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Lebensgeschichten von Opfern des Nationalsozialismus

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28 Erinnerungen Lizzi Jalkio Lizzi Jalkio Erinnerungen 29<br />

wurde das Haus durchsucht und alles <strong>von</strong> irgendeinem Wert konfisziert. Der kleine<br />

Geldschrank, das Sparbuch meines Ältesten, mein Schmuck, unsere wichtigen Papiere,<br />

Versicherungspolizzen und alles Geld, das ich zuhause hatte. Sie rissen die Betten<br />

auseinander, durchwühlten Bettwäsche und Kleider, und jeder versuchte, sich stärker<br />

und besser unterrichtet als der andere zu geben. Beide nahmen mich später zur Seite,<br />

und keiner wusste, dass der andere sich bei mir entschuldigt hatte. Sie müssten das<br />

tun. Es seien Befehle. Mein Mann müsse sich täglich beim Polizeiposten melden, und<br />

dann sind wir wieder allein. Die Kinder wollen wissen, warum sie uns alles gestohlen<br />

haben. Lizzi weint um ihre Goldkette, und Henry will seinen Safe zurück. Es waren,<br />

glaube ich, zwei Schillinge darin. Das Dienstmädchen fragt, wie sie denn nun bezahlt<br />

werden solle? Das Haus sieht aus, als ob Einbrecher da gewesen wären, und wir sind<br />

alle wie gelähmt.<br />

Danach räumen wir das Haus auf, bringen die Kinder ins Bett und diskutieren,<br />

was als Nächstes kommen würde. Es ist nicht mehr möglich, über die Grenze zu<br />

gelangen. Wir können einige Zeit mit unseren Mitteln auskommen. Vielleicht lassen<br />

sie uns Milch und Fleisch in Rechnung stellen, bis mein Mann wieder sein Geld<br />

<strong>von</strong> der Fabrik bekommt. Natürlich müssen wir so eisern sparen, wie wir können.<br />

Wir müssen das Mädchen entlassen, nachdem ein arisches Mädchen ohnehin nicht<br />

für Juden arbeiten darf. Das Mädchen verabschiedet sich unter Tränen. Sie sagt,<br />

dass sie nie so ein gutes Leben wie mit uns gehabt habe. Um sie bezahlen zu können,<br />

gebe ich ihr Bettwäsche und Kleidung. Sie wird bald heiraten und kann es gut<br />

gebrauchen. Einige Tage später ist sie zurück, mit Polizei. Ich könne sie nur dann<br />

entlassen, wenn die Partei es erlaube.<br />

Mittlerweile ist der Erste <strong>des</strong> Monats, und mein Mann wollte sein Gehalt abholen.<br />

Sein Geschäftsführer, der 14 Jahre lang für ihn gearbeitet hat, jetzt kommissarischer<br />

Verwalter, gibt ihm 200 Schilling mit der Bemerkung, dass Arbeiter mit diesem Gehalt<br />

auskommen müssten, <strong>des</strong>halb sollte dieser Betrag auch für ihn hoch genug sein …<br />

Die Woche darauf bekamen alle Arbeiter und Angestellten der Fabrik auf Anweisung<br />

der Partei das doppelte Gehalt, auf Kosten der Fabrik. Mein Mann bekam<br />

dieses Geschenk ebenfalls, <strong>des</strong>halb freuten wir uns in diesem Moment sogar über<br />

den Umsturz. Wir bekommen Geld <strong>von</strong> Wien, das uns arische Freunde leihen. Jeden<br />

Tag hört man <strong>von</strong> neuen Hausdurchsuchungen, aber wir haben kaum mehr<br />

etwas zu verlieren.<br />

Viele unserer arischen Freunde bleiben uns treu, einige <strong>von</strong> ihnen warten in<br />

ihrem Parteiauto am Stadtrand auf uns und fahren uns spazieren. Wenn wir durch<br />

Ortschaften fahren, ziehen wir die Vorhänge zu. Das Auto ist der einzige Ort, an<br />

dem wir reden können. Jeder hat Angst vor jedem. Gesellschaft kommt nur nächtens,<br />

und, um nicht gesehen zu werden, durch das Badezimmerfenster. Das Dienstmädchen<br />

schläft nicht mehr bei uns, daher können wir es riskieren. Wir sitzen flüsternd<br />

im verdunkelten Zimmer. Ein Angestellter meines Mannes, der ihn untertags<br />

besucht hat, wird <strong>von</strong> der Partei ausgeschlossen und gefeuert. Mit meiner Nachbarin<br />

habe ich sehr wenig Kontakt. Die Briefe sind in den Büschen versteckt. Sie<br />

wagt es nicht, mit mir zu sprechen. Ihr Ehegatte ist ein Angestellter, und sie bangt<br />

um ihr tägliches Brot. Die Kinder kommen weinend <strong>von</strong> der Schule zurück, sie<br />

wurden beschimpft und mit Steinen beworfen, sie sind <strong>von</strong> allen Feiern und Ausflügen<br />

ausgeschlossen. Im Unterricht lernen sie, was „Rasse“ bedeutet und welche<br />

schrecklichen Leute Juden sind. Da es nur wenige Juden in unserer Stadt gibt, sitzt<br />

in jeder Klasse nur ein einziges hilfloses Kind als Beispiel der verkommenen Rasse.<br />

Trotzdem müssen die Kinder weiterhin in die Schule gehen. Vielen Lehrern sind<br />

diese Bösartigkeiten gegenüber unschuldigen Kindern peinlich, andere denken sich<br />

privat einige weitere schmutzige Dinge aus, um ihre Position zu verbessern.<br />

Auf der Straße grüßen uns jetzt nur noch wenige. Die meisten schauen weg, weil<br />

sie sich schämen. Sie waren alle gute Bekannte. Oft hört man Beschimpfungen,<br />

und ich vermeide es, die Kinder mit nach draußen zu nehmen. Sie sollen das nicht<br />

hören. Man geht ohnehin nicht gerne raus. Man will nicht zeigen, was und wie man<br />

fühlt. Man wagt es nicht, jemandem ins Gesicht zu sehen, und oft höre ich Tratsch,<br />

dass jemandem aufgefallen sei, wie eingebildet ich sei, ich würde nicht einmal zurückgrüßen.<br />

Ich sehe keine Grüße mehr, ich sehe keine Gesichter mehr, ich sehe<br />

nur mehr das Parteiabzeichen.<br />

Unter<strong>des</strong>sen wird die Fabrik „arisiert“. In anderen Worten, sie wird den ehemaligen<br />

Eigentümern um einen lächerlich niedrigen Preis weggenommen. Nicht einmal<br />

diesen kleinen Geldbetrag bekommen sie, aber sie müssen zustimmen, weil sonst<br />

die Partei irgendeinen Grund finden würde, die Eigentümer in ein Konzentrationslager<br />

zu schicken. Deshalb versucht jeder „Nichtarier“, seine Fabrik so schnell wie<br />

möglich zu verkaufen, zu „arisieren“. Mein Mann fährt jede Woche nach Wien, um<br />

Käufer zu finden und zu verhandeln, an den übrigen Tagen ist er nach wie vor in der<br />

Fabrik. Er will, dass die Fabrik, sein Lebenswerk, in einem ordentlichen Zustand an

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