01/2017 KiGa-Heft
Fritz + Fränzi
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Kolumne<br />
Was wirklich wichtig<br />
ist, habe ich im<br />
Kindergarten gelernt<br />
Illustration: Petra Dufkova / Die Illustratoren<br />
Mikael Krogerus<br />
ist Autor und Journalist.<br />
Der Finne ist Vater einer Tochter<br />
und eines Sohnes, lebt in Biel und<br />
schreibt regelmässig für das<br />
Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />
und andere Schweizer Medien.<br />
Ich stehe an einem Punkt im Leben, an dem ich Fehler noch immer<br />
dreimal mache, an dem ich aber auch sagen kann, dass ich manches<br />
gelernt habe. Zum Beispiel, dass es klüger ist, zu fragen, als zu<br />
antworten. Oder dass die meisten Dinge vorübergehen – vor allem<br />
jene, von denen man es nicht denkt. Es sind Einsichten, die ich im<br />
Laufe der Jahre, oft schmerzhaft, gewonnen habe. Die wichtigste Einsicht<br />
aber habe ich im Kindergarten erlangt: Es ist gut, anderen zu helfen.<br />
Die Person, die mir das beibrachte, hiess Frau Wolff. Sie pflegte in<br />
unserem Rudolf-Steiner-Kindergarten ein strenges, aber gütiges Regime.<br />
Die meiste Zeit mussten wir Tücher falten, die Puppenecke aufräumen,<br />
den Tisch decken oder Schnüre entknoten. Sobald man mit einer Tätigkeit<br />
fertig war, musste man zu Frau Wolff gehen und fragen: «Wie kann<br />
ich helfen?» Nicht «Was soll ich jetzt machen?» – als wären wir Teilnehmer<br />
einer Beschäftigungstherapie, und auch nicht «Soll ich Ihnen helfen?»<br />
– als wäre sie eine Bedürftige, zu durcheinander, sich selber die<br />
Schuhe zu binden. Nein, die Frage sollte lauten: «Wie kann ich helfen?».<br />
Anderen zu helfen, ist vermutlich ein tiefer menschlicher Instinkt.<br />
Aber wie man hilft, ist mindestens so wichtig wie, dass man hilft. Ich bin<br />
mir nicht ganz sicher, ob Frau Wolff die feinen semantischen Unterschiede<br />
von «Soll ich dir helfen?» und «Wie kann ich dir helfen?» vollends<br />
bewusst waren, aber mir scheint ihre Ansage heute fast prophetisch.<br />
«Soll ich dir helfen?» hat etwas Ungeduldig-Paternales, oft Helfersyndromhaftes<br />
und handelt meist mehr von dir als von der Person, der<br />
geholfen wird. «Wie kann ich helfen?» hingegen zeigt, dass du<br />
an erkennst: Nicht du, sondern das Gegenüber kennt sich in seinem<br />
Leben am besten aus.<br />
Der Satz war für uns damals nicht so wichtig, die Handlung, die er<br />
auslöste, aber veränderte uns. Wir halfen einander und sahen darin keinen<br />
selbstlosen, sondern einen stinknormalen Vorgang, so alltäglich und<br />
unhinterfragbar wie Zähneputzen oder Tellerabtragen. Die wenigsten<br />
Kinder putzen gern die Zähne, aber die wenigsten (es gibt Ausnahmen)<br />
machen daraus eine Riesensache, einfach weil sie früh gelernt haben, dass<br />
es zum Leben gehört. Und das kleine sozialpsychologische Experiment,<br />
das Frau Wolff da betrieb, lautete: Was wäre, wenn Solidarität auch einfach<br />
zum Leben dazugehören würde? Kaum eingeschult, tauschte ich die<br />
Hilfsbereitschaft gegen ein sozial darwinistisches Gebaren, das mich perfekt<br />
auf die neoliberale Wirklichkeit vorbereitete, aber aus mir auch ein<br />
ziemliches Arschloch machte. Und doch wusste ich die ganze Zeit, dass<br />
es auch anders geht, dass dieser kleine Satz noch immer gilt.<br />
Ich weiss nicht, was Frau Wolff heute macht. Ob sie noch lebt, ob ihr<br />
jemand hilft, ob sie sich überhaupt an das kleine Experiment erinnert.<br />
Ich weiss nur, dass ich eine der wichtigsten Lektionen im Kindergarten<br />
gelernt habe. Und ihr dafür gerne danken würde.<br />
Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi Kindergarten<br />
Sommer 2<strong>01</strong>727