kommunikation zu verändern", werde ich aufgeklärt, bevor
ich ihr überhaupt unter die Augen treten kann, um die Gute zum Dahinschmelzen
zu bringen.
"Was erlaube Scheiß-System, mir sage, ich verändere solle meine Kommunikation",
rege ich mich im Stile eines ehemaligen Bundesliga-Trainers auf.
"Komm echauffier dich nicht, du kleines Arschgesicht", kontert das Sprachzentrum
in Anlehnung an TicTacToe.
"Was soll's?", denke ich und gehe - ohne über Los zugehen - wieder direkt
ins virtuelle Separee. Soll mich das System doch mal...
* Namen und Ziffern- und Buchstabenkonstellationen sind völlig frei erfunden.
Jede Ähnlichkeit mit bestehenden Realitäten wäre rein zufällig.
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