LINDE TECHNOLOGY #1.11 // Medizintechnik12Hightech im OP: Chirurgen passen Hüft- oder Knie-Implantateoptimal in den menschlichen Bewegungsapparat ein. DamitImplantate aus Stahl und Knochengewebe eine stabile Verbindungeingehen, müssen sie sich miteinander verbinden.<strong>Linde</strong>-Experten haben ein Verfahren entwickelt, das schwammartigeMetalloberflächen erzeugt (Foto unten). Die poröseStruktur sorgt dafür, dass sich Zellen optimal anlagern können.nischen Instrumenten im Körper verbessern“, erklärt Forêt. Denn dieBeschaffenheit der Oberfläche spielt eine große Rolle dabei, ob einFremdkörper vom menschlichen Immunsystem akzeptiert oder abgestoßenwird: Auf einem Implantat mit einer rauen Oberfläche könnenzum Beispiel Knochenzellen besser anwachsenals auf einer spiegelglatten Fläche. In den winzigenHohlräumen könnten auch Wirkstoffe eingelagertwerden, die Abstoßungsreaktionen verhindern. Dasist zum Beispiel bei Stents wichtig, die verengteBlutgefäße offen halten sollen. Spritzen, medizinischeInstrumente oder Elektroden von Herzschrittmachernaus dem neuen Material könnten mit Antibiotikabestückt werden, um bakterielle Infektionen zu vermeiden.Ausgangspunkt der Entwicklung war ein Effekt, auf den Wissenschaftlerum Christoph Laumen, Leiter Prozessindustrie Metallurgieund Glas bei <strong>Linde</strong> Gases, und Sören Wiberg von der <strong>Linde</strong>-TochterAGA Gas in Schweden 2006 ganz zufällig stießen: Für Materialtestssetzten die <strong>Linde</strong>-Forscher Edelstahl einer Atmosphäre aus dem EdelgasArgon und Wasserdampf aus – bei Temperaturen von mehr alsheiSSer dampffrisstMikroPorenin Stahlhülle.1.000 Grad Celsius. Das Wasser reagierte mit den LegierungsbestandteilenNickel, Chrom, Molybdän, Kobalt und Silizium. Dadurch bildetensich an der Oberfläche Körner verschiedener Metalloxide. Anschließendsetzten die Forscher den Stahl einer heißen Wasserstoffatmosphäreaus, um die Oxide wieder zu entfernen. Dochzu ihrer Überraschung blieb unter bestimmten Bedingungenein luftiges Metallgerüst mit zahlreichenPoren und Hohlräumen zurück – deren Durchmesserzwischen einem und zwanzig Mikrometern variierte.Die poröse Schicht, ungefähr so dick wie einmenschliches Haar, unterschied sich auch in ihrerchemischen Zusammensetzung vom massiven Ursprungszustand.„Während der Oxidation wandern Elemente wieChrom zur Oberfläche. Das macht die poröse Schicht noch korrosionsbeständiger“,berichtet Forêt.Um die Porenbildung gezielt steuern zu können, beschäftigtensich die Materialexperten in den folgenden Monaten intensiv mit demWerkstoff und den chemischen Prozessen: „Wir haben herausgefunden,wovon die Größe der Poren abhängt und wie wir einheitliche
Medizintechnik // LINDE TECHNOLOGY #1.1113Porengrößen erzeugen können“, sagt Projektleiter Forêt. WelcheOxide sich bilden und wie groß die neugebildeten Metallkörnchenwerden, hängt von zahlreichen Größen ab: von der Temperatur, derBeschaffenheit des Stahls, welche Gase verwendet werden und wielange Oxidation und Reduktion dauern. Die Dauer der Reduktion istbesonders entscheidend, denn: „Reduzieren wir zu lange, zerfällt dasGerüst. Reduzieren wir zu wenig, verschwindet das Oxid nicht vollständig“,so Forêt. Doch auch dieser Effekt lässt sich unter Umständengezielt nutzen – etwa um die chemische Zusammensetzung einerOberfläche nach Wunsch zu verändern. Ein weiterer Vorteil des neuenVerfahrens: Auch große Materialmengen oder einzelne fertige Werkstückelassen sich sehr schnell behandeln.Kurzinterview„Eine der erfolgreichstenOperationen“<strong>Linde</strong> Technology sprach mitProf. Dr. med. Fritz-Uwe Niethard,Arzt für