Ja zur neuen Linkspartei! - Die Linkspartei - Die Linke
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Eine soziale Neuerfi ndung<br />
Über Seniorengenossenschaften als ein nachhaltiges Lebensmodell und über<br />
Beispiele in <strong>Ja</strong>pan Von Norbert Schneider<br />
Es ist sehr ungewiss, wie die immer<br />
mehr älteren Menschen – bei gleichzeitig<br />
abnehmender Zahl jüngerer<br />
Menschen – gute Lebensbedingungen<br />
im Alter haben können. Der weiter um<br />
sich greifende Egoismus, das Zerbrechen<br />
von sozialen Beziehungen in den<br />
Kommunen und die Anonymisierung<br />
des Gemeinwesens durch die Vergeldlichung<br />
der menschlichen Beziehungen<br />
stellen unsere Gesellschaft vor neue<br />
Herausforderungen.<br />
Vor noch nicht allzu langer Zeit gab<br />
es die Großfamilie, in der solidarisch<br />
generationsübergreifend gelebt wurde.<br />
<strong>Die</strong>ses System existiert praktisch nicht<br />
mehr, die Vereinzelung schreitet voran,<br />
der Individualismus bestimmt den Zeitgeist,<br />
ist aber ein Rückschritt für die Gesellschaft.<br />
Dabei haben solidarische Systeme<br />
im Sozialen schon immer besser funktioniert<br />
als Systeme, die auf Wettbewerb<br />
beruhen. Wie könnte ein System aussehen,<br />
das heute dem Zeitgeist standzuhalten<br />
vermag, das neue soziale Beziehungen<br />
in der Kommune generationsübergreifend<br />
wiederherstellen<br />
kann und damit das soziale Gemeinwesen<br />
praktisch neu erfi ndet?<br />
Seniorengenossenschaften praktizieren<br />
eine ursprüngliche soziale Form<br />
der gegenseitigen Unterstützung, die<br />
zudem die Forderung nach einer aktiven<br />
Bürgergesellschaft mit mehr<br />
Selbstbestimmung und Selbstorganisation<br />
umsetzt. <strong>Die</strong> Basis dafür bilden<br />
langfristige Reziprozität, soziales Vertrauen<br />
und zwischenmenschliche, gabeorientierte<br />
Kooperation innerhalb<br />
des Gemeinwesens.<br />
Man stelle sich vor: In einer Stadt<br />
wie Erfurt wären mehr als 7.000 Einwohner<br />
Mitglied in einer Seniorengenossenschaft.<br />
Sie nutzen ihre Fähigkeiten<br />
für Nachbarschaftshilfe, Jugend-<br />
und Altenarbeit und für die Stadtentwicklung.<br />
Man stelle sich weiterhin<br />
vor: Sie alle würden für ihre Arbeit in<br />
der Seniorengenossenschaft den gleichen<br />
Lohn erhalten; jede Arbeitsstunde<br />
wird mit zwei Punkten verrechnet.<br />
Eine Utopie? Für Erfurt schon. Nicht<br />
jedoch für das hessische <strong>Die</strong>tzenbach<br />
mit 33.000 Einwohnern. Dort haben<br />
sich ca. 1.500 Bewohner in der Seniorenhilfe<br />
<strong>Die</strong>tzenbach (SHD) zusammengeschlossen.<br />
Jung und Alt bringen ihre<br />
330 DISPUT März 2007<br />
Ideen und Fähigkeiten ein, um die Alten<br />
vom Abstellgleis zu führen und den<br />
Jugendlichen den Start ins Leben zu erleichtern.<br />
<strong>Die</strong> Seniorenhilfe übernimmt Einkaufsdienste<br />
und kleinere Reparaturen<br />
sowie Begleitdienste zum Arzt oder zu<br />
Behörden. Der SHD veranstaltet Vorträge<br />
und Spielenachmittage und bietet in<br />
Grundschulklassen Lesehilfen an. Und<br />
weil die <strong>Die</strong>tzenbacher mit der Zeit gehen,<br />
eröffneten sie im <strong>Ja</strong>nuar 2000 ein<br />
Internet-Café.<br />
1994 wurde die Seniorengenossenschaft<br />
gegründet. Sie kommt heute ohne<br />
ständige Zuschüsse aus. Es gab lediglich<br />
eine bescheidene Anschubfinanzierung<br />
durch den Kreis Offenbach<br />
und eine geringe Starthilfe von<br />
der Stadt.<br />
Der rasche Erfolg beruhte auf einem<br />
einfachen Prinzip: <strong>Die</strong> Mitglieder stellen<br />
ihre Fähigkeiten der Gemeinschaft<br />
<strong>zur</strong> Verfügung und erhalten dafür Zeitgutschriften,<br />
die auf einem Konto verbucht<br />
werden. <strong>Die</strong>se Zeitgutschriften,<br />
