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Wandernde - AT Verlag

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lichen nordamerikanischen Gräser zum Beispiel sind im Frühjahr grün, später imSommer aber werden sie braun und gelb. Die Siedler brachten jedoch Gräserarten fürihr Weidevieh mit, die bis in den Herbst grün bleiben. Überhaupt trugen sie die saftiggrünen Weiden und den von Gänsen und Schafen kurz gehaltenen Rasen der Dorfangerund Allmenden als tief verankertes Bild in ihrer Seele mit in das fremde Land.Und überall, wo sie sich niederließen, umgaben sie ihre Häuser und Farmen mit einerdauerhaft grünen, kurz geschorenen Rasenfläche – eine Reminiszenz der saftigennordwesteuropäischen Weiden und der Dorfanger, auf denen Kinder spielten und anFeiertagen getanzt, gesungen und getrunken wurde. Selbst der Himmel war für dieheidnischen Vorfahren dieser Siedler – wir erfahren es aus der Sage der Frau Holleund anderen Quellen – eine grüne, blühende Wiese, eine gröne wang. Der englischeRasen ist also für die Seele dieser Einwanderer der fliegende Teppich, der sie zurückzu den grünen Ahnengefilden trägt. Deshalb wird er von den weißen Amerikanernnoch immer wie ein Heiligtum behandelt und frisst mehr Kunstdünger, als in der gesamtenDritten Welt für die Nahrungsmittelerzeugung verbraucht wird. Sogar in dentrockenen Wüsten, in Arizona oder New Mexico, werden mit viel Aufwand und künstlicherBewässerung Rasen angelegt. Und auf diesen Rasen wird dann an FeiertagenBall gespielt und Fleisch gegrillt. Ein echter Kultort, im völkerkundlichen Sinne. Dieseelische Wirkung der grünen Rasenflächen konnte ich als Kind auf meine eigeneWeise erleben, als ich mit meinen Eltern von Norddeutschland nach Ohio auswanderte.Damals, in der Zeit vor Düsenflugzeugen, Satellitentelefon, Skype oder Chat imInternet, lag die alte Heimat weit, weit entfernt. Manchmal bekam man Heimweh,und als mich das traurige Gefühl einmal richtig packte, sah ich auf dem kurz geschorenenRasen die Gänseblümchen blühen. Der kleine Neophyt aus Nordeuropa schienmir zu sagen: »Schau, auch du kannst wie ich hier eine Heimat finden.«Mit dem Heimstättengesetz (Homestead Act) von 1862 war es jedem ab dem einundzwanzigstenLebensjahr gestattet, sich auf unbesiedeltem Land niederzulassen undfür die geringe Summe von 200 US-Dollar und das Versprechen, den Boden fünf Jahrelang unter dem Pflug zu halten, hundertsechzig Acres (ungefähr 647 000 Quadrat -meter) sein Eigen zu nennen. Bis 1890 wurden rund 375 000 solche Heimstätten oderFarmen gegründet. Das östliche Waldland war bald vollkommen besiedelt, und nachdem Bürgerkrieg rückten die Planwagen in die schier endlos scheinende Grassteppevor. Nachdem das Militär die Ureinwohner vertrieben oder in Reservate verbannthatte und die riesigen Büffelherden, die den Indianern als Lebensgrundlage dienten,abgeschossen waren, wurde die Prärie in Quadrate vermessen, welche die Neusiedlerumpflügten, um sich nach altem Muster in ihren neuen Heimstätten einzurichten.Den Farmern, die in Europa von einer bewaldeten Umwelt geprägt waren, erschiendie Prärie als eine endlose, öde, leere Wüstenei ohne Bäume und ohne wirklich nützlichePflanzen. Auf Regen war in der Grassteppe kein Verlass. Oft fehlte nach demPflügen das Wasser, die Saat vertrocknete, und der Wind verwehte den trockenen Humusbodenin Form von Staubwolken, die zuweilen den Himmel verdunkelten. Die 86

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