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Ein Gutmensch ist offenbar auch nur ein Mensch<br />

Günter Grass: Beim Häuten der Zwiebel. Erinnerungsbuch.<br />

■ Das Rauschen im Blätterwald, kaum verebbt, hat<br />

dazu geführt, dass Günter Grass’ Erinnerungsbuch<br />

«Beim Häuten der Zwiebel» bereits seit Mitte August<br />

im deutschen Buchhandel erhältlich ist. Dies<br />

mit einer St<strong>art</strong>aufl age von 150‘000 Exemplaren.<br />

Der Roman beginnt mit der Schilderung des realen<br />

Ereignisses des Kampfes um die polnische Post<br />

in Danzig 1939. Wir erleben einen unpolitischen<br />

zwölfjährigen Jungen, der sich seine Kunstkenntnisse<br />

anhand einer Zigarettenbildersammlung<br />

aneignet und schon früh mit Hilfe Mutters Bücherschrank<br />

zum Leser wird. Insbesondere die Beziehung<br />

zur Mutter, welche einen Kolonialwarenladen<br />

führt und voller Stolz auf ihr phantasiebegabtes<br />

Söhnchen blickt, ist schön herausgearbeitet.<br />

Wenn auch des Autors spätes Bekenntnis zu<br />

seiner Aktivzeit bei der Waffen-SS zu erhöhten<br />

Verkaufszahlen führen mag, sind diesem Abschnitt<br />

seines Lebens lediglich sechzig Seiten gewidmet.<br />

Seiten jedoch, auf denen nichts beschönigt wird<br />

und Grass in keiner Weise versucht, die damals getroffenen<br />

Entscheidungen durch seine Jugend zu<br />

entschuldigen, obgleich er sich teilweise von jenem<br />

Jungen seines Namens zu distanzieren scheint.<br />

Das Lagerleben der Nachkriegszeit alsdann ist<br />

geprägt von Hunger und obwohl nichts Essbares<br />

vorhanden ist, wird zumindest der Bildungshunger<br />

durch ein vielfältiges Angebot an Kursen, unter anderem<br />

einem Kochkurs, gestillt.<br />

Die Nachkriegsjahre sind von einer Aufbruchsstimmung<br />

geprägt, die Grass vom Steinmetzen zum<br />

Bildhauer und später zum Dichter werden lassen.<br />

Jahre, in denen er am Dianasee in einer ausgebombten<br />

Villa und in Paris lebt. Jahre, um deren<br />

beschriebene Leichtigkeit man ihn beinahe beneidet.<br />

Und hier, 1959, mit der Veröffentlichung seines<br />

Romans «Die Blechtrommel», der eben jenen<br />

Kampf um die polnische Post literarisch verwertet,<br />

schliesst das Erinnerungsbuch.<br />

Ein Buch, das «das Gewissen der Nation» zu<br />

einem Menschen macht, mit seinen Stärken und<br />

Schwächen. Wer Grass daraus einen Strick drehen<br />

will, ist selber schuld. (sw)<br />

Grass, Günter: Beim Häuten der Zwiebel. Erinnerungsbuch.<br />

Steidl Verlag. Göttingen 2006. ISBN 3-<br />

86521-330-8.<br />

Eine fremde, nahe Welt<br />

Juri Rytcheu: Gold der Tundra. Roman. Aus dem<br />

Russischen von Kristiane Lichtenfeld.<br />

■ Der 1930 geborene Juri Rytcheu gilt bis heute<br />

mit seinen Romanen als wichtigste Stimme des<br />

12’000-Seelen-Volkes der Tschuktschen, zu fi nden<br />

im nördlichsten Sibirien, auf der Halbinsel Tschukotka,<br />

welche zugleich die Grenze zu Alaska markiert.<br />

Ausgehend von dem amerikanischen Geschwisterpaar<br />

Susan und Robert Carpenter, für welche<br />

die Faszination der tschuktschischen Heimat ihrer<br />

Grossmutter, jenem Land, wo ihr australischer<br />

Grossvater Handel trieb, ein verbindendes Element<br />

darstellt, nimmt die Geschichte ihren Lauf.<br />

Durch den Beginn der Perestroika erhalten sie<br />

erstmals die Möglichkeit, die Heimat ihrer Ahnen,<br />

die durch die Geschichten ihrer Kindheit stets wach<br />

gehalten wurde, zu besuchen. Von einer unbestimmten<br />

Sehnsucht getrieben, jedoch auch durch<br />

eine geheimnisvolle Zeichnung des Grossvaters<br />

