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Das Bildungswesen ist kein Wirtschaftsbetrieb! - Forschung & Lehre

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Im Kaiserreich 1871-1918 veränderte sich die Situation.<br />

An die Stelle einer Einigung von Staaten trat nun die innere<br />

Integration einer zudem konfessions- und regionalpolitisch<br />

zerklüfteten Klassengesellschaft. Vornehmlich Nationalökonomen<br />

als wissenschaftliche Bannerträger einer gesellschaftlich<br />

tief gestaffelten bürgerlichen Sozialreform suchten<br />

revolutionärem Umsturz durch sozialregulative Maßnahmen<br />

entgegenzuwirken, gestützt auf sozialstat<strong>ist</strong>ische Erhebungen,<br />

motiviert durch Kategorien wie Partizipation und ausgleichende<br />

Gerechtigkeit, zugleich verfemt von den herrschenden<br />

Schichten als Kathedersozial<strong>ist</strong>en. Noch besaß man Gehör in<br />

einer bildungsbürgerlich dominierten öffentlichen Meinung,<br />

noch konnte man sich auf Rückhalt in einer von den „Kathedersozial<strong>ist</strong>en“<br />

ausgebildeten Min<strong>ist</strong>erialbürokratie in einem<br />

monarchisch-konstitutionellen, nicht parlamentarischen<br />

System verlassen. Aber eben dieser Glaube an eine überparteilich-ausgleichende<br />

Bürokratie war die Lebenslüge des<br />

Obrigkeitsstaates, wie Gustav Radbruch später schrieb. Nicht<br />

minder die damit korrespondierende Überzeugung wissenschaftlich<br />

begründbarer Werturteile, welche Max Weber dann<br />

schneidend zurückwies. Mit Blick auf innenpolitische Kontroversen<br />

der 1890er Jahre hatte der Philosoph Friedrich<br />

Paulsen die Universitäten noch als „öffentliches Gewissen der<br />

Nation, in Absicht auf gut und böse in der Politik“ bezeichnet.<br />

<strong>Das</strong> war ein Schwanengesang. Professionelle Wissenschaft<br />

und professionelle Politik hatten sich längst voneinander<br />

gelöst, Gutachten traten neben Entscheidungen. In politi-<br />

Herr Händler, Sie sagen, die Deutschen sollen<br />

versuchen, „Ge<strong>ist</strong> zu produzieren, Intelligenz<br />

jeglicher Art. Egal, ob das Sinologie <strong>ist</strong> oder<br />

Halbleitertechnik oder irgend etwas“. Wie kann<br />

man Ge<strong>ist</strong> produzieren?<br />

Zunächst gilt es zu verhindern, daß Ge<strong>ist</strong> systematisch<br />

vernichtet wird. An den Universitäten<br />

geschieht das durch die Gesamtheit aller Vorschriften,<br />

die ihnen von außen auferlegt werden.<br />

Ein anderes Beispiel: Im öffentlich-rechtlichen<br />

Fernsehen kommen Wissenschaft und Kultur so<br />

gut wie nicht mehr vor. Obwohl Gebührenzwang<br />

herrscht, wird die Zuschauerquote zum alleini-<br />

gen Maßstab gemacht. Was unterscheidet die öffentlichrechtlichen<br />

noch von den privaten Fernsehsendern? Zu einer<br />

Autorenlesung kommen zwanzig bis zweihundert Leute.<br />

Dazu muß die Resonanz einer Literatursendung in Relation<br />

gesetzt werden, nicht zu Thomas Gottschalk.<br />

Wie <strong>ist</strong> uns der Ge<strong>ist</strong> abhanden gekommen und wo liegen<br />

die Anfänge des Verlustes?<br />

<strong>Das</strong> Dritte Reich hatte sich zum Ziel gesetzt, das deutsche<br />

