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Lebensgeschichten von Opfern des Nationalsozialismus

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100 Erinnerungen Victor Gans<br />

Eines Nachts – es war bereits nach 23 Uhr – wurde die Tür wieder geöffnet, und<br />

ein alter Herr wurde eingelassen. Vornehmes Aussehen, <strong>von</strong> kleiner Statur und sauber<br />

gekleidet, gerade so, als ob er im Begriff gewesen wäre, eine Gartengesellschaft<br />

zu besuchen. Er kam ohne Zahnbürste, Unterwäsche oder Seife. So wie sie ihn in Bad<br />

Ischl gefunden hatten, wurde er mitgenommen, nachdem eine örtliche Prostituierte<br />

ihn beschuldigt hatte, ihr gegenüber unschickliche Avancen gemacht zu haben. Wenn<br />

man sich den alten Mann so ansah, wäre das komisch gewesen, wenn es nicht so traurig<br />

gewesen wäre zu wissen, dass sogar das Wort einer Prostituierten gut genug war,<br />

den alten Mann ins Gefängnis zu werfen, solange er Jude war. Am nächsten Morgen<br />

wurde er in das Amtszimmer gebracht, um sich schuldig zu bekennen. Er weigerte<br />

sich. Ihm wurde so fest in seine Brust getreten, dass er grün und blau war, und angesichts<br />

seines Alters bewunderten wir alle seinen Mut. Er hatte sie aufgefordert, ihn zu<br />

töten oder zu erschießen, aber er würde niemals etwas zugeben, was er nicht getan<br />

hatte. Er war ein wahrhaft tapferer alter Mann. Und so ging das Leben weiter. […]<br />

Endlich, nach drei Wochen, kam ein Mann <strong>von</strong> der Gestapo, um Fried und mich<br />

in das Untersuchungszimmer [im Gestapo-Hauptquartier] zu bringen. Wer kann die<br />

Freude und Erleichterung beschreiben? Alles war vergessen und vergangen. Der Gestapo-Mann<br />

sagte zu uns, dass wir zu Fuß vom Gefängnis dorthin müssten, wovor wir uns<br />

fürchteten, weil wir wie Verbrecher aussahen. Drei Wochen ohne Rasur und verknitterte<br />

Kleidung – wir waren ein peinlicher Anblick. In der Zwischenzeit gesellte sich Victor Spitz<br />

(ein Freund) zu uns, der die letzten drei Monate in einem anderen Gefängnis gesessen<br />

war und so wie wir entlassen werden sollte. Vorsichtig erkundigte ich mich, ob es nicht<br />

möglich wäre, mit dem Auto hingebracht zu werden. Ich war tatsächlich erfolgreich, und<br />

so kamen wir in einem offenen Auto zur Langgasse [Sitz <strong>des</strong> Gestapo-Hauptquartiers in<br />

Linz]. Auf dem Weg sah ich meinen Bruder Gus, der auf seinem Fahrrad fuhr. Er folgte<br />

uns, und als wir aus dem Auto ausstiegen, hatte ich die Möglichkeit, ihm zu sagen, dass<br />

wir entlassen werden würden. Im Vorbeifahren sah ich auch unser Haus und bemerkte,<br />

dass die Geschäftsauslagen neu gestaltet worden waren. Es war ein schöner Sommertag,<br />

und ich war erstaunt, dass das Leben weiterging wie zuvor, nachdem man in der dunklen<br />

Zelle den Eindruck hatte, dass alle Räder zu einem Stillstand gekommen seien. Man<br />

konnte sich nicht vorstellen, dass Frauen nach wie vor ihre Einkäufe machten; dass die<br />