Orthopädie und Unfallchirurgie.Er ist ärztlicher Leiterdes Ambulanten Reha-ZentrumsSchwertbad in Aachen.Metallschwamm für Autos und PhotovoltaikDie Anwendungsmöglichkeiten gehen deshalb weit über die Medizintechnikhinaus: Auch in Sonnenkollektoren könnten poröseEdelstahloberflächen sinnvoll genutzt werden, glauben die <strong>Linde</strong>-Experten. Für industrielle Prozesse ist zudem die erhöhte Wärmetauschkapazitätder haarfeinen porösen Schicht interessant: Weil dieOberfläche sich durch die Hitzebehandlung um den Faktor 20 bis 100vergrößert, kann ein Bauteil Wärme viel schneller ableiten. „Im Laborhaben wir gemessen, dass sich die Wärmetauschkapazität um 40 Prozenterhöht“, so Forêt. Derzeit testen er und seine Kollegen ihrePrototypen zusammen mit einer Partnerfirma in so genannten Abgasrückführungs-Kühlern– kurz AGR-Kühlern. Diese Bauteile, die millionenfachin Autos eingebaut werden, tragen dazu bei, die Schadstoffemissionender Fahrzeuge zu reduzieren. Der AGR-Kühler senkt dieTemperatur der Abgase nach der Verbrennung, bevor sie noch einmalin den Motor geleitet werden. Das senkt vor allem die Stick oxid-Emissionen. „Wenn wir die Effizienz dieser Bauteile steigern können,kann der Hersteller die Größe reduzieren und Material sparen. DerGewinner ist die Umwelt“, sagt Forêt.Derzeit sind die <strong>Linde</strong>-Experten dabei, die Möglichkeiten desschwammigen Stahls als Biomaterial weiter auszuloten. Dazu konntensie bereits einen führenden Implantat-Hersteller als Partner gewinnen.In den nächsten Monaten wollen Forêt und seine Kollegentesten, wie gut sich Knochenzellen tatsächlich mit dem porösen Edelstahlverbinden. Forêt: „Bei Experten hat die Idee bereits viel Anklanggefunden.“ Kein Wunder: Poröse Oberflächen lassen sich zwar auchdurch andere Herstellungsverfahren mit Lasern oder Ionenstrahlenerzeugen. Aber diese Produktionswege sind erheblich teurer als dievergleichsweise günstige Hitzebehandlung.11Die Implantationen von künstlichen Hüft- oderKniegelenken nehmen enorm zu. Woran liegt das?Einerseits an der demografischen Entwicklung: Hüft- undKniegelenksverschleiß und auch Schenkelhalsfrakturen tretenvorwiegend im höheren Lebensalter auf. Andererseitshat sich auch die Indikationsstellung verlagert. Patienten,deren Gelenke früher durch korrigierende Operationen –so genannte Umstellungsosteotomien – entlastet wurden,bekommen nun eher ein künstliches Gelenk. Schließlichspielt auch das Übergewicht vieler Patienten eine großeRolle, vor allem beim Verschleiß am Kniegelenk.Wie wichtig ist die Oberflächenbeschaffenheit fürdie Verträglichkeit des Implantats?Die Oberfläche spielt aus verschiedenen Gründen eine großeRolle: Erstens müssen die Gelenkoberflächen so glatt wiemöglich sein, damit kein Abrieb entsteht. Das ist gewährleistet,wenn Keramik gegen Keramik gleitet, oder auchKeramik oder Metall gegen Kunststoff. Zweitens sollen dieOberflächen, die Kontakt mit dem Knochen haben, eine optimaleVerbindung mit diesem eingehen, so dass die Protheseeinwächst. Dies ist am ehesten bei einer etwas aufgerautenOberfläche möglich. Drittens darf die Oberfläche keine Substanzenfreisetzen, die körperschädlich sind.1Wie lange hält eine Ersatzhüfte heute im optimalenFall?Link:www.nlm.nih.gov/medlineplus/hipreplacement.htmlIn einigen Ländern gibt es Register, mit denen die Haltbarkeitder Prothesen dokumentiert wird. Aus dem so genannten„Schwedenregister“ wissen wir, dass bei den neuestenProthesenkomponenten auch nach 15 Jahren nur zehn Prozentgelockert sind oder getauscht werden mussten. Diemoderne Endoprothetik gehört damit zu den erfolgreichstenOperationsmethoden überhaupt.