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Lebensgeschichten von Opfern des Nationalsozialismus

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56 Erinnerungen Peter S.<br />

8. März 1938<br />

Bubi hat heute zum ersten Mal „Mamama“ gesagt.<br />

9. März 1938<br />

Heute früh habe ich den ersten Zahn entdeckt! (1/2 mm groß!) Peterle ist ein<br />

großer Spitzbubi; immer wenn ich huste, macht er es mir nach und lacht dann<br />

lustig. Bubi ist manchmal schon recht eigensinnig, er schreit oft, wenn man ihm<br />

etwas wegnimmt, und versucht, den Sachen, die er haben will, nachzukriechen.<br />

13. März 1938<br />

Das große, seit langem gefürchtete Unglück ist über uns hereingebrochen. Was<br />

wird nun werden?<br />

16. September 1938<br />

Das war heute ein düsterer Tag für mich. Die Gedanken an die drohende Kriegsgefahr<br />

wollten mich nicht loslassen. Es ist dieses Gefühl <strong>des</strong> Unentrinnbaren,<br />

das so furchtbar niederdrückt. Werden wir alle zugrunde gehen, oder werden wir<br />

leben können, leben dürfen? Solange wenigstens, als unser Kind uns braucht?<br />

10. November 1939<br />

Genau ein Jahr ist vergangen, seit ich an dieser Stelle unterbrochen habe und<br />

diese beiden Seiten frei ließ, um in einem späteren Zeitpunkt die Ereignisse jenes<br />

10. November 1938 hier festzuhalten.<br />

Gegen Mittag hörten wir plötzlich einige Detonationen, es war wie <strong>von</strong> einer<br />

Explosion. Etwas später kam Tante Grete ganz aufgeregt zu uns und teilte uns<br />

mit, dass die Tempel in die Luft gesprengt wurden und dass es heute noch zu<br />

argen Pogromen kommen würde. Ihre Befürchtungen haben sich leider als nicht<br />

übertrieben erwiesen. Viele Leute wurden aus ihren Wohnungen geworfen. Manche<br />

wurden, ohne dass sie das Geringste mitnehmen oder auch nur einen Mantel<br />

anziehen durften, zur Bahn geschleppt und an die polnische Grenze gebracht.<br />

Unzählige wurden verhaftet und in Konzentrationslager gesteckt. Alle jüdischen<br />

Geschäfte wurden gesperrt, alle noch in Stellungen befindlichen Juden entlassen.<br />

Eine „Buße“ [„Sühneleistung“ bzw. „Judenvermögensabgabe“ <strong>von</strong> 20, später 25<br />

% <strong>des</strong> Vermögens <strong>von</strong> Jüdinnen und Juden, wenn dieses mehr als 5.000,- Reichsmark<br />

betrug] <strong>von</strong> einer Milliarde Mark wurde den Juden auferlegt. Eine Woche<br />

Peter S. Erinnerungen 57<br />

später wurde triumphierend mitgeteilt, dass die „armen“ Juden noch immer so<br />

viel Geld hätten, dass weit mehr aufgetrieben werden konnte. (Dass vor einigen<br />

Tagen die „Buße“ erhöht wurde, weil die verlangte Summe noch nicht aufgebracht<br />

worden war, nur nebenbei.) Ja, und beinahe hätte ich vergessen zu sagen,<br />

was der Grund für all dieses war: Ein 17-jähriger Bursche [Herschel Grynszpan]<br />

hatte, durch verworrene Rachegedanken bewogen, ein Mitglied der Pariser deutschen<br />

Botschaft [Ernst vom Rath] erschossen.<br />

1. März 1939<br />

Das große Abschiednehmen hat nun begonnen. Heute früh ist Onkel Franz abgereist,<br />

als Erster <strong>von</strong> den nahen Verwandten. In ungefähr drei Wochen werden<br />

Tante Grete und Renee nach Amerika fahren. Wer weiß, wann und wo wir uns<br />

wiedersehen werden. Wer weiß, ob wir uns überhaupt jemals wieder begegnen.<br />

Freilich, wir Jüngeren haben ja aller Voraussicht nach noch genügend Zeit vor<br />

uns, um einander irgendwann einmal wieder zu treffen. Aber die Eltern! Haben<br />

sie noch Zeit, Jahre zu warten, bis wir alle wieder vereint sein können, in der<br />

Fremde, oder – schwacher Hoffnungsschimmer! – hier in der Heimat? Noch immer<br />

wissen wir nicht, wohin wir verschlagen werden, ob es uns möglich sein wird,<br />

gemeinsam mit Lisl und Paul, wie es unser aller Wunsch ist, irgendwo leben zu<br />

können. Die Zeit verstreicht, die Antworten aus Griechenland und aus Amerika,<br />

auf die wir so große Hoffnung setzen, lassen noch immer auf sich warten. Aber<br />

sonderbar! Trotz allem lebt ein unverwüstlicher Optimismus in mir. Ich glaube<br />

fest daran, dass es nicht nur uns persönlich bald wieder gut gehen wird, sondern<br />

dass überall in der Welt diesem beschämenden Rückfall in die Barbarei sehr bald<br />

wieder ein Aufstieg folgen wird. Dass der nationale Wahnsinn sich endlich ausgetobt<br />

hat und die Menschen ihre Kräfte wieder besseren Zielen widmen. Ich habe<br />

die unentwegte Hoffnung, dass nach dem Elend dieser Zeit, in der wir zu leben<br />

verdammt sind, unser Kind einer Zeit entgegenwächst, in der die Welt wieder<br />

aufwärts strebt, in der Kultur, Freiheit und Recht keine leeren Worte mehr sein<br />

werden.<br />

11. Mai 1939<br />

[...] Heute hat Bubi dem Opapa zu seinem Geburtstag gratuliert. In der neuen<br />

Wohnung der Großeltern, die zum Glück sehr freundlich und auch gut gelegen<br />

ist. Der armen Mama wird es freilich trotzdem sehr schwer fallen, sich an<br />

die fremde Umgebung zu gewöhnen. Mehr als vierzig Jahre haben die Eltern in

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