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Die Kunst des Alterns

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elastende Situationen in der Arbeitswelt<br />

Geltung hat. Über das Bewusstwerden<br />

im Cortex erfahren Stressoren<br />

eine individuell mehr oder weniger starke<br />

Wertbeimessung. <strong>Die</strong> so gewichteten<br />

Sinneseinströmungen oder auch<br />

Korrelate selbstgenerierter, den Menschen<br />

bewegender Gedanken laufen –<br />

ähnlich wie bei einer Relaisstation –<br />

über das „Haustelefon“ <strong>des</strong> Menschen,<br />

die Formatio reticularis in Abzweigungen<br />

zu der Affektzentrale, zum limbischen<br />

System, und über das spinalmotorische<br />

System zu den Sinneszellen<br />

in der Muskulatur. Das Hauptgeschehen<br />

spielt sich jedoch im Vegetativum<br />

ab. Das vegetative Nervensystem<br />

versetzt den Organismus stets in<br />

einen auf körperliche Arbeit vorbereiteten<br />

Zustand. Dazu werden neben einer<br />

neuronalen Aktivierung auch in einer<br />

hormonalen Aktivierung von mehreren<br />

Hormondrüsen (z. B. Nebennierenmark<br />

und -rinde) Botenstoffe in die<br />

Blutbahn abgegeben, die eine Palette<br />

verschiedener Mechanismen in Gang<br />

setzen. <strong>Die</strong> daraufhin erfolgende Mobilisierung<br />

bzw. Bereitstellung von<br />

Brennstoffmaterialien und das Anfachen<br />

physiologischer Transportmechanismen,<br />

wie <strong>des</strong> Kreislaufs und der At-<br />

mung, um mit dem Blut die Brennstoffe<br />

sowie den Sauerstoff zu den energieverbrauchenden<br />

Gebieten zu transportieren,<br />

ist für körperliche Arbeit nicht<br />

nur nicht schädlich, sondern sogar<br />

unabdingbar. Wenn aber der Stress<br />

nicht ausgelebt wird, wenn trotz hohem<br />

sensorischen Einstrom die motorischen,<br />

d. h. körperlichen Abreaktionen<br />

fehlen, dann gehen die im Körper getroffenen<br />

Umstellungen ins Leere, dann<br />

kann der Stress krankmachende Folgen<br />

haben. Früher war dafür der Begriff<br />

„Distress“ geläufig. Wenn also nicht<br />

für einen natürlichen Abfluss der angestauten<br />

Körperenergie gesorgt wird,<br />

ist von „Überforderung durch Unterforderung“<br />

zu sprechen. „Di-stress“<br />

entsteht somit vornehmlich durch die<br />

Diskrepanz zwischen dem seit jeher<br />

unveränderten stereotypen Stressmechanismus<br />

und einer Technisierung,<br />

die manchmal völlig neuartige und für<br />

die biologische Bestimmung <strong>des</strong> Menschen<br />

unnatürliche Arbeits- und Lebensbedingungen<br />

geschaffen hat. Problematisch<br />

sind somit Situationen in der<br />

Freizeit, im Alltag und am Arbeitsplatz,<br />

bei denen das vegetative Nervensystem<br />

wie bei Schwerarbeit gleichsam in<br />

einen Alarmzustand versetzt wird, ohne<br />

Bild 7: Nur wer sich schlapp fühlt, hat richtig gearbeitet. Was aber - wenn der Stress ins Leere<br />

geht?<br />

Figure 7: If you’ve worked physically hard, you may be exhausted. But if you’re stressed out, what<br />

happens if you don’t find an outlet?<br />

Illustration 7: Seul celui qui se sent épuisé a vraiment travaillé. Mais que doit-on faire quand le stress ne<br />

mène à rien?<br />

dass auf der anderen Seite der Körper<br />

bei erzwungener Bewegungsarmut<br />

überhaupt in Aktion tritt (vgl. auch Bild<br />

7). Ähnliches gilt eigentlich auch für<br />

die heute allgemein verbreiteten Normen<br />

zwischenmenschlichen Verhaltens,<br />

die es gebieten, bei Ärger und Erregung<br />

sich stets zu beherrschen. Ein Zustand,<br />

bei dem Stress nicht nur erzeugt, sondern<br />

gleichzeitig auch seine Umsetzung<br />

verhindert wird, stellt eine Art biologischer<br />

Frustration dar und kann langfristig<br />

zu Kreislaufschäden, zur Schädigung<br />

<strong>des</strong> Verdauungstraktes (Magengeschwüren),<br />

zur Deponie von<br />

Körperfetten und zu einer Schwächung<br />

<strong>des</strong> Immunsystems mit herabgesetzter<br />

Infektabwehr führen. <strong>Die</strong> Brennstoffe<br />

lagern sich entweder im Körper<br />

unverbrannt ab oder erfordern eine<br />

stärkere Inanspruchnahme von Mechanismen<br />

zu ihrer Neutralisation. Erfolgt<br />

das nicht, dann werden z. B. Fettsäuren<br />

in die Gefäßwände eingebaut und<br />

begünstigen zumin<strong>des</strong>t die Ausbildung<br />

einer Arteriosklerose.<br />

Nach dem „Effort-Reward-Imbalance<br />

Modell“ (vgl. z. B. Siegrist 1996; Siegrist<br />

& Rödel 2006), das über die obige,<br />

vereinfachte Darstellung <strong>des</strong> Stressmechanismus<br />

hinausgeht, ist heutzutage<br />

davon auszugehen, dass ein ungünstiges<br />

Verhältnis von Aufwand<br />

(Effort) und Nutzen (Reward) in der<br />

Arbeit ein erhöhtes Risiko für Herz-<br />

Kreislauf-Erkrankungen darstellt. Maßgeblich<br />

sind letztlich nicht objektive<br />

Gegebenheiten allein, sondern die mit<br />

dem ERI-Fragebogen vorgenommenen<br />

subjektiven Einschätzungen der Ausprägung<br />

von Merkmalen, wie z. B. Zeitdruck,<br />

Verantwortung, Anstrengung<br />

und mangelnde soziale Unterstützung.<br />

Bezüglich Details zu arbeitsbedingtem<br />

psychosozialen Stress und seinen Folgen<br />

sei auf das einschlägige arbeitspsychologische<br />

und arbeitsmedizinische<br />

Schrifttum (u. a. Marmot et al.<br />

2002; Levi 2005; Scheuch at al. 2001;<br />

Brüning et al. 2006) verwiesen. Eine<br />

jüngst vorgelegte Dokumentation von<br />

Boedeker & Klindworth (2007) zu einem<br />

von der Europäischen Union geförderten<br />

Projekt mit dem Titel „Hearts<br />

and Minds at Work in Europe“ liefert<br />

neben einer umfangreichen Literaturübersicht<br />

sowohl epidemiologische<br />

Daten als auch plausible Denkmodelle<br />

für Korrelationen zwischen Herzkreislauferkrankungen(Cardiovascular<br />

Diseases), psycho-mentalen Ge-<br />

140 H. Strasser<br />

(61) 2007/3 Z. ARB. WISS.<br />

Strasser.pmd 140<br />

31.08.2007, 13:19

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