Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
BERNER QUARTIERE<br />
und sie krochen aus den löchern...<br />
Von Jean-Luc Froidevaux – Das Leben in der Matte Foto: Jean-Luc Froidevaux<br />
■ Der leere weisse Raum hinter dem Schaufenster<br />
saugt meinen Blick nicht vollständig auf, die Meditation<br />
gelingt nicht. ZEN...elf, zwölf... farbige Flächen<br />
ziehen in wechselnder Kadenz beschleunigten<br />
Wolken gleich vornüber. Die Autos spiegeln sich<br />
im Plakat «Ladenlokal zu vermieten». Ein Jahr<br />
nach dem Aussergewöhnlichen ist der Courrant<br />
noch immer nicht überall normal. Glas, Stahl und<br />
unbehandeltes Holz sind seither aus dem Boden<br />
gewachsen. Die Keller jetzt heller. Manch gewitzter<br />
Hausbesitzer hat das Geld der Versicherung und<br />
die Flucht der Vormieter mit Mietaufschlag quittiert<br />
(die Städtische Liegenschaftsverwaltung etwa<br />
hat in einem Fall die Miete mehr als verdreifacht<br />
– dafür gab’s nach der grossen immerhin noch<br />
eine Mikro-Welle). Damit setzt sich in der Matte<br />
eine Entwicklung fort, die in der Stadtsoziologie<br />
unter dem Begriff Gentrifi kation bekannt ist: Eine<br />
gut gelegene Wohngegend mit anfangs niedriger<br />
Wohnqualität und tiefen Mietzinsen wird durch<br />
Pioniere entdeckt. Diese haben ein neues Umfeld<br />
geschaffen, welches Investoren nach sich zieht, die<br />
den alten Wohnbestand luxusrenovieren und die<br />
Mieten in die Höhe treiben. Die ursprünglichen, sozial<br />
schlecht gestellten Mieter werden vertrieben.<br />
Im Arbeiterqu<strong>art</strong>ier Matte wurde man noch Anfang<br />
des 20. Jahrhunderts mit einer halb so grossen<br />
Überlebenschance geboren wie in der Oberstadt.<br />
Ab den 1960er Jahren zogen die ersten Künstler,<br />
Studenten und Freiberufl er hierher, die später sozial<br />
aufstiegen. Gut situierte Mieter folgten.<br />
Lebenswelten An diesem warmen Spätsommernachmittag<br />
treffe ich in den Beizen – den einstigen<br />
dunklen Spelunken - noch Mätteler aus der<br />
Zeit vor dem Boom, die ihre günstige Wohnung bis<br />
heute halten konnten. Daher wohnt hier der Spit-<br />
24<br />
zenpolitiker Tür an Tür mit dem Rentenempfänger,<br />
der linke Student teilt sich das Treppenhaus mit<br />
dem bürgerlichen Arbeiter. Hätte ein Qu<strong>art</strong>ier eine<br />
Psyche, wäre die Matte hochgradig schizophren.<br />
Man lebt in unterschiedlichsten Welten, die sich<br />
nur am äussersten Rand berühren und ist selbst<br />
in grundlegendsten Fragen kaum konsensfähig.<br />
Über den Verkehr etwa wird seit mehr als zwanzig<br />
Jahren debattiert. Da sind die Bewohner eines Dorfes,<br />
wo jeder alles über den anderen weiss, unter<br />
ihnen die urbane Bevölkerung, die sich um solches<br />
foutiert. Swiss Miniature. Zur Konstruktion einer<br />
Identität werden je nach Sicht Mattenenglisch oder<br />
die aus Werberfedern stammende Matte-Ratte bemüht,<br />
politisch haben die einen Bewohner das Heu<br />
und die anderen die Kulissen nicht auf derselben<br />
Bühne. Eine durchaus liebevolle Toleranz besteht<br />
aber, ja ist notwendig. Die einen sind im Matteleist<br />
aktiv, andere treffen sich beim Wöschhüsi, wo<br />
schon im Mittelalter getratscht wurde, dritte sitzen<br />
eher beim Motorrad-Club, der seine beringten Finger<br />
nicht nur im lukrativen Mattefest hat. Sag mir,<br />
in welcher Beiz Du sitzt und ich sage Dir, wer Du<br />
bist. Vor dem Fischerstübli wässern zwei Mädchen<br />
ein Papierschiffchen. Es sinkt. Mir drängt sich die<br />
Redewendung mit den Ratten auf...<br />
Kultur und Schaffen Jetzt messen sie sich<br />
beim Sprung über den freigelegten Mattebach<br />
- ein Röschtigraben zwar nicht zwischen zwei<br />
Sprachregionen, aber in etwa zwischen Wohn- und<br />
Ausgangsbereich. Kulturell wird in der Matte mehr<br />
produziert als ausgetragen. Ein Konzertlokal und<br />
ein Reprisenkino wiegen kaum die vielen kreativen<br />
Büezer auf, die kleinen speziellen Läden und die<br />
Ateliers, in denen oft rund um die Uhr an Lebensprojekten<br />
gearbeitet wird. Secondhand-Läden,<br />
Schneiderateliers, Thai-Massage, Kunsthandwerk,<br />
Ghostwriting und Haarkünstler. Immer noch<br />
scheint der Büezergeist in den Bauten zu hausen.<br />
Ein gutes Klima scheinbar auch für die Werbebranche,<br />
die sich ab den 80er Jahren um die Wasserwerkgasse<br />
und später in der alten Stadtmühle<br />
eingemietet hat. Wären diese Räume damals nicht<br />
an eine private Immobilienfi rma verkauft, sondern<br />
direkt vermietet worden, könnten sich auch Kulturschaffende<br />
den Boden leisten. Im P<strong>art</strong>erre stehen<br />
momentan allerdings noch einige Räume leer<br />
– Wen wundert’s?<br />
Down Town oder Lost City? Auf dem Mühleplatz<br />
geniesse ich den Schatten der Kastanienbäume.<br />
Aus diesem Blickwinkel wird mir bewusst,<br />
wie wir Mätteler uns gewohnt sind zur Stadt hochzuschauen.<br />
Aber was ist von der Stadt zu erw<strong>art</strong>en?<br />
Etwa zur Lösung des Verkehrsproblems? Offi ziell<br />
besteht zwar ein Durchfahrtsverbot, durchgesetzt<br />
wird dies aber nicht. Zum Hochwasserschutz? Nach<br />
den Überschwemmungen 1999 diskutierte man<br />
sechs Jahre lang hin und her, bis die Katastrophe<br />
noch überboten wurde, und statt Gegensteuer zur<br />
Verteuertung der Mieten zu geben, verhökert die<br />
Liegenschaftsverwaltung unrentable Objekte und<br />
renoviert andere luxuriös. Vielleicht werden ja die<br />
beiden erstgenannten Fehler korrigiert, wenn die<br />
Mieten so teuer geworden sind, dass bloss noch<br />
die Classe Politique hier zu wohnen vermag. Wo<br />
aber kann man sonst direkt an der Aare wohnen,<br />
mitten im Grünen und trotzdem in der Stadt?<br />
ensuite - kulturmagazin Nr. 45 | september 06