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KULTUR & GESELLSCHAFT<br />

...das leiseste Gefühl der Dauer<br />

Von Peter J. Betts<br />

■ Ein Blick in eine sehr gewöhnliche Tageszeitung:<br />

Die Römer Nahostkonferenz setzt den Kampfhandlungen<br />

wenig entgegen; Calmy-Rey fi ndet kaum<br />

Rückhalt zu ihrer Haltung beim Bundesrat, dieser<br />

aber Applaus von den Bürgerlichen und Kritik von<br />

den Linken. Ein Media Grosskaufhaus in der Region<br />

bietet Posten, Schnäppchen und Einzelstücke zu<br />

sensationellen Preisen an: Digitalkameras, 8 Mio.<br />

Pixel, inkl. Akku, Ladestation und Etui; High Speed<br />

SD-K<strong>art</strong>en; Beamer, zugleich DVD-Player - mit meiner<br />

Leica, Baujahr 1936, 35er Objektiv, hatte mein<br />

Vater hervorragende Bilder von Löwen, Antilopen<br />

und Elefanten geschossen, ohne Zoom: also keine<br />

Konkurrenz zu den Digitalkameras, nicht zuletzt,<br />

weil sie nicht computer- oder fernsehkompatibel<br />

ist; unverkäufl ich, glücklicherweise. Die Pharmabranche<br />

lockt mit dem Köder «Steuererträge»,<br />

um Stadtbilder verändern zu können (dürfen?).<br />

Die Hitze treibt die Strompreise hinauf – und den<br />

Verbrauch: kein Alarm, die Privathaushalte sind<br />

von den Preisschwankungen nicht betroffen... Herausgebende<br />

eines Ausgehmagazins vermissen<br />

die kreativen Köpfe in der Stadt: es gehe auch bei<br />

Veranstaltenden nur noch um Konsum, um Selbstdarstellung<br />

mit zunehmend oberfl ächlicheren Inhalten.<br />

Der Verschleiss von Rollmaterial: bei den<br />

Verkehrsbetrieben ein Dauerthema. In M<strong>art</strong>igny<br />

drohte eine Flutwelle: rolling stones.<br />

Ein Blick auf mein Gegenüber in der Strassenbahn<br />

– zum Beispiel nicht selten: jünger; scheinbar<br />

(anscheinend?) lebendig; äusserlich betrachtet,<br />

von angenehmer Erscheinung; die Augen scheinbar<br />

entweder zum Fenster hinausgerichtet (ohne<br />

den geringsten Hinweis, dass die vorübergleitenden<br />

Bilder - völlig unabhängig von ihrer Ausdruckskraft<br />

- wahrgenommen werden, die leiseste Gefühlsregung<br />

auslösen) oder auf die Mitreisenden,<br />

Eintretenden, Aussteigenden (gleiches Interesse<br />

gegenüber diesem Blickfeld), in den Ohren adrette<br />

Kopfhörer, nicht einmal eine rhythmische Reaktion<br />

auf die Vibrationen des Instantautismusproduktionsgerätes<br />

(zeitgemässe Grundausrüstung): Milch-<br />

glas vor den Augen, Wachs in den Ohren, Herzen<br />

und Hirne totalisoliert, sogar ohne jegliche Hoffnung<br />

auf Semipermeabilität. Das gleiche Phänomen<br />

bei den Übenden im Studio für Krafttraining,<br />

Velofahrenden, die einem im Walde begegnen, Joggenden<br />

im Naherholungsgebiet; und «Nordic Walking»<br />

ist zwar «more up to date», macht aber die<br />

Sache auch nicht besser. Vor dem Computer oder<br />

am Telefon im Büro ändert sich für Betrachtende<br />

der Agierenden auch nichts. Die fass-, fühl-, direkte<br />

sicht- oder hörbare Realität spielt keine Rolle,<br />

und nicht das Du, nicht das konkrete Gegenüber,<br />

während man dauernd, vierundzwanzig Stunden<br />

am Tage «kommuniziert». Dabei behaupten Fachleute,<br />

die sich mit der seelisch-geistigen Gesundheit<br />

von Menschen beschäftigen: jeder Mensch<br />

brauche für seine geistige Gesundheit, also als<br />

existentielle Voraussetzung, etwa sechs vertraute<br />

Personen , mit denen intime, vertrauliche, persönlich<br />

