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READ BULL<br />
Ich erinnere mich und schweige.<br />
Bruno sagt: „Erwin Steidler ist jetzt raus aus dem Krankenhaus<br />
…“<br />
„Ich wusste nicht, dass er drin war“, sage ich.<br />
„Jemand hatte ihn zusammengefahren. Dabei war die Piste<br />
ganz leer. Erwin war quer unterhalb einer Kante da hinten am<br />
Hanglstein gefahren, und dann kam ein anderer im Schuss über<br />
die Kante und ist voll in ihn rein.“<br />
„Und?“<br />
„Drei Rippen gebrochen.“<br />
„Haben sie den anderen gekriegt?“<br />
„Nein, der war weg. Es war auch kaum jemand auf der Piste,<br />
so früh am Tage. Erwin ist noch allein ins Tal, stell dir vor, das ist<br />
gefährlich, da kann sich eine Rippe in die Lunge bohren, und es<br />
ist aus.“<br />
„Huuh!“<br />
Mein rechter Ellenbogen schmerzt. Drei Wochenenden zuvor<br />
hatte ich mittags eine Hütte aufgesucht und in der Hütte die<br />
Toilette. Wer je eine Skihüttentoilette gesehen hat, weiß, dass<br />
diese Räume mit superglatten Kacheln gefliest sind. Wahrscheinlich<br />
werden sie den Hüttenwirten vom örtlichen Chirurgenklub<br />
kostenlos zur Verfügung gestellt. Man sieht dort Männer mit<br />
Helmen und Rückenprotektoren bekleidet umständlich-vorsichtig<br />
zum Pissoir stelzen, bisweilen auf der Suche nach Halt dem<br />
Nachbarn plötzlich um den Hals fallend, als befänden sie sich<br />
auf dünnstem, extra für diesen Anlass poliertem Eis, eine Art<br />
Ballett zum Gesang von Hansi Hinterseer, der aus dem Toiletten-<br />
Lautsprecher dringt.<br />
I<br />
ch aber war einen Moment lang nicht umsichtig genug, glitt<br />
aus und landete auf dem Ellenbogen. Er blutete. Und<br />
schmerzt jetzt nach drei Wochen immer noch. Ich bin der<br />
Mann, der beim Skifahren auf einem zweitausend Meter hoch<br />
gelegenen Klo beim Pinkeln verunglückte.<br />
Zum Arzt bin ich vorsichtshalber nicht gegangen.<br />
Bruno scheucht mich aus meinen Gedanken auf.<br />
„Im Jahr davor hat Erwin sich ja das Schlüsselbein gebrochen,<br />
erinnerst du dich? Er stand am Pistenrand, und einer fuhr ihn um.<br />
Ein Holländer. Einer von denen, die sich schon im Stehen kaum<br />
auf Skiern halten können. War total betrunken.“<br />
„Dass der Erwin überhaupt noch Ski fährt …“<br />
„Das ist einer von diesen Kernigen, Unverwüstlichen. Kennst<br />
ihn doch. Für den gibt’s kein Leben ohne Ski. Ich weiß übrigens<br />
nicht, was ich beim Skifahren mehr verabscheue, Russen oder<br />
Holländer.“<br />
„Engländer nicht vergessen!“, sage ich.<br />
Am Abend zuvor habe ich, fällt mir ein, im Internet Fotos<br />
eines Mannes gesehen, der großes Pech in einem Skilift in Vail,<br />
Colorado, gehabt hatte. Dieser Mensch wollte sich in einen Liftsessel<br />
setzen, dessen Sitzfläche jedoch hochgeklappt war, so dass<br />
der Mann durch ein Loch plumpste und mit den Skiern in dieser<br />
Lücke hängen blieb. Seine Bindung öffnete sich nicht, doch blieb<br />
seine Hose am Sitz hängen und wurde ihm vom Leib gerissen,<br />
so dass der Mann kopfüber hängend mit nacktem Unterleib<br />
abtransportiert wurde, dies bei nicht unerheblicher Kälte, was<br />
wohl der Grund war, dass das Geschlechtsteil des Unbekannten<br />
wie ein kleiner waagerechter Eiszapfen vom Körper wegstand.<br />