Ge<strong>ist</strong>esleben zu planieren. Es hat sein Ziel erreicht, wir<br />

müssen uns immer noch davon erholen.<br />

Müssen wir erst die wirtschaftliche Krise bewältigen, um<br />

dann die „tieferliegende kulturelle Krise“ in den Griff zu<br />

bekommen? Oder eher umgekehrt?<br />

470<br />

Bundestagswahl<br />

2005<br />

<strong>Forschung</strong> & <strong>Lehre</strong><br />

9/2005<br />

schem Wirkungswillen standen Professoren schon im Verbändestaat<br />

des Kaiserreichs, nicht erst in der Weimarer Parteiendemokratie<br />

nur noch in, nicht mehr vor der Front, wie<br />

der H<strong>ist</strong>oriker Friedrich Meinecke formulierte. Aus politischen<br />

Professoren in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts,<br />

aus Gelehrtenpolitikern in der zweiten wurden politisierende<br />

Professoren, der alten Ordnung als Geheimräte und Exzellenzen<br />

verbunden.<br />

Doch in Selbstwahrnehmung und öffentlicher Zuschreibung<br />

wirkten überkommene Muster nach, wonach wissenschaftliche<br />

Exzellenz, woran es um 1900 in allen Fachgebieten<br />

nicht mangelte, zu kulturnationaler Führung und politischer<br />

Wegweisung befähige. Um so schärfer brach ein<br />

Kontrast zwischen Fachexpertentum und staatsbürgerlicher<br />

Verantwortung dann im mehrheitlich antidemokratischen<br />

Denken von Professoren in der Weimarer Republik und in einer<br />

willfährigen Wissenschaft während der NS-Zeit auf.<br />

Zeugt nicht noch eine von „1968“ stimulierte Wissenschaftskultur<br />

mit gleichsam umgekehrten Vorzeichen für eine Beharrungskraft<br />

deutscher Traditionen politischer Mission durch<br />

normativ aufgeladene wissenschaftliche Systembildung? Insgesamt<br />

aber hat sich Webers Trennung zwischen Wissenschaft<br />

als Beruf und Politik als Beruf durchgesetzt. ❏<br />

Anschrift des Autors<br />

Drakestr. 51a, 12205 Berlin<br />

„Kultur nur noch als Dekoration“<br />

Über ge<strong>ist</strong>tötende Vorschriften und alles entscheidende Zuschauerquoten:<br />

Fragen an den Schriftsteller und Unternehmer Ernst-Wilhelm Händler<br />

© Ekko von Schwichow<br />

Dr. Ernst-Wilhelm Händler,<br />

Regensburg<br />

Ohne Ge<strong>ist</strong> und Intelligenz können die wirtschaftlichen<br />

Probleme nicht bewältigt werden.<br />

Ist eine Wende zum Ge<strong>ist</strong> bei dem derzeitigen<br />

parteiübergreifenden Utilitarismus und Pragmatismus<br />

der Politiker überhaupt real<strong>ist</strong>isch?<br />

Bei der jetzigen Regierung kommt Kultur nur<br />

als Dekoration vor, bei der jetzigen Opposition<br />

überhaupt nicht.<br />

Ursprünglich repräsentierte das Akademische<br />

eine – im besten Sinne – ge<strong>ist</strong>ige Welt. Was <strong>ist</strong><br />

heute davon noch in den Universitäten übrig?<br />

Die Universitäten haben <strong>kein</strong>e Identität. Sie<br />

müssen sich vollständig und in jeder Hinsicht selbst verwalten,<br />

nur so können sie sich eine Identität konstruieren.<br />

Der Professor wie der Student müßten stolz auf ihre Uni<br />

sein wie der Bayern-Anhänger nach dem Double.<br />

Um kreativ zu sein, benötigt man Zeit und Muße. Dies<br />

steht aber im Widerspruch zur Gegenwart. Was kann der<br />

einzelne, was die Gesellschaft und die Politiker tun, um<br />

dies wieder zu ermöglichen?<br />

Goethe war Finanz- und Infrastrukturmin<strong>ist</strong>er von Sachsen-Weimar,<br />

Einstein Angestellter am Eidgenössischen Patentamt.<br />

Zu viel Muße schadet der Kreativität. ❏<br />

Zuletzt veröffentlichte Ernst-Wilhelm Händler den Roman „Wenn wir sterben“<br />

(2002). Voraussichtlich im Oktober 2005 erscheint der erste Sammelband<br />

über das Werk Ernst-Wilhelm Händlers.

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