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Lebensgeschichten von Opfern des Nationalsozialismus

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24 Erinnerungen Lizzi Jalkio<br />

es nichts anderes zu sehen, was es nicht auch in all den anderen kleinen Häusern zu<br />

sehen gibt.<br />

Um ins Wohnzimmer zu gelangen, muss man durch die Küche gehen, dann<br />

kommt man zum Kinderzimmer, dem „Stall“, unangefochtenes Eigentum der<br />

Kinder. Je<strong>des</strong> hat seinen eigenen Platz, um seine Schätze zu verstecken. Die Möbel<br />

sind übel mitgenommen. Hier spielen sie, machen ihre Hausaufgaben, hier<br />

unterhalten die Kinder ihre Freunde. Sogar meine Nähmaschine hat hier einen<br />

kleinen Platz. Die Kinder ziehen es vor, den Großteil ihrer Zeit da zu verbringen,<br />

wo ich bin, <strong>des</strong>halb bin ich in das Kinderzimmer gezogen. Ich gehöre dazu, bin<br />

Spielgefährtin, höchste Instanz bei Meinungsverschiedenheiten und werde trotzdem<br />

respektiert. Die Kinder gehorchen, sie kommen, wenn ich sie rufe, meine<br />

Regeln sind unumstößlich, und meinen Befehlen wird Folge geleistet. Manchmal<br />

wird es ziemlich laut, aber der Lärm stört mich nicht. Hier schreibe ich meine<br />

Briefe, lese Bücher, immer noch so aufmerksam wie damals, als ich noch ein Kind<br />

war. Manchmal vergesse ich, mich um das Essen zu kümmern, aber dann essen<br />

wir einfach ein wenig später, es ist nicht so wichtig. Seit Henry in den Kindergarten<br />

geht – die anderen sind schon lange in der Schule –, bin ich einsam – es ist<br />

zu ruhig im Haus. Ich habe nichts zu tun, und ich werde eine Angestellte meines<br />

Mannes, jetzt, da er mich in der Fabrik, deren Direktor er ist, gebrauchen kann.<br />

Die Fabrik ist in den letzten Jahren sehr gewachsen, und obwohl die Arbeitslosigkeit<br />

in unserer kleinen Grenzstadt sehr hoch ist, fehlt es sehr an brauchbaren<br />

Arbeitskräften.<br />

Wenn ich abends nach Hause komme, gibt es viel zu erzählen. Jeden Tag erleben<br />

die Kinder so viele Abenteuer, und sie müssen ganz genau wissen, wie mein Büro<br />

aussieht und was die Arbeiter gesagt und getan haben. Das neueste Spiel heißt „Fabrik“,<br />

und sie wollen alle Tischler und Holzdreher sein.<br />

Ich glaube, die Arbeiter mögen mich. In meiner Abteilung sind hauptsächlich<br />

Frauen. Sie haben alle ihre kleinen Sorgen und Probleme, die sie mit mir besprechen.<br />

Eine hat ein krankes Kind zuhause, der Mann der anderen trinkt, und wo ein<br />

Ratschlag oder ein gutes Wort nicht helfen, hilft mit Sicherheit eine kleine Aufmerksamkeit.<br />

Am Saisonende findet ein Fest statt. Es wird getanzt und gesungen,<br />

getrunken und gegessen, und alles auf meine Kosten, aber wir haben eine wunderbare<br />

Zeit.<br />

Lizzi Jalkio Erinnerungen 25<br />

Manchmal wird es sehr spät, wenn ich nach Hause komme. Da kann ich dann<br />

nicht kontrollieren, ob alle Zähne gut geputzt und alle Ohren gewaschen sind, aber<br />

mein erster Weg führt mich immer zu den Kindern. Sie sind im Bett, und es gibt<br />

einen großen Aufstand, sobald ich das Licht auszumachen versuche. Danach gibt es<br />

noch eine Menge aufgeregter Unterhaltung im Kinderzimmer, die Lichter gehen<br />

einige Male an und aus, die Kinder lesen im Bett noch ein wenig, was eigentlich<br />

nicht erlaubt ist, <strong>des</strong>halb weiß ich da<strong>von</strong> nichts; endlich, um acht oder halb neun,<br />

wird alles still. Wenn ich in der Nacht munter werde, höre ich die Kinder atmen<br />

und bin sehr glücklich.<br />

Die Fenster unseres Badezimmers, <strong>des</strong> größten und luxuriösesten Zimmers unseres<br />

Hauses, blicken auf den Obst- und Gemüsegarten, und ein Fenster wird viel<br />

verwendet. Durch die Tür zu gehen ist viel zu weit, und ich muss zu meiner Schande<br />

gestehen, dass auch ich lieber durch das Fenster klettere. Dann kommt das Esszimmer.<br />

Danach folgt der blaue Salon. Er ist hellblau gestrichen und eigentlich ein<br />

Gästezimmer und für gewöhnlich belegt. Freunde, die den Zug verpassen, schlafen<br />

hier, sie kommen für einen Tag und bleiben eine Woche, man kann sich hier ausruhen.<br />

Es ist sehr nett bei uns.<br />

15 Jahre lang war der Garten ein Stück Boden, heute habe ich viele kleine Bäume,<br />

und je<strong>des</strong> Jahr kommt ein weiterer dazu. Wir haben Hühner und Tauben, Katzen<br />

und Hunde. Fast alles hat sich verändert, nur das Gartentor ist gleich geblieben.<br />

Es kann nicht verschlossen werden, es hängt immer schief. Je<strong>des</strong> Jahr lasse ich es<br />

reparieren, aber es hilft nichts, und gerade <strong>des</strong>wegen liebe ich es am meisten.<br />

Vor dem Haus ist eine Wiese, und morgens, wenn die Sonne scheint, öffnen<br />

tausend gelbe Blumen ihre Augen. Ein Stück weiter liegt ein alter Friedhof. Man<br />

kann die Gräber kaum noch erkennen. Er stimmt einen gar nicht traurig, wenn das<br />

Wetter gut ist, spielen dort die Kinder. Da gibt es die schönsten Blumen, und kleine<br />

Bäume lernen zu wachsen, und fünf Minuten da<strong>von</strong> entfernt liegt der Wald, ebenso<br />

schön bei Schnee und Regen und Sonnenschein wie auch geheimnisvoll.<br />

Am Wiesenweg haben meine Kinder laufen gelernt und sich die Knie blutig<br />

geschlagen. Am ersten kleinen Hügel, <strong>von</strong> dem aus unser Haus zu sehen ist, blieb<br />

Lizzi am Heimweg stehen und sagte: „Ich bin so froh, hier zu leben, ich habe so<br />

gute Eltern hier.“ Je<strong>des</strong> Jahr versteckten wir Ostereier unter einem Baum, und die

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