Lebensgeschichten von Opfern des Nationalsozialismus
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204 Erinnerungen Anna Maierhofer<br />
Das Lied vom<br />
Spiegelgrund<br />
Anna Maierhofer, Österreich, geboren 1927<br />
Anna Maierhofer wurde am 22. März 1927 in Wien geboren. Ihre Mutter bekannte sich<br />
zu den ZeugInnen Jehovas und erzog ihre Tochter nach deren religiösen Grundsätzen.<br />
Frau Maierhofer wurde aufgrund eines religiösen Aufsatzes und der Verweigerung <strong>des</strong><br />
Hitlergrußes im Dezember 1940 <strong>von</strong> der Schule verwiesen. Um sie dem Einfluss der<br />
Mutter zu entziehen, wurde sie <strong>von</strong> der Gestapo in Haft genommen und der Kinderübernahmestelle<br />
in der Lustkandlgasse in Wien übergeben. Diese diente bereits vor 1938<br />
als Aufnahme- und Verteilungsstelle für Kinder und Jugendliche, die in öffentliche Fürsorge<br />
genommen wurden. Während der NS-Zeit war die Kinderübernahmestelle für die<br />
Überstellung zahlreicher Kinder an Tötungsanstalten wie „Am Spiegelgrund“ auf dem<br />
Gelände der Heil- und Pflegeanstalt „Am Steinhof“ verantwortlich, wo Frau Maierhofer<br />
schließlich auch hinkam. Anna Maierhofer ist im August 2009 in Wien verstorben.<br />
Anna Maierhofer Erinnerungen 205<br />
Am Spiegelgrund wurde ihr <strong>von</strong> Heimleiter Hans Krenek in so genannten<br />
Beugeverhören gedroht:<br />
„Wenn du deinem Glauben nicht abschwörst, wirst du deine Mutter nie wieder sehen.“<br />
„Wenn du nicht Heil-Hitler grüßt, wirst du deine Eltern nie wieder sehen!“<br />
Frau Maierhofer hat folgen<strong>des</strong> Lied, das <strong>von</strong> den Kindern am Spiegelgrund gesungen<br />
wurde und die dortigen Zustände beschreibt, niedergeschrieben:<br />
Die Fenster vergittert mit Eisen,<br />
die Türen versperrt mit dem Schloss,<br />
Steinhof ist unser Genoss.<br />
Und woll’n uns die Eltern besuchen,<br />
man empfängt sie mit Schimpfen und Fluchen,<br />
besuchen darf ja nicht sein.<br />
Ist unsere Strafe zu Ende,<br />
man reicht uns zum Abschied mit Schimpfen und Fluchen die Hände.<br />
Betretet mir nicht mehr das Haus!<br />
„Was suchst du mein Mädel in stockfinsterer Nacht?“<br />
„Ich suche meinen Vater und meine Mutter, die ich so früh verloren hab.<br />
Mein Vater ist gestorben an Kränkung, meine Mutter an Not,<br />
am Simmeringer Friedhof liegen sie beide tot.“<br />
Frau Maierhofers Vater, der am Tag der Verhaftung seiner Frau und Tochter im<br />
Krankenhaus Lainz wegen eines Gefäßleidens in Behandlung war, wurde dort<br />
am selben Tag durch eine Injektion, die eine künstliche Lungenentzündung hervorruft,<br />
ermordet. Als offizielle To<strong>des</strong>nachricht wurde „Herzschlag auf Grund der<br />
Aufregung“ angegeben.<br />
Annas Cousine Regina Markisch, die wegen einer Behinderung nicht sprechen<br />
konnte, war zur gleichen Zeit am Spiegelgrund. Sie wurde ebenfalls durch<br />
eine Injektion ermordet.