Drehen-am-Rad-der-Zeit
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BAUPSYCHOLOGISCHES FEINGEFÜHL<br />
Ein Blick auf die Geschichte des Kin<strong>der</strong>spitals<br />
82<br />
«Der steigende Bedarf an<br />
Spitalplätzen spiegelt den<br />
gesellschaftlichen Wandel.»<br />
Im 18. Jahrhun<strong>der</strong>t zählte etwa ein Fünftel <strong>der</strong><br />
Bevölkerung zu einer mobilen Unterschicht. Sie<br />
verfügten über keine Besitztümer und d<strong>am</strong>it<br />
auch nicht über ein festes Dach über dem Kopf.<br />
Hielten sie sich in <strong>der</strong> Heimatgemeinde auf,<br />
mussten ihnen Verwandte Unterschlupf gewähren,<br />
sonst nächtigten sie bei einem vorübergehenden<br />
Arbeitgeber o<strong>der</strong> unter freiem Himmel.<br />
Dieser Bevölkerungsschicht drohte je<strong>der</strong>zeit<br />
Hunger; sie wurde auch häufig gerichtlich verfolgt,<br />
da aus <strong>der</strong> Sicht <strong>der</strong> Obrigkeit nur über<br />
eine Existenzberechtigung verfügte, wer Land<br />
und ein Haus besass. In <strong>der</strong> zweiten Hälfte des<br />
18. Jahrhun<strong>der</strong>ts besass ein Viertel <strong>der</strong> Haus-<br />
haltungen, die über einen Dorfgerechtigkeitsanteil<br />
verfügten, kein Land. Gar vierzig Prozent<br />
hatten kein Rindvieh. Auch sie litten regelmässig<br />
Hunger, obwohl sie – im Gegensatz zu den<br />
gänzlich Besitzlosen – in ihrem Haus über gewisse<br />
Möglichkeiten verfügten, um Nahrungsmittel<br />
aufzubewahren. Dies bedeutet, dass insges<strong>am</strong>t<br />
mindestens die Hälfte <strong>der</strong> Bevölkerung<br />
so arm war, dass sie nicht über genügend Nahrungsmittel<br />
verfügte. Am an<strong>der</strong>en Ende <strong>der</strong> sozialen<br />
Stufenleiter befanden sich auf dem Land<br />
die Vollerwerbsbauern. Zu ihnen zählte etwa jede<br />
zehnte Haushaltung. Sie besassen oft meh rere<br />
Pferde, die sie zus<strong>am</strong>men mit Ochsen als Zugtiere<br />
einsetzten.<br />
Wurden Armut und Krankheit als weitgehend<br />
selbst verschuldet betrachtet, begann sich<br />
diese Einstellung mit <strong>der</strong> Industrialisierung im<br />
19. Jahrhun<strong>der</strong>t teilweise zu än<strong>der</strong>n. In Ottenbach<br />
eröffnete Pfarrer Hans Jakob Locher 1830<br />
ein Armenhaus. Früher sei die Kirchgemeinde<br />
bezüglich des Armenwesens heftig zerstritten<br />
gewesen, doch nun habe die ganze Gemeinde<br />
mit Frondiensten, Geld- und Naturalspenden zum<br />
Bau des Armenhauses beigetragen, berichtete<br />
<strong>der</strong> Pfarrer <strong>der</strong> «Hülfsgesellschaft», verbunden<br />
mit <strong>der</strong> Bitte um einen Investitionsbeitrag. Die<br />
Hausordnung war so streng, dass niemand freiwillig<br />
eintrat. Als erste zogen ein 80-jähriger<br />
Mann und zwei ledige Frauen mittleren Alters<br />
ein. Es folgte eine Mutter mit drei Kin<strong>der</strong>n, die<br />
diese nach dem Tod ihres Mannes nicht mehr<br />
zu ernähren vermochte. Unverheiratete Frauen<br />
wurden ebenso als Last betrachtet wie Alte,<br />
Kranke, Witwen und Waisen. Pfarrer Locher war<br />
überzeugt, dass die Insassen des Armenhauses<br />
nur so lange diszipliniert blieben, als sie nur<br />
über das Notwendigste an Klei<strong>der</strong>n, Kost und<br />
Bequemlichkeit verfügten: «Die Notwendigkeit,<br />
alle Kräfte anzuspannen, scheint für ihre Moralität<br />
sehr zusagend.»<br />
Die Diakonissen waren zwar moralisch geachtet,<br />
dennoch standen sie als ledige o<strong>der</strong> verwitwete<br />
Frauen, die auf ihr Vermögen verzichtet hatten,<br />
<strong>am</strong> Rand <strong>der</strong> Gesellschaft – gerade richtig,<br />
um Kranke zu pflegen. Dies war <strong>der</strong> Hauptgrund<br />
für den Einsatz von Diakonissen im Spitaldienst,<br />
denn sie verfügten zwar über guten Willen, aber<br />
nicht zwingend über die fachliche Qualifikation<br />
zur Krankenpflege.