Printversion vergriffen: Freier Download BA 55 als PDF - Bad Alchemy
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DAS SYNTHETISCHE MISCHGEWEBE Gleis3eck /<br />
Görlitzer Tunnel (Antiinformation, AICdisc 008, 2 x CD<br />
in DVD box): Vergangenheit ist ein heikles Ding.<br />
Manchmal will sie vergehen und kann nicht, manchmal<br />
soll sie vergehen und will nicht, manchmal ist sie schon<br />
verschwunden, bevor man sich‘s versieht. Das S-M hegt<br />
und hütet seine Vergangenheit und vergegenwärtigt<br />
damit mehr <strong>als</strong> nur sich selbst. Die Entstehungsorte von<br />
‚Görlitzer Tunnel‘ (1986) und ‚Gleis3eck‘ (1987) sind<br />
nach dem Fall der Mauer dem Vereinigungsfuror und<br />
Hauptstadtbaufieber zum Opfer gefallen. Der verpisste<br />
Fußgängertunnel unter Kreuzberg ist ebenso verschwunden<br />
wie die S-Bahndrehscheibe, die allerdings<br />
schon eine Industrieruine war, <strong>als</strong> Das S-M sie unbefugter<br />
Weise <strong>als</strong> Performancebühne okkupiert hat. Nur<br />
überholte Stadtpläne und alte Fotos konservieren ihre<br />
Existenz. Und in Spurenelementen sind sie aufgehoben<br />
auf diesen Bändern, von denen Auszüge bereits auf<br />
‚casual praise of domestic calamities‘ (Hypnagogia),<br />
‚intransitive 23‘ (Intransitive Recordings) und ‚Inventaire<br />
and contradictions‘ (Vinyl-On-Demand) herumgeistern.<br />
Hier kriecht nun die von Yref & G.do Hübner<br />
hergestellte ammoniakhaltige Langfassung ihrer bruitistisch-olfaktorischen<br />
Tunnelbohrung aus den Boxen (45:38). Ein diskantes Konzentrat<br />
aus Gestank und Geräusch unter schäbigem Neonlicht. Von oben dröhnt Kreuzbergverkehr,<br />
von unten klopfen die Untoten, auf die Berlin gar nicht genug Beton<br />
wuchten kann, dazwischen pfeifen Ratten mit Stammbaum bis in den Führerbunker.<br />
Alte Funksprüche suchen immer noch ihren Empfänger in dieser Pissrinne, die sich<br />
anhört wie eine Musique concrète-Disco für Morlocks, von denen auch einige lallend<br />
und gröhlend entlang torkeln. Was macht ihr denn da? Musik? ‚Gleis3eck‘, ein Triptychon<br />
von gut 80 Minuten, entstand <strong>als</strong> Probelauf des ‚The Spinal Column‘-Projektes<br />
für das Festival En la Frontera / n.o.v.a. far in Zaragossa in großer Besetzung mit<br />
Chavez, T.O.W. Richter, Isabelle Chemin & Jean René Lassalle. Selbstgebaute<br />
Streich- und gefundene Percussioninstrumente, Klangskulpturen, Tableguitar, Ventilator,<br />
Pick-ups, Miniverstärker, Feedbackloops etc. etc. wurden traktiert mit einem<br />
Spieltrieb, der längst zum Selbstverständnis <strong>als</strong> Installations- und Performancekünstler<br />
aufgeblüht war, und mit der zeittypischen Bruito- & Art-Brutophilie, wie sie<br />
auch die Einstürzenden Neubauten, P16.D4 oder Kapotte Muziek auslebten, indem<br />
sie Schrott zu Pflugscharen umschmiedeten. Damit wurden vor 20 Jahren Furchen<br />
gezogen, um Drachenzähne anzusäen, aus denen ein neuer Typus hätten sprießen<br />
können, Geniale Dilettanten, Künstler <strong>als</strong> Jedermensch, sentimentale Urbanisten,<br />
Spaßgewitterdandies. Statt dessen...<br />
AXEL DÖRNER sind (Absinth Records, Absinth 010, in 7“-Cover): Die Formel ist immer<br />
die selbe - 1≤n≤22 - die Ergebnisse der 22 Anläufe gehn jedoch gegen unendlich.<br />
Man kann versuchen, aus Kaffeesatz das Schicksal zu deuten oder sich Dörners<br />
Spucke in die Ohren schmieren und Öffne dich! murmeln. es wird immer Leute<br />
geben, die dabei ihre Zukunft erkennen können oder „Ich kann wieder hören!“ rufen.<br />
All music by Axel Dörner Trumpet lauten die spärlichen Angaben. Schon gut, man<br />
muss es nicht Musik nennen, hinter Trompete wird mancher ebenfalls ein dickes ?<br />
setzen und zudem zweifeln, wie das ohne Elektronik gehen soll. ‚Das‘ ist ein spuckiges<br />
Schmurgeln und gepresstes Fauchen in immer wieder von Stille unterbrochenen<br />
Variationen. Was Dörner da am und durch das Mundstück erzeugt, klingt teils<br />
‚Polnisch‘, teils wie walisische Ortsnamen, ein einziges przedmuchiwac, terkotac,<br />
skwierczec, chleptac, wybuchac zloscia und Llanfairpwllgwyngyllgogerychwyrndrobwllllantysiliogogogoch.<br />
Wobei blasen nur meint, dass gepresste Luft Reibegeräusche<br />
macht, Töne ‚sind‘ nicht vorgesehen, zumindest nicht in dem Sinn, dass der<br />
Natürlichkeit der Luftverwirbelungen Gefälligkeit aufgezwungen oder untergeschoben<br />
werden soll. Dörners Experimentenreihe sucht die seltsame Begegnung von<br />
Physis und Physik, von Wasser und Luft am Ground Zero von Mund und Metall. Im<br />
Otomo Yoshihide Quartett konnte man sehen, wie er das macht und dass einige der<br />
undeutbaren Geräusche entstehen, indem er mit Dämpfern am Trichter schabt.<br />
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