Leute immer noch in Kaffeehäusern saßen und dass das Leben weiterging, als ob nichts<br />

jemals geschehen wäre. Nach einer Ewigkeit würde ich wieder hinter Türen wohnen,<br />

die Griffe hatten, würde rauchen können, wann immer es mir gefiel, und würde gehen<br />

können, wohin immer ich wollte. Es war beinahe unvorstellbar. […]<br />

Victor Gans Erinnerungen 101<br />

Schließlich unterschrieb ich, dass ich die Wahrheit und nichts als die Wahrheit<br />

gesagt hatte, und man sagte mir, dass ich das „Großdeutsche Reich“ innerhalb <strong>von</strong><br />

sechs Wochen verlassen müsse. Ich stimmte <strong>von</strong> Herzen zu und hoffte, dass in der<br />

Zwischenzeit Arier unser Geschäft übernehmen würden. Ich versicherte ihm auch,<br />

dass ich so bald wie möglich weg wolle und dass es die Bürokratie der Behörden<br />

gewesen sei, die mich bis jetzt da<strong>von</strong> abgehalten habe. Er entgegnete, dass es mein<br />

Geschäft sei und dass ich keine Ruhe vor der Gestapo haben würde, und da sei immer<br />

noch Dachau, also wäre das Beste, was ich tun könne, es so schnell wie möglich zu<br />

erledigen. Dann war ich fertig und durfte gehen – ohne Bewachung.<br />

Noch einmal, niemand kann verstehen, wie ich mich in diesem Moment gefühlt<br />

habe. Weder ging ich, noch lief ich – ich flog praktisch die Stiegen hinunter, bis ich<br />

die Straße und Valy erreichte. Mit einem Bart, ohne Kragen und in meinem Aufzug<br />

sah ich schrecklich aus, also holte Rudi ein Taxi. Wir warteten hinter einer Tür und<br />

fuhren dann noch einmal zum Gefängnis zurück, um meine Sachen abzuholen. Zurück<br />

in der Zelle verabschiedete ich mich <strong>von</strong> meinen Zellengenossen, während sie<br />

mir traurig zusahen, wie ich meine Sachen packte, und ich musste jedem versprechen,<br />

ihren Lieben Grüße zu übermitteln. Da ich <strong>von</strong> einem Wärter beobachtet wurde,<br />

konnte ich mir nicht alle ihre Anweisungen merken, aber ich schüttelte jedem der<br />

Männer die Hand, deren Augen mir folgten, als ich sie verließ. Ich ging zurück zum<br />

Taxi, und dann heim. Else Fried, ihr Bub und meine Schwiegereltern bereiteten mir<br />

einen warmen Empfang. Bevor ich ins Badezimmer, das ich sehr vermisst hatte, gehen<br />

konnte, gelang es Rudi noch, ein Bild <strong>von</strong> mir zu machen, weil ich eines als sichtbare<br />

Erinnerung haben wollte, aber leider war irgendetwas mit der Kamera schief gegangen,<br />

und ich bekam das Bild nie. Welch ein Luxus, wieder in einer Badewanne zu<br />

sitzen und sich zu rasieren. Was für ein Gefühl – wie ein hohes Tier –, wieder frische<br />

Kleidung zu tragen. All das – eine gute Tasse Kaffee, Kuchen, Brot und Butter und<br />

eine Zigarette, die man gemächlich im Freien raucht. Das Leben war es wieder wert,<br />

gelebt zu werden. Diejenigen, die das Leben langweilig finden, sollten sich einsperren<br />

lassen, denn nur so wissen sie es zu schätzen, wie wundervoll es ist, frei zu sein. […]<br />

[Der 7. November 1938] war der Tag, an dem wir in der Zeitung lasen, dass ein<br />

junger Jude namens Grünspan [Herschel Grynszpan] einen Deutschen [Botschaftssekretär<br />

Ernst vom Rath] in Paris erschossen hatte, und selbstverständlich machten<br />

wir uns darüber Sorgen, welches Elend und welche weiteren Repressalien dies über<br />

uns Juden bringen würde. Am nächsten Morgen – es war gerade gegen acht Uhr –, als

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