tiefgehende Gespräche geführt, Gedanken,<br />

Ängste, Hoffnungen Wünsche, Probleme, Phantasien<br />

im direkten Gespräch von Person zu Person<br />

ausgetauscht werden können, ohne technisches,<br />

neutralisierendes Gerät dazwischen geschaltet.<br />

Die Glücklicheren in den USA verkehren mit durchschnittlich<br />

drei solchen Personen; die meisten mit<br />

höchstens einer. Die Verhältnisse in der Schweiz<br />

seien im Begriff, sich den Verhältnissen des grossen<br />

Vorbildes rasch zu nähern. Welche Aussichten<br />

unter solchen Prämissen für die Kultur und damit<br />

die Dauer unserer Gesellschaft? Retten uns Handy<br />

und SMS en permanence? Ausserdem: im üblicherweise<br />

– üblicherweise? - «lesefähigen Alter» hat,<br />

gemäss einer Untersuchung, im Lande Tells jede<br />

sechste Person Mühe, einen zusammenhängenden<br />

Text zu verstehen. Sich aus fünfundzwanzig Buchstaben<br />

und einigen Zeichen eine ganz persönliche<br />

Welt lesend erschaffen? Phantasie als Betriebskapital<br />

für eine realistische Zukunft von Dauer?<br />

Ein Blick auf die Auslage im Schaufenster der<br />

Parfümerie: «Live» von Jennifer Lopez, «Ombre<br />

Rose» von Jean Charles Brosseau – laut, süss, im<br />

Trend; Davidoff «Cool Water Game» (nein, nein, der<br />

Name stammt nicht vom Zigarrenkönig, vertrieben<br />

aus dem kubanischen Paradies und zwangsweise<br />

zur Überzeugung gelangt, Sumatra Zigarren<br />

seien die besten – seine «Unterschrift» trügt: sein<br />

Englisch wäre sogar noch viel zu schlecht, ihn den<br />

vertrottelten Namen erfi nden zu lassen); natürlich<br />

hat das kühle Wasser mit Tabak nichts zu tun, ist<br />

diesbezüglich also politisch korrekt, wird im Fachgeschäft<br />

für zunehmend grelle Düfte präsentiert,<br />

ist ebenfalls aufdringlich und bleibt ebenso wenig<br />

im Gedächtnis haften. Versuchen Sie einmal, «Je<br />

Reviens» von Worth zu bestellen – keine Chance<br />

mehr in der Schweiz – und falls Sie es zufällig in einer<br />

kleinen Spezialitätenparfümerie in einer grösseren<br />

französischen Stadt fänden (es wird noch ab<br />

und zu, offenbar den Zeiterfordernissen angepasst,<br />

produziert, in kleinen Posten gezielt zugeteilt) und<br />

falls Sie ein gutes Geruchsgedächtnis haben, wird<br />

es für Sie heute anders, wenn vielleicht auch ähnlich,<br />

riechen; der Name wenigstens ist geblieben.<br />

Was zählt heute schon ein Inhalt? Das Gefühl der<br />

Dauer?<br />

Ich denke an das Autorenduo Fruttero und Lucentini<br />

- auf beide stosse ich von Herzen an! – sie<br />

schreiben über Turin, nicht über Bern. Keine Angst,<br />

sie werden es mit Sicherheit nie tun: der eine der<br />

beiden ist tot: Eine nachhaltige Absicherung, dass<br />

Sie, falls Sie das so sehen wollen, hier eine überzeugende<br />

Normalität, auch bezüglich einer Dauer,<br />

orten können. Anderseits: das Buch ist durchaus<br />

noch erhältlich. Aus «Wie weit ist die Nacht» von<br />

Carlo Fruttero und Franco Lucentini: «... Noch<br />

alles mehr oder weniger, es <br />

und es schien mehr oder weniger so zu sein, wie<br />

es immer gewesen war. Das Zentrum von Turin an<br />

einem beliebigen Tag, an einem Arbeitstag eben.<br />

Aber diese ganze Normalität schien wenig überzeugend,<br />

irgendwie vorläufi g und nur schlecht<br />

vorgetäuscht. Etwas fehlte: das leiseste Gefühl der<br />

Dauer.»<br />

ensuite - kulturmagazin Nr. 45 | september 06 11

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