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The Red Bulletin Februar 2015 - DE

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READ BULL<br />

Ich erinnere mich und schweige.<br />

Bruno sagt: „Erwin Steidler ist jetzt raus aus dem Krankenhaus<br />

…“<br />

„Ich wusste nicht, dass er drin war“, sage ich.<br />

„Jemand hatte ihn zusammengefahren. Dabei war die Piste<br />

ganz leer. Erwin war quer unterhalb einer Kante da hinten am<br />

Hanglstein gefahren, und dann kam ein anderer im Schuss über<br />

die Kante und ist voll in ihn rein.“<br />

„Und?“<br />

„Drei Rippen gebrochen.“<br />

„Haben sie den anderen gekriegt?“<br />

„Nein, der war weg. Es war auch kaum jemand auf der Piste,<br />

so früh am Tage. Erwin ist noch allein ins Tal, stell dir vor, das ist<br />

gefährlich, da kann sich eine Rippe in die Lunge bohren, und es<br />

ist aus.“<br />

„Huuh!“<br />

Mein rechter Ellenbogen schmerzt. Drei Wochenenden zuvor<br />

hatte ich mittags eine Hütte aufgesucht und in der Hütte die<br />

Toilette. Wer je eine Skihüttentoilette gesehen hat, weiß, dass<br />

diese Räume mit superglatten Kacheln gefliest sind. Wahrscheinlich<br />

werden sie den Hüttenwirten vom örtlichen Chirurgenklub<br />

kostenlos zur Verfügung gestellt. Man sieht dort Männer mit<br />

Helmen und Rückenprotektoren bekleidet umständlich-vorsichtig<br />

zum Pissoir stelzen, bisweilen auf der Suche nach Halt dem<br />

Nachbarn plötzlich um den Hals fallend, als befänden sie sich<br />

auf dünnstem, extra für diesen Anlass poliertem Eis, eine Art<br />

Ballett zum Gesang von Hansi Hinterseer, der aus dem Toiletten-<br />

Lautsprecher dringt.<br />

I<br />

ch aber war einen Moment lang nicht umsichtig genug, glitt<br />

aus und landete auf dem Ellenbogen. Er blutete. Und<br />

schmerzt jetzt nach drei Wochen immer noch. Ich bin der<br />

Mann, der beim Skifahren auf einem zweitausend Meter hoch<br />

gelegenen Klo beim Pinkeln verunglückte.<br />

Zum Arzt bin ich vorsichtshalber nicht gegangen.<br />

Bruno scheucht mich aus meinen Gedanken auf.<br />

„Im Jahr davor hat Erwin sich ja das Schlüsselbein gebrochen,<br />

erinnerst du dich? Er stand am Pistenrand, und einer fuhr ihn um.<br />

Ein Holländer. Einer von denen, die sich schon im Stehen kaum<br />

auf Skiern halten können. War total betrunken.“<br />

„Dass der Erwin überhaupt noch Ski fährt …“<br />

„Das ist einer von diesen Kernigen, Unverwüstlichen. Kennst<br />

ihn doch. Für den gibt’s kein Leben ohne Ski. Ich weiß übrigens<br />

nicht, was ich beim Skifahren mehr verabscheue, Russen oder<br />

Holländer.“<br />

„Engländer nicht vergessen!“, sage ich.<br />

Am Abend zuvor habe ich, fällt mir ein, im Internet Fotos<br />

eines Mannes gesehen, der großes Pech in einem Skilift in Vail,<br />

Colorado, gehabt hatte. Dieser Mensch wollte sich in einen Liftsessel<br />

setzen, dessen Sitzfläche jedoch hochgeklappt war, so dass<br />

der Mann durch ein Loch plumpste und mit den Skiern in dieser<br />

Lücke hängen blieb. Seine Bindung öffnete sich nicht, doch blieb<br />

seine Hose am Sitz hängen und wurde ihm vom Leib gerissen,<br />

so dass der Mann kopfüber hängend mit nacktem Unterleib<br />

abtransportiert wurde, dies bei nicht unerheblicher Kälte, was<br />

wohl der Grund war, dass das Geschlechtsteil des Unbekannten<br />

wie ein kleiner waagerechter Eiszapfen vom Körper wegstand.<br />