hier Punkte genannt, können gegen<br />
andere Leistungen eingetauscht werden<br />
oder in späteren <strong>Ja</strong>hren, bei eigener<br />
Pfl egebedürftigkeit, wie eine Zusatzrente<br />
abgerufen werden.<br />
Rund 200 Aktive gibt es in der SHD.<br />
Ein Dutzend von ihnen organisiert beispielsweise<br />
den Bürodienst. In den<br />
vergangenen drei <strong>Ja</strong>hren wurden rund<br />
40.000 Punkte notiert – als Äquivalent<br />
für 20.000 Arbeitsstunden. <strong>Die</strong> SHD hat<br />
auch eine Lösung für die Mitglieder gefunden,<br />
die sich durch Krankheit oder<br />
wegen hohen Alters keine Punkteguthaben<br />
erarbeiten konnten: Wollen sie<br />
Hilfe in Anspruch nehmen, zahlen sie<br />
eine geringe Verwaltungsgebühr.<br />
<strong>Die</strong> Seniorenhilfe ist kein Verein bzw.<br />
Genossenschaft im üblichen Sinne. Sie<br />
hat sich in <strong>Die</strong>tzenbach zu einem zuverlässigen<br />
Partner für die Stadt, die Wohlfahrtsverbände<br />
und Kirchen, für die<br />
Wirtschaftsverbände, Schulen und für<br />
den Ausländerbeirat entwickelt.<br />
<strong>Die</strong> Pfl ege- und sozialen Hilfsdienste<br />
empfi nden die SHD nicht als Konkurrenz,<br />
sondern als Ergänzung. Denn die<br />
Einführung der Pfl egeversicherung hat<br />
die Hilfsdienste in ihren Leistungen eingeschränkt:<br />
Für eine umfassende soziale<br />
Betreuung der alten Menschen, ja<br />
oft auch nur für ein Gespräch, wie sie<br />
die Seniorenhilfe leistet, ist selten Zeit.<br />
Seniorengenossenschaften könnten<br />
auch in Thüringen zu einem wichtigen<br />
Pfeiler der sozialen Stadtentwicklung<br />
werden.<br />
Am weitesten verbreitet sind solche<br />
Systeme derzeit in Fernost. In <strong>Ja</strong>pan vergrößert<br />
sich der Anteil alter Menschen<br />
an der Bevölkerung rasant. Als Reaktion<br />
darauf haben die <strong>Ja</strong>paner eine Art<br />
Pfl egewährung eingeführt. <strong>Die</strong> Pfl egewährung<br />
heißt »Hureai Kippu« (»Pfl ege-<br />
Beziehungs-Ticket«). Bei diesem System<br />
werden die Stunden, die ein Freiwilliger<br />
bei der Pfl ege oder Unterstützung<br />
alter oder behinderter Menschen<br />
verbringt, auf einem Sparkonto geführt.<br />
Der einzige Unterschied besteht darin,<br />
dass die Rechnungseinheit nicht Yen<br />
sind, sondern Stunden. Mit dem Guthaben<br />
des Zeitkontos kann man die<br />
normale Krankenversicherung ergänzen.<br />
Im Folgenden kurz einige Merkmale<br />
des dortigen Systems:<br />
■ ■ Verschiedene Aufgaben werden<br />
verschieden bewertet. So wird für Arbeiten<br />
im Haushalt und fürs Einkaufen<br />
weniger angerechnet als beispielsweise<br />
für Körperpfl ege.<br />
■ ■ Das Guthaben in der Pfl egewährung<br />
können Freiwillige für sich selbst<br />
oder für jemanden innerhalb und außerhalb<br />
der Familie verwenden.<br />
■ ■ Besonders erfreulich: Auch die alten<br />
Menschen bevorzugen diese Form<br />
der Pfl ege, da die Qualität der Leistungen<br />
höher ist als bei den in Yen bezahlten<br />
Pfl egerinnen und Pfl egern.<br />
■ ■ <strong>Die</strong> <strong>Ja</strong>paner berichten zudem über<br />
einen deutlichen Anstieg der freiwilligen<br />
Leistungen, und das auch bei Helfern,<br />
die gar keine eigenen Zeitkonten<br />
eröffnen wollen. Der Grund könnte sein,<br />
dass durch dieses System alle Freiwilligen<br />
das Gefühl haben, ihre Leistungen<br />
würden mehr anerkannt.<br />
Ungefähr 350 Pfl egedienste arbeiten<br />
nach dem Prinzip der Zeitkonten.<br />
Insgesamt betrachtet erweist sich die<br />
japanische Pfl egewährung kostengünstiger<br />
und persönlicher als das im Westen<br />
übliche System.<br />
Norbert Schneider ist ehrenamtlich<br />
Stadtrat in Saalfeld und arbeitet im<br />
Arbeitskreis Lokale Ökonomie<br />
bei der Thüringer Rosa-Luxemburg-<br />
Stiftung mit<br />
SOZIAL