Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
1824 Höhenmeter ohne Zahnrad<br />
Faszination für Landschaft und Technik: Mario Costa ist seit 54 Jahren bei der Rhätischen Bahn. Als<br />
Elektroingenieur, Depot-Chef und Lokführer. Auf der Bernina-Strecke ist er zu Hause.<br />
Mario Costa spricht Italienisch, Deutsch und<br />
Französisch. »Nun will ich noch Englisch<br />
lernen«, sagt der 69-jährige. Damit er sich<br />
mit allen internationalen Gästen unterhalten<br />
kann. Eigentlich ist er längst pensioniert,<br />
trotzdem ist er noch für die Rhätische Bahn<br />
im Einsatz. Wann immer man ihn braucht. Im<br />
Depot in Poschiavo oder als Lokführer auf<br />
der Bernina-Strecke.<br />
»Ohne die Bernina-Bahn wäre mein Leben<br />
anders verlaufen. Ganz anders«, erzählt Mario<br />
Costa aus Poschiavo. Am Anfang war es<br />
eher Zufall, dass er eine Lehre bei der Rhätischen<br />
Bahn begonnen hat. Aber dann war er<br />
fasziniert. Die Berninalinie ist der Teil der<br />
Rhätischen Bahn, die St. Moritz im Engadin<br />
mit Tirano im Veltlin verbindet. Der Puschlaver<br />
ist sicher: »Wer einmal mitgefahren ist,<br />
kommt wieder. Und nimmt dann einen Freund<br />
oder die Familie mit.« Im Jahr <strong>2010</strong> wird die<br />
Bernina-Bahn 100 Jahre alt.<br />
Mario Costa kennt die Strecke in- und auswendig.<br />
Sie zeichnet sich durch extreme<br />
Hochs und Tiefs aus, ist eine der kurvenreichsten<br />
der Welt. Durch 55 Tunnels und<br />
über 196 Brücken bringt die Bernina-Bahn<br />
ihre Gäste von St. Moritz bis zu den Palmen<br />
in Tirano. Mario Costa steuert die Bahn vorbei<br />
an weissen Bergen, vereisten Seen,<br />
Schluchten und Wäldern. Der rote Zug<br />
schmiegt sich an die Landschaft. Manchmal<br />
ist der Platz für das Gleis so schmal, dass<br />
man den Atem anhält. Wenn ihm eine Bahn<br />
entgegen kommt, muss Mario Costa auf dem<br />
Ausweichgleis warten.<br />
Mit 24 Jahren bestand der Bündner seine<br />
Lokführerprüfung. »Das Val Poschiavo wurde<br />
mir dann aber zu eng. Und ich wollte mit<br />
meinen Händen arbeiten«, erzählt Costa. Also<br />
ging er nach Chur, um an der Technikhochschule<br />
Elektrotechnik zu studieren. In Landquart<br />
war er 20 Jahre lang Elektroingenieur<br />
bei der Rhätischen Bahn. »Hier konnte ich<br />
helfen, die technischen Probleme auf dem<br />
ganzen Graubündner Schienennetz zu lösen.<br />
Als ich dann später zurück in mein Heimatdorf<br />
kam, wurde ich Depot-Chef und konnte<br />
dieses Wissen gut gebrauchen.«<br />
Auf dem Bahnhof in Poschiavo fährt ein<br />
grosses Tor nach oben. Das Depot mit seinen<br />
hohen Wänden wird sichtbar. Drei rote,<br />
mächtige Loks stehen nebeneinander. Eine<br />
von ihnen wird heraus gefahren, ein Techniker<br />
im orangefarbenen Overall begutachtet<br />
sie. »1950 wurden alle Triebfahrzeuge erneu-<br />
12<br />
ert«, erklärt Costa. »Man hat die alten Gestelle<br />
genommen von 1905 und 1910 und sie<br />
dann komplett neu aufgebaut. Das heisst, wir<br />
fahren mit ‚neuen alten’ Loks. Es gibt immer<br />
etwas zu tun, damit der Turnus reibungslos<br />
läuft«, erzählt er mit glänzenden Augen. Die<br />
Technik fasziniert ihn. Lokführer war Costa<br />
immer nur nebenbei.<br />
Manche Dinge erlebt man aber nur als Lokführer.<br />
Zum Beispiel, wie die »kleine Rote«<br />
gemächlich die Alpen erklimmt. Die Bernina-Bahn<br />
ist eine der steilsten Adhäsionsbahnen<br />
der Welt. Das heisst ihr Antrieb erfolgt<br />
ohne Zahnrad, nur über die Haftung der<br />