Schlimmer kann es kaum noch kommen. Man geht zum Skifahren,<br />

wird urplötzlich wie ein frisch geschlachtetes Schwein<br />

den Hang hinaufgeschickt, dabei fotografiert – und eine halbe<br />

Stunde später lacht die Welt über diese Bilder.<br />

Ehrlich, manchmal weiß ich wirklich nicht, warum ich noch<br />

zum Skifahren gehe. Ich bin im Flachland geboren und auf-<br />

Für meine Frau gibt es<br />

kein Leben ohne Skifahren<br />

und für mich kein<br />

Leben ohne sie, also fahre<br />

ich auch, so gut es geht.<br />

gewachsen. Das Skifahren habe ich erst spät gelernt, als ich<br />

meine Frau kennenlernte, die in München geboren und aufgewachsen<br />

ist. Für sie gibt es kein Leben ohne Skifahren und<br />

für mich kein Leben ohne sie, also lernte ich Skifahren und fahre<br />

nun Ski. So gut es eben geht.<br />

Und es geht nicht sehr gut, wenn man das alles erst mit vierzig<br />

gelernt hat.<br />

Und dies sind ja Zeiten, in denen man sich einen Helm<br />

aufsetzt und einen Brustpanzer umschnallt, wenn man<br />

bloß mal auf die Straße geht, um nachzusehen, ob es die<br />

Bankfiliale an der Ecke noch gibt. Da setzt man sich freiwillig in<br />

einen Skilift und hört in seiner Freizeit dem Nachbarn zu, wie er<br />

über Michael Schumachers Unfall räsoniert oder die aktuellen<br />

Katastrophen im jeweiligen Skigebiet referiert!? Jaja, man liest<br />

auch Zeitungsartikel über unzureichend versicherte Skiläufer,<br />

die mit einem einzigen Unfall ihr Leben ruinierten. Und fragt<br />

sich, warum wir nicht in einem einzigen Riesenkonjunkturprogramm<br />

die Alpen abtragen und mit dem Schutt Deiche gegen<br />

die schwellenden Meere errichten.<br />

„Wahnsinn!“, ruft Bruno im Lift neben mir. „Einer hat neulich<br />

die Tochter von Stockmüllers erwischt, unten am Lift. Sie flog<br />

ein paar Meter durch die Luft, und alle dachten … Aber ihr ist<br />

nichts passiert. Das war ein Engländer. Vater Stockmüller hätte<br />

ihm beinahe die Ski über den Schädel gezogen, aber der Engländer<br />

lag selbst am Boden und wimmerte in einem fort: ‚Sorry,<br />

I’m so sorry …‘“<br />

„Aber heute ist es mal wieder herrlich, was?“, flüstere ich<br />

leise.<br />

„Ja. Könnte mehr Schnee haben. An einigen Stellen kommt Eis<br />

durch. Wenn einer da hinfliegt und mit der Rübe auf das harte<br />

Zeug knallt. Ob ein Helm da noch hilft? Denk an Schumacher!<br />

Da hat mir übrigens gestern einer erzählt, wie sein bester Freund<br />

vor einigen Jahren von der Pistenraupe …“<br />

Wir sind an der Bergstation, schwingen uns aus dem Lift und<br />

machen uns fertig zur Abfahrt. Ich sause unter dem blauen Azur<br />

zu Tal, heiter über die Piste schwingend, den Frieden der Natur<br />

genießend …<br />

Unten am Lift wartet dann wieder Bruno auf mich.<br />

READ BULL<br />

Lesevergnügen im <strong>Red</strong> <strong>Bulletin</strong>: Jeden Monat widmet ein<br />

namhafter Autor unseren Lesern eine Kurzgeschichte. Diesmal<br />

ist es der deutsche Schriftsteller und Kolumnist Axel<br />

Hacke, der übers Skifahren schreibt. Sein aktuelles Buch<br />

„Fußballgefühle“ (Verlag Kunstmann) handelt hingegen<br />

von einem vornehmlich männlichen Zeitvertreib, der längst<br />

mehr ist als ein Spiel (und als ein Zeitvertreib sowieso).<br />

94 THE RED BULLETIN

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