Lebensgeschichten von Opfern des Nationalsozialismus
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104 Erinnerungen Victor Gans<br />
und wurde sofort angebrüllt. „Stillgestanden, du Schwein, oder ich werde dir zeigen,<br />
wie das geht.“ Die SS-Männer spazierten um uns herum, blieben stehen und warteten<br />
anscheinend darauf, dass jemand eine Bewegung machte. Wir mussten dastehen,<br />
müde <strong>von</strong> der langen Fahrt, kaum etwas gegessen, und unsere Augen geradeaus,<br />
ohne zu blinzeln, während unsere Nerven zum Zerreißen gespannt waren. Dachau<br />
liegt ziemlich hoch, und um diese Jahreszeit war es relativ kalt. Meine Finger waren<br />
steif, hielten die Tasche, und ich betete, keine Bewegung zu machen. Die Männer aus<br />
Wien uns gegenüber waren ein bedauernswerter Anblick – zerschlissenes Gewand<br />
und ziemlich schmutzig. Was sie auf der langen Fahrt durchmachen mussten … aber<br />
mehr da<strong>von</strong> später. Die beiden SS-Männer gingen, und zwei andere übernahmen.<br />
Dieselbe Prozedur wie zuvor – alle SS-Männer waren sehr jung; sehr ausfällig und<br />
brutal. […]<br />
Nach sechs Stunden kam der Befehl: „Marsch.“ Wenn man nicht selbst eine solche<br />
Erfahrung gemacht hat, kann man niemals die Erleichterung verstehen, die Füße<br />
wieder zu bewegen. In der Baracke wurden wir <strong>von</strong> Friseuren inspiziert – eine schnelle<br />
Rasur für diejenigen, die eine benötigten. Die Geschwindigkeit erinnerte mich an<br />
die Geschichte mit dem Friseur, der unterwegs einen Hasen auf der Flucht rasiert. Im<br />
nächsten Raum waren zwei oder drei Häftlinge. Einer druckte meinen Namen auf ein<br />
Schildchen und gab es mir. Als er es mir in die Hand drückte, flüsterte er: „Halt die<br />
Ohren steif – verlier nicht die Nerven.“ […]<br />
Es ging in einen weiteren Raum, wo die SS mit Stöcken in ihren Händen die<br />
Aufsicht führte. Lange Tische, mit Häftlingen und SS besetzt. Wieder mussten wir<br />
alles leeren, und alles wurde uns abgenommen; Listen mit den Gegenständen der<br />
restlichen Habseligkeiten je<strong>des</strong> Einzelnen wurden angelegt – alles sehr rasch. Ich<br />
durfte 50 Reichsmark behalten; dann weiter in den nächsten Raum. Ein Häftling<br />
überreichte mir ein schweres Paar Schuhe, und ein weiterer rasierte mir den Kopf<br />
und den Schnurrbart. Gus stand mir gegenüber, und ich werde mich immer an diesen<br />
Augenblick erinnern – zu tief in unsere Herzen und Köpfe eingeprägt, um ihn jemals<br />
zu vergessen. Nun hatten wir uns in echte Verbrecher verwandelt. Es war nicht der<br />
Verlust der Haare, aber der Verlust <strong>des</strong> letzten Restes an menschlicher Würde. Uns<br />
gegenseitig anzusehen war ein weiteres Erlebnis, und für diese Jahreszeit war es bestimmt<br />
nicht die idealste Frisur. Aber ich erinnere mich, was Ben Akiba [Rabbi Akiba,<br />
jüdischer Gelehrter, ca. 50 bis 136 n. Chr.] einst sagte – es gibt nichts Neues unter der<br />
Sonne [Zitat ursprünglich <strong>von</strong> König Salomon]. Unter den Römern war es nur den-<br />
Victor Gans Erinnerungen 105<br />
jenigen mit einer hohen Stellung gestattet, ihr Haar kurz zu tragen. Vielleicht werden<br />
auch wir eines Tages Anerkennung dafür erhalten, dass wir unser Haar so kurz getragen<br />
haben. Glatzköpfig und barfuß (wir hatten zuvor unsere Mäntel, Schuhe und<br />
Kopfbedeckungen abnehmen müssen), mit den neu ausgegebenen Arbeitsschuhen<br />
in unseren Händen, betraten wir das Bad. Beim Hineingehen erhielt ich ein Paar<br />
Socken. Ausziehen – eine warme Dusche, und dann beendete ein SS-Mann das „Vergnügen“,<br />
indem er uns mit eiskaltem Wasser abspritzte. Ein weiterer SS-Mann beobachtete<br />
diejenigen, die blinzelten oder irgendein Anzeichen <strong>von</strong> Angst zeigten. Die<br />
wurden geschlagen. Außerdem mussten sie ihren Mund öffnen, und der Schlauch –<br />
mit seinem ganzen Druck – wurde in den Mund <strong>des</strong> armen Kerls gesteckt, der beinahe<br />
erstickte – aber wen kümmerte es? Wieder war es der arme Herr Verständig, dem<br />
es am schlimmsten erging. Wir drei Brüder und Louis schnitten nicht allzu schlecht<br />
ab. Wir waren äußerst achtsam und rochen die Gefahr bereits im Voraus. Wir gaben<br />
auch unter der Dusche unser Bestes, und ich tat so, als ob ich üblicherweise jeden 15.<br />
November eine Dusche bei offenem Fenster und Zugluft und obendrein noch mit<br />
eiskaltem Wasser nehmen würde. So verdarb ich ihnen den Spaß und beschleunigte<br />
die ganze Prozedur. […]<br />
In die Räume, die für 50 Personen vorgesehen waren, wurden 200 hineingepfercht.<br />
Im gesamten Block waren es 800 Häftlinge statt 200. Es gab keine Betten.<br />
An den Wänden standen einige Holzpritschen mit Stoh oben drauf. Das war unsere<br />
Schlafstätte. Aber sie zu benutzen fühlte sich himmlisch an. Seit drei Uhr morgens<br />
auf unseren Beinen, die Fahrt im Polizeiwagen, gefolgt <strong>von</strong> sechs Stunden Appell<br />
stehen, danach diese äußerst nervenaufreibenden Geschehnisse, die ständige Angst<br />
vor der SS und davor, etwas Falsches zu machen. Wir wollten einfach umfallen und<br />
augenblicklich einschlafen, aber unsere Nerven ließen uns nicht. Jetzt waren wir in<br />
Dachau. […]<br />
Ich rufe die zivilisierte Welt als Zeugen auf, um zu fragen, wie es möglich war,<br />
im 20. Jahrhundert so viele unschuldige Menschen in ein derart ausgeklügeltes, modernes<br />
Schlachthaus zu stecken. Wie konnte der Rest der Welt schweigen und allen<br />
Kommunikationsmöglichkeiten zum Trotz gegen diese blutrünstigen Tyrannen nicht<br />
aufschreien? Warum gestatteten sie es, offizielle Repräsentanten dieser Verbrecher in<br />
ihrer Mitte als Diplomaten zu dulden und sogar willkommen zu heißen? Statt<strong>des</strong>sen<br />
hätten sie sie als die behandeln sollen, die sie in Wirklichkeit waren – Mörder und<br />
Verbrecher. Wie konnte der Rest der Welt zusehen, als Horden blutrünstiger junger