Räder. Wegen der enormen Steigung fährt sie<br />
mit einer durchschnittlichen Geschwindigkeit<br />
von nur 30 km/h. Von Tirano hoch zu den<br />
Gletschern steigt die Bahn meist mit siebzig<br />
Promille den Berg hinauf. »Sie meistert einen<br />
Höhenunterschied von 1824 Metern, und das<br />
ohne Zahnrad, das hat mich schon immer fasziniert«,<br />
schwärmt Costa. Nicht umsonst<br />
wurde die Strecke 2008 in die UNESCO<br />
Welterbeliste aufgenommen. Jedes Jahr reisen<br />
Touristen, Wintersportler und Geniesser<br />
aus aller Welt an, um einmal auf der Berninalinie<br />
mitzufahren. Um den mächtigen Morteratsch-Gletscher<br />
zu bestaunen. Um an der<br />
Alp Grüm schnell auszusteigen, um auf die<br />
Bergseen hinunterzublicken. Und um in Brusio<br />
die bekannte 360°-Kurve zu erleben. Im<br />
Sommer wie im Winter.<br />
Ab dem ersten grossen Schnee wird die Traverse<br />
an der Passhöhe am Bernina-Hospiz<br />
schwierig. Oft liegen hier mehrere Meter<br />
Schnee. »An ungefähr siebzig Tagen im Jahr<br />
müssen wir die Schneeschleudern einsetzen.<br />
Sie fahren vor der Bahn her und machen den<br />
Weg frei«, sagt Costa. Im Winter kann es im<br />
Tal warm sein und die Sonne scheinen. Auf<br />
dem Berninapass aber, in 2253 Metern Höhe,<br />
ist es eisig kalt. Am selben Tag. Mario Costa<br />
nimmt sich dann warme Kleidung auf die<br />
Fahrt mit. Was er bei warmem Wetter macht?<br />
»Dann laufe ich in meiner Mittagspause in<br />
St. Moritz um den See und geniesse die Sonne.<br />
So macht die Arbeit doch Spaß.«<br />
Seit 2007 dürfen neben dem Lokführer ein<br />
Gast und ein Führstandsfahrer mitfahren.<br />
»Bei solchen Fahrten erlebt man einiges. Es<br />
gibt drei Typen von Gästen. Die redseligen,<br />
die stillen und die, die einfach mit dir die<br />
Berglandschaft geniessen wollen. Manche<br />
bohren, andere muss man aus der Reserve locken.<br />
Aber am Ende sind alle glücklich«, erzählt<br />
Costa, der auch oft als Führstandsfahrer<br />
im Einsatz ist. Er bringt dann den Mitfahrern<br />
auf den zweieinhalb Stunden Fahrt die Natur,<br />
Kultur und Geschichte rund um die Bernina-<br />
Bahn näher. »Ein Tourist hat einmal die ganze<br />
Strecke gefilmt« , erinnert sich der Bündner.<br />
»Später hat er mir das Video geschickt,<br />
das hat mich wirklich sehr gefreut.«<br />
Im Jahr 2005 wurde Mario Costa pensioniert<br />
und springt seitdem als Lokführer oder Führstandsfahrer<br />
ein, wenn Not am Mann ist.<br />
Wenn er nicht gerade per Zug die Alpen überquert,<br />
ist Costa im Gemeinderat der CVP in<br />
Poschiavo engagiert. Zur Zeit ist er dort Pressesprecher<br />
der Partei und im Komitee aktiv.<br />
Mit seiner Frau Valentina geht er gerne wandern<br />
und auf Reisen. Gemeinsam pflegen sie<br />
den grossen Garten. »Ich fahre auch oft mit<br />
dem Velo, gehe schwimmen und laufen.<br />
Schon 29 Mal habe ich beim ‚Giro del Lago’<br />
in Poschiavo mitgemacht. Die Jungen laufen<br />
die 12 km natürlich schneller als ich, aber ich<br />
komme an« , sagt Costa und lacht. Er fügt<br />
hinzu: »Meine Frau beschwert sich immer,<br />
dass ich nie zu Hause bin.«<br />
<strong>2010</strong>, im Jubiläumsjahr der Bernina-Bahn,<br />
wird er 70 Jahre alt und muss ganz aufhören.<br />
»Das ist schade. Aber ich habe grosses Glück,<br />
dass ich so lange arbeiten durfte und konnte«,<br />
freut sich der Puschlaver. Und wenn es wieder<br />
ein kompliziertes technisches Problem im<br />
Depot in Poschiavo gibt, kann man nur einen<br />
fragen: Mario Costa.<br />
Text: Alexandra Kohler