Schlimmer kann es kaum noch kommen. Man geht zum Skifahren,<br />
wird urplötzlich wie ein frisch geschlachtetes Schwein<br />
den Hang hinaufgeschickt, dabei fotografiert – und eine halbe<br />
Stunde später lacht die Welt über diese Bilder.<br />
Ehrlich, manchmal weiß ich wirklich nicht, warum ich noch<br />
zum Skifahren gehe. Ich bin im Flachland geboren und auf-<br />
Für meine Frau gibt es<br />
kein Leben ohne Skifahren<br />
und für mich kein<br />
Leben ohne sie, also fahre<br />
ich auch, so gut es geht.<br />
gewachsen. Das Skifahren habe ich erst spät gelernt, als ich<br />
meine Frau kennenlernte, die in München geboren und aufgewachsen<br />
ist. Für sie gibt es kein Leben ohne Skifahren und<br />
für mich kein Leben ohne sie, also lernte ich Skifahren und fahre<br />
nun Ski. So gut es eben geht.<br />
Und es geht nicht sehr gut, wenn man das alles erst mit vierzig<br />
gelernt hat.<br />
Und dies sind ja Zeiten, in denen man sich einen Helm<br />
aufsetzt und einen Brustpanzer umschnallt, wenn man<br />
bloß mal auf die Straße geht, um nachzusehen, ob es die<br />
Bankfiliale an der Ecke noch gibt. Da setzt man sich freiwillig in<br />
einen Skilift und hört in seiner Freizeit dem Nachbarn zu, wie er<br />
über Michael Schumachers Unfall räsoniert oder die aktuellen<br />
Katastrophen im jeweiligen Skigebiet referiert!? Jaja, man liest<br />
auch Zeitungsartikel über unzureichend versicherte Skiläufer,<br />
die mit einem einzigen Unfall ihr Leben ruinierten. Und fragt<br />
sich, warum wir nicht in einem einzigen Riesenkonjunkturprogramm<br />
die Alpen abtragen und mit dem Schutt Deiche gegen<br />
die schwellenden Meere errichten.<br />
„Wahnsinn!“, ruft Bruno im Lift neben mir. „Einer hat neulich<br />
die Tochter von Stockmüllers erwischt, unten am Lift. Sie flog<br />
ein paar Meter durch die Luft, und alle dachten … Aber ihr ist<br />
nichts passiert. Das war ein Engländer. Vater Stockmüller hätte<br />
ihm beinahe die Ski über den Schädel gezogen, aber der Engländer<br />
lag selbst am Boden und wimmerte in einem fort: ‚Sorry,<br />
I’m so sorry …‘“<br />
„Aber heute ist es mal wieder herrlich, was?“, flüstere ich<br />
leise.<br />
„Ja. Könnte mehr Schnee haben. An einigen Stellen kommt Eis<br />
durch. Wenn einer da hinfliegt und mit der Rübe auf das harte<br />
Zeug knallt. Ob ein Helm da noch hilft? Denk an Schumacher!<br />
Da hat mir übrigens gestern einer erzählt, wie sein bester Freund<br />
vor einigen Jahren von der Pistenraupe …“<br />
Wir sind an der Bergstation, schwingen uns aus dem Lift und<br />
machen uns fertig zur Abfahrt. Ich sause unter dem blauen Azur<br />
zu Tal, heiter über die Piste schwingend, den Frieden der Natur<br />
genießend …<br />
Unten am Lift wartet dann wieder Bruno auf mich.<br />
READ BULL<br />
Lesevergnügen im <strong>Red</strong> <strong>Bulletin</strong>: Jeden Monat widmet ein<br />
namhafter Autor unseren Lesern eine Kurzgeschichte. Diesmal<br />
ist es der deutsche Schriftsteller und Kolumnist Axel<br />
Hacke, der übers Skifahren schreibt. Sein aktuelles Buch<br />
„Fußballgefühle“ (Verlag Kunstmann) handelt hingegen<br />
von einem vornehmlich männlichen Zeitvertreib, der längst<br />
mehr ist als ein Spiel (und als ein Zeitvertreib sowieso).<br />
94 THE RED BULLETIN