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Lebensgeschichten von Opfern des Nationalsozialismus

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62 Erinnerungen Peter S.<br />

war <strong>des</strong>sen Standbild vor dem Rathaus aufgestellt worden. Als Peterlein vorüberging,<br />

rief er laut: „Tante, wird der Mann hinunterpurzeln?“ Ein Arbeiter, der in der Nähe mit<br />

der Ausschmückung beschäftigt war, murmelte halblaut: „Na, ’s kann scho no a Weil<br />

dauern.“ Worauf Tante Lisl mit Bubi eiligst das Weite suchte.<br />

20. Mai 1940<br />

Und wieder der Krieg. Hoffnungslos sieht es jetzt aus. Das Furchtbarste, wie bisher geglaubt,<br />

wird Wirklichkeit werden. Deutschland wird siegen, wenn nicht in letzter Stunde<br />

ein Wunder geschieht. Binnen fünf Tagen Holland „niedergekämpft“, die stärksten<br />

Festungen Belgiens überrannt, Siege, die nur durch brutalstes, rücksichtsloses Vorgehen<br />

und durch neue, geheimnisvolle „Kampfmittel“ erzwungen wurden. Fürchterliche<br />

Menschenopfer kostet dieses Ringen, grauenhafte Verwüstung bringt der Krieg in bisher<br />

friedliche Länder. Und die übrige Welt scheint erstarrt zu sein vor Schrecken. Nichts<br />

rührt sich, um Europa zu retten. Schrankenloseste Gewalt wird herrschen, bis in zehn,<br />

zwölf Jahren ein neuer Krieg ausbricht. Wann werden die Menschen endlich klüger<br />

geworden sein und dieser wahnsinnigen gegenseitigen Vernichtung ein Ende setzen?<br />

Werden wir, wird unser Kind noch eine solche Zeit erleben? Wieder stehen wir vor der<br />

Notwendigkeit, auswandern zu müssen, sobald dies nur möglich ist. Eine grenzenlose<br />

Niedergeschlagenheit, die fast an Verzweiflung grenzt, hat sich meiner bemächtigt. Nur<br />

unser Bubi ist unser Trost.<br />

22. Mai 1940<br />

Gestern ist Tante Lisl mit einer freudigen Nachricht gekommen. Sie hat eine Karte aus<br />

Lemberg erhalten, <strong>von</strong> einer Bekannten Onkel Pauls geschrieben. Die unter anderen<br />

Mitteilungen auch seine Adresse enthielt. Endlich! Nach zehn Monaten wissen wir jetzt<br />

wenigstens, wo er sich befindet. Tante Lisl ist selig, sie hat gleich mehrere Briefe und<br />

Karten geschrieben. Hoffentlich erreichen sie ihn! Was wird er uns alles zu erzählen haben,<br />

welche unvorstellbaren Abenteuer mag er erlebt haben, er und die vielen anderen,<br />

die durch die Ereignisse unbarmherzig mitgerissen wurden.<br />

11. Juni 1940<br />

Ein schwarzer Tag! Das seit langem Befürchtete, der Eintritt Italiens in den Krieg,<br />

ist gestern geschehen. Endlich hat der Mann, der sich „Duce“ nennt, die Zeit für<br />

gekommen erachtet, um mit Leichtigkeit zu erraffen, was nur möglich ist, um<br />

gemeinsam mit Deutschland glänzend zu siegen. Und dafür müssen nun wieder<br />

unzählig viele Menschen elend zugrunde gehen. Aber alle sind begeistert, auch<br />

Peter S. Erinnerungen 63<br />

die Leute hier in der Pension [während eines Urlaubsaufenthaltes] sind entzückt,<br />

und ich beginne langsam aufzufallen, weil ich nicht an der allgemeinen Freude<br />

teilnehme. Der Radioapparat brüllt unaufhörlich, <strong>von</strong> zeitig in der Früh bis spät<br />

abends. Immer wieder kommen Siegesnachrichten, nur unterbrochen <strong>von</strong> geradezu<br />

sadistischen Schilderungen der verzweifelten Lage in Paris. Wie kommt es<br />

nur, dass es so erschreckend viele Menschen gibt, sonst ganz gutmütig und vernünftig,<br />

die wohl meinen, dass der Krieg zwar schrecklich sei, aber Kriege müssten<br />

eben sein. Es würde immer Streitfälle geben, die nur mit den Waffen ausgetragen<br />

werden könnten. Ach, warum denn nur? Warum sollte es klugen, wirklich<br />

um das Wohl ihrer Völker besorgten Menschen, wie es Staatsmänner doch sein<br />

sollten, nicht gelingen, auf friedlichem Wege zu einem guten Ende zu kommen?<br />

Es wäre leicht möglich bei Staatslenkern, aber leider nicht bei Machthabern, die<br />

Jahre hindurch ihr eigenes Volk mit brutaler Gewalt unterdrückt haben und sich<br />

nun anschicken, auch fremde Völker zu unterjochen und deren einziges Argument<br />

furchtbarste Waffen sind. Also doch immer wieder Krieg?<br />

26. Juni 1940<br />

[...] Die Pensionsinhaber benachteiligen uns bei der ohnehin nicht sehr reichlichen<br />

Verpflegung. Es konnte ihnen eben nicht verborgen bleiben, dass wir nicht<br />

derselben politischen Meinung sind wie sie. Sogar auf Peter haben sie es abgesehen.<br />

Der Gatte der Wirtin, ein alter Mann, der sonst zu nichts mehr fähig ist,<br />

hat es sich scheinbar in den Kopf gesetzt, unserem Bubi den „deutschen Gruß“<br />

beizubringen. Und Peterlein, als ob er ihn necken wollte, läuft, sooft er den Alten<br />

sieht, auf ihn zu und fragt: „Kann eine Katze fliegen?“ Der Alte: „Komm einmal<br />

her, heb die Hand und sag Heil Hitler.“ [...]<br />

23. August 1940<br />

Noch immer keine Nachricht <strong>von</strong> Onkel Paul. Ich habe eine solche Angst und<br />

Unruhe in mir, ich kann schon fast an nichts anderes mehr denken. Sonderbar, als<br />

er damals weggefahren war und wochenlang nichts <strong>von</strong> sich hören ließ, war ich<br />

ganz ruhig und sagte mir und den anderen, dass es eben unter den gegebenen Verhältnissen<br />

nicht anders ginge. Warum nur kann ich jetzt nicht auch so unbesorgt<br />

sein? Und dann das andere! Es scheint jetzt schon fast sicher, dass Deutschland<br />

den Krieg gewinnt. Mit unsagbarem Entsetzen sehe ich diesem Ende entgegen.<br />

Nicht nur uns persönlich wegen, sondern wegen <strong>des</strong> neuen Krieges, der dann in<br />

einigen Jahren unausweichlich sein wird.

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