motiviert, die auf einen versteckten Goldschatz hindeutet,<br />

brechen die Geschwister nacheinander auf.<br />

Das Tschukotka aus ihren Kindheitsphantasien<br />

jedoch scheint auf immer verloren, den Tschuktschen,<br />

in der Sowjetunion Bürger zweiter Klasse,<br />

sind ihre Traditionen zumeist im Alkoholrausch abhanden<br />

gekommen. Dennoch ist da zumindest die<br />

endlose Tundra, vereinzelte Jarangas, der Meerbusen,<br />

welche unverändert überdauert haben und die<br />

die Erw<strong>art</strong>ungen der Carpenters womöglich noch<br />

übertreffen. Vereinzelt begegnen sie auch Tschuktschen,<br />

die nicht völlig degeneriert sind und Robert<br />

Carpenter glaubt sogar in der Tänzerin und Krankenwärterin<br />

Antonina seine grosse Liebe gefunden<br />

zu haben.<br />

Auch wenn sie den Goldschatz des Grossvaters<br />

nicht heben mögen, treffen sie auf Gold in der Tundra<br />

in Form von Menschen, die ihrer Unterstützung<br />

bedürfen.<br />

Ein gross<strong>art</strong>iges Buch, das auch in jedem «Tangitan»<br />

(tschuktschischer Ausdruck für einen Weissen)<br />

jene unbestimmte Sehnsucht nach der Weite<br />

der Tundra weckt. (sw)<br />

Rytcheu, Juri: Gold der Tundra. Roman. Aus dem<br />

Russischen von Kristiane Lichtenfeld. Unionsverlag.<br />

Zürich 2006. ISBN-10 3-293-00367-2.<br />

Eine neue Anna Göldin?<br />

Margrit Schriber: Das Lachen der Hexe. Roman.<br />

■ Erinnert «Das Lachen der Hexe» auf Grund seiner<br />

Thematik an Eveline Haslers «Anna Göldin»,<br />

wird schon nach wenigen Seiten klar, dass zwar die<br />

Thematik eine sehr ähnliche sein mag, die Autorin<br />

Margrit Schriber aber ihre ureigene, nahezu kristalline<br />

Sprache hat.<br />

Ohne Scheu erzählt sie die Geschichte des Kastenvogts<br />

Meinrad Gwerder, der statt einer Hiesigen<br />

die offensichtlich missbildete Anna Schmidig aus<br />

Steinen zur Frau nimmt. Versöhnt ihre fröhliche<br />

und einnehmende Art die Dorfbevölkerung zunächst,<br />

stösst ihr Vorhaben, einen Laden zu eröffnen,<br />

zu dem sich später ein Gasthaus gesellen soll,<br />

auf Unverständnis. Doch ihre Pläne sind von Erfolg<br />

gekrönt und bis zum Tod ihres Mannes geniessen<br />

sie und ihre Kinder den Schutz, welcher seine übergeordnete<br />

Stellung verspricht.<br />

Bald danach schon bricht die dörfl iche Bevölkerung<br />

über Anna den Stab, unter ihnen viele, die sich<br />

zuvor noch von ihrem unbändigen Lachen haben<br />

anstecken lassen. Taten, welche ihr einst als gutgemeinte<br />

ausgelegt wurden, werden nun in deren Gegenteil<br />

verkehrt. Nichts, was nicht im Zeichen des<br />

Teufels stehen würde, insbesondere ihr anhaltender<br />

geschäftlicher Erfolg, kann nicht mit rechten Dingen<br />

zugehen. Und es kommt wie es kommen muss:<br />

als sich auch ihre Töchter von ihr abzuwenden beginnen,<br />

ist das Ende nah.<br />

Schriber erzählt ihre dörfl iche Denunziations-<br />

und Verfolgungsgeschichte in einer Unmittelbarkeit,<br />

welche verdeutlicht, dass der Hexenwahn niemals<br />

wirklich vorbei ist und sich nur dessen jeweilige Bezeichnung<br />

über die Jahrhunderte ändert.<br />

Die Autorin, welche nach einer Banktätigkeit, einer<br />

Karriere als Fotomodell und Jahren in der Werbebranche<br />

zur Literatur gefunden hat, ist auf Grund<br />

ihrer Sprachbeherrschung eine herausragende Vertreterin<br />

der Schweizer Literatur. (sw)<br />

Schriber, Margrit: Das Lachen der Hexe. Roman.<br />

Nagel und Kimche im Carl Hanser Verlag. Wien<br />

2006. ISBN-10: 3-312-00373-3.<br />

ensuite - kulturmagazin Nr. 45 | september 